Kritische Männerforschung und Behinderung


Diplomarbeit, 1999

127 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


INHALTSVERZEICHNIS

VORWORT

EINLEITUNG

1 KRITISCHE MÄNNERFORSCHUNG
1.1 ZUR BEGRIFFLICHKEIT ‘KRITISCHE MÄNNERFORSCHUNG’
1.2 WURZELN UND ANLIEGEN KRITISCHER MÄNNERFORSCHUNG
1.3 DAS KONZEPT DER VERSCHIEDENEN MÄNNLICHKEITEN
1.3.1 Hegemoniale Männlichkeit
1.3.2 Marginalisierte Männlichkeiten

2 ASPEKTE UND KRISTALLISATIONSPUNKTE IN DER MÄNNLICHEN SOZIALISATION
2.1 DIE ROLLE DER MUTTER UND DAS AUTONOMIEDILEMMA DES JUNGEN
2.2 DIE ROLLE DES VATERS UND DIE SUCHE NACH MÄNNLICHKEIT
2.3 ZUR MÄNNLICHEN ADOLESZENZKRISE
2.4 DAS PRINZIP DER EXTERNALISIERUNG
2.5 DAS PRINZIP DER GEFÜHLSVERLEUGNUNG
2.6 DAS PRINZIP DER SPRACHLOSIGKEIT
2.7 DAS PRINZIP DER HOMOPHOBIE
2.8 DAS PRINZIP DER KONKURRENZFÄHIGKEIT
2.9 DAS PRINZIP DES MANNES ALS ERNÄHRER
2.10 DAS PRINZIP DES ZWANGES ZUR MACHT UND HERRSCHAFT
2.11 DAS PRINZIP DER KÖRPERFERNE
2.12 DAS PRINZIP DER GEWALT
2.13 ZUR ANGST, AUS DEM RASTER HEGEMONIALER MÄNNLICHKEIT AUSZUBRECHEN
2.14 KRITISCHE WÜRDIGUNG UND STELLUNGNAHME

3 BEHINDERUNG
3.1 BEHINDERUNG ALS HISTORISCH ENTWICKELTE KATEGORIE
3.2 FACHWISSENSCHAFTLICHE SONDERPÄDAGOGISCHE SICHTWEISEN AUF DIE KATEGORIE BEHINDERUNG
3.2.1 Behinderung als individuo-zentrische Kategorie
3.2.2 Behinderung als sozio-zentrische Kategorie
3.2.3 Behinderung als multidimensionales Konstrukt
3.3 ‘BEHINDERUNG’ ALS BEGRIFF DER WHO
3.4 ‘BEHINDERUNG’ ALS RELATIVER UND RELATIONALER BEGRIFF IM KONTEXT GESELLSCHAFTLICHER NORMEN UND ANFORDERUNGEN
3.4.1 Zu ‘Behinderung’ als normativem Begriff
3.4.2 Behinderung und Anforderung
3.4.3 Behinderung in verschiedenen Kulturen
3.4.4 Zusammenfassung
3.5 ZUR ‘BEHINDERUNG’ ALS BEGRIFF IM GRUNDGESETZ
3.6 ZUR VERWENDUNG DES BEGRIFFES ‘BEHINDERUNG’ IN DIESER ARBEIT

4 BEHINDERUNG IM BLICKWINKEL DER KRITISCHEN MÄNNERFORSCHUNG - EXEMPLIFIZIERT AN DER INSTITUTION SCHULE
4.1 SCHULE ALS INSTITUTION
4.1.1 Schule und ihre traditionellen Funktionen
4.1.2 Die strukturelle Hierarchie im Bildungswesen und die Geschlechterdifferenz
4.1.3 Verändertes Anforderungsprofil von Schule
4.2 ZUR DIFFERENZIERUNG DER SCHULE IN TRADITIONELLE REGEL- UND SONDERSCHULE UNTER BERÜCKSICHTIGUNG GESCHLECHTSSPEZIFISCHER ASPEKTE
4.2.1 Zur Population und Geschlechterdifferenz in sonderpädagogischen Institutionen
4.2.2 Grundschule als Institution zwischen Integration und Aussonderung
4.2.3 Gründe, die zu einer Anmeldung an einer Sonderschule führen können
4.2.4 Schulische Verhaltensauffälligkeiten und Probleme im Sozialverhalten bedingt durch Aspekte der männlichen Sozialisation
4.2.5 Hegemoniale Männlichkeit und soziale Herkunft
4.2.6 Zur Wechselbeziehung von Hegemonialer Männlichkeit und der Legitimationskrise der Sonderschule
4.3 GEZIELTE JUNGENARBEIT
4.3.1 Die institutionelle Ebene
4.3.2 Unterrichtliche Jungenarbeit in geschlechtshomogenen Gruppen
4.3.2.1 Das Programm ‘Boys meet babies’ als Beispiel
4.3.3 Unterrichtliche Jungenarbeit im koedukativen Kontext

5 ZUSAMMENFASSUNG UND AUSBLICK

6 LITERATUR

Vorwort

Es ist mir wichtig, vorab meine persönliche Motivation zu skizzieren, aus der heraus mich die mir gestellte Thematik ‘Kritische Männerforschung und Behinderung’ interessiert und weshalb sie mir persönlich auf dem Weg zu einem ausgeglicheneren Ich und einem tieferen Zugang zu mir selbst hilfreich und bereichernd geworden ist und bleiben wird. In meiner Biographie mußte ich mich mit der Kategorie ‘Behinderung’ erst nach dem Abitur beschäftigen, als es um die Frage ging, ob ich meinen Wehrdienst bei der Bundeswehr antreten sollte, oder ob ich aus Gewis- sensgründen verweigere und somit die mir angebotene Möglichkeit wahr- nehme, den Zivildienst an einer Schule für Geistigbehinderte abzuleisten. Ging es vordergründig darum, sich mit der persönlichen Haltung gegen- über staatlichen Institutionen wie der Bundeswehr und den damit verbun- denen Konsequenzen auseinanderzusetzen, sich zu fragen, ob man es mit dem eigenen Gewissen vereinbaren könne, auf andere Menschen im Notfall zu schießen oder aber den Dienst an der Waffe grundsätzlich ab- zulehnen, gab es bereits zu dieser Zeit eine enge innerpsychische Be- zugsebene zu der Thematik.

Zum einen ging es darum, bei einer Entscheidung für den Ersatzdienst eine Dienststelle zu suchen, die mich in meinem Fall mit behinderten Menschen konfrontieren würde, zu denen ich bis dato keinen Bezug oder keinerlei Beziehung hatte.

Zum anderen ging es um die persönliche Frage der Identifikation mit be- stimmten gesellschaftlichen und politischen Vorstellungen, die mit der Entscheidung für oder gegen den Wehrdienst verbunden sind. Entscheide ich mich für den traditionellen ‘Dienst am Vaterland’ und stelle mich damit in die historische Linie ‘tapferer Soldaten’, ‘treuer Vaterlandshelden’ und damit in den Dienst eines Männerbildes, welches Stärke, Macht, Disziplin und Ordnung als Tugenden propagiert, oder aber reihe ich mich ein in die Kaste der sogenannten 'Drückeberger' und ‘Taugenichtse’.

Letzeres ging gesellschaftlich lange Zeit damit einher, als Vaterlandsverräter, als ‘langhaariger Bombenleger’, als ‘Memme’, als nicht ‘ganzer’ Mann oder als homosexuell zu gelten und dazustehen mit Konsequenzen, die einer gesellschaftlichen Isolierung und Separation gleichkamen (vgl. Brandes/Bullinger 1996b, 38).

So galt es etwa bis weit in die achtziger Jahre hinein als soziales Handicap, bei etwaiger Bewerbung um eine Arbeitsstelle auf den Ersatzdienst verweisen zu müssen. Viele Arbeitgeber lehnten Männer als Arbeitnehmer ab, die sich dem Dienst am deutschen Vaterland auf diese Weise entzogen hatten. ‘Verweigerung’ hieß dadurch bedingt Benachteiligung, Behinderung am Zugang zu gesellschaftlichen Ressourcen.

Parallel damit ging aber auch einher, sich für ein bestimmtes von der Ge- sellschaft angebotenes Männerbild, eine männliche Identität zu ent- scheiden (vgl. Böhnisch/Winter 1993, 96). Glücklicherweise konnte ich die Entscheidung zu einer Zeit treffen, in der dem Zivildienst bereits eine bei weiterem positivere soziale Bewertung und ein achtbarer Status zuge- sprochen wurde.

Dennoch bedeutete für mich die Wahl, den Zivildienst abzuleisten, zugleich den Zugang zu einer Welt, in der ich mit behinderten Menschen konfrontiert wurde.

Es hatte sich bei mir somit biographisch eine Verbindungslinie von der kritischen Auseinandersetzung mit der männlichen Identität zur Begegnung mit dem Phänomen ‘Behinderung’ ergeben.

Im Zivildienst lernte ich vieles von den SchülerInnen und LehrerInnen. Ich begegnete mir selbst auf eine Art und Weise, die mir lange Zeit verschlossen geblieben war, und bei der ich lange brauchte, um diese Begegnung konstruktiv in mein Selbstkonzept einzuordnen. Ich nahm das Studium der Sonderpädagogik in Dortmund auf und führte dadurch den eingeschlagenen Weg zu einem selbstbewußteren Ich über die Beschäftigung mit mir, meiner männlichen Identität und der Auseinandersetzung

mit theoretischen und praktischen Bedingungen des Konstruktes ‘Behinderung’ fort.

Insofern stellt folgende Arbeit nicht nur eine formelle Hürde dar, die es zur Erreichung meines Studienzieles zu überwinden gilt, sondern es handelt sich auch um eine persönliche Bestandsaufnahme und Reflexion dessen, was mich innerlich beschäftigt.

Zur Sprache in dieser Arbeit

Ich bemühe mich, in dieser Arbeit geschlechtsneutrale Begrifflichkeiten und Bezeichnungen zu verwenden, wie z.B. LehrerInnen, SchülerInnen etc.

Dabei scheue ich mich nicht, meine Subjektivität in dieser Arbeit offenzu- legen. So werde ich etwa Formulierungen wie ‘der Autor dieser Arbeit’ e- benso benutzen wie das persönliche ‘ich’, da Wissenschaft m.E. niemals unabhängig von dem zu sehen ist, der sie betreibt (vgl. dazu Meiser 1995, 15ff).

Einleitung

Dialog unter StudentInnen:

- „Worüber schreibst Du Deine Staatsarbeit?“
- „Über Kritische Männerforschung und Behinderung.“ n „Wie? Damit kann ich jetzt gar nichts anfangen.“
- „Na, eine wichtige Fragestellung meiner Arbeit soll sein, warum über- proportional viele Jungen an den Sonderschulen sind. Ich möchte un- tersuchen, ob es Zusammenhänge gibt zwischen Aspekten der männli- chen Sozialisation und der Häufigkeit des Antreffens von Jungen, die schulisch als behindert gelten.“
- „Oh, das hört sich ja sehr interessant und spannend an. Aber was hat das mit dieser Männerforschung zu tun? Ist das jetzt die Gegenbewe- gung zu dem Emanzenkram?“
- „Nein, im Gegenteil. Die Geschlechterforschung kann sich ausgezeich- net ergänzen und dabei helfen, die Hierarchien zwischen Männern und Frauen abzubauen.“

Ich habe diesen Einstieg gewählt, weil mir an derartigen Gesprächen mit KommilitonInnen und Bekannten einiges deutlich geworden ist, was mit dem mir gestellten Thema verbunden ist.

Erstens: Die Forschungsrichtung Kritische Männerforschung ist selbst in Fachkreisen noch weitgehend unbekannt.

Zweitens: Geschlechterforschung in der Sonderpädagogik wird mit Frauenforschung gleichgesetzt.

Drittens: Frauenforschung wird sehr häufig abwertend als ‘Emanzenkram’ und ‘Frauengelaber lesbischer Frauen’ etikettiert. Diese diffamierenden Äußerungen begegneten mir gleichermaßen bei Frauen wie bei Männern. Viertens: Habe ich kurz erläutert, worum es mir in der Arbeit gehen soll, so entgegnete mir großes Interesse an den Fragestellungen. Sowohl von Frauen als auch Männern habe ich erfahren, daß sie die Thematik höchst aktuell und spannend finden.

Zugegebenermaßen handelt es sich um einen wissenschaftlichen Spagat, die Begrifflichkeiten ‘Behinderung’, ‘Schule’ und ‘Männlichkeit’ in einen sozialen Kontext und somit in Relation zueinander zu stellen. Es ist bis- lang unüblich, geschlechtsspezifische Fragestellungen in der Sonderpä- dagogik zu diskutieren und darüber zu forschen (vgl. Exner 1997, Warze- cha 1997, Zemp 1995). Ein wichtiges Fundament zur Erforschung dieser Fragen hat die Frauenforschung in der Sonderpädagogik gelegt (vgl. Prengel 1995, Schildmann 1996, Warzecha 1995, Warzecha 1997). Es werden zentrale Anliegen von behinderten Frauen angesprochen und tra- ditionelle Strukturen der Sonderpädagogik unter feministischen Gesichts- punkten diskutiert.

Jungen- und Männerforschung in der Sonderpädagogik befindet sich dagegen noch in der konstituierenden Phase.

Diese Arbeit hat sich zum Ziel gesetzt, den Blickwinkel von Sonderpäda- gogik auf geschlechtsspezifische Anliegen von Jungen und Männern zu lenken. Es soll im speziellen die Frage beantwortet werden, ob es aus Sicht der Kritischen Männerforschung Gründe dafür gibt, daß auf den Sonderschulen überproportional viele Jungen anzutreffen sind. Gibt es auch aus Sicht der Kritischen Männerforschung eine Verbindung zwischen geschlechtsspezifischen Sozialisationsmustern und der schulischen Aus- sonderungspraxis und somit der Etikettierung mit ‘Behinderung’?

Und falls ja, gibt es Möglichkeiten, auf pädagogischer Ebene darauf hinzuwirken, daß die Aussonderung von SchülerInnen aus der Regelschule verhindert werden kann?

Für diese Arbeit wird folgende Struktur gewählt.

Im ersten Kapitel wird der Leser/die Leserin mit der Begrifflichkeit ‘Kriti- scher Männerforschung’ vertraut gemacht. Es werden die Wurzeln und Anliegen dieser Forschungsrichtung grob skizziert. Im Anschluß daran wird das Konzept der verschiedenen Männlichkeiten vorgestellt. Es wer- den die Termini Hegemoniale und Marginalisierte Männlichkeit vorgestellt. Im zweiten Kapitel werden Aspekte und Kristallisationspunkte in der männ- lichen Sozialisation erörtert, welche traditionelle Männlichkeit prägen. Es wird deutlich, wie problematisch es sich für Jungen darstellt, ihre Ge- schlechtsidentität zu erwerben. Immer in der Gefahr, die eigene Männlich- keit zu verlieren, müssen sich Jungen und Männer stets aufs neue versi- chern, daß sie ‘dazu’ gehören und nicht aus dem Raster der ‘Normalität’ herausfallen.

Das dritte Kapitel beschäftigt sich mit ‘Behinderung’ als Kategorie. Herausgearbeitet wird der relative und relationale Charakter von ‘Behinderung’. Schließlich wird ‘Behinderung’ für diese Arbeit definiert als gesellschaftlich negativ bewertete dauerhafte Abweichung von Normen, Erwartungen und Anforderungen.

Im vierten Kapitel sollen am Beispiel der Institution Schule Verbindungslinien gezeichnet werden, die zwischen den Aspekten der männlichen Sozialisation und dem schulischen Phänomen ‘Behinderung’ bestehen können. Das soll geschehen unter ständiger Berücksichtigung zentraler Anliegen der Kritischen Männerforschung.

Aufgrund mangelnder Forschungsgrundlagen und -ergebnisse kann ein Großteil dieser Arbeit lediglich hypothesengenerierend wirken. Es handelt sich deswegen weitgehend um theoretische Ausführungen, welche noch der empirischen Überprüfung bedürfen.

1 Kritische Männerforschung

Um den wissenschaftlichen Begriff der Kritischen Männerforschung mit Inhalt zu füllen, werden zunächst einige Anmerkungen zu diesem Forschungsfeld vorgenommen und in einem weiteren Schritt die Wurzeln Kritischer Männerforschung dargelegt.

Es soll deutlich werden, mit welchen sozialen Bewegungen geschichtliche Verbindungslinien und in welchen Anliegen Gemeinsamkeiten mit und Unterschiede zu bekannten soziologischen Erklärungsmodellen der Geschlechtersozialisation bestehen. Nach der Erläuterung des Modells der ‘Verschiedenen Männlichkeiten’, welches von fundamentaler Bedeutung für die Kritische Männerforschung ist, werden einige relevante Faktoren der männlichen Sozialisation in unserer Kultur erörtert.

1.1 Zur Begrifflichkeit ‘Kritische Männerforschung’

Da sich in der aktuellen Fachliteratur zum Terminus ‘Kritische Männerfor- schung’ uneinheitliche Aussagen finden und er dadurch unterschiedlich definiert wird, soll zu Beginn dieser Arbeit dargelegt werden, in welchem Zusammenhang diese Begrifflichkeit hier verwendet werden wird. Während die feministische Autorin Engelfried (1997, 45ff) in ihrer Über- sicht über die verschiedenen Sparten der Männerforschung ‘Kritische Männerforschung’ auf die Publikationen dreier deutschsprachiger For- scher (Böhnisch, Willems, Winter) eingrenzt und damit deren eigene Defi- nition als konstituierend akzeptiert, verstehen die Autoren Brandes und Bullinger (1996, 11ff) unter ‘Kritischer Männerforschung’ ein wesentlich breiteres Spektrum von Forschungsarbeit.

Sie benutzen die Termini ‘Männerforschung’, ‘Kritische Männerforschung’ und ‘men´s studies’ weitgehend als Synonyme und stellen dadurch ‘Kritische Männerforschung’ in eine wesentlich ältere angloamerikanische Tradition. Männerforscher wie der Australier Connell werden dieser Forschungsrichtung zugeordnet. Engelfried (1997, 53) sieht dagegen in Connell beispielsweise einen antisexistischen Männerforscher.

In der Einleitung zu ihrem ‘Handbuch Männerarbeit’ stellen die Herausgeber Brandes und Bullinger (1996c, IX) heraus, daß es im Bereich Männerarbeit „bislang aber noch an einer zusammenfassenden und repräsentativen Darstellung dieser Ansätze und einem übergeordneten Diskussionszusammenhang“ mangele.

Engelfried gibt 1997 in ihrem Buch ‘Männlichkeiten’ dagegen eine klar gegliederte Übersicht über die verschiedenen Richtungen. Für den Leser bleibt dabei bisweilen unklar, an welchen Punkten die Trennlinie zwischen den verschiedenen Richtungen gezogen wird.

Einhellig verweisen dagegen alle genannten AutorInnen auf den niedrigen Entwicklungsstand der Männerforschung in Deutschland und benennen explizit theoretische Defizite (Böhnisch/Winter 1993, 10f; Bran- des/Bullinger 1996a, 12; Engelfried 1997, 45).

Der Autor dieser Arbeit hat sich entschlossen, den Terminus ‘Kritische Männerforschung’ als umfassendere Forschungsbezeichnung im Sinne Brandes/Bullingers zu verwenden, da s.E. drei Autoren keine eigenständi- ge Forschungsrichtung prägen können und zudem die zentralen Anliegen von ‘Kritischer Männerforschung’, ‘Männerforschung’, ‘Jungen-forschung’, ‘Männerorientierter Forschung’, ‘Antisexistischer Männerforschung’ und den englischsprachigen ‘men´s studies’ als weitgehend ähnlich dargestellt werden (vgl. Schissler 1992, 204).

„Aber das Wort ist nicht das Kriterium, das über die Existenz einer For- schungsrichtung entscheidet. Der gemeinsame Inhalt respektive die ver- bindende Fragestellung ist bedeutsamer als verschiedene Namen“ (Hoff- mann 1997, 920).

1.2 Wurzeln und Anliegen Kritischer Männerforschung

Als wissenschaftliche Forschungsrichtung handelt es sich bei der Kriti- schen Männerforschung um eine Disziplin jüngeren Datums. Ausgehend von den Fundamenten und Forschungsansätzen der ‘men´s studies’, wel- che sich ab Mitte der 70er Jahre zunehmend in den Vereinigten Staaten etablierten (vgl. Badinter 1993, 17), öffneten sich Ende der 80er Jahre und zu Beginn der 90er Jahre einige deutschsprachige Publikationen (vgl. Wieck 1987, Schnack/Neutzling 1990, Böhnisch/Winter 1993) dem angloamerikanischen Diskurs.

Ist es den ‘men´s studies’ in den USA bereits gelungen, sich als ernstzunehmende Wissenschaft vor allem neben der feministischen Geschlechterforschung zu behaupten, so befindet sich dieser Prozeß in der deutschsprachigen wissenschaftlichen Auseinandersetzung noch in den Anfängen (vgl. Brandes/Bullinger 1996a, 3).

Die ersten Publikationen über Männer im Sinne der ‘men´s studies’ erschienen ab Mitte der 70er Jahre. Explizit werden in diesen Werken (z.B. Farrell 1974, Goldberg 1976, Pleck/Pleck 1980, Lewis 1981) feministische Forschungsgrundlagen und -ergebnisse übernommen und in den eigenen wissenschaftlichen Ansatz integriert.

Es ging und geht den ‘men´s studies’ also nicht darum, feministische Kritik an den herrschenden patriarchalen Verhältnissen zu relativieren oder gar zurückzuweisen, sondern es ist Anliegen der Forscher, die Geschlechter- forschung auf spezifisch männliche Perspektiven und Probleme der Kon- struktion von Geschlecht auszuweiten (vgl. Hoffmann 1997, 917).

„To borrow a term from feminist criticism, the aim of a ‘men´s studies’ approach to American literature is re-vision: a revision of the way we read literature and a revi- sion of the way we perceive men and manly ideals" (Riemer, zitiert nach Brod 1987, 1).

Dabei spielt die Diskussion über die soziale Dimension bei der Entwick- lung von ‘Geschlecht’ eine zentrale Rolle. Die amerikanische Forschung begann in den 70er Jahren den Begriff ‘Geschlecht’ in ‘sex’ als die biolo- gisch determinierte Differenz und ‘gender’ als die sozial konstruierte Aus- prägung von Geschlecht zu unterteilen (vgl. Chodorow 1990). Geschlecht wird demnach nicht mehr ausschließlich betrachtet als rein biologisch be- stimmtes Faktum, sondern Geschlecht erhält mit dem Terminus ‘gender’ eine soziale Dimension. ‘Gender’ bezeichnet demnach die soziale Identi- tät, die einem bestimmten Menschen aufgrund seines biologischen Ge- schlechts (‘sex’) vorgeschrieben oder angeboten wird.

So waren bestimmte soziale Rollen über Jahrhunderte hinweg in unserer christlich-abendländischen Kultur gebunden an das biologische Ge- schlecht des Rollenträgers. Gesellschaftliche Bereiche wie Militär, Politik, Bildung, Handel, Wirtschaft, Kirche und Familie wurden nahezu exklusiv repräsentiert von Männern (vgl. Brandes/Bullinger 1996b, 37ff). Frauen dagegen blieben das ‘traute Heim’, die Erziehung von Kindern, Versor- gungsfunktionen in der Familie und nicht zuletzt der sozial-emotionale Rückhalt des Mannes zugeschrieben.

Die Geschlechterhierarchie fand in diesen Strukturen einen deutlichen Ausdruck und wurde weitgehend unreflektiert gesellschaftlich reproduziert. Die Erkenntnis, daß es so etwas wie eine Geschlechterhierarchie über- haupt gibt, und wie diese funktioniert, ist untrennbar mit den Bestrebungen der Frauenbewegung insbesondere in den letzten beiden Jahrhunderten verbunden (vgl. Helwig 1997a, 3ff). Der entscheidende gesellschaftliche Durchbruch gelang der Frauenbewegung allerdings erst Ende der 60er Jahre dieses Jahrhunderts, als der Feminismus als politische Bewegung zeitgleich mit weiteren sozialen Bewegungen wie der Antikriegsbewegung (Vietnam), Black-Power-Bewegung (v.a. in den USA) und der Studenten- bewegung die Gesellschaftsstruktur in ihren Grundfesten erschütterte (vgl. Helwig 1997b, 27ff). Von enormer Bedeutung war zudem die sogenannte Sexuelle Revolution, welche die traditionellen Geschlechterbeziehungen nachhaltig veränderte (nicht nur, aber auch durch die Erfindung der Anti- babypille). Der Feminismus als emanzipatorische Bewegung prangert die Diskriminierung von Frauen an und stellt analytisch gesellschaftliche Fak- toren heraus, welche zur Benachteiligung von Frauen führen.

In der Geschlechterforschung als einer wichtigen Grundlage der feministi- schen Theorie wird die These aufgestellt, daß durch die Behauptung, ‘sex’ und ‘gender’ seien aneinander gekoppelt, den Männern soziale Privilegien mit biologischen Argumenten zugebilligt werden (vgl. Hagemann-White 1984, 44). Die biologistischen Thesen ‘Der Mann geht auf die Jagd und versorgt seine Familie’, ‘Die Frau kümmert sich gerne und besser um die Kinder’ dienen demnach nur der Legitimierung der Geschlechterhierar- chie.

Die Unterscheidung von ‘sex’ und ‘gender’ erlaubt es nun, Geschlecht als soziologischen Forschungsgegenstand in seiner Adaption durch Individuen (‘doing gender’, vgl. West/Zimmerman 1991), aber auch im interaktiven gesellschaftlichen Austausch, in seiner sozialen Prägung näher zu durchleuchten. Geschlecht wird damit zu einem Konstrukt, welches sich ausprägt in einem Spannungsfeld zwischen Umweltangeboten und individuellen Selbstkonstruktionsmechanismen.

Ebenso wie für feministische Ansätze sind diese Annahmen der Geschlechterkonstruktion auch für die ‘men´s studies’ von fundamentaler Bedeutung (vgl. Keuneke 1998, 16ff).

Gemeinsam ist diesen konstruktivistischen1 Ansätzen der Geschlechterforschung die Kritik an den traditionellen entwicklungspsychologischen Theorien wie beispielsweise von Piaget oder Kohlberg.

Es wird diesen Theorien vorgeworfen, daß sie einseitig Modelle aufstell- ten, welche die traditionelle männliche Sozialisation weißer Mittelschicht- sangehöriger zur Norm erheben (im besonderen gilt dies für die US- amerikanische Gesellschaft) und damit alle devianten Entwicklungsbefun- de, insbesondere bei der weiblichen Sozialisation, als unnormal etikettie- ren.

Mensch und Mann (Man and Man) würden sprachlich und inhaltlich gleichgesetzt und durch diese Verknüpfung - männliche Sozialisation gleich menschliche Sozialisation - werde der Blick auf die patriarchale Gewaltstruktur verstellt und herrschaftsstiftende Modelle zur Legitimation der Geschlechterhierarchie angeboten (vgl. Prengel 1995, 119).

Männerforschung stellt nun gerade die abweichenden Männlichkeitsformen heraus, welche sich in das traditionelle Sozialisationsschema nicht oder nur partiell einfügen.

Das gilt im besonderen für homosexuelle Männer (vgl. Lee 1998, 125f). Durch eine stringent am heterosexuellen Mann orientierte Sozialisations- norm ist es ein leichtes, ‘schwule’ Männer als unnormal, abweichend und gesellschaftsgefährdend zu diffamieren (vgl. Schnack/Neutzling 1990, 210ff).

So ist es kein Zufall, daß das Erwachen eines neuen Selbstbewußtseins durch die Schwulenbewegung als sozial relevante Gruppe anfangs der 70er Jahre in den Vereinigten Staaten zeitlich zusammenfiel mit dem Be- ginn der kritischen, traditionelle Männlichkeitsmodelle anzweifelnden Männerforschung. Viele Männer, die sich als homosexuell outeten, be- schäftigten sich nun mit den Grundlagen ihres ‘Andersseins’, mit einem anderen Mannsein in den sogenannten ‘gay studies’, welche gesellschaft- liche Akzeptanz und Toleranz einforderten, ohne die eigene, selbstbe- stimmte Identität aufgeben zu müssen. Die ‘gay studies’ wurden dadurch konstituierend auch für die sich langsam entwickelnden ‘men´s studies’ (vgl. Brzoska 1996, 82f). Nicht wenige Männerforscher zähl(t)en sich zu der Gruppe der homosexuellen Männer (vgl. Badinter 1993, 138ff).

Kritische Männerforschung als deutsches Pendant der amerikanischen ‘men´s studies’ betrachtet sich ebenfalls als wissenschaftlich fundierte Ausrichtung, welche versucht, dem gesellschaftlich verbreiteten, zumeist noch mit biologistischen Argumenten untermauerten Männlichkeitsbild, ein neues verändertes, variables männliches Sozialisationsmodell entgegen- zustellen.

Dieses Modell soll sich nicht mehr ausrichten an dem herkömmlichen Bild von Männlichkeit, welches unreflektiert zur Legitimation der Geschlech- terhierarchie instrumentalisiert wird (Brandes/Bullinger 1996b, 37ff). Es soll vielmehr der Bewußtseinsbildung dienen, daß es nicht die eine männ- liche Sozialisation und damit verbunden auch nicht die eine Form des Mannseins gibt, sondern daß sich aufgrund spezifischer gesellschaftlicher Bedingungen und Individualisierungsprozesse verschiedene Formen von Mannsein herausbilden, die mehr oder weniger mit traditionellen Männ- lichkeitsbildern übereinstimmen.

„Unter ‘kritischer Männerforschung’ verstehen wir eine Sozialwissenschaft, die von Männern mit dem Ziel betrieben wird, die anthropologischen, psychischen, ökono- mischen, sozialen und kulturellen Bedingungen für ein anderes Mannsein, eine andere Würde des Mannes zu analysieren und zu formulieren. Mit dem Bild des ‘anderen Mannseins’ verbinden wir die Vorstellung und die Hoffnung, daß Männer ihren Status und ihr Selbst nicht auf der Abwertung von Frauen oder auf der Unter- drückung anderer, auch Jüngerer oder im Sozialstatus Niedrigerer aufbauen, son- dern zu ihrer eigenen Würde - mit ihren besonderen Stärken und Schwächen - stehen und sie aus dem eigenen Selbst heraus in die Gesellschaft einbringen und sozial verantworten lernen. ‘Kritische Männerforschung’ ist notwendig parteilich" (Böhnisch/Winter 1993, 9).

Ein zentrales Anliegen Kritischer Männerforschung liegt also darin, Hierarchien (insbesondere Hierarchien innerhalb der männlichen Geschlechtsgruppe), die u.a. in der Geschlechtersozialisation begründet liegen, aufzudecken und daran anknüpfend Angebote für ein verändertes Mannsein und damit für eine veränderte Beziehung zwischen den Geschlechtern und Generationen zu unterbreiten.

Kritische Männerforschung ist damit nicht nur eine wissenschaftliche Disziplin, welche Geschlechterhierarchien analysiert und herausstellt, sondern sie versteht sich auch als Wegweiser, Männern Ansätze aufzuzeigen, innerpsychische Widersprüche und Problemlagen zu analysieren und letztendlich zu einem integrierteren Verständnis von Mannsein zu gelangen (vgl. Schnack/Neutzling 1990, 258ff).

Ein erster Schritt zur Offenlegung und Analyse der Hierarchie unter Män- nern soll zunächst ermöglicht werden durch die Darstellung des Konzep- tes der verschiedenen Männlichkeiten (Hegmoniale und Marginale Männ- lichkeiten).

Im Anschluß daran soll ein kurzer Überblick gegeben werden über die männliche Sozialisation in unserer christlich-abendländischen Kultur, bei dem einige für diese Arbeit wesentliche Aspekte herausgestellt werden und an dem deutlich werden soll, wie sich Hegemoniale und Marginalisierte Männlichkeiten gegenseitig bedingen.

1.3 Das Konzept der verschiedenen Männlichkeiten

Anhand des von ihm mit entwickelten Konzeptes der verschiedenen Männlichkeiten (‘masculinities’) stellt der Männerforscher Connell die Not- wendigkeit heraus, „daß zwischen verschiedenen Männlichkeiten differen- ziert wird, die untereinander in einem hierarchischen Verhältnis stehen“ (vgl. Brandes/Bullinger 1996b, 36).

Nach dieser Theorie gibt es verschiedenen Formen und Arten, wie Mannsein sich gesellschaftlich und kulturell konstituieren kann. „Männlich- keiten werden (dabei) von Connell definiert als Handlungsmuster inner- halb des Geschlechterverhältnisses“ (vgl. Engelfried 1997, 66). Er weist ergänzend darauf hin, daß das Individuum aktiv seine und fremde Ge- schichte durch soziales Handeln konstruiert. Connell geht deshalb davon aus, daß sich Männlichkeiten in dialektischen Prozessen bilden, in Soziali- sationsangeboten und -einflüssen externer Art sowie aktiver Adaption und Internalisierung auf personaler Ebene (vgl. ebd. 65f).

So haben veränderte gesellschaftliche Bedingungen es möglich, aus Sicht der Kritischen Männerforschung aber auch erforderlich gemacht, Patriar- chat und Mannsein voneinander zu entkoppeln (Böhnisch/Winter 1993, 39). Mannsein kann gedacht werden jenseits der patriarchalen Männlich- keit.

Männer brauchen nicht mehr die Augen verschließen vor den auch sie betreffenden Prinzipien, die mit der hegemonialen Struktur von Männlich- keit verbunden sind. Nachteile und Restriktionen, die mit den herrschen- den Sozialisationsparadigmen entstehen, können wahrgenommen, be- nannt und kritisch bewertet werden. Das Modell der ‘Verschiedenen Männlichkeiten’ schafft insofern Raum für eine Emanzipation des Mannes, als daß er sich unkonventionelle soziale Räume erschließen kann (z.B. Hausmann, präsenter Familienvater, Männerfreundschaften etc.), sich Rechte erkämpfen kann (z.B. Gleichstellungsrechte für Homosexuelle, Recht auf Erziehungsurlaub für Männer u.ä.) und sich dabei nicht perma- nent in seiner Identität bedroht fühlen muß (vgl. Warzecha 1997, 241ff). Dabei unterscheidet man zwischen der Hegemonialen Männlichkeit und Marginalisierten Männlichkeiten, welche in einem hierarchischen Verhält- nis zueinander stehen. Unter Hegemonialer Männlichkeit lassen sich tradi- tionelle, dem Patriarchat verhaftete Männerbilder (Images) subsumieren, während marginalisierte Männlichkeiten der Oberbegriff sind für Männlich- keiten, die von diesem herrschenden Hegemonialen Männerbild abwei- chen. Wenn im folgenden von Männlichkeit im Singular gesprochen wird, so ist damit das traditionelle Männlichkeitsbild der Hegemonialen Männlichkeit gemeint. Taucht der Plural dieses Begriffes auf, so sind abweichende Marginalisierte Männlichkeitsbilder angesprochen.

1.3.1 Hegemoniale Männlichkeit

Der Begriff ‘Hegemoniale Männlichkeit’ verweist darauf, daß es Entwick- lungsstränge und Kristallisationspunkte in der männlichen Sozialisation gibt, welche aufgrund der Verfaßtheit einer Kultur traditionell vorherr- schend sind. So werden den Männern in unserer Kultur Eigenschaften wie Stärke, Mut und Durchsetzungskraft zugeschrieben, oder aber es werden bestimmte Verhaltensweisen von Männern als ‘typisch männlich’ charakte- risiert. All diese Schemata und Stereotypen, welche traditionell dem biolo- gisch männlichen Geschlecht angehaftet werden, fallen unter den wissen- schaftlichen Ausdruck der ‘Hegemonialen Männlichkeit’ (vgl. Connell 1995).

‘Hegemoniale Männlichkeit’ kann dabei in verschiedenen Kulturen unter- schiedliche Ausdrucksweisen finden (vgl. Meiser 1997, 74). Im deutschen Kulturraum galt es beispielsweise jahrhundertelang als männlich, sich sol- datisch, treu dienend und dem Herrscher gegenüber loyal zu verhalten. Die spanische Kultur propagierte traditionell dagegen das Bild des muti- gen Stierkämpfers als höchsten Ausdruck von Männlichkeit.

‘Hegemoniale Männlichkeit’ bleibt jedoch in allen patriarchalen Kulturen, wie es die christlich-abendländischen weitgehend sind, gebunden an ü- bergreifende männliche Sozialisations- und Interaktionsmuster, welche gesellschaftliche Hierarchien legitimieren (vgl. Lee 1998, 41). ‘Hegemonia- le Männlichkeit’ orientiert sich an gesellschaftlich vorherrschenden Bedin- gungen, kann auf eine lange geschichtliche Tradition zurückblicken und besitzt somit nicht nur eine deskriptive, sondern auch eine normative Funktion.

Die kulturelle und soziale Bedingtheit von Männlichkeiten führt jedoch da- zu, daß im Laufe sich wandelnder Gesellschaftsstrukturen und Wertvor- stellungen auch ‘Hegemoniale Männlichkeit’ als theoretisches Konstrukt Wandlungen durchmacht. Mit dem Aufkommen postmoderner Gesell- schaftsstrukturen hat beispielsweise die Bedeutung traditioneller Ge- schlechtsbilder unübersehbar abgenommen (vgl. Brandes/Bullinger 1996b, 37ff).

1.3.2 Marginalisierte Männlichkeiten

Unter dem Begriff der ‘Marginalisierten Männlichkeiten’ subsumieren sich eine Vielzahl von Männlichkeiten, welche zwar neben der ‘Hegemonialen Männlichkeit’ existieren, dabei aber randständig und v.a. in einer hierar- chischen Beziehung zu ihr verbleiben (vgl. Brandes/Bullinger 1996a, 10f). Wie schon erwähnt gilt dies im besonderen für homosexuelle Männlichkei- ten. Die abweichende sexuelle Orientierung war lange Zeit Grund, homo- sexuelle Männer gesellschaftlich zu diskriminieren. Homosexualität wurde tabuisiert, und jegliche Abweichung vom Prinzip der Heterosexualität wur- de gesellschaftlich und staatlich sanktioniert (vgl. ebd. 14).

Eine weitere Form devianter, von der ‘Hegemonialen Männlichkeit’ abwei- chender Männlichkeiten ist der sogenannte ‘Softie’. Sein weiches, ge- fühlsbetontes Image steht im Widerspruch zum herrschenden Männerbild in unserer Kultur, welches aufgrund der geschlechtsspezifischen Zu- schreibung bestimmter Charakterzüge (wie z.B. emotional, sinnlich, ge- fühlsbetont, weich, sanft) sogenannte ‘weibliche’ Wesenszüge an Män- nern ablehnt.

Zu den Ausformungen von Männlichkeit, welche sich mit dem stereotypen Männerbild nur schwer verbinden lassen, zählen ebenso Kriegsdienstver- weigerer (vgl. dazu Bartjes 1993), welche als Männer, die es ablehnen, für ihr Vaterland kämpfend in den Krieg zu ziehen und dabei evtl. Menschen zu töten, wie die sogenannten Junggesellen, die sich der Institution Ehe verweigerten. Ähnliches gilt auch für die Männlichkeit von arbeitslosen, ‘behinderten’ und sexuell mißbrauchten Männern (vgl. dazu Bange/Enders 1995, 58ff). Dadurch, daß sie bestimmte normierte Erwartungen an Männ- lichkeit (nämlich an die hegemoniale) nicht erfüllen, werden diese Männ- lichkeiten gesellschaftlich diskriminiert und als abweichend etikettiert.

Zwar werden Marginalisierte Männlichkeiten, so wie sie hier aufgelistet sind, heutzutage längst nicht mehr in dem Maße gesellschaftlich sanktio- niert und isoliert wie zuvor, an ihrer Randständigkeit in der patriarchalen Struktur hat sich jedoch wenig gewandelt (vgl. Glücks 1994a, 15).

Wichtig jedoch für die nachhaltige Veränderung von Männlichkeitsbildern ist die Tatsache, daß Marginalisierte Männlichkeiten heute offen themati- siert statt tabuisiert werden, daß sich gesellschaftliche und politische Rahmenbedingungen verändert haben und daß dadurch ‘Hegemoniale Männlichkeit’ in seiner Legitimation gesellschaftlicher Hierarchien in Erklä- rungszwänge geraten ist (vgl. Brandes/Bullinger 1996b, 37ff).

Dies gilt nicht nur im alltäglichen gesellschaftlichen Miteinander, sondern auch im wissenschaftlichen Diskurs fühlen sich männliche Forscher in der Prägung Marginalisierter Männlichkeiten in zunehmenden Maße nicht mehr repräsentiert durch Theorien der traditionellen Entwicklungspsycho- logie und Soziologie (vgl. Brandes/Bullinger 1996a, 4). Anhand des Kon- zeptes der verschiedenen Männlichkeiten hält Kritische Männerforschung der traditionellen Forschung vor, abweichende, dem Geschlechterstereo- typ nicht entsprechende Männlichkeiten in ihren theoretischen Sozialisati- onsmodellen nicht adäquat aufzugreifen. In ihnen werde die Problemhaf- tigkeit, die mit der simplifizierten Vereinheitlichung von männlicher Soziali- sation und damit der Normierung von Männlichkeit verbunden ist, nur un- zureichend reflektiert. Dies gelte im besonderen für die traditionellen psy- chologischen und soziologischen Theorien der Sozialisation (vgl. z.B. Hur- relmann 1993, 13ff). Kritische Männerforschung bemängelt, daß die ein- seitig ausgerichteten Sozialwissenschaften nicht nur den Blick auf die Ge- schlechterhierarchie zwischen Frauen und Männern verdeckt haben, son- dern daß sie zugleich als Legitimation zur Herrschaft von Männern über Männer instrumentalisiert wurden.

Um sich nun der Problematik der Hegemonialen Männlichkeit schematisch nähern zu können, ist unabdingbar eine Analyse vonnöten, welche die herrschenden sozialen Entwicklungsbedingungen männlicher Sozialisation aufdeckt und diese einer kritischen Evaluation unterzieht.

2 Aspekte und Kristallisationspunkte in der männlichen Sozialisation

Die Kritische Männerforschung hat mittlerweile die männliche Sozialisation in einigen umfassenden Werken theoretisch aufgearbeitet und je nach Intention bestimmte Aspekte in den Vordergrund gestellt (vgl. Böh- nisch/Winter 1993, Brandes/Bullinger 1996c, Connell 1995, Wil- lems/Winter 1990). Auch in dieser Arbeit soll der Forschungsfrage gemäß besondere Aufmerksamkeit einer Reihe von Punkten gelten, die Männlichkeit im Sinne der Hegemonialen ausformen und andere Formen von Männlichkeit marginalisieren und somit ausgrenzen. Es soll dabei nicht der Eindruck entstehen, daß männliche Sozialisation einheitlich und somit eindimensional vonstatten geht. Vielmehr soll zum Ausdruck kommen, inwieweit herrschende (hegemoniale) soziale Geschlechterstereotypen und -klischees Einfluß nehmen auf die allgemeine Entwicklung der männlichen Geschlechtsidentität in unserer Kultur.

Auf eine gliedernde Zuordnung der Aspekte als ‘entwicklungs- psychologisch’, ‘psychoemotional’, ‘sozioökonomisch’ u.ä. wird ausdrück- lich verzichtet, um der Verwobenheit dieser Ebenen auch in der Realität zu entsprechen.

2.1 Die Rolle der Mutter und das Autonomiedilemma des Jungen

„Unter diesen Gesichtspunkten kommt der Junge also belastet aus dieser ersten Phase von Sozialisation heraus: mit der Abwehr von weiblichen Anteilen und der Erfahrung von Ambivalenz, die ein negatives Erlebnis von Beziehung ist“ (Wahl 1990, 17).

Ein Hauptmerkmal der männlichen Sozialisation ist die Tatsache, daß die Ablösung des Kindes von seiner primären Bezugsperson, seine Individua- tion, unter einer gegengeschlechtlichen Konstellation stattfindet. Jungen werden von Frauen geboren und finden somit den Weg ins Leben in der physischen Trennung vom weiblichen Körper der Mutter. Während Neu- geborene die Geschlechtskategorien dabei zunächst höchstens unbewußt der männlichen Sozialisation wahrnehmen, werden sie im Verlaufe der frühkindlichen Entwicklung zu einem entscheidenden Faktor der Ich-Bildung. Bange/Enders (1995, 35) verweisen auf Studien, die belegen, daß sich Kleinkinder im Alter von 18 Monaten bewußt sind, welcher Kategorie sie angehören. Da in unserer Kultur die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung den Frauen den Bereich der Familie und damit auch der Erziehung zuweist, findet männliche Sozialisation und Ich-Entwicklung in der Auseinandersetzung mit einer gegengeschlechtlichen Bezugsperson statt. Es handelt sich bei diesem Bedingungsfeld um Faktoren, welche kulturell und historisch vari- abel sind (vgl. Meiser 1997).

Für einen Jungen bedeutet Individuation also die Abgrenzung vom weibli- chen Geschlecht. Die erlebte symbiotische Einheit der Schwangerschaft wird aufgelöst in der Trennung des männlichen Säuglings/Kleinkinds von der primären Bezugsperson, welche in unserer Kultur die Mutter ist (vgl. Bolz 1989). In der Erkenntnis der eigenen Geschlechtlichkeit bricht der Junge mit seiner primären Identifikation. Er muß in seiner Mutter fortan kein Subjekt, sondern ein Objekt sehen, an dem er seine Männlichkeit in Abgrenzung erweisen muß (vgl. Bange/Enders 1995, 35f).

Bis zum dritten Lebensjahr, welches das Ende dieser primären Entwick- lungsphase (Präödipale Phase) kennzeichnet, wird die männliche Ge- schlechtersozialisation durch Erfahrungen der Abhängigkeit von einer Frau, aber auch durch Selbstfindung in der Abgrenzung von einer Frau (vgl. Bolz 1989) markiert. Bolz spricht in diesem Zusammenhang von ei- nem Autonomiedilemma. Männlichkeit bedeutet für den Jungen in dieser Abgrenzung weniger ein Mann, sondern vielmehr nicht ein Nicht-Mann (Frau) zu werden, da der Vater der Jungen nur selten als Modell präsent ist (vgl. Hagemann-White 1984, 92). Jungen durchleben dabei die ambiva- lente Situation (double bind situation), daß von ihnen Eigenständigkeit und Unabhängigkeit von der Mutter verlangt wird (‘Du bist doch schon ein gro- ßer Junge’), andererseits begegnet ihnen die Mutter oftmals als omnipo- tente Person, welche Jungen ihre Abhängigkeit und Ohnmacht deutlich vergegenwärtigt (vgl. Schnack/Neutzling 1993, 31f; Bolz 1989, 112f).

2.2 Die Rolle des Vaters und die Suche nach Männlichkeit

Das Autonomiedilemma des Jungen wird verstärkt durch die2 Tatsache, daß der Vater in den entscheidenden Phasen seiner Ich-Bildung als Orien- tierungspunkt weitgehend fehlt. In unserer Kultur gilt nach wie vor die so- ziale Norm, daß es für Kinder/Kleinkinder besser sei, wenn sich die Mutter als primäre Bezugsperson erzieherisch einbringt. Es wird von Frauen ge- sellschaftlich erwartet, daß sie ihre persönlichen beruflichen Ambitionen zurückstellen, wenn es Kinder zu erziehen gilt (vgl. Bolz 1989, 106). Der Vater hat für seine Familie in finanzieller und wirtschaftlicher Hinsicht zu sorgen. Die weitgehende auch räumliche Trennung von Öffentlichkeit und Privatsphäre, von Berufswelt und Familie in der modernen Industriegesell- schaft bringt mit sich, daß Väter sich nur wenig am Erziehungsprozeß der Kinder beteiligen (vgl. Böhnisch/Winter 1993, 54). Hinzu kommt, daß Väter oftmals unsicher sind, wie sie sich gegenüber ihren Kindern emotional verhalten sollen. Insbesondere in der Bundesrepublik mit zwei Weltkriegs- generationen fehlten Vätern ihrerseits Vorbilder, die ihnen eine emotionale Bindung zwischen Vater und Sohn hätten vorleben können. Dieses Defizit hat sich somit tradiert (vgl. Kreckel 1997, 57ff; Warzecha 1997, 242). Die Abwesenheit der Väter zieht nach sich, daß Jungen im Kleinkindalter dazu neigen, den Vater zu idealisieren. Er wird zum Image, zur stereotypen Heldenfigur (vgl. Böhnisch/Winter 1993, 65).

Da er selten anwesend ist, gibt es nicht die alltäglichen Auseinanderset- zungen wie mit der Mutter. Wenn der Vater zugegen ist und sich dem Jungen widmet, dann gilt das als etwas Besonderes. Darauf hat sich der Junge zu freuen, da der Vater als vielbeschäftigter Mann sonst wichtige- ren Dingen nachgehen muß (vgl. Bange/Enders 1995, 37). Der Vater geht arbeiten, wobei ‘arbeiten’ für den Jungen ein Indefinitum bleibt, mithin etwas, wofür irgend jemand dem Vater eine finanzielle Ge- genleistung erbringt.

Die Tätigkeit der Mutter wird mit ‘Arbeitslosigkeit’ in Zusammenhang gebracht - ‘Was arbeitet Deine Mutter? - Nichts, die ist zuhause’. Böhnisch und Winter (1993, 38) bezeichnen dies als Hierarchie zwischen Produktion und Reproduktion:

„Dazu kommt, verstärkt durch die selbstverständlich gewordene Berufsorientie- rung von Frauen, daß der häusliche Reproduktionsbereich in eine doppelte Abwer- tung geraten ist: Er wird nicht nur von den Männern abgewertet, sondern auch Frauen wehren sich zunehmend gegen die einseitige Zuweisung auf die Hausar- beit und weigern sich auf Grund dieser negativen Zuschreibung, Hausfrauenarbeit für sich positiv zu bewerten oder gar über die Berufsarbeit zu stellen. Hier zeigt sich deutlich, daß der häusliche Reproduktionsbereich mit seinem hohen Grad an sozialen, kommunikativen und kreativen Anforderungen sowie einer relativ hohen Selbständigkeit der Organisation und Gestaltung erst attraktiv wird, wenn er ge- sellschaftliche Anerkennung findet. Solange aber die ökonomische Hierarchie von Produktion und Reproduktion so bleibt, wird sich für Männer und Frauen an diesem Dilemma wenig ändern".

So ist bereits in dieser Phase des ersten Spracherwerbs und der Ich- Entwicklung die Vermittlung der Geschlechterhierarchien verankert. Die Medien stützen dabei diese ungleiche Geschlechterachse oftmals, indem sie männliche Actionhelden als Vorbilder propagieren, während Jungen die Eintönigkeit der Hausarbeit in realiter verfolgen können. Be- reits im Kindergartenalter haben Kinder die Ungleichheit und damit die Wertigkeit der beiden Geschlechter internalisiert (vgl. Keuneke 1998, 233ff).

2.3 Zur männlichen Adoleszenzkrise

„In der Jugendphase dagegen besteht - unter günstigen Umständen - die Möglichkeit, den in der Kindheit vorgezeichneten Pfad der männlichen ‘Normalbiographie’ zu verlassen. Denn in dieser Zeit brechen Konflikte aus der Kindheit erneut auf“ (Böhnisch/Winter 1993, 77).

Insbesondere das Autonomiedilemma der Kindheit wird während der Ado- leszenz wieder relevant. Pubertierende Jugendliche suchen nach einer neuen, erwachsenen Identität, nach Abgrenzung und Lösung vom Eltern- haus. Sie spüren dabei die Grenzen ihres Freiheitsdranges, da sie nach wie vor sowohl ökonomisch als auch rechtlich abhängig sind von den pä- dagogischen Instanzen (Elternhaus, Schule etc.). Für männliche Jugendli- che bedeutet dies, daß die ambivalente Situation des Strebens nach indi- vidueller Freiheit und der Empfindung von Abhängigkeit wie in der Indivi- duationsphase erneut auflebt (vgl. Böhnisch/Winter 1993, 78). Dies kann gleichermaßen als Chance und als Risiko betrachtet werden. Eine Chance besteht insofern, als daß über männliche Vorbilder und eine gezielte Ein- führung in die Erwachsenenwelt dieses Dilemma überwunden werden könnte. Jugendliche hätten dann die Möglichkeit, ihre Männlichkeit zu er- proben und sich mit ihr angenommen zu fühlen in der ‘Gemeinschaft der Männer’. In den Industrieländern findet aber eine behutsame Einführung (Initiation) in die Welt der Erwachsenen nicht statt (vgl. Lee 1998, 14). An- ders als in anderen Kulturen gibt es nicht den Punkt oder Augenblick, wel- cher das Ende der Kindheit und den Beginn des Erwachsenenlebens mar- kiert. Zwar wird der Junge biologisch zeugungsfähig, seine ‘männliche Po- tenz’ muß er aber immer aufs neue demonstrieren und nachweisen (vgl. Schnack/Neutzling 1993, 153f). Jungen sehen ihre Männlichkeit stets be- droht und sind somit bemüht, sie durch ‘korrektes’ ‘doing Gender’ zu re- produzieren. Da männliche Vorbilder rar sind, orientieren sich die Jugend- lichen an den älteren bzw. erfahreneren Jungen ihrer Peer-Group oder an männlichen Vorbildern in den Medien (vgl. Wahl 1990, 18f). Beides er- scheint problematisch, da in beiden Gruppen Hegemoniale Männlichkeit propagiert wird und jegliche Abweichung davon soziale Sanktionen nach sich zieht (vgl. Böhnisch/Winter 1993, 83). Dies gilt im besonderen für die männliche Clique, in der fast peinlich genau darauf geachtet wird, daß kein Mitglied aus diesem herrschenden Raster ausbricht (vgl. Metz-Göckel 1993, 95). Homosexualität gilt als höchste Diffamierung, und Jungen, die sich nicht als heterosexuelle ‘Frauenhelden’ präsentieren können, haben es schwer, in der männlichen Gruppe Anerkennung zu erwerben. Dazu trägt bei, daß sich viele Mädchen gleichen Alters ebenfalls stark sexuell orientieren an älteren, vorgeblich reiferen Männern, die dem Klischee der Hegemonialen Männlichkeit am ehesten entsprechen (vgl. Schnack/Neutzling 1993, 125). Das mag zwar nicht durchgängig der Fall sein, aber in der öffentlichen Geschlechtsdarstellung (z.B. auf dem Pau- senhof) beanspruchen diese Art stereotyper Pärchen besonders viel Auf- merksamkeit und prägen damit nachhaltig das Idealmuster von Weiblich- keit und Männlichkeit. Jungen orientieren sich dadurch zwangsläufig an Gleichaltrigen oder Älteren, welche bei Mädchen als sexuell besonders attraktiv gelten. Da diese ersten Erfahrungen von Sexualität stark gebun- den sind das Modell der Hegemonialen Männlichkeit, kann die Chance der Pubertät, aus dem Raster auszubrechen nur selten real genutzt werden. Im Gegenteil trägt diese Phase für gewöhnlich sogar dazu bei, bestehen- de Geschlechterstereotypen zu bestätigen und zu reproduzieren (vgl. Wahl 1990, 22f).

2.4 Das Prinzip der Externalisierung

„Jungen dürfen sich untereinander oder gegenüber Mädchen nicht als das zeigen, was sie sind, weil das, was sie sind, immer zu wenig, zu klein und zu mickrig zu sein scheint. Die Kluft zwischen innerem Erleben und Außendarstellung wird im Laufe der Jahre immer größer" (Schnack/Neutzling 1993, 65).

Externalisierung als Prinzip der männlichen Sozialisation meint, daß Jun- gen dazu erzogen werden, innere Konflikte und Spannungen nicht zuzu- lassen, sondern sie auf andere Objekte zu projizieren (vgl. Beermann 1994, 117). Psychische Spannungen wie Angst, Scham und Hilflosigkeit müssen nach außen getragen, externalisiert werden, da sie innerlich nicht adäquat verarbeitet werden können. Schon bei Kleinkindern kann man beobachten, daß Jungen aktiver sind, sich mehr bewegen und dazu nei- gen, mehr Raum für sich zu beanspruchen als Mädchen (vgl. Ban- ge/Enders 1995, 44). Jungen gehen aus sich heraus, präsentieren sich und Dinge, die sie geschaffen haben. Dadurch beziehen sie Anerkennung und das Gefühl von Männlichkeit stark durch die veräußerlichte Wahr- nehmung ihrer Taten (Türme bauen, mit Autos spielen etc.) (vgl. Hage- mann-White 1984, 16). Der idealisierte Vater und/oder andere Männerbil- der dienen dabei als Vorbild für die eigene Identitätsbildung, die auf Abgrenzung und Dominanz gründet.

Sozialräumliche Externalisierung liegt dann vor, wenn Jungen in einem sozialen Umfeld mehr Raum für sich beanspruchen als beispielsweise Mädchen zugebilligt wird. Zum einen kann dies bedeuten, daß sich Jun- gen zusammenschließen, um ihr ‘erobertes’ Umfeld gegen Mädchen zu verteidigen, zum anderen bedeutet diese Dominanz und das Streben nach Raum, daß beispielsweise auch kommunikativ, z.B. in der Schulklasse, Mädchen weniger Raum gelassen wird (vgl. Enders-Dragässer/Fuchs 1988, 66ff).

Körperliche Externalisierung nennt man Verhalten wie Aktionismus, in körperliche Aktivität verwandelte innere Spannung. Jungen betreiben mehr Sport, insbesondere Sportarten, die stark mit Konkurrenz und Leistungsvergleichen durchsetzt sind (vgl. Ministerium für die Gleichstellung von Frau und Mann des Landes NRW 1997, 236).

Eine Art physiologischer Externalisierung stellt beispielsweise der Samenerguß des Mannes, die sichtbare Erregung seines Gliedes oder die Tradition des Blutvermischens bei Freunden dar.

2.5 Das Prinzip der Gefühlsverleugnung

„Wer herrscht, der zeigt dem Untergebenen keine Gefühle. Deshalb geben Männer Frauen gegenüber, aber auch den männlichen Herrschaftsrivalen, keine Gefühle preis" (Jung 1993, 19).

Von Männern wird erwartet, daß sie keine Gefühle zeigen (vgl. Ban- ge/Enders 1995, 27ff). Jeder Junge kennt die Sprüche ‘Ein Indianer kennt keinen Schmerz’, ‘Jungen weinen nicht’, ‘Sei keine Memme’, ‘Jungs haben doch keine Angst’, ‘Stell dich nicht so an, oder bist du ein Mädchen’ (vgl. Schnack/Neutzling 1990, 43ff). In diesen Sätzen steckt nicht nur die ge- sellschaftliche Geringschätzung von Mädchen, sondern auch die bewußte Aufforderung, eigene Gefühle zu verdrängen. Dies steht im Zusammen- hang mit dem Autonomiedilemma und seiner Konsequenz, die eigene physische und psychische Abhängigkeit von der Mutter zu verleugnen (vgl. Lee 1998, 74). Autonomie und Hegemoniale Männlichkeit verlangen eine Negierung dieser Hilflosigkeit und existentiellen Bedürftigkeit. Gefühle werden rationalisiert oder auf andere Menschen (v.a. Frauen) übertragen. Für den Jungen stellt das Prinzip der Gefühlsverleugnung eine quasi ‘unmenschliche’, nicht erfüllbare Anforderung dar, welche zu psychischem und physischem Leiden führen kann.

2.6 Das Prinzip der Sprachlosigkeit

Eine mögliche Ausdrucksform von Gefühlen wäre die verbale Kommunika- tion. Diese jedoch gilt als unmännlich und wird oft mit abwertenden Begrif- fen wie z.B. ‘Tratschweib’, ‘Kaffeeklatsch’, ‘Herumgelaber’ in Verbindung gebracht. Für Männer gilt: ‘ein Mann - ein Wort’. Einsilbigkeit, Wortkargheit und Sprachlosigkeit sind Verhaltensmuster, die eher Männern zugeschrie- ben werden. Frauen reden, Männer entscheiden - so oder ähnlich werden Geschlechterstereotype vermittelt. ‘Er ist ein Mann der Tat’ - Jungen wird unbewußt oder bewußt gezeigt, wie unnötig und sinnlos Reden über Ge- fühle angeblich ist. Diese Form der Kommunikation gilt als (diskriminier- tes) weibliches Verhalten. So bestehen unter Männern nur selten Freund- schaften, in denen über mehr gesprochen wird als über ‘äußere Angele- genheiten’.3 Diese Gespräche finden zumeist statt in bierseliger Männer- runde und nur selten im vertraulichen Miteinander zweier Männer. Über eigene Gefühle und Schwächen redet man(n) nicht.

2.7 Das Prinzip der Homophobie

„Wenn Homosexualität im Westen nicht mit abfälligen Bemerkungen versehen und verspottet würde, wäre die Angst der Jungen, homosexuell zu werden, kein Prob- lem. Man könnte Männern die gleichgeschlechtliche Nähe erlauben, die sie sich wünschen. In seinem Buch What a Man´s Gotta Do beschreibt der englische Wis- senschaftler Antony Easthope, daß es westlichen Männer nur beim Sport und im Krieg erlaubt sei, sich zu umarmen. Die Liebe zwischen nicht homosexuellen Män- nern wird deshalb schon früh unterbunden, und da man ihr ihren wirklichen Platz versagt, führt das zu allen Arten von Schmerz. Es wäre sehr vereinfachend zu sa- gen, daß Kriege nicht mehr stattfänden, wenn Männer es lernten, nicht nur in Kon- fliktsituationen einen engen Kontakt zueinander herzustellen, aber es ist sehr ein- leuchtend anzunehmen, daß nicht so viele Konflikte entstehen würden. East-hope argumentiert, daß Krieg der Preis ist, den Männer für die Nähe zueinander zahlen. Weiblichkeit und homosexuelles Begehren müssen abgewehrt werden, wenn die Ansicht, ein Mann habe hart zu sein, überleben wolle“ (Lee 1998, 129f).

Ein wichtiger Grund für die mangelnde Kommunikationsfähigkeit insbe- sondere unter Männern liegt in dem Gefühl der permanenten Bedrohung durch homoerotische Neigungen und Gefühle. Es gibt für Jungen kaum eine verletzendere Beleidigung als die Verhöhnung als ‘Schwuli’, ‘Homo’ oder ‘Schwuchtel’.

Daß es sich bei dieser sozialen Erscheinung um ein historisch bedingtes Phänomen handelt, darauf verweist die Griechische Antike, in der es ge- radezu als Norm galt, homosexuelle Kontakte und Beziehungen zu pfle- gen. So wäre es sicherlich für Plato, Aristoteles und Epikur niemals eine Beleidigung gewesen, hätte man sie als homosexuell tituliert (vgl. Jung 1993, 197). Wo jedoch fußt diese durchgängige Angst in unserer Patriar- chalkultur vor der Liebe und Zuneigung zwischen Männern?

Ein Erklärungsansatz besteht darin, daß durch die seltene Anwesenheit der Väter in unserer Industriegesellschaft Jungen geradezu dazu gezwungen werden, ihre positiven Gefühle für den Vater zu verleugnen. Da er sich der Erfüllung emotionaler Bedürfnisse entzieht, bleibt nur die Verdrängung als Prinzip (vgl. Schnack/Neutzling 1997).

Eine weiterer Ansatz (vgl. Kreckel 1997, 19ff) geht von Gründen aus, die in der ursprünglichen Verankerung des Patriarchats zu finden sind. Als Stichworte seien hierbei monotheistische Vaterreligion, Männerbünde (z.B. Kirche, Politik, Wissenschaft), die sogenannte Vatermordtheorie, verdrängter Gebärneid etc. genannt.

Die Wissenschaft markiert einen deutlichen Schnitt in der männlichen So- zialisation im Alter zwischen 3 und 5 Jahren (Ödipale Phase) (vgl. Engel- fried 1997, 76; Böhnisch/Winter 1993, 54ff) . Ab diesem Zeitpunkt wenden sich Väter psychisch und physisch von ihren Söhnen ab, weisen körperli- che Annäherungsversuche des Sohnes zurück und fordern stärkere Auto- nomie und größeres Durchsetzungsvermögen beim Jungen ein. Zeitlich fällt dies mit der Einschulung des Jungen zusammen, bei der auch ein Großteil der Erziehungsverantwortung der Eltern übergeht auf die staatli- che Institution Schule, in der Leistung und Konkurrenzfähigkeit eine ver- stärkte Rolle spielen. Wie soll sich also ein Junge ‘durchbeißen’, durch- kämpfen, gegen andere Jungen behaupten, wenn er zuhause noch in den Schoß des Vaters kriechen und kuscheln möchte (vgl. Bange/Enders 1995, 38).

In dieser Entwicklungsphase sind Jungen statistisch besonders anfällig für psychosomatische Erkrankungen (vgl. Schnack/Neutzling 1990, 113). Nicht nur Eltern und das nähere Umfeld verlangen von einem Jungen, seinen ‘Mann zu stehen’, vielmehr muß er auch in der staatlichen Instituti- on demonstrieren, daß er eine akzeptierte Form von Männlichkeit erwor- ben hat. Daß diese Normen mit unglaublichem Leidensdruck auf seiten der Jungen verbunden sind, wurde lange gesellschaftlich, aber auch wis- senschaftstheoretisch übersehen (vgl. Winter 1993, 157).

Jungen sollen sich gegen andere Jungen behaupten und durchsetzen können. Mädchen werden als Konkurrenz erst gar nicht in Betracht gezo- gen. Wie aber kann ein Junge konkurrenzfähig und stark sein, der Gefüh- le für andere Jungen zuläßt? Es vertrüge sich nicht mit dem Bild von Männlichkeit, wenn Jungen ihre vorhandenen Sehnsüchte und Wünsche nach männlicher Nähe und Körperlichkeit offen zeigen würden (vgl. Böh- nisch/Winter 1993, 72ff).

Es erscheint paradox, aber Körperlichkeit und Berührungen zwischen Männern sind in unserer Kultur sozial nur erlaubt, wenn zuvor deutlich gemacht wurde, daß Männer nicht als Partner gelten. So bietet der Sport, insbesondere der Fußball, einen sozialen Raum, in dem sonst als ‘schwul’ geltendes Verhalten als legitim definiert ist (z.B. Küsse und Umarmung beim Torjubel). Dieses Verhalten zeigt sich auch in weniger harmlosen Situationen wie im Krieg. Verletzte Männer stützen sich, trocknen ihren Kameraden die Tränen, trösten einander und helfen sich. Dabei stellt sich die berechtigte Frage, ob Männer sich erst bekämpfen, töten oder verlet- zen müssen, bevor sie andere Männer körperlich an sich lassen (und das alles im Kampf für das sogenannte Vaterland) (vgl. Friederich 1990, 40ff). Diese Beispiele demonstrieren auf eindrückliche Weise die Angst vor männlicher Berührung, aber auch die Sehnsucht danach. Es ließe sich vermuten, daß z.B. die Gewalt an Schulen reduziert würde, wenn Jungen sich auf andere Weise berühren dürften als durch Schläge und sich zu- dem nicht permanent als Konkurrenten betrachten würden.

2.8 Das Prinzip der Konkurrenzfähigkeit

„Die Warnung, ja nicht homosexuell zu werden, führt dazu, daß sie sich gegenüber Jungen im gleichen Alter nicht kooperativ verhalten können. Statt dessen treten sie gegeneinander an" (Lee 1998, 129).

Jungen werden darauf ‘getrimmt’, sich gegenüber anderen Jungen, aber mittlerweile auch - auf andere Weise - gegenüber Mädchen behaupten zu können. Sie müssen nicht nur lernen, ‘auf eigenen Beinen zu stehen’ (in der Loslösung von der Mutter), sondern sie sollen sich als stark und kon- kurrenzfähig erweisen. So fördert nicht nur der Vater, sondern oft auch die Mutter beim Jungen Verhaltensweisen, welche darauf abzielen, den Jun- gen ‘hart’ zu machen für das rauhe und wettbewerbsorientierte Leben ‘draußen’ in der Gesellschaft. Dieser Prozeß findet bereits in der Interakti- on mit anderen Kindern beispielsweise auf dem Spielplatz oder auch im Kindergarten statt (vgl. Schnack/Neutzling 1990, 69). Studien zeigen, daß Jungen öfter als Mädchen dazu neigen, anderen Kindern Spielzeug weg- zunehmen und dieses für sich zu beanspruchen. Überläßt man ihnen das Spielzeug freiwillig, so wird es augenblicklich uninteressant und liegen- gelassen. Der Wert eines Spielzeugs ermißt sich in den Augen eines Jun- gen stark daran, wie viele andere Kinder (v.a. Jungen) diesem Gegens- tand Aufmerksamkeit und Bedeutung schenken (vgl. Bange/Enders 1995, 47ff). Die Norm des Sich-Durchsetzens der Jungen wird bisweilen geför- dert durch das pädagogische Umfeld in den Institutionen (z.B. Kinderkrip- pe, Kindergarten, Schule). Da die Jungen nach dem primären Sozialisati- onsfeld der Familie nun in Institutionen kommen, die ebenfalls von Frauen dominiert werden und in denen männliche Vorbilder zumeist gänzlich fehlen, entwickelt sich die männliche Geschlechtsidentität hauptsächlich in der Auseinandersetzung mit anderen Jungen (vgl. ebd. 1995, 43ff).4 Dieses Prinzip der Konkurrenz mit anderen Männern oder Jungen dient nicht zuletzt einem längerfristigen Ziel.

2.9 Das Prinzip des Mannes als Ernährer

„Über den vor allem auf den Männern lastenden Zwang zur Erwerbsarbeit hat sich männliche Identität über Jahrhunderte konstituiert. Der Vater ist der Stärkste in der Familie. Er kann die schwere Arbeit machen und bekommt abends das größte Stück Fleisch“ (Schnack/Neutzling 1997, 120).

Zwar haben sich die gesellschaftlichen Bedingungen in den letzten Jahr- zehnten weitgehend verändert, das Bild des Mannes als Ernährer einer Familie ist dennoch noch lange nicht aus den Köpfen verschwunden (vgl. Lee 1998, 189). Dabei gibt es schichtenspezifische Unterschiede (vgl. Metz-Göckel 1988, 16), aber als Norm im Sinne der Normativität ist dieses Klischee weiter lebendig. Unbewußt oder bewußt werden Jungen so erzo- gen, daß sie in der kapitalistischen Berufswelt eines Tages ‘ihren Mann stehen’ können. Daß diese Norm (als Leitziel) längst nicht mehr der Norm (als Durchschnitt) entspricht, zeigen nicht zuletzt die steigenden Arbeitslo- senzahlen (vgl. Helbrecht-Jordan/Gonser 1993, 183).

Da ein großer Teil des Männlichkeitsimages an den beruflichen Status geknüpft ist, deuten sich starke innerpsychische Konflikte von Männern an, die diesem ‘Ideal’ nicht entsprechen können. Ein Mann gilt schnell als Versager oder als unmännlich, wenn sein beruflicher Status nicht den ge- sellschaftlichen Vorgaben entspricht. Insofern läßt sich konstatieren, daß über veränderte soziale Rahmenbedingungen wie z.B. steigende Arbeits- losenzahlen auch vermehrt Männer in die Rolle marginalisierter Männlich- keit gezwungen werden. Das Fallen aus dem sozialen Normraster für Männlichkeit führt oftmals zu einer tiefen Identitätskrise, die bei Männern um so schwerer wiegt, je stärker ihr Selbstwertgefühl und ihre Männlichkeit von der beruflichen Leistung und Entlohnung abhängig ist. HelbrechtJordan und Gonser (1993, 182) sehen in der Bedeutung der Ernährungsfunktion für die männliche Identität das größte Hindernis dafür, die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung neu zu gestalten.

2.10 Das Prinzip des Zwanges zur Macht und Herrschaft

„Die Frage nach der Macht von Männern muß aber nicht nur in der Beziehung zu Frauen gestellt werden; sondern ich denke, daß man sich als Mann unter Männern immer auch in Machtkonstellationen bewegt. Es gilt als selbstverständlich, daß es so ist und dies weist darauf hin, daß hier auch ein gewisser Zwang besteht, daß man auch zum Versager gestempelt wird, wenn man sich der Selbstverständlichkeit der Machtspiele unter Männern entzieht“ (Funk 1990, 57).

Lange Zeit galt es als biologischer Fakt, daß Männer aufgrund der ‘Tatsa- che’ größerer Muskelkraft und besserer Nerven physisch und psychisch besser ausgestattet seien. Männer galten als Beschützer der Gemein- schaft, des Stammes, des Volkes oder der Nation (vgl. auch Hagemann- White 1984, 9ff). Auch heute noch sind sowohl Militär als auch Politik und Wirtschaft weitgehend Männerdomänen (vgl. Glücks 1994a, 16). Selbst in der demokratisch strukturierten Bundeswehr sind Frauen an den Waffen bislang nicht zugelassen. Bei allem Für und Wider bleibt Frauen damit aber auch der Zugang zu einem wichtigen Machtfaktor in unserer Republik verschlossen. Vergleichbares gilt auch für die parlamentarischen Vertre- tungen des Volkes, in denen sich der politische Wille und die Überzeu- gungen eines Volkes artikulieren und in Gesetzen ausdrücken kann. In diesen Gremien, aber auch in der Exekutive und Judikative sind Frauen weit unterdurchschnittlich repräsentiert (vgl. dazu Helwig 1997b, 33).5

Es stellt sich die Frage, warum also Männer in all jenen Teilen der Gesellschaft dominieren, die mit Macht und Einfluß versehen sind.

Kritische Männerforschung zeigt auf, daß Jungen schon in der Sozialisati- on lernen, Macht und Überlegenheit als Zielperspektive des Handelns zu verinnerlichen (vgl. Lee 1998, 221f). Wie schon bei dem Punkt ‘Konkur- renzverhalten’ geht es auch beim Streben nach Macht darum, sich als Mann zu behaupten und durchsetzen zu können. Die Mittel zur Erreichung der Ziele sind dabei zunächst irrelevant. Wichtig ist, daß ‘mann’ gegen den Willen anderer (der Frauen, aber auch der Männer) ‘das Feld behaupten’ kann (vgl. Funk 1990, 58).

Ein Grund für das permanente Streben nach Herrschaft und Macht wird in der Externalisierung eines Gefühles von Ohnmacht gesehen (vgl. Böh- nisch/Winter 1993, 26ff). Jungen müssen in ihrer frühen Kindheit ihre Ab- hängigkeit, Ohnmacht und Hilflosigkeit verdrängen, um als Mann gelten zu können. Männlichkeit muß stets aufs neue behauptet werden und ist nicht, wie bei Frauen an bestimmte Reifungsprozesse (z.B. Menstruation) ge- bunden. Niemand verlangt von einer Frau, daß sie eine ‘ganze Frau’ sein soll, daß sie sich nicht wie ein Mann verhalten solle (im abwertenden Sin- ne). Diese fortwährende männliche Identitätsbedrohung muß kompensiert werden durch das Streben nach Macht. Hat ein Mann beispielsweise Macht über seine Frau (z.B. ökonomisch oder auch physisch), so kann er sich präventiv vor eigenen Gefühlen der Unsicherheit und Ohnmacht schützen. Zudem genießen die Männer unter Männern ein höheres Anse- hen, die Macht über Frauen ausüben können. Kritische Männerforschung deutet auch darauf hin, daß das männliche Streben nach Macht im öffent- lichen Leben ebenfalls eine Kompensation für die Ohnmacht im häusli- chen familiären Rahmen sein könnte (vgl. Böhnisch/Winter 1993, 162). Männer verfügen über die Produktionsmittel und somit auch über die Macht in der Gesellschaft. Gottschalch (nach Böhnisch/Winter 1993, 18) stellt in diesem Zusammenhang die These auf, daß dies mit dem anthro- pologisch verankerten Gebärneid des Mannes zu tun haben könne. Unfä- hig, neues Leben zu gebären (Reproduktion), bleibe Männern nur die Flucht in die Produktion - bis hin zur Entwicklung von Technologien, die darauf abzielten, letztlich den Frauen diese biologische Macht der Repro- duktion zu entreißen (vgl. Glücks 1994b, 29). Streben nach Macht durch Männer ist damit oft ein unbewußtes Eingeständnis von Ohnmacht. Nie- mand muß Menschen beherrschen, der sich nicht vor ihnen fürchtet (vgl. Funk 1990, 61; Bundschuh 1995, 152). Aus feministischer Perspektive wurde der Themenkomplex der Macht z.T. sehr einseitig interpretiert. Frauenforscherinnen haben Männer lange Zeit als eine homogene Gruppe betrachtet, welche Macht (über Frauen) besitzt (vgl. Engelfried 1997, 19ff; Funk 1990, 55). Übersehen wurde dabei, daß sich Männer untereinander ebenfalls in einem Machtverhältnis befinden. Zudem wurde Macht mit Pri- vilegien und Zufriedenheit gleichgesetzt. Tatsächlich sind es aber oft ins- besondere diejenigen Männer, die Macht verkörpern, die geradezu süchtig sind nach Anerkennung und Geltung. Es kann angenommen werden, daß sie Macht quasi in dem Maße brauchen, in dem sie Liebe in der Kindheit entbehren mußten. Selbstwertgefühl bei diesen Männern konstituiert sich nicht aus einem Gefühl für den eigenen inneren Wert der Person und ihrer Eigenschaften, sondern fast ausschließlich in der Wertung und Belohnung durch äußere Anerkennung der Leistung bzw. Macht (vgl. Böh- nisch/Winter 1993, 27). Die Wertung, die im Begriff von der ‘Unterdrü- ckung der Frau’ implizit mitschwingt, legt nahe, daß es Männern in diesem patriarchalen System besser gehe. Ein Blick auf die durchschnittliche Le- benserwartung und in die Krankheitsstatistiken genügt aber, die These der ‘patriarchalen Dividende’ (vgl. Connell 1995 zitiert nach Brandes/Bullinger 1996a, 4) fragwürdig erscheinen zu lassen. ‘Unterdrückung der Frau’ meint auch, daß Männer in sich permanent Dinge oder Eigenschaften un- terdrücken müssen, die traditionell eher Frauen zugeschrieben werden (vgl. Goldschmidt 1996, 71). Macht kann genutzt werden, um andere Menschen zu beherrschen und deren Willen zu brechen, sie ist aber im- mer auch Ausdruck der innerpsychischen Unterdrückung von Ohnmacht und dient insofern als Kompensation.6

2.11 Das Prinzip der Körperferne

Sämtliche Gesundheitsstatistiken weisen aus, daß Männer anfälliger sind für eine Vielzahl von Krankheiten und im Durchschnitt auch eher sterben als Frauen (vgl. Schnack/Neutzling 1990, 101ff). Als Gründe für diese Un- terschiede wird häufig angeführt, daß Männer mit ihrem Körper anders umgehen würden als Frauen. Sie betrieben oftmals Raubbau an ihrem Körper und suchten häufig erst dann den Arzt um Hilfe auf, wenn es teil- weise schon zu spät sei (vgl. Goldschmidt 1996). Gibt es in der Kritischen Männerforschung also Belege dafür, daß Männer ihren Körper stärker strapazieren als Frauen, und falls ja, welche Gründe dafür ließen sich an- führen?

Parallel zur Entwicklung der Kritischen Männerforschung beschäftigen sich Forscher stärker mit der gesundheitlichen Verfassung von Männern. Während der Öffentlichkeit zu dieser Thematik noch leicht die Schlagwor- te ‘Managerkrankheit’, ‘Fitneßwahn’, ‘Herz-Kreislauf-Krankheiten’ und ‘Po- tenzprobleme’ einfallen, geht die Männerforschung weiter in die Tiefe. Goldschmidt kommt beispielsweise in ihrer Analyse „Männer und Gesund- heit - epidemologische Daten im Überblick“ zu folgendem Fazit: Im „Ver- gleich zu Frauen haben sie eine geringe Lebenserwartung, sterben häufi- ger an somatischen Erkrankungen wie Herzinfarkt, Krebs der Luft- röhre, Lunge oder Bronchien, verunglücken häufiger tödlich durch Verkehrsunfäl- le und sterben häufiger in Folge eines Suizides. (...) Als Fazit der Mortali- tätsraten kann man jedoch behaupten, daß Männer weitaus riskanter und gefährlicher leben als Frauen“ (ebd. 1996, 71).

Krankheit und Männlichkeit werden in einen Kontext gestellt. Dabei han- delt es sich eigentlich um Zustände und Konstrukte, die einander aus- schließen, da schließlich ein ‘ganzer’ Mann gesund und stark zu sein hat (vgl. Metz-Göckel 1988, 12). Vielleicht haben sich Kritische Männerfor- scher gerade deshalb mit dieser Thematik beschäftigt, weil bis vor weni- gen Jahren Homosexualität noch offiziell als Krankheit galt (zumindest in den USA bis 1974; vgl. Jung 1993, 201) und somit marginalisierte Männ- lichkeit als Krankheit etikettiert wurde. Homosexuelle Männer mußten also jahrelang darum kämpfen, daß ihre sexuelle Orientierung nicht als un- gesund definiert wurde.7 An dieser Stelle tritt zutage, inwieweit Konstrukte wie Gesundheit und Krankheit verwoben sind mit der Konstruktion von Männlichkeit. Abweichende Männlichkeit als Krankheit? Oder ist ‘mann’ krank, wenn man von der Hegemonialen Männlichkeit abweicht? Zunächst einmal erscheint interessant, daß die Definitionsmacht von Krankheit und Gesundheit auch heute noch der ‘männlich’ geprägten Me- dizin (als Wissenschaft) zugeschrieben ist. Traditionelle Schulmedizin als Männerdomäne propagiert auch heute noch die funktionelle Aufteilung des Menschen in Körperfunktionen (Physis) und seelische Befindlichkeiten (Psyche). Für unsere Kultur scheint das selbstverständlich, in östlichen Kulturen mutet diese Separierung seltsam an. Deutlich wird aber, wie funktionalistisch Männer ihren Körper betrachten (vgl. Jung 1993, 66ff). Dieser funktionelle Einsatz des Körpers wird Jungen in der Sozialisation unserer Kultur bereits sehr früh nahegelegt. Jungen sollen sich bewegen, aktiv sein und zeigen, was sie mit ihrem Körper können. Er wird einge- setzt, um sich durchzusetzen (im Balgen, bei Schlägereien) und um Männ- lichkeit zu demonstrieren (z.B. im Sport). Körperbeherrschung ist ein zent- rales Anliegen der Erziehung von Jungen (vgl. Friederich 1990). Welcher Junge soll nicht stark sein, gesund aussehen und körperlich leis- tungsfähig sein? Gleichzeitig mit der Verdrängung der Gefühle werden andere körperliche Ausdrucksformen legitimiert, die auf den funktionellen Einsatz des Körpers abzielen. Besonders in der Pubertät werden Mutpro- ben, und damit Männlichkeitsbekundungen zu extremen körperlichen Randerfahrungen (vgl. Bange/Enders 1995, 48f). Ein Mann soll sich, und damit ist sein Körper gemeint, beherrschen, um die eigene Person und im Notfall die Frau gegen andere Männer verteidigen zu können. Ein Blick in aktuelle Männermagazine legt nahe, daß Männlichkeit in erster Linie über einen durchtrainierten und muskulösen Körperbau definiert wird (vgl. Schnack/Neutzling 1990, 190f). Die Problematik der Funktionalisierung und Ausbeutung des männlichen Körpers wird allzu häufig übersehen (vgl. Jung 1993, 66ff). Ein Mann hat zu funktionieren. Die aktuelle Diskussion um die Potenzpille Viagra offenbart, wie Männer Sexualität und Männlich- keit fokussieren auf die Funktionalität ihres Gliedes (vgl. dazu auch Schnack/Neutzling 1993, 215ff).

So bleibt männliche Sexualität beschränkt auf den funktionalen Vollzug des Geschlechtsaktes. Dabei setzen sich viele Männer selbst unter Druck, vermeintlich erwartete körperliche ‘Leistungen’ zu erbringen (vgl. Zilbergeld 1983, 28ff). Ein gesunder männlicher Körper, der stets funktioniert, wird nach wie vor mit Männlichkeit assoziiert. Was das für Männer bedeutet, die diesem Muster nicht entsprechen können - und das sind die meisten - erscheint leicht nachvollziehbar.

Sie fühlen sich als ‘Waschlappen’, als ‘gebrochene Männer’ oder als ‘Männer mit gebrochenem Rückgrat’. Vielen Männern fällt es nach wie vor schwer, andere Menschen um Hilfe zu bitten. Das Bitten um Hilfe wäre ja bereits ein Eingeständnis des Abweichens vom Idealbild des funktionierenden Mannes. Insbesondere dieses Verhalten machen die Männerforscher dafür verantwortlich, daß schwere Krankheiten bei Männern oft zu spät diagnostiziert werden (vgl. Goldschmidt 1996, 69).

Wird jedoch eine Krankheit attestiert, so liegt dem Mann eine physische Erklärung seiner Dysfunktionalität vor, und diese legitimiert dann seinen Ausbruch aus dem Männlichkeitsschema (vgl. Lindmeier 1993, 38). Diese Art der Legitimation für einen Ausbruchs aus der Hegemonialen Männlichkeit spielt besonders im Zusammenhang mit Behinderung eine wichtige Rolle. ‘Mann’ sucht keine psychischen Gründe für Krankheit, ‘mann’ betrachtet seinen Körper wie ein Auto, welches im Notfall repariert werden kann, damit es wieder fährt (vgl. Jung 1993, 68) .

2.12 Das Prinzip der Gewalt

Der Begriff der Gewalt ist nur schwer zu trennen von dem Komplex Herr- schaft und Macht. Einige Soziologen definieren Gewalt ähnlich, wie in die- ser Arbeit Macht definiert wurde, nämlich als das Durchsetzen des eige- nen Willens notfalls auch gegen den Willen anderer, wobei ein Opfer sub- jektiv geschädigt wird (vgl. Freund 1996, 331). Dennoch sollen hier einige wichtige separate Gedanken erörtert werden. Männer gelten nach dem Muster Hegemonialer Männlichkeit als Täter, als Akteure, die im Zweifels- fall auch bereit sind, Überzeugungen und ihre Ehre mit Gewalt zu verteidi- gen. In diesen mit Gewalt erfüllten Situationen geht es häufig um Frauen oder aber um die Demonstration der eigenen Männlichkeit (vgl. Böh- nisch/Winter 1993, 200ff). Wer als Mann aus dem Raster der Hegemonia- len Männlichkeit ausbricht, läuft nachweislich häufiger Gefahr, Opfer von männlicher Gewalt zu werden (‘Schwulenklatschen’, Gewalt gegen Obdachlose, Gewalt gegen Behinderte, Gewalt gegen Arbeitslose; vgl. dazu Prengel 1995, 73; Schnack/Neutzling 1997, 247).

Neben der Kritischen Männerforschung hat sich auch der Feminismus intensiv mit der Thematik Gewalt auseinandergesetzt.

Von dieser Seite wird dem Thema Gewalt im Sinne von Gewalt gegen Frauen starke Aufmerksamkeit geschenkt. Es wird darauf verwiesen, daß Frauen innerhalb der Geschlechterhierarchie oftmals Gewaltopfer von Männern werden. Allgemein bekannt ist die Debatte über den Mann als potentiellen Täter, v.a. bei sexuellen Übergriffen (vgl. Engelfried 1997, 19ff). Dieser von Frauen thematisierten Problematik ist es zu verdanken, daß Gewaltverhältnisse innerhalb der Geschlechter, sei es versteckter oder offensichtlicher Art, ans Licht der Öffentlichkeit gerückt wurden. Nicht zuletzt als Folge dieser Diskussion existieren heute in jeder größeren Stadt in Parkhäusern Frauenparkplätze, dunkle Straßen und Gassen wer- den beleuchtet und einsichtiger gemacht, Frauen trainieren in Selbstver- teidigungskursen und weisen auf das Phänomen der Vergewaltigung in der Ehe hin. Männern wird über diese Konsequenzen und auch über die Argumentationen vermittelt, daß sie als potentielle Triebtäter gelten (vgl. ebd. 28ff). Kritische Männerforschung betrachtet nun die Kehrseite dieses Diskurses. Zum einen weist sie darauf hin, daß wiederum biologistische Argumente ins Feld geführt werden (Männer seien nun mal triebgesteuert, können sich und ihren Trieb nicht beherrschen - diese Argumente dienen nicht zuletzt der Rechtfertigung und Entschuldigung von Gewalt) (vgl. Schnack/Neutzling 1993, 231), zum anderen zeigt sie, daß Gewaltstatisti- ken bislang sehr einseitig interpretiert wurden.

Biologistische Argumente seitens der feministischen Forschung erschei- nen besonders problematisch, da sie in der Geschlechterforschung auf soziale Komponenten in der Konstruktion von Geschlecht und damit auch auf deren kulturelle Veränderlichkeit aufmerksam machen, andererseits den Männern aber aufgrund ihrer angeblichen biologischen Triebhaftigkeit soziale Rollenetikette (potentieller Vergewaltiger) anheften. Es gibt bislang keine biologisch wissenschaftlichen Erkenntnisse darüber, daß Männer von Natur aus triebhafter oder gewalttätiger sind als Frauen (vgl. Hage- mann-White 1984, 18f). Ein kritischer Blick auf die Gewaltstatistiken zeigt, daß sowohl in der traditionellen Soziologie als auch auf feministischer Sei- te Interpretationslücken bestehen. Kritische Männerforschung und auch feministische Jungenforschung decken auf, daß es höchst problematisch ist, sogenannte Sexualdelikte unabhängig von der allgemeinen Gewaltsta- tistik zu betrachten (vgl. Böhnisch/Winter 1993, 203, Funk 1990, 64). Bei- de Seiten bringen zum Ausdruck, daß beispielsweise Vergewaltigungen und sexueller Mißbrauch weniger zu tun haben mit Sexualität, sondern daß es sich bei diesen Formen in erster Linie um Gewaltdelikte handelt. Betrachtet man die Statistiken separat, so wird augenfällig, daß über 90% der sexuellen Übergriffe von Männern verübt werden und vor allem Frau- en die Opfer sind (vgl. Bange 1995, 33ff).

Bei der Analyse sämtlicher Gewaltdelikte (inklusive sexueller Übergriffe) stellt sich die Statistik vollkommen anders dar. Es ist auffällig, daß ein Großteil aller Gewaltdelikte von Männern verübt werden, daß Jungen als Opfer von Gewalt weit stärker betroffen sind als Mädchen (vgl. Freund 1996, 334). Diese Opferrolle vieler Jungen und späterer Männer wurde lange Zeit sowohl von der traditionellen Soziologie als auch von der femi- nistischen Forschung übersehen (vgl. Metz-Göckel 1993, 92f). Jungen als Opfer - das paßte nicht in das Bild Hegemonialer Männlichkeit. Kritische Männerforschung akzentuiert gerade diese Gewaltproblematik (vgl. Böh- nisch/Winter 1993, 197ff). Wer sich real ständig bedroht fühlt, sich aber nicht bedroht fühlen darf, wer stets Angst hat, Opfer zu sein, aber nur Tä- ter sein darf (oder von der feministischen Seite aus potentieller Täter ist) neigt gerade dazu, dieses soziale Handlungsmuster zu erfüllen. Hinzu kommt, daß Opfer von Gewalt oftmals selbst zu Gewaltakteuren werden können, wenn ihnen keine Möglichkeit geboten wird, diese oftmals trauma- tischen Ereignisse adäquat aufarzubeiten (vgl. Böhnisch/Winter 1993, 210). Gewalt gegen Männer durch Männer wird nach wie vor gesellschaft- lich tabuisiert (vgl. Bange/Enders 1995, 12). Dies zeigt auch der ‘Nachrich- tenwert’ verschiedener Ereignisse. Frauen und Männer haben sich in Deutschland zurecht empört über die Massenvergewaltigungen von Frau- en in Bosnien, während es kein Diskussionsthema darstellt, daß Männer im Alter von 18 Jahren oder jünger in den Krieg geschickt werden. Es wird suggeriert, daß Ereignisse im Krieg (Todesängste, Tod, Verletzung, Ver- lust von Angehörigen und Freunden) Dinge seien, die Männer leicht ver- arbeiten können. Hier zeigt sich, wie Gewalt gegen Männer nicht nur ba- gatellisiert, sondern auch legitimiert wird (vgl. dazu auch Kreckel 1997, 39ff).

„Stellt man zudem in Rechnung, daß in unserer Gesellschaft das Leben eines Mannes weniger wert ist als das einer Frau (Frauen und Kinder zu- erst!), daß er in Kriegszeiten als Kanonenfutter dient und daß die Darstel- lungen seines Sterbens (im Kino oder im Fernsehen) zu simpler Routine verkommen sind, zu einem Klischee der Männlichkeit, dann liefert all dies gute Gründe dafür, die traditionelle Männlichkeit als lebensbedrohlich zu betrachten“ (Badinter 1993, 175).

Ebenso wie feministische Forschung immer stärker den Blick ausweitet auf Frauen als Täterinnen, so ist für Kritische Männerforschung neben der Anerkennung von Männern als Täter wichtig, Männer als Opfer des Sys- tems sichtbar zu machen. Denn nur wer sich als Opfer fühlen darf und reflektieren kann, wird bewußter sein persönliches Handeln verändern können. Frauen haben dies mit der Frauenbewegung eindrucksvoll bewie- sen (vgl. Helwig 1997b).

2.13 Zur Angst, aus dem Raster Hegemonialer Männlichkeit auszu- brechen

„Alles Nicht-Männliche kann leicht zum Angriff auf das konstruierte Mannsein werden. Daraus entsteht für Jungen und Männer ein hoher Normalitätsdruck. Abweichungen werden als nicht-männlich diffamiert“ (Winter 1993, 157).

Die bisher aufgeführten Aspekte machen anschaulich, wie männliche Geschlechtsidentität gebunden ist an soziale Leitsätze und kulturelle Images. Sie tragen letztlich dazu bei, wie Männlichkeit und Weiblichkeit in einer Gesellschaft vermittelt und welche Formen und Ausprägungen propagiert oder sanktioniert werden.

Für Männlichkeit gilt, daß trotz aller Veränderungen Hegemoniale Männ- lichkeit weiter als traditionelles Muster dominiert (vgl. Connell 1995). Jun- gen und Männer haben Angst, aus dem Schema dieser Männlichkeit her- auszufallen, da dies mit sozialen Sanktionen verbunden ist. „Für die Jun- gen scheinen sich Verhaltensanforderungen rigider zu (gestalten), wenn sie von dem stereotypen männlichen Verhalten abweichen, laufen sie schnell Gefahr, ‘ein Mädchen zu sein’ “ (Ministerium für die Gleichstellung von Frau und Mann des Landes NRW 1997, 236). Eine der Sanktionen bestand lange Zeit darin, abweichenden Männern (im Sinne Marginalisier- ter Männlichkeiten) das Mannsein per se abzusprechen oder ihre Männ- lichkeit als krankhaft zu etikettieren (Homosexualität). Sogenannte Män- nerbünde (Kirche, Staat, Politik) wachten über die Einhaltung des männli- chen Kodexes. Abweichungen von der männlichen Norm führten zu ‘Ex- kommunikation’, zum Ausschluß aus der Gruppe. In der Zeit des National- sozialismus, welche von Lempp als „letztes Aufbäumen des Patriarchats“ (Lempp 1989, 178, zitiert nach Engelfried 1997, 72) bezeichnet wird, of- fenbarte sich die Perversität des Männlichkeitswahnes auf grausame Wei- se. Auch die Nazis bedienten sich der Ideologie der Hegemonialen Männ- lichkeit. Männer sollten Krieg gegen die ‘minderwertigen Völker’ führen, Lebensraum erobern und den Sieg der ‘überlegenen arischen Rasse’ si- chern. Frauen sollten für den Nachwuchs sorgen und dem Mann den Rü- cken freihalten. Deutlich wird hier schon, daß die Geschlechterhierarchie nicht nur zwischen, sondern auch innerhalb der Geschlechtskategorie Mann propagiert wurde. Mann gegen Mann sollte sich die ‘Überlegenheit des deutschen Volkes im Feld’ erweisen. Gleichzeitig wurden Juden, wel- che mit biologischen Argumenten als minderwertig gebrandmarkt wurden, genau wie Behinderte, Homosexuelle, Oppositionelle und Deserteure - also Angehörige Marginalisierter Männlichkeiten - in Konzentrationslagern getötet. Extremer kann sich Gewalt von Männern gegen Männer wahr- scheinlich kaum äußern.

2.14 Kritische Würdigung und Stellungnahme

Diese Ausführungen haben deutlich gemacht, wie problematisch es sich für Jungen darstellt, ihre Geschlechtsidentität zu erwerben. Immer in der Gefahr, die eigene Männlichkeit zu verlieren, müssen sich Jungen und Männer stets aufs neue versichern, daß sie ‘dazu’ gehören und nicht aus dem Raster der ‘Normalität’ herausfallen.

Nachdem die feministische Forschung den Blick auf die Frau erweitert und entzerrt hat, trägt Kritische Männerforschung dazu bei, Männer nicht mehr als homogene Gruppe zu betrachten. Es wird vielmehr herausgestellt, daß sich Mannsein auch in unserer patriarchalen Kultur in verschiedenen Männlichkeiten ausdrücken kann. Dabei ist von besonderer Wichtigkeit, das Augenmerk auf die Hierarchien zwischen den Männlichkeiten zu le- gen.

Allerdings kennzeichnet die Kritische Männerforschung auch nach 20 Jah- ren Geschichte noch ein großes theoretisches, aber auch empirisches Forschungsdefizit. Das gilt im besonderen für den Entwicklungsstand der Männerforschung in Deutschland (vgl. Brandes/Bullinger 1996b, 37).

3 Behinderung

„(Es läßt) sich freilich nicht behaupten, daß der Behinderungsbegriff auch ein weithin klarer oder geklärter Begriff ist, von dem folglich jedermann sagen könnte, in welchem Sinne er ihn gebraucht oder versteht. Bei genauerer Betrachtung des alltäglichen wie des allgemeinen wissenschaftlichen Sprachgebrauchs zeigt sich vielmehr ein Maß an Unklarheit bezüglich seiner Bedeutung, das so beträchtlich ist, daß sich eine Verortung des jeweils zugrundeliegenden Phänomens und sei- nes lebensweltlichen Bezugs als äußerst schwierig erweist“ (Lindmeier 1993, 22).

Dringlicher denn je erscheint heutzutage eine fachwissenschaftliche Aus- einandersetzung der Heil- und Sonderpädagogik mit dem Begriff der ‘Be- hinderung’. Für eine wissenschaftliche Disziplin, welche sich selbst nicht selten als ‘Behindertenpädagogik’ tituliert und welche Menschen mit einer Behinderung zuvorderst als ihre Klientel betrachtet, erhält ‘Behinderung’ eine konstitutive Bedeutung. „Für einen Außenstehenden erscheint es merkwürdig, daß es dieser Disziplin, trotz einiger Bemühungen, bis heute nicht gelungen ist, sich auf einen Begriff der Behinderung zu einigen“ (Leist 1994, 46).

Die Diskussion über den Begriff der ‘Behinderung’ wird fachwissenschaft- lich erst in jüngerer Zeit wieder mit Nachdruck betrieben (insbesondere nach dem Aufleben der ‘Lebensrechtdiskussion’ Ende der 80er Jahre). Es erscheint offenkundig, daß ohne eine Verständigung und Übereinkunft über die Implikationen, die mit der Kategorie ‘Behinderung’ verbunden sind, Sonderpädagogik sich als Wissenschaft nicht deutlich genug von den benachbarten Disziplinen abheben kann, um ein eigenes charakteris- tisches Profil zu behaupten. Was macht die Sonderpädagogik zur ‘beson- deren’ Pädagogik, was macht die Heilpädagogik zur ‘heilenden’ oder ‘hei- len’ im Sinne von ‘ganzen’ (vgl. Klauer/Mitter 1987, 4f) Pädagogik, was macht die ‘Behindertenpädagogik’ zur Pädagogik für Menschen mit einer ‘Behinderung’, wenn der Begriff ‘Behinderung’ nicht explizit als eine basale Kategorie verstanden wird?

Die Auseinandersetzung mit ‘Behinderung’ wirft unweigerlich eine Fülle bedeutsamer ethischer Fragen auf, die unmittelbar an diese Kategorie gekoppelt sind: Fragen nach dem Menschenbild, Fragen nach der Norma- tivität der jeweiligen Menschenbilder, Fragen nach der Sinnhaftigkeit der Kategorie ‘Behinderung’.

Findet Sonderpädagogik auf die elementaren Fragen keine, oder aber nur unzureichende Antworten, so besteht die Gefahr, daß sie als Fachdisziplin nicht nur von politischer Seite, sondern auch im Zuge der Ökonomisierung weiter gesellschaftlicher Bereiche in eine tiefe Legitimationskrise gerät. Deutlich wird der ‘Ernst der Lage’ am Beispiel der Integrationspädagogik, welche sich (noch) als Teil der Sonderpädagogik versteht. Als wissen- schaftliche Forschungsrichtung setzt sie sich für die institutionelle Integra- tion von Menschen mit einer ‘Behinderung’ im Bildungssystem ein. „In der Integration geht es darum, ungleiche Verhältnisse zu bewältigen: Dabei ist zunächst an die Spaltung zwischen Regel- und Sonderpädagogik ge- dacht“ (Schildmann 1996, 11). ‘Behinderung’ wird nach diesem Verständ- nis nicht als Kategorie begriffen, welche eine Separation zwischen Regel- und Sonderpädagogik ausreichend legitimiert. Heil- und Sonderpädagogik würden nach diesem Verständnis als eigenständige Disziplinen obsolet werden und in die Regelpädagogik ‘integriert’ werden können.

Es bestünde dann nicht zu unrecht die Gefahr, daß Politik unter dem pro- gressiv und modern klingenden Begriff der ‘Integration’ die interne Fach- diskussion über ‘Behinderung’ und dem ihr impliziten Menschenbild für entschieden erklären und unter dem ‘Deckmäntelchen der Integration’ der Ökonomisierung von Bildung Vorschub leisten könnte. Natürlich wäre es kostengünstiger, Sonderpädagogik als wissenschaftliche Disziplin in die Regelpädagogik zu integrieren, Menschen mit einer ‘Behinderung’ in Regelschulen zu unterrichten und die Fördermöglichkeiten und -bedingungen zu beseitigen. Sonderpädagogen wären nicht mehr not- wendig, um Menschen mit einer ‘Behinderung’ eine optimale Förderung und bessere Bildungschancen zu gewähren. Das Wort ‘Integration’ würde abgekoppelt vom Menschenbild, welches Integrationspädagogik propa- giert; dieses Menschenbild würde geradezu in sein Gegenteil pervertiert. In einigen Bildungsministerien wird bereits über die Abschaffung der Heil- und Sonderpädagogik sinniert, Zugangsbeschränkungen und Redukti- onsmaßnahmen (wie z.B. der Numerus Clausus bei der Aufnahme des Studiums, der Numerus Clausus bei der Verteilung der Referendari- atsplätze, die Erteilung ‘bedarfsdeckenden Unterrichtes’ durch Referenda- re, die Kürzungen der Bezüge für angehende Lehrer etc.) werden bereits praktiziert. Schon 1987 konstatierten Klauer und Mitter, daß im Rahmen der Integrationsdiskussion die Gefahr bestehe, daß die BefürworterInnen „im Übereifer also auch die Sonderpädagogik abschaffen. Sicherlich ist das nicht die Absicht der Protagonisten der Integration, aber es wäre nicht das erste Mal, daß eine Reform anders verläuft, als deren Initiatoren ge- plant hatten“ (Klauer/Mitter 1987, 10). Um so bedeutsamer erscheint es, die Implikationen, die mit der Definition von ‘Behinderung’ als Kategorie verbunden sind, sichtbar zu machen. Im Zuge staatlicher Sparzwänge steht unsere Gesellschaft „im Begriff, behinderten und chronisch kranken Menschen die Solidarität aufzukündigen“ (Neumann 1997a, 6). Darüber hinaus stellen sich angesichts wissenschaftlicher Neuerungen beispiels- weise in der Molekularbiologie und Gentechnologie grundsätzliche ethi- sche Fragen, welche insbesondere auch Menschen mit ‘Behinderung’ betreffen. Als Stichwort sei hierzu die ‘Bioethik-Konvention’ des Europara- tes angeführt. Heil- und Sonderpädagogik muß sich diesen Herausforde- rungen stellen und Antworten formulieren. Dazu bedarf es u.a. der wis- senschaftlichen Aufarbeitung des Begriffes ‘Behinderung’.

Im folgenden sollen einige Implikationen, die mit dem Begriff der ‘Behinderung’ einhergehen, erläutert werden, um dann zu klären, in welchem Sinne der Autor dieser Arbeit den Begriff ‘Behinderung’ verwenden wird.

3.1 Behinderung als historisch entwickelte Kategorie

Bei ‘Behinderung’ als Kategorie handelt es sich um eine Begrifflichkeit, welche erst mit der Industrialisierung an Bedeutung gewann. Sie ist somit eng verknüpft mit der Entstehung nationaler Volkswirtschaften im moder- nen Sinne (vgl. Lindmeier 1993, 40). In den Gesellschaften der Vormoder- ne und der Antike gab es ebenfalls eine nicht unbeträchtliche Zahl ‘behin- derter’ Menschen. Man kannte die Kategorie ‘Behinderung’ allerdings nicht. Wenn an dieser Stelle von ‘behinderten’ Menschen die Rede ist, so sind damit in erster Linie ‘Körperbehinderte’ gemeint (vgl. Lempp 1997, 13). Es wird davon ausgegangen, „daß in der Antike in Sparta nur die er- kennbar behinderten Säuglinge, die mißgebildeten ausgesetzt und damit ausgemerzt wurden. Geistige Behinderung war bei Neugeborenen noch nicht zu erkennen und diese Kinder blieben, wenn sie nicht durch Kinder- krankheiten früh starben - wie z.B. besonders die an Trisomie-21- Leidenden, die Mongoloiden -, am Leben“ (ebd.). Sie stellten wahrschein- lich für die Gemeinschaft auch keinerlei Last dar, da die meisten von ihnen in der Lage waren, einen Teil der gesellschaftlichen Arbeit zu leisten. Ihr ‘Arbeitswert’ wurde nicht unbedingt durch ihre - nach modernem Ver- ständnis -‘Behinderung’ gemindert. Arbeit hieß traditionell körperliche Landarbeit. Somit wurden nur jene ‘Behinderungen’ als solche erkannt, welche „sinnenfällig“ (vgl. Lindmeier 1993, 28) waren und in der Konse- quenz den ökonomischen Beitrag eines Menschen in Form von Arbeits- kraft minderten. Diese Menschen wurden bisweilen ausgegrenzt und iso- liert; es gibt aber auch Zeugnisse einer gelungenen Integration in die je- weilige Gemeinschaftsform.

Erst im Zuge der Industrialisierung im ausgehenden 18. Jahrhundert wur- de die Kategorie ‘Behinderung’ unter den Bezeichnungen ‘Schwach- sinnige’, ‘Krüppel’, ‘Idioten’ u.ä. eingeführt; gleichzeitig wurden spezielle Erziehungs- und Bildungseinrichtungen insbesondere von seiten der christlichen Kirchen für Menschen mit einer ‘Behinderung’ eingerichtet (z.B. Abendberg 1841, Bethel 1867, Liebenau 1867 etc.). Mit der Etablie- rung der Industriegesellschaft ging die Trennung von Arbeitsplatz und Wohnort einher. Große Städte und Industriegebiete wuchsen heran und machten ein komplexeres Sozialnetz notwendig.

Waren ‘behinderte’ Menschen traditionell in die Arbeitsgemeinschaft der Familie, der Sippe oder des Landverwalters eingebunden, so stellte sich die Frage der Arbeitskraft, des individuellen Arbeitswertes für die Gemein- schaft in einer neuen, bis dato unbekannten Dimension. Nicht nur, daß durch die wachsende Population ‘Behinderte’ erstmals zu einem zahlen- mäßigen ‘Problem’ für die Gesellschaft wurden (in den ländlichen Gebie- ten wurden ‘sinnenfällige Behinderte’ kaum wahrgenommen).

Aufgrund des durch die technische Revolution bedingten Rationalisie- rungprozesses wurden Arbeitsplätze zudem immer rarer. Der ökonomi- sche Druck wuchs, und somit wurden ‘behinderte’ Menschen, welche den Anforderungen des Marktes nicht entsprechen konnten, zunehmend als ‘Last’ für die Familien und die Gemeinschaft empfunden. In speziellen Ein- richtungen wurden Menschen mit einer ‘Behinderung’ isoliert von der Ge- sellschaft oftmals nur verwahrt. Anderen ‘behinderten’ Menschen blieb nur die Möglichkeit, mit ihren Handkappen (‘caps in their hand’, die sogenann- ten ‘handicapped people’) Almosen zu sammeln und somit auf die Groß- herzigkeit der Mitmenschen zu hoffen (vgl. Klein 1997, 118).

Mit der Einführung einer flächendeckenden staatlichen Sozialgesetzge- bung Ende des 19.Jahrhunderts in Deutschland wurden Menschen mit einer ‘Behinderung’ finanzielle Hilfen zuteil, die ebenso wie bei der einge- führten Altersvorsorge über die Feststellung von Behinderungsgraden bemessen wurden. Die Feststellung des Behinderungsgrades war unmit- telbar gekoppelt an die Fähigkeit, einer Erwerbstätigkeit nachgehen zu können oder nicht. Das bedeutete, „daß die natürliche Zunahme und Ab- nahme der menschlichen Leistungsfähigkeit von der Kindheit bis zum Alter nicht mehr als normale Entwicklung gesehen, sondern im Vergleich zur durchschnittlichen Leistungsfähigkeit erwerbsfähiger Menschen verstan- den wird. Der Mensch ist somit nur dann nicht ‘behindert’, wenn er er- werbsfähig ist“ (Lempp 1997, 14).

Besonders nachhaltig wirkten sich die Folgeschäden der Weltkriege auf die Etablierung des Behinderungsbegriffes in den modernen europäischen Industrienationen aus. Rückkehrende ‘Kriegsversehrte’, ‘Krüppel’, und ‘Verstümmelte Soldaten’ mußten eingegliedert werden in die Nachkriegsgesellschaft. Sie galten in Deutschland zumindest nach dem ersten Weltkrieg als ‘Helden’. So wurden eigens für diese zahlenmäßig große Gruppe Sozialleistungen offeriert und Gesetze eingeführt.

„Die so verstümmelten ehemaligen Soldaten einer untergegangenen Monarchie, die Kriegsbeschädigten, bedeuteten eine schwere Hypothek für die junge Repu- blik: Nach Kriegsende waren es vier Millionen, die ihr Recht auf Leben und Unter- halt zum Überleben forderten. Diese Gruppe, im Sprachgebrauch der Zeit ‘Kriegs- krüppel’ genannt, genoß fortan bestimmte Vorrechte, wurde privilegiert. Der patrio- tische Opferwille und die Mentalität des selbstvergessenen Einsatzes der Soldaten verlangte nach Anerkennung. Außerdem hatten die Kriegsbeschädigten eine star- ke Lobby in der Politik“ (Lindner 1995, 15).

In der Zeit der Weimarer Republik entstanden die ersten Erwerbsbe- schränkten-Werkstätten (z.B. die Gründung der Westfalenfleißgesell- schaften 1925 im Münsterland), aus denen die heutigen Behindertenwerk- stätten hervorgingen (vgl. Lindner 1995). Zeitgleich kursierte aber allent- halben sozialdarwinistisches Gedankengut, wonach Menschen mit einer ‘Behinderung’ (v.a. einer geistigen ‘Behinderung’) zunehmend nicht nur eine ökonomische Last für die Gemeinschaft darstellen, sondern daß de- ren Förderung und letztlich auch deren Existenz das ‘Gesetz der Evoluti- on’ unterminiere.

Während der Nazi-Diktatur avancierte der Behinderungsbegriff in Form seiner Substantivierung erstmalig zu einem Gesetzesbegriff und errang „anstelle der Begriffe ‘Krüppel’ und ‘Schwachsinniger’ eine gesellschafts- politische Bedeutung im Bereich der öffentlichen Fürsorge“ (Lindmeier 1993, 26). Neben der Bestimmung ‘Körperbehinderte’ wurde so auch der Begriff der ‘Geistig Behinderten’ in die deutsche Amtssprache eingeführt. ‘Behinderung’ als systemischer Begriff wurde ideologisch bewußt mög- lichst abstrakt gehalten, da er sich als Sammelbezeichnung für einen gro- ßen Personenkreis vorzüglich eignete (vgl. ebd.). Systemabweichler und Oppositionelle ließen sich leichter als ‘Geistig Behinderte’ diffamieren, als das zuvor mit der Bezeichnung ‘Krüppel’ der Fall gewesen wäre. Infolge der ‘Rassenhygiene’ und der ‘Euthanasieaktionen’ (z.B. der T4-Aktion) wurden Abertausende von Menschen mit einer attestierten ‘Geistigen Be- hinderung’ zwangssterilisiert und/oder in Konzentrationslagern getötet. Der Behinderungsbegriff pervertierte in dieser Zeit zu einer systemischen Kategorie, welche den ideologischen Zielen des Nationalsozialismus dien- te. An dieser Politik der ‘Ausmerzung erbkranken Lebens’ beteiligten sich nicht zuletzt zahlreiche Hilfsschullehrer (vgl. Rudnik 1985, 84). Die Substantivierung des ‘Behinderungsbegriffes’ und die damit verbun- dene biologistische Sichtweise auf ‘Behinderung’ sollte jedoch auch in der demokratisch pluralistisch orientierten Bundesrepublik und viel länger noch in der sozialistischen DDR fortbestehen (vgl. Bleidick/Ellger- Rüttgardt 1994).8

3.2 Fachwissenschaftliche sonderpädagogische Sichtweisen auf die Kategorie Behinderung

Im folgenden sollen drei unterschiedliche fachwissenschaftliche sonder- pädagogische Sichtweisen auf die Kategorie ‘Behinderung’ erläutert wer- den. Sie wurden ausgewählt zum einen unter historischen Gesichtspunk- ten, zum anderen aber auch deswegen, da sich an ihnen die grundsätzli- chen Pole bei der Sichtweise auf ‘Behinderung’ veranschaulichen lassen.

3.2.1 Behinderung als individuo-zentrische Kategorie

Sowohl in der Etablierung der westdeutschen Heil- und Sonderpädagogik als auch in der ostdeutschen Rehabilitationspädagogik wurde nicht nur das nach medizinischen Kategorien (Blinde, Gehörlose, Körperbehinderte etc.) gegliederte Schulsystem für Menschen mit einer Behinderung aus der Weimarer Republik übernommen, ‘Behinderung’ wurde auch weiterhin als ein rein medizinisch-biologisches Phänomen definiert.

‘Behinderung’ wurde attestiert als ontologisches Wesensmerkmal von Menschen, die Substantivierung des Behinderungsbegriffes wirkte fort. ‘Behinderung’ als Begriff tauchte erstmals 1958 in einem pädagogischen Werk bei R. Egensberger auf (vgl. Klein 1997, 105). Bis dahin sprach man in der Heilpädagogik ausschließlich von ‘Behinderung’ als individuozentrischer Kategorie.

Es gab keinen Sammelbegriff der ‘Behinderung’, sondern nur ‘Körperbe- hinderte’, ‘Sprachbehinderte’, ‘Taube’, ‘Blinde’ etc. ‘Behinderung’ wurde somit stärker als heute am Individuum festgemacht und diesem zuge- schrieben. Diese verengte Sichtweise, welche die biologische ‘Schädi- gung’ als ‘Behinderung’ betrachtete, führte zu einer weiteren Kategorisie- rung nach ‘Behinderungsformen’. Menschen wurden, je nach Art der ‘Schädigung’ in verschiedene Bildungseinrichtungen eingewiesen, da sie dort, nach dem Verständnis der damaligen Heilpädagogik, optimal geför- dert werden konnten. Menschen mit einer ‘Behinderung’ wurden auf diese Weise nicht nur gesellschaftlich isoliert, sondern sie wurden auch ontolo- gisch auf das Merkmal ihrer ‘Schädigung’ (als ‘pathogener Zustand’) redu- ziert.

Im Zuge dieser Aussonderung entstanden große Heilpflegeanstalten (ins- besondere für Menschen mit einer ‘Geistigen Behinderung’ und für ‘Schwerstmehrfachbehinderte’) und Aufbewahrungshorte, welche die be- troffenen Personen oftmals jeglicher gesellschaftlicher Kontakte beraub- ten. Die Gruppe der Menschen mit einer ‘Geistigen Behinderung’ und schweren ‘Behinderungen’ galt noch bis zum Anfang der 60er Jahre ge- meinhin als ‘bildungsunfähig’. Ihre prinzipielle Beschulung wurde erst nach und nach in die Schulgesetzgebung der Bundesländer aufgenommen (z.B. erst 1963 in Bayern) (vgl. Mühl 1994, 16ff). Die Hilfsschule, welche bereits vor dem Zweiten Weltkrieg die Aufgabe hatte, „einmal die Volksschule zu entlasten und zum zweiten ihre Schüler auf ein selbständiges Leben in der Gesellschaft vorzubereiten (Qualifikationsfunktion)“ (Grosse 1996, 30), stellte auch in der Bundesrepublik die heilpädgogische Schulform dar, welche die höchsten SchülerInnenzahlen auswies. HilfsschülerInnen gal- ten unter dem medizinischen Paradigma ebenfalls als pathogen. Ihre Lern- und Bildungsfähigkeit wurde als eingeschränkt betrachtet. Erst mit dem sozialwissenschaftlichen Paradigmenwechsel Ende der 60er Jahren trat diese individuo-zentrierte Sichtweise auf ‘Behinderung’ im fachwissen- schaftlichen Diskurs Westdeutschlands in den Hintergrund. So spricht Bleidick 1977 (zitiert nach Mattner/Gerspach 1997, 21) schon vom „Schei- tern der medizinisch orientierten Sonderpädagogik“. „Dieser voreiligen Prognose zum Trotz erfreut sich gerade in jüngerer Zeit diese paradigma- tische Blickverengung zur Erklärung unverstandener menschlicher We- sensphänomene unter verschiedenen Etikettierungen äußerster Beliebt- heit“ (Mattner/Gerspach 1997, 21). In der Alltagssprache herrscht jedoch auch heute noch vorwiegend eine medizinisch-biologische Sichtweise auf ‘Behinderung’ vor. Der Behinderungsbegriff wird dabei vielfach substanti- vistisch und ontologisch verwendet.

3.2.2 Behinderung als sozio-zentrische Kategorie

Als fundamental entgegengesetzte Betrachtungsweise trat Ende der 60er Jahre und v.a. in den 70er Jahren der soziale Aspekt der Begrifflichkeit ‘Behinderung’ in den Vordergrund. Die sich konstituierende ‘Kritische Be- hindertenpädogik’ begriff ‘Behinderung’ nun im wesentlichen als eine ge- sellschaftliche Kategorie, so daß ‘Behinderung’ nicht mehr als ein Seins- Merkmal von Individuen, sondern als ein Konstrukt betrachtet wurde, wel- ches nur im gesellschaftlichen Kontext hergestellt wird. Eine zentrale Rolle spielte dabei die Diskussion um die sogenannte Lernbehinderung, welche die substantivierte Bezeichnung ‘Hilfsschüler’ in den 60er Jahren ablöste (vgl. Baier/Heil 1991). Im Zuge der Sozialwissenschaftlichen Wende wur- de die mit dem medizinischen Paradigma verbundene Ontologisierung von ‘Behinderung’ in Frage gestellt und auf die soziale Bedingtheit von ‘Behin- derung’ hingewiesen. Eine wesentliche Ursache für die Kritik am bislang geltenden Paradigma lag in den Auswirkungen des Positivismusstreites Mitte der 60er Jahre. „Die empirisch-positivistische Wissenschaft betrach- tet ihren Gegenstand (die soziale Wirklichkeit) als bloßes Objekt. Sie meint, sie stehe diesem Objekt gegenüber. Sie reflektiert aber nicht sich selbst als ein bestimmendes und bestimmtes Moment dieses Objektberei- ches (sog. Subjekt-Objekt-Trennung). Schließlich ist doch auch Wissen- schaft selbst ein soziales Phänomen“ (Gudjons 1995, 39). Dieser Vorwurf wurde auch den Vertretern des rein medizinisch-biologischen Paradigmas in der Sonderpädagogik gemacht. Insbesondere die Vertreter der Kriti- schen Behindertenpädagogik sowie Anhänger der historisch- materialistischen Anschauung (wie z.B. Jantzen, Feuser) kritisierten die mangelnde Selbstreflexion der traditionellen Behindertenpädagogik (vgl. Mattner/Gerspach 1997). Sonderpädagogik wende sich einseitig der Rolle des Behinderten als caritativem Objekt zu und vernachlässige dabei die Tatsache, daß Sonderpädagogik diese erst zu ihrem angestammten Klien- tel selektiere. Gegen die Sonderpädagogik wurde der Vorwurf erhoben, nicht nur die soziale Isolation und Separation von Menschen mit einer ‘Be- hinderung’ zu fördern, sondern es wurde ihr insbesondere von der materi- alistischen-marxistischen Wissenschaftsausrichtung vorgeworfen, die bürgerlichen Klassenunterschiede zu stabilisieren. Verwiesen wurde und wird dabei stets auf die überproportionale Stigmatisierung von Menschen aus den unteren, sozial schwachen Schichten, welche ins Sonderschul- wesen überwiesen würden, um Klassenunterschiede zu verdecken. Diese sich ausschließlich auf soziale Faktoren begründende Sichtweise auf ‘Be- hinderung’ gilt heute in der fachwissenschaftlichen Auseinandersetzung als zunehmend isoliert. Es wird ihr vorgeworfen, daß sie mit dem Grund- satz, daß das ‘Sein das Bewußtsein’ bestimme, wesentliche entwicklungs- psychologische und neurophysiologische Erkenntnisse ausblende (vgl. Mattner/Gerspach 1997, 143ff).

3.2.3 Behinderung als multidimensionales Konstrukt

„Hinsichtlich heilpädagogischer Theoriebildung wurde Behinderung seither nicht länger nur als Defektmerkmal eines Menschen, sondern wesentlich als soziale Kategorie, d.h. als Merkmal eines Bezuges zwischen Individuum und seiner Alltagswirklichkeit begriffen. Damit wurde der Heilpädagogik als Wissenschaft der vertraute und sichere Boden entzogen: sie befindet sich seither, wie einige Vertreter des Faches beklagen, in der Krise“ (Mattner/Gerspach 1997, 27).

Die Krise der Heil- und Sonderpädagogik ab Ende der 60er Jahre scheint sich dabei nicht unabhängig von anderen gesellschaftlichen Entwicklun- gen beurteilen zu lassen. Mit dem Aufkommen der Postmodernen Theorie, welche den radikalen Pluralismus, das Ende der Metaerzählungen und den Widerstreit der Meinungen als drei zentrale Elemente der postmoder- nen Gesellschaft postulierte (vgl. Kaiser/Kaiser 1996, 105ff) wurden wich- tige pädagogische ‘Gewißheiten’ radikal in Frage gestellt. „Die traditionelle Auffassung von Wissenschaft und Erkenntnis geriet u.a. durch das Kon- zept der Postmoderne, bzw. durch konstruktivistische Thesen insgesamt in eine Krise“ (Mattner/Gerspach 1997, 27). ‘Behinderung’ wurde auch angesichts der konstruktivistischen Erkenntnistheorie (vgl. Matura- na/Varela 1987) fortan häufiger weder ausschließlich als individuo- zentrische, noch als ausschließlich sozio-zentrische Kategorie betrachtet. Sonderpädagogik bemüht sich seither, ‘Behinderung’ als ein multidimensi- onales Phänomen zu betrachten, an deren Entstehung sowohl individuelle als auch gesellschaftliche Faktoren beteiligt sind. Die philosophische Fra- ge, ob das Bewußtsein das Sein oder umgekehrt das Sein das Bewußt- sein bestimme, wurde postmodern mit dem Hinweis, daß es darauf keine Antwort geben könne, bedacht. Das Ende der Metaerzählungen bedeutet schließlich, daß der Mensch niemals zu endgültigen metaphysischen Ant- worten gelangen kann und sich die postmoderne Gesellschaft auf einen permanenten Wertediskurs einstellen müsse (vgl. Kaiser/Kaiser 1996). Für die Behindertenpädagogik stell(t)en sich somit Fragen von fundamen- taler Bedeutung. Welchen Zugang zur Erfassung von Wirklichkeit wählt eine Sonderpädagogik? Wie kann sie sich gegenüber der Regelpädagogik behaupten, wenn ‘Behinderung’ als Konstrukt nicht wissenschaftlich erfaßt werden kann? Wie kann sie ihre Existenz rechtfertigen in einer Gesell- schaft, welche nach wie vor bereit ist, unter ‘Fortschritt’ technische Innova- tion und weniger das Verbessern der menschlichen Lebensgrundlagen zu verstehen?

Eine konstruktivistische Antwort der Heil- und Sonderpädagogik auf die Frage nach einer Definition von ‘Behinderung’ lautet: „Behinderung ist ein Erklärungsprinzip für Situationen, in denen die Verständigung von Perso- nen nicht so verläuft wie gewünscht oder erwartet und dieses Mißgeschick der Verständigung einer Person ursächlich zugeschrieben wird, die viel- leicht deutlich anders ist als die meisten, indem man sagt, sie sei behin- dert“ (Walthes 1997, 89f). Es fällt dabei auf, daß der Begriff der ‘Behinde- rung’ ersetzt wird durch den Terminus der ‘Gestörten Kommunikation’. Aber auch bei dieser Definition bleiben Fragen offen. Zwar wird ein Erklä- rungsmuster für die gesellschaftliche Verwendung des Begriffes ‘Behinde- rung’ geliefert, die implizite Intention dieser Etikettierung bleibt aber im Verborgenen. Sonderpädagogik hat sich historisch auch verstanden als wissenschaftliche Disziplin, welche eine optimale Förderung von Men- schen mit einer ‘Behinderung’ mit dem Ziel der gesellschaftlichen Integra- tion gewährleistet. Dazu stellte der Staat, aber auch die Gesellschaft nicht nur finanzielle Mittel zur Verfügung, sondern er bildet auch qualifiziertes Fachpersonal aus. Wie kann eine Gesellschaft diesen Menschen beson- dere Mittel und Fördermaßnahmen zur Verfügung stellen, ohne sie zuvor anhand bestimmter Kriterien zu etikettieren? Insbesondere in den USA wird diese Problematik seit Jahren heftig diskutiert.

3.3 ‘Behinderung’ als Begriff der WHO

Im Jahre 1980 hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) mit der ‘Clas- sification of Impairment, Disabilities, and Handicaps’ ein Begriffssystem vorgelegt, welches weltweit und auch in der wissenschaftlichen Literatur der Bundesrepublik sehr viel Anerkennung erfahren hat (vgl. Lindmeier 1993, 188). Die drei Grundbegriffe ‘impairment’, ‘disability’, ‘handicap’ de- finiert die WHO wie folgt:

„An impairment is any loss or abnormity of psychological, physiological, or anatomical structure or function“ (WHO 1980, 4, zitiert nach Lindmeier 1993, 188).

„A disability is any restriction or lack (resulting from an impairment) of abil- ity to perform an activity in the manner or within the range considered normal for a human being“ (WHO 1980, 143, zitiert nach Lindmeier 1993, 188).

„A handicap is a disadvantage for a given individual, resulting from an im- pairment or a disability, that limits or prevents the fulfilment of a role that is normal (depending on age, sex, and social and cultural factors) for that individual“ (WHO 1980, 183, zitiert nach Lindmeier 1993, 188).

Die Begriffe der WHO werden von der deutschen Wissenschaft z.T. un- terschiedlich verwendet. ‘Impairment’ wird üblicherweise mit ‘Schädigung’ übersetzt (vgl. Haas 1997, 125; Trauzettel-Klosinski 1997, 146; Neubert 1994, 32; Leist 1994, 47). Bei ‘disability’ hingegen gibt es zahlreiche diffe- rente Übersetzungen. Leist (1994, 47) spricht von ‘Beeinträchtigung’, Haas (1997, 125) nennt es ‘Einschränkung oder Fehlen einer üblichen Fähigkeit oder Fertigkeit des Menschen, die aufgrund einer Schädigung entstanden ist’. Trauzettel-Klosinski (1997) übersetzt ‘disability’ mit ‘funkti- onelle Einschränkung’ und verweist dabei auf die Definition der Bundesar- beitsgemeinschaft für Rehabilitation (ebd. 141). Später im Text verwendet sie jedoch den Begriff ‘Eingeschränkte Fähigkeit’ (ebd. 146). Lindmeier (1993, 190) zeigt, daß häufig auch der deutsche Begriff ‘Behinderung’ für ‘disability’ eingesetzt wird.

Ein ähnliches ‘Begriffsdurcheinander’ begegnet einem in bezug auf den Begriff ‘handicap’. Er wird als ‘Behinderung’, als ‘soziale Beeinträchtigung’ und als ‘soziale Benachteiligung’ (vgl. Lindmeier 1993, 190) ins Deutsche übertragen. Zuletzt gibt es noch die Vorstellung, daß ‘Behinderung’ alle drei englischen Begrifflichkeiten umfasse (vgl. Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation 1984, zitiert nach Lindmeier 1993, 199). Auch bei dieser Kategorisierung bleibt vage, was im einzelnen unter ‘Behinderung’ zu fas- sen ist. Im Gegenteil hat die unterschiedliche Übersetzung dieses Klassifi- kationssystems der WHO weiter dazu beigetragen, daß der Begriff ‘Behin- derung’ nicht präzise und eindeutig zu bestimmen ist. Darüber hinaus scheint es nicht ohne weiteres möglich, dieses medizinische Begriffssys- tem auf den pädagogischen Bereich zu übertragen.

3.4 ‘Behinderung’ als relativer und relationaler Begriff im Kontext gesellschaftlicher Normen und Anforderungen

In den folgenden Ausführungen soll anhand zweier Beispiele herausge- stellt werden, inwieweit ‘Behinderung’ als Begrifflichkeit gebunden ist an gesellschaftliche Normen, Erwartungen und Anforderungen. Dazu wird im ersten Teil die Klassifikation der WHO9 auf deren Abhängigkeit von nor- mativen Vorstellungen der Gesellschaft untersucht. Im zweiten Teil soll am Phänomen der ‘Lernbehinderung’ dargelegt werden, daß der Wandel von sozialen Anforderungen unmittelbar einwirkt auf das Verständnis der Ka- tegorie ‘Behinderung’. Den Abschluß bietet die ethnologische Studie von Neubert (1994), in der er das Phänomen ‘Behinderung’ in verschiedenen Kulturen untersucht.

3.4.1 Zu ‘Behinderung’ als normativem Begriff

Legt man die Definition der WHO über ‘Behinderung’ zugrunde, so wird offensichtlich, daß ‘Behinderung’ als ein mehrschichtiges multifaktorielles Phänomen betrachtet wird. Neben der Schädigung (impairment), und der funktionellen Einschränkung (disability) werden auch soziale Beeinträchti- gungen unter dem Begriff ‘Behinderung’ subsumiert (Übersetzung nach Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation 1984, zitiert nach Trauzet- tel-Klosinski 1997, 141). Dabei bleiben diese Punkte jedoch einer medizi- nischen Sichtweise verbunden. „Deswegen leitet die WHO jede Definition mit der Floskel ‘In the context of health experience, ...’ ein“ (Klauer/Mitter 1987, 8). Leist (1994, 47) faßt die Begriffe ‘disability’ und ‘handicap’ unter dem deutschen Begriff ‘Behinderung’ zusammen und unterscheidet dem- nach nur nach ‘Schädigung’ und ‘Behinderung’. Er resümiert: „Die sozial- normative Sicht der Behinderung ist die eine Seite - ihr steht aber eine biologisch-objektive gegenüber“ (ebd.). An folgendem Beispiel möchte ich herausstellen, daß selbst diese medizinisch, scheinbar objektiv ausgerich- tete Definition gebunden ist an normative Bestimmungen, die nicht losge- löst vom gesellschaftlichen und kulturellen Kontext betrachtet werden können. Was bedeutet ‘impairment’? Was ist eine Schädigung?

Schädigung wird definiert als eine Abweichung von der Funktionalität der psychologischen, physiologischen oder anatomischen Strukturen.10 Jeder einzelne dieser Punkte ist jedoch gebunden an Normen. Denn wer ent- scheidet, welche Abweichungen der körperlichen und geistigen Funktiona- lität als Schädigungen begriffen werden? Welche genetischen Aberratio- nen gelten beispielsweise als Schädigung? Wann und wie werden diese Abweichungen festgestellt und wie reagiert eine Gesellschaft darauf? Neubert (1994) stellt in seiner interkulturellen Vergleichsstudie z.B. her- aus, daß es Völker gibt, in denen Linkshändigkeit als Andersartigkeit beg- riffen wird. „Linkshändigkeit war bei den Navaho und den Chagga uner- wünscht. Während bei den Navaho für linkshändige Frauen die Heirats- chancen gemindert waren, war die Reaktion auf Linkshändigkeit bei den Chagga offen: es konnte sowohl zur Tötung, als auch zu besonderem Schutz kommen“ (ebd. 48). Handelt es sich bei Linkshändigkeit nun um eine objektive Schädigung? Nach unserem Werteverständnis sicherlich nicht. Selbst Leist (1994, 50) kommt in seinem Essay zu dem Ergebnis: „Vor allem ... ist der Schädigungsbegriff ein Wertbegriff, und wie kann er das sein, wenn er wie behauptet auf biologische Grundlagen verweist? Eine Werteigenschaft entsteht dadurch, daß sich Schädigungen auf kör- perliche oder geistige Funktionen beziehen, und zwar genauer auf spe- ziestypische Funktionen. Werten heißt hier eben die konkret vorliegende Fähigkeit eines Menschen auf eine biologisch vorgegebene Funktion be- ziehen, oder anders, die konkrete Ausprägung einer Funktion an ihrem durchschnittlichen speziestypischen Niveau messen. Dabei ist die Wer- tung, wie eben auch der Begriff Schädigung, dem Verständnis nach empi- risch, genauer empirisch-funktional“. Mit dem Verweis auf das „durch- schnittlich speziestypische Niveau“ wird deutlich, daß ‘Behinderung’ be- griffsmäßig zwangsläufig verflochten ist mit gesellschaftlichen Werten und Erwartungen.

„Der gängige Behinderungskatalog folgt nur scheinbar medizinisch objek- tiv begründbaren Kriterien, er unterliegt vielmehr kulturspezifischen Wer- tungen“ (Neubert 1994, 33). Neubert spricht daher von ‘Andersartigkeiten’ und rückt somit den Begriff der Norm und die Normativität in den Vorder- grund seiner Untersuchung. ‘Behinderung’ als Begrifflichkeit kann somit nur verstanden werden, wenn die ihm implizite Normativität berücksichtigt wird. „Erst wenn also die Frage nach dem ‘Sinn-Horizont’ von ‘Normativität überhaupt’ im aktuellen wie im historisch-lebensweltlichen Bezug gestellt ist, bekommt auch die Frage nach dem Phänomen der ‘Behinderung’ Sinn, denn ohne den relationalen Bezug auf Sollensforderungen und den kontextualen auf ‘Normativität überhaupt’ ist das Phänomen Behinderung überhaupt nicht faßbar“ (Lindmeier 1993, 160f). Angesichts der gentech- nischen Neuerungen und der pränatalen Diagnostik steht zu befürchten, daß sich der Behinderungskatalog im Sinne einer Liste unerwünschter Abweichungen vom ‘Normalkind’ erweitern wird, so daß eines Tages gar ‘Unerwünschte Hautfarbe’, ‘Unerwünschtes Geschlecht’ (zumeist trifft es das weibliche Geschlecht), ‘Unerwünschte Größe’ und vieles mehr als ‘Behinderung’ gelten wird, was nicht dem ‘Idealzustand’ verwertungsorientierter Normen entspricht (vgl. Neumann 1997b, 38).

3.4.2 Behinderung und Anforderung

Wie schon in Kapitel 3.1 erwähnt, ist der Begriff der ‘Behinderung’ histo- risch gebunden an die Entstehung des modernen Industriestaates. Mit seiner Entwicklung veränderten sich nicht nur die Lebensbedingungen der meisten Menschen radikal, die sich wandelnde Wirtschaftsstruktur stellte auch andere Anforderungen als dies zuvor der Fall gewesen war. Die ver- stärkt auftretende Trennung von Wohnort und Arbeitsplatz machte ein bis dato unbekanntes Maß an Mobilität und Flexibilität erforderlich. Diesen neuen ökonomischen Bedingungen mußten sich die Erwerbstätigen an- passen. Die zuvor landwirtschaftlich geprägte Wirtschaftsstruktur wurde zunehmend transformiert in eine industrielle, stark rationalisierte und tech- nisierte Produktionsweise. Die Wirtschaft benötigte billige Arbeitskräfte, um maximalen Profit zu erzielen. Das Überangebot an Arbeitskräften sorg- te dafür, daß die menschliche Arbeitskraft als ausgesprochen rentabel und effizient erschien. Für Menschen, die diesen Anforderungen nicht entspre- chen konnten, gab es zunächst noch keine sozialen Sicherungssysteme von staatlicher Seite. Einzelne Betriebe handelten jedoch mit Gewerk- schaftsvertretern außerbetriebliche Leistungen aus, welche soziale Kom- ponenten enthielten. Menschen mit einer ‘Behinderung’ blieben diese Leistungen jedoch weitgehend verschlossen. Sie konnten mit nicht behin- derten Menschen auf dem Arbeitsmarkt nicht konkurrieren und waren so- mit weitgehend auf die Unterstützung ihres familiären Umfeldes oder kirchlicher Institutionen angewiesen (vgl. Lempp 1997, 13).

Da Bildung und Ausbildung nahezu ausschließlich vom sozialen Status und der Schichtzugehörigkeit abhingen, gab es nur für die Menschen mit einer ‘Behinderung’ bildungsähnliche Einrichtungen, deren Herkunft diese Möglichkeit finanzierbar erscheinen ließ. Erst mit der Einführung des all- gemeinen Volksschulwesens in der Weimarer Republik etablierte sich ein Bildungssystem, welches ein Bildungsrecht unabhängig von der sozialen Herkunft und des finanziellen Hintergrundes gewährleisten sollte (vgl. Gudjons 1995). Ausgeschlossen blieben jedoch weiterhin die als ‘bil- dungsunfähig’ etikettierten ‘Schwachsinnigen’ (Menschen mit einer ‘Geis- tigen Behinderung’ oder mit einer schweren körperlich und geistigen ‘A- nomalie’) (vgl. Mühl 1994). Um die Volksschule staatswirtschaftlich mög- lichst effizient zu gestalten, wurde das System der Hilfsschulen zu deren Entlastung flächendeckend eingeführt (vgl. Grosse 1996, 30). Darüber hinaus intendierte diese besondere Beschulungsform eine möglichst rei- bungslose Eingliederung der Hilfsschüler in den Arbeitsmarkt. Da sich die Gesellschaft (v.a. nach 1945) im Zuge der veränderten wirtschaftlichen Anforderungen tendenziell zu einer Bildungskultur entwickelte, in der sich die gesellschaftliche Plazierung - der soziale Status - nicht mehr durch die Herkunft, sondern durch unterschiedliche Bildungsabschlüsse formieren sollte, mußten für diejenigen Menschen, die diesen Anforderungen nicht genügen konnten, alternative Bildungskonzepte angeboten werden (vgl. Gudjons 1995). ‘Lernbehinderung’ wurde später somit zu einer Kategorie, welche nur denkbar ist in einer Lernkultur (vgl. Neubert 1994).

In Anlehnung an die Systemtheorie (vgl. Luhmann 1988) hat diese Kate- gorie zweierlei Funktion. „Für den Betroffenen als ‘Verursacher’ dieser Dysfunktionalität haben die Begriffe ‘Behinderter’ und ‘Behinderung’ nach systemtheoretischer Auffassung insofern eine Entlastungsfunktion, als sie nicht die Person, sondern die soziale Rolle belangen“ (Lindmeier 1993, 42). Zum anderen sichert diese Zuschreibung das reibungslose Funktio- nieren einer Gesellschaft, welche den wirtschaftlichen Anforderungen op- timal genügen können soll. ‘Behinderung’ als Begriff ist dadurch eng ge- bunden an die gesellschaftlichen Anforderungen, die an das Individuum gestellt werden. Neumann (1997b, 29) konstatiert: „Wer die gesellschaft- lich geforderte Leistung nicht zu erbringen im Stande ist, ist entweder krank oder behindert. (...) Im Falle der Krankheit wie der Behinderung können nur sie den Kranken oder Behinderten von seiner Rollenverpflich- tung befreien und sein von der Norm abweichendes Verhalten legitimie- ren. Mit der Fortentwicklung gesellschaftlicher und technischer Komplexi- tät steigen die Anforderungen und nimmt gleichzeitig die Zahl derjenigen zu, die den wachsenden Leistungsanforderungen nicht (mehr) zu genügen vermögen“. Deshalb kann von ‘Behinderung’ also „nur in bezug auf die konkrete Lebenswelt und deren Anforderung, nicht aber ‘an sich’ oder in einem absoluten (d.h. ‘weltunabhängigen’) Sinne gesprochen werden“ (Lindmeier 1993, 126). ‘Nichtbehinderung’ bedeutet dann also das Erfül- lenkönnen von gesellschaftlich normierten Anforderungen. Eine attestierte ‘Behinderung’ weist somit nur darauf hin, daß eine Person den gesell- schaftlich normierten Anforderungen nicht gerecht werden kann.

3.4.3 Behinderung in verschiedenen Kulturen

Die folgenden Ausführungen stützen sich auf eine Studie von Neubert (1994). Es ist nicht mein Anliegen, diese Studie detailliert und ausführlich darzulegen. Ich werde mich deshalb auf einige, für diese Arbeit relevante Ergebnisse beschränken.

Neubert stellt in seinem ersten Kapitel heraus, daß es dringend geboten sei, „uneinheitliche Begrifflichkeiten“ (1994, 18) zu klären, denn bisher könne kaum unterschieden werden zwischen ‘Andersartigkeiten’, ‘Behinderungen’ und ‘Behinderten’. Für seine Studie arbeitet er mit folgender Definition von ‘Behinderung’:

„Von einer Behinderung soll erst gesprochen werden, wenn eine manifes- te Andersartigkeit in einer bestimmten Kultur entschieden negativ bewertet wird“ (ebd. 35). Unter einer manifesten Andersartigkeiten subsumiert er Merkmale, die „häufig Spontanreaktionen auslösen und/oder häufig Auf- merksamkeit hervorrufen, d.h. es sind Merkmale, die als Stimulus wirken. Entscheidend ist nicht ‘Normalität’ oder ‘Abnormalität’, sondern das Auslö- sen einer Reaktion. Die Chancen, eine Reaktion auszulösen, steigen al- lerdings bei einer deutlich visiblen Abweichung von der Normalitätserwar- tung“ (ebd. 34). ‘Behinderte’ sind in diesem Sinne „Menschen mit einer Behinderung“ (ebd. 35). Entschieden macht Neubert darauf aufmerksam, daß die negative Bewertung von ‘Behinderung’ unbedingt von der Bewer- tung der Person, für welche eine manifeste Andersartigkeit festgestellt wurde, getrennt werden sollte.

In seiner Studie untersucht er hierbei 24 Kulturen, die sich auf alle Konti- nente und Kulturregionen verteilen. Für die Kategorie ‘Behinderung’ im interkulturellen Vergleich kommt er zu folgenden Ergebnissen:

- Körperbehinderungen: „Die Bewertung von körperlichen Andersartigkei- ten ist abhängig vom Ausmaß der Deformation bzw. Funktionsbeein- trächtigung. Die Variabilität ist teilweise überraschend und nimmt zu, je geringer die Funktionsbeeinträchtigung ist“ (Neubert 1994, 40).
- Sinnesbehinderungen: „Insgesamt ergibt sich trotz der recht lückenhaf- ten Informationen eine einheitliche Tendenz zur negativen Bewertung von Sinnesbehinderungen. Es finden sich jedenfalls nirgendwo Hinwei- se darauf, daß Blindheit, Sehbehinderung, Gehörlosigkeit und Sprach- behinderung nicht beachtet wurden oder gar erwünscht waren“ (ebd. 41).
- Veränderungen der Sexualorgane: „Ehe und hohe Kinderzahl galten in nahezu allen untersuchten Gesellschaften als der erstrebenswerte Normalfall des Lebens“ (ebd. 43). Daher wurde Sterilität in den meisten Kulturen negativ bewertet. „Die Bewertung von Inter- und Transsexualität weist trotz der Eindeutigkeit der Andersartigkeit ein beträchtliches Maß an Variation auf. Dies gilt besonders für Intersexualität, die auch Unfruchtbarkeit zur Folge hatte“ (ebd. 44).
- Geistige Behinderung: „In einem großen Teil der untersuchten Kulturen wird geistige Behinderung als Andersartigkeit erkannt“. Diskriminieren- de Reaktionen, „mitunter auch Mitleid verweisen auf eine überwiegend negative Bewertung von geistiger Behinderung ...“ (ebd. 44). · Psychische Behinderung: „Entscheidend für die Bewertung von psychi- schen Andersartigkeiten sind also nicht unbedingt die Symptome selbst, sondern deren Deutung und mögliche Kontrolle“ (ebd. 46). Daher variie- ren die Reaktionen auf die verschiedenen psychischen Behinderungen kulturell sehr stark.
- Altersbehinderung: Der Alterungsprozeß wird nicht als erklärungsbe- dürftig betrachtet, „da er als normal angesehen wird. Wegen dieser all- gemeinen Unausweichlichkeit des Alters ist auch nur eingeschränkt von Erwünschtheit bzw. Unerwünschtheit zu sprechen“ (ebd. 47).
- Sonstige Andersartigkeiten: „Linkshändigkeit war bei den Navaho und den Chagga unerwünscht“ (ebd. 48); in einigen Kulturen wurden Zwil- linge getötet. „Bei illegitimen Kindern und gegenüber neugeborenen Mädchen kam es auch zu Extremreaktionen. Es muß allerdings offen bleiben, ob diese ‘Andersartigkeiten’ emisch als ‘Behinderung’ gedeutet wurden“ (ebd. 49).

Mit Hilfe der Normalitätserwartung erklärt Neubert das Phänomen der ‘An- dersartigkeit’, in diesem Fall der ‘manifesten Andersartigkeit’ (vgl. ebd. 99). In einem weiteren Schritt erörtert er die verschiedenen sozialen Reak- tionen auf diese ‘manifesten Andersartigkeiten’. Er unterscheidet dabei zwischen Extremreaktionen wie ‘Aktive und Passive Tötung’ und Schutz- und Hilfe-Reaktionen wie ‘Isolation’, ‘Einschränkung der Partizipation’, ‘Modifikation der Partizipation’ und ‘Laisser-faire’. Die Reaktionen variieren dabei nicht nur interkulturell, sondern häufig auch intrakulturell. Besonders wichtig bei der sozialen Reaktion auf ‘Behinderung’ seien folgende Fakto- ren: Erstens „die Art der Behinderung, zweitens der Zeitpunkt des Eintre- tens der Behinderung und drittens die Situation der Gruppe“ (ebd. 101). Im Vergleich mit unserer Kultur kommt der Autor zu dem Ergebnis, daß das vorliegende ethnologische Material keinen Hinweis darauf liefere, „daß es in anderen Kulturen grundlegend andere und günstigere Wertmaßstäbe in bezug auf Behinderte gibt“ (ebd. 103). Neubert weist anhand seiner Studie nach, daß sich ‘Behinderung’ auch in anderen Kulturen stets an der Ab- weichung von kulturell immanenten Normenerwartungen konstituiert und dabei weitgehend als negativ bewertet wird. Die sozialen Reaktionen auf Menschen mit einer ‘Behinderung’ sind jedoch sehr unterschiedlich und hängen dabei ebenfalls in starkem Maße vom Menschenbild und somit von den Werten und Normen einer Kultur ab.

3.4.4 Zusammenfassung

Die zuvor angeführten Punkte haben deutlich gemacht, daß der Begriff- lichkeit ‘Behinderung’ ohne die Reflexion der ihr impliziten Normen, Erwar- tungen, Werte und Anforderungen nicht näher bestimmt werden kann. Wird ‘Behinderung’ aber nicht deutlicher umrissen, so besteht die Gefahr, daß dieser Begriff zu einer inhaltsleeren Worthülse wird. Die Fachwissen- schaft konnte bislang zu einer Klärung des Behinderungsbegriffes wenig beisteuern (vgl. Lindmeier 1993) und überläßt nun den Medizinern und Juristen das Feld. Wie unklar aber auch ‘Behinderung’ als gesetzlicher Begriff verwendet wird, zeigt sich bei der jüngsten Aufnahme dieser Kate- gorie ins Deutsche Grundgesetz.

3.5 Zur ‘Behinderung’ als Begriff im Grundgesetz

Wie problematisch es ist, den Begriff ‘Behinderung’ zu verwenden, ohne ihn begrifflich klar zu definieren, zeigt folgendes Exempel. Im Jahre 1994 haben sich die politischen Parteien des Bundestages darüber verständigt, dem Artikel 3, Absatz 3 den Satz 2, „Niemand darf wegen seiner Behinde- rung benachteiligt werden“ hinzuzufügen. Am 27.10.1994 wurde dieser Passus zur Genugtuung aller Behindertenverbände mit der notwendigen 2/3 Mehrheit verabschiedet. Damit hatte eine langjährige gesellschaftliche und sozialpolitische Debatte einen Abschluß gefunden. Die gesellschaftli- che Diskussion lebte jedoch schnell wieder auf, als im Oktober 1997 das Bundesverfassungsgericht die Verfassungsbeschwerde eines 13-jährigen körperbehinderten Mädchens abwies. Es hatte sich auf besagten Grund- gesetzartikel berufen und wollte sich damit gegen eine Sonderschulzuwei- sung wehren.

Große Aufmerksamkeit weiter Teile der Öffentlichkeit zog auch ein Urteil des Oberlandesgerichtes Köln im Januar 1998 auf sich. Das Gericht gab der Klage eines Ehepaares statt, in der der Landschaftsverband als Trä- ger einer benachbarten Wohngruppe für Menschen mit geistiger Behinde- rung aufgefordert wurde, die als Lärmbelästigung empfundenen Artikulati- onen der Bewohner im Freien einzuschränken. Im Urteilstext wurden grundsätzliche Ruhezeiten für die Zukunft festgelegt (vgl. Frankfurter Rundschau 19.1.1998, 12). Das Urteil entfachte die Diskussion über die Rechte behinderter Menschen. Behindertenverbände und Träger ver- gleichbarer Einrichtungen zeigten sich empört angesichts dieser und ähn- licher Jurisdiktionen. Von der Grundgesetzänderung hatten sich Betroffe- ne und deren Repräsentanten eine deutliche Verbesserung ihrer sozial- rechtlichen Situation nicht nur in gesetzlichen Ausführungen, sondern vor allem in der praktischen Ausgestaltung hinsichtlich eines größeren Maßes an Selbstbestimmung und Partizipation am gesellschaftlichen Leben er- hofft.

Trotz eines weiten Konsenses mit den Anliegen derjenigen, die sich für die grundrechtliche Verankerung der Nichtdiskriminierung von Behinderten einsetzen, gibt es von fachwissenschaftlicher Seite erhebliche Differen- zen, den Begriff ‘Behinderung’ eindeutig zu definieren. Liefert das Grund- gesetz also eine klare Definition und wenn, wie ist diese zu deuten? In dem Grundgesetzartikel 3.3. heißt es in Satz 1: „Niemand darf wegen sei- nes Geschlechts, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, sei- ner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen und politi- schen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden.“ In diesem Kontext scheint ‘Behinderung’ eindeutig bestimmt zu sein, nämlich als ein ontologischer Begriff, welcher ‘Behinderung’ quasi als ein Wesensmerk- mal von Menschen betrachtet und somit einen unveränderlichen stati- schen Charakter fortschreibt. ‘Behinderung’ wird über das Possessivpro- nomen („seiner Behinderung“) als zum Subjekt gehörendes Kennzeichen verstanden, welches Identität in demselben Maße zu prägen scheint, wie die zuvor genannten Begriffe ‘Geschlecht’, ‘Abstammung’, ‘Rasse’, ‘Spra- che’, ‘Heimat und Herkunft’. ‘Behindert’ wird man nicht, ‘Behinderung’ hat man. Implizit wird die Komplexität des Begriffes ‘Behinderung’ aufgeho- ben, indem die gesellschaftliche Normativität, welche auf den Begriff kon- stitutiv einwirkt, ausgeblendet bleibt. ‘Behinderung’ bleibt substantialisiert bzw. ontifiziert (vgl. Lindmeier 1993, 43). Auffällig hebt sich der Satz je- doch auf einer weiteren Ebene ab. Anders als bei den zuvor genannten Begriffen fehlt in Satz 2 der Zusatz „benachteiligt oder bevorzugt werden“. Folgende Schlußfolgerungen können sich daraus ergeben: Ein Mensch kann wegen seiner ‘Abstammung’ benachteiligt oder bevorzugt werden, ein Mensch mit ‘Behinderung’ kann scheinbar nur benachteiligt werden. Daraus ergäbe sich aber eine eindeutige Wertung des Begriffes ‘Behinde- rung’. Er beschreibt dann apriorisch etwas Negatives, einen Zustand, der nicht wünschenswert ist und bringt somit nicht ‘Verschiedenheit’, sondern ‘negative Abweichung’ zum Ausdruck.

Als zweite Konsequenz ließe sich ableiten, daß eine Bevorzugung von Menschen mit einer ‘Behinderung’ entweder nicht möglich ist, oder aber als nicht problematisch erscheint. Warum sollte eine Bevorzugung eines Menschen mit einer ‘Behinderung’ unproblematisch sein? Das kann nur dann der Fall sein, wenn man ‘Behinderung’ an sich schon als etwas ‘Nachteiliges’ empfindet. Daher kann nicht als Ungleichbehandlung gelten, wenn diese Menschen bevorzugt werden (z.B. bei der Vergabe von Aus- bildungsplätzen etc.). Es scheint der Gedanke mitzuschwingen, daß diese Menschen ohnehin schon so vom Schicksal ‘geschlagen’ und benachtei- ligt seien, daß wir (die ‘Normalen’) sie nicht noch weiter benachteiligen dürften. Daß ‘Behinderung’ dadurch bereits als etwas ‘Negatives’ gilt, liegt auf der Hand. Auch hier offenbart sich die ontologische Sichtweise von ‘Behinderung’, welche sich in den grundgesetzlichen Ausführungen zeigt. ‘Behinderung’ wird primär als Schädigung (impairment) betrachtet und nicht als ein Phänomen, welches erst in der Interaktion mit anderen Men- schen Bedeutung gewinnt.

Faßt man die Implikationen zusammen, die sich aus der gesetzlichen Be- stimmung über ‘Behinderung’ ergeben, so wird deutlich, daß durch das Ausblenden der interaktionellen Ebene bei der Entstehung von ‘Behinde- rung’ dieser Begriff eine implizit negative Wertung erfährt. Blendet man aber die gesellschaftliche Ebene des Phänomens ‘Behinderung’ aus, so wird ‘Behinderung’ verkürzt auf eine biologisch-medizinische Sichtweise. Wie ist es dann um Menschen mit einer sogenannten Lernbehinderung bestellt? Was bedeutet das Grundrecht für sie? ‘Lernbehinderung’ als phänomenologisches Konstrukt entsteht erst in einem bestimmten gesell- schaftlichen Kontext und ist nicht ontologisierbar. In einer Gesellschaft, in der ‘Lernen’ im Sinne unserer Bildungsselektion keine Rolle spielt, kann es keine ‘Lernbehinderung’ geben (vgl. Lindmeier 1993, 46). In bezug auf diese ‘Behinderung’ erscheint der Satz 2: „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden“ als ein Widerspruch. Setzt man nun Lernbehinderung für Behinderung ein, so hieße der Satz: „Niemand darf wegen seiner (Lern-)Behinderung (welche in der Nichterfüllung einer Norm, nämlich der des Lernens entstanden ist) benachteiligt werden“. Daraus ergibt sich das Paradoxum, daß niemand benachteiligt werden darf, der (aufgrund der Verfaßtheit der Gesellschaft als Bildungskultur) benachteiligt wird.

Es sollte angesichts der unpräzisen Bestimmung des Begriffes ‘Behinderung’ also nicht verwundern, wenn in konkreten rechtlichen Streitfällen die Berufung auf das geänderte Grundgesetz nicht erfolgversprechender erscheint als ohne diese Neuerung.

3.6 Zur Verwendung des Begriffes ‘Behinderung’ in dieser Arbeit

Wie dargelegt, gibt es fachwissenschaftlich keine einheitliche Definition des Begriffes ‘Behinderung’. In dieser Arbeit soll ‘Behinderung’ deshalb als gesellschaftlich negativ bewertete dauerhafte Abweichung von Normen, Erwartungen und Anforderungen definiert werden. Der ‘Behinderung- begriff’ der WHO11 soll dabei als eine Grundlage dienen. Die Relativität und die Relationalität des ‘Behinderungsbegriffes’ sollen, wie in Kapitel 3.4 ausführlich beschrieben, stets reflektiert und berücksichtigt werden. Wer- den ‘Behinderung’, und Menschen mit einer ‘Behinderung’ im Sonder- schulsystem angesprochen, so sollen insbesondere die Normen, Werte sowie die Anforderungsstruktur unserer Gesellschaft transparent gemacht werden, welche dazu beitragen, daß sich ‘Behinderung’ als Phänomen konstituiert.

4 Behinderung im Blickwinkel der Kritischen Männer- forschung - exemplifiziert an der Institution Schule

Nachdem zuvor zentrale Aspekte und Fragen, die mit den Begriffen ‘Männlichkeit’ und ‘Behinderung’ korrespondieren, behandelt wurden, so- lIen in diesem Kapitel Prinzipien der männlichen Sozialisation mit der schulrechtlichen Feststellung von ‘Behinderung’ verknüpft werden.

Im ersten Teil dieses Kapitels geht es dabei um die Schule als Institution. Es werden ihre traditionellen Funktionen und Strukturen angesichts eines veränderten und sich verändernden Anforderungsprofils kritisch hinter- fragt.

Der zweite Abschnitt befaßt sich mit der Differenzierung von Schule in tra- ditionelle Regel- und Sonderschulen. Dabei soll zunächst die institutionelle Ebene unter Berücksichtigung geschlechtsspezifischer Aspekte umrissen werden, ehe im folgenden die tatsächliche Aussonderungspraxis, die zwi- schen Regel- und Sonderschule stattfindet, beleuchtet wird. Es werden Verbindungslinien zu Aspekten und Kristallisationspunkten der männlichen Sozialisation gezogen.

Im dritten Abschnitt wird dann gezielte Jungenarbeit als Möglichkeit vorgestellt, im Sinne Kritischer Männerforschung zu einem veränderten Mannsein beizutragen und dadurch die herkömmliche Aussonderungspraxis von auffälligen Schülern nachhaltig zu verändern.

4.1 Schule als Institution

Die staatliche Institution Schule bietet sich besonders an, um die Verwo- benheit von männlicher Sozialisation und ‘Behinderung’ darzustellen. Zum einen handelt es sich um einen Ort, welcher in hohem Maße mit gesell- schaftlichen Normen, Erwartungen und Anforderungen angereichert ist. Zum anderen gilt Schule auch als Sozialisationsort (vgl. Enders- Dragässer/Fuchs 1988). Es steht daher zu erwarten, daß sich gerade in diesem pädagogischen Kontext theoretische Verbindungslinien zeichnen lassen zwischen dem Phänomen ‘Behinderung’ und Aspekten der männli- chen Sozialisation.

4.1.1 Schule und ihre traditionellen Funktionen

Schule hat traditionell folgende gesellschaftliche Funktionen zu erfüllen: Qualifikationsfunktion, Selektions- und Allokationsfunktion, Integrations- funktion, Kulturüberlieferung (vgl. Gudjons 1995, 263). Unter der Qualifika- tionsfunktion versteht man, daß die SchülerInnen in die sogenannten Kul- turtechniken wie Lesen, Schreiben und Rechnen eingeführt werden. Dar- über hinaus sollen Kenntnisse vermittelt werden, die den Bildungshorizont der SchülerInnen erweitern. Ebenfalls der Qualifikationsfunktion zugeord- net werden ‘extrafunktionale Qualifikationen’ wie Pünktlichkeit, Ordnung und Fleiß. Dabei handelt es sich um soziale Verhaltensweisen und Kom- petenzen.

Die zweite Funktion besteht darin, „durch unterschiedlich hohe Qualifikationen (dokumentiert durch die verschiedenen Schulabschlüsse) die Schüler für diesen Verteilungsprozeß auszusortieren (Selektion) und die unterschiedlich qualifizierten Absolventen den jeweiligen Ebenen des Beschäftigungssystems zuzuführen (Allokation). Damit wird jedem ein sozialer Status zugewiesen“ (ebd. 262).

Unter der Integrationsfunktion von Schule wird verstanden, daß Schule die SchülerInnen in das Normen- und Wertesystem unserer Gesellschaft ein- geführt werden. Schule hat die Aufgabe, diese Prinzipien zu legitimieren und zu begründen. Die SchülerInnen sollen das politische und gesell- schaftliche System kennenlernen und seine Strukturen durchschauen ler- nen. Dies geschieht in bestimmten Fächern (wie z.B. Geschichte, Deutsch etc.). Schule vermittelt aber stets auch gesellschaftlich relevante Einstel- lungen, die nicht explizit in den Lehrplänen vorgegeben sind. Man nennt dies den ‘Heimlichen Lehrplan’ (vgl. Horn 1997, 128f). Beispielsweise vermittelt eine Schule, welche auf die ausdrückliche Benotung von Leis- tungen und ihre Vergleichbarkeit zurückgreift, das gesellschaftliche Prinzip ‘Konkurrenz’. Den SchülerInnen werden somit stets auch Werte vermittelt, welche nicht ausdrücklich legitimiert sind.

Die letzte Aufgabe von Schule besteht darin, Kultur zu überliefern (Kultur- überlieferung). Dies meint nicht, daß kulturelle Werte unreflektiert tradiert werden sollen, sondern daß Kultur sich weiter entwickeln kann. Damit steht Schule in einem besonderen Spannungsfeld zwischen Konservie- rung und Reformation kultureller Normen, Werte und Vorstellungen. All diese kurz dargestellten Punkte zeigen, daß der Institution Schule eine wichtige Aufgabe in der Sozialisation von Mädchen und Jungen zukommt. Schule vermittelt gesellschaftliche Normen und Werte, sie hinterfragt die- se aber auch. Schule dient als Übergangsinstanz im Sozialisationsprozeß und soll den Eintritt in die Erwachsenenwelt institutionell abfedern und er- leichtern helfen. Schule übernimmt damit in unserer Kultur u.a. Funktio- nen, die in anderen Kulturen als Initiationsritual bezeichnet werden (vgl. Bosse 1994, 16).

4.1.2 Die strukturelle Hierarchie im Bildungswesen und die Ge- schlechterdifferenz

Schule erweist sich u.a. auch als eine Institution, welche Geschlechterbil- der tradiert und vermittelt. Dies geschieht nicht nur über die Inhalte des Lehrplanes sowie die Materialien und Medien, die der Schule zur Verfü- gung stehen, sondern in besonderem Maße wirken MitschülerInnen und LehrerInnen als Vorbilder für geschlechtstypisches Verhalten. In der Grundschule als eine der maßgeblichen Institutionen sind männliche Leh- rer jedoch rar. So liegt ihr Prozentanteil im Primarstufenbereich deutlich unter 25%.12 Demzufolge fehlt es gerade im Elementarbereich an männli- chen Vorbildern.

Da auch in den Familien der Vater nur selten präsent ist (vgl. Böh- nisch/Winter 1993, 54) und sich oftmals auch nicht aktiv in den Erzie- hungsprozeß der Kinder einschaltet, wirkt die Abwesenheit von Männern auch in den Erziehungsinstitutionen Kindergarten und Grundschule als Fortführung der geschlechtsspezifischen Trennung von Männer- und Frauenarbeit. Kindern wird über diesen ‘Heimlichen Lehrplan’ vermittelt, daß sich Frauen um die Erziehung der Kinder kümmern, während Männer sich aus diesem gesellschaftlichen Bereich weitgehend heraushalten. In einer ähnlichen Weise wirkt die Tatsache, daß die meisten Grund-, Haupt, Real- und Sonderschulen von Männern geleitet werden (vgl. EndersDragässer/Fuchs 1988, 16). Lührig (1990, 173) nennt für NordrheinWestfalen folgende Ziffern: 77,3% der SchulleiterInnen sind an diesen Schulformen männlich. An Gymnasien liegt die Männerquote für diese Führungspositionen sogar bei 89,6%.

Unbewußt wird Jungen und Mädchen über diese schulisch strukturellen Realitäten eine Geschlechterhierarchie vorgeführt, die sich auch normie- rend auf die Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit auswirken dürfte. Mädchen und Jungen lernen auf diesem Wege, daß gesellschaft- lich höher bewertete und besser bezahlte Positionen in der Regel Män- nern vorbehalten sind, während Frauen die vermeintlich leichtere Erzie- hungsarbeit auf der Elementarebene verrichten. Eine nicht unbedeutende Rolle spielt dabei die strukturelle Hierarchie zwischen dem Elementarbe- reich und den weiterführenden Schulen. Als Qualifikation zur Ausübung des Lehrberufes an den weiterführenden Schulen bedarf es eines abge- schlossenen ordentlichen Studiums, während das Primarstufenstudium nicht als Studium, sondern als sechs-semestrige Ausbildung gilt (vgl. Führ 1997, 234). Die unterschiedlichen Qualifikationen legitimieren die unter- schiedliche Bezahlung. Selbst Leitungspositionen im vorschulischen Be- reich werden nicht so gut entlohnt wie SekundarstufenlehrerInnen. Zwi- schen der Grundschule und dem vorschulischen Bereich gibt es eine wei- tere bildungshierarchische Abstufung. ErzieherInnen qualifizieren sich durch eine Ausbildung und werden deutlich schlechter bezahlt als Grund- schullehrerInnen. Diese Strukturen bringen zum Ausdruck, daß der Staat die Erziehung im Elementarbereich als gesellschaftlich weniger bedeutend erachtet.

Die bildungspolitischen Vorgaben wirken sich nachhaltig auf das Ge- schlechterverhältnis in den Bildungsinstitutionen aus. In den schlechter bezahlten Berufen der Elementarstufe sind beinahe ausschließlich Frauen zu finden. „Beide Berufe (ErzieherIn, GrundschullehrerIn; d.V.) sind als typische Frauenberufe in feste, männlich dominierte Hierarchien einge- bunden“ (Schildmann 1996, 15). Je höher die Qualifikation und damit die Bezahlung, desto größer wird die Männerquote.13 Diese strukturelle Geschlechterhierarchie wirkt sich ebenfalls im Sinne des ‘Heimlichen Lehrplanes’ auf die Bildung der Geschlechtsidentität aus (vgl. EndersDragässer/Fuchs 1988).

Die Sonderschule spielt in dieser Struktur ebenfalls eine exponierte Rolle. SonderpädagogInnen qualifizieren sich wie SekundarstufenlehrerInnen über ein acht-semestriges Studium und werden dementsprechend besser bezahlt als GrundschullehrerInnen (vgl. Führ 1997, 236). Angesichts verstärkter Bemühungen um eine Integration behinderter SchülerInnen in die Regelschule im Gemeinsamen Unterricht wird diese Hierarchie zunehmend in Frage gestellt (vgl. Prengel 1995).

4.1.3 Verändertes Anforderungsprofil von Schule

Schule hat sich in den vergangenen Jahrzehnten nachhaltig und substantiell verändert. Traditionelle Funktionen von Schule müssen dabei neu ü- berdacht werden. Im folgenden sollen deshalb wichtige Wandlungen und Innovationen, welche ein verändertes Anforderungsprofil von Schule bedingen, kurz umrissen werden.

Im Zuge der technischen Neuerungen, einige sprechen gar von der elekt- ronischen Revolution (vgl. Postman 1985, 175), hat sich für Schule als Institution ein vollkommen verändertes Bedingungsfeld ergeben. Die Halbwertzeit von Wissen verkürzt sich aufgrund computergestützter Sys- teme immer rasanter. Was heute noch als Wahrheit und aktuelle Informa- tion gilt, ist morgen bereits veraltet und überholt. Schule als Institution, welche klassischerweise eine wichtige Aufgabe darin sieht, Bildung und damit auch Wissen zu vermittelt (Qualifikationsfunktion), steht angesichts dieser neueren Entwicklungen vor einem veränderten Anforderungsprofil. Von Schule wird verlangt, daß sie nicht nur die traditionellen Qualifikatio- nen wie Lesen, Schreiben und Rechnen sowie Fremdsprachen vermittelt, von ihr wird zunehmend auch gefordert, daß sie Medienkompetenz lehrt.

Insbesondere von seiten der Wirtschaft erheben sich vermehrt Stimmen, die auf letztgenannte Qualifikationen besonderen Wert legen. Anderer- seits wird häufig beklagt, daß Schulabsolventen nicht einmal Grundkennt- nisse im Schreiben und Rechnen besäßen. Schule steht somit vor dem Dilemma, einerseits offen zu sein für neue Anforderungen und anderer- seits weiterhin basale Fähigkeiten und Fertigkeiten auszubilden. Und das alles noch am besten mit weniger Lehrpersonal, da dem Staat die Kosten explodieren. Darüber hinaus ist in den letzten Jahren angesichts immen- ser Rationalisierung eine hohe Sockelarbeitslosigkeit entstanden, die sich auch nachhaltig auf den Arbeitsmarkt für Schulabsolventen auswirkt. Im- mer mehr SchülerInnen finden nach Beendigung der Schullaufbahn kei- nen Ausbildungs- oder Studienplatz. Und selbst wenn dies gelingt, so ist das noch lange keine Garantie für einen späteren Arbeitsplatz. Der Über- gang ins Erwerbsleben gestaltet sich für SchülerInnen zunehmend schwieriger (Selektions- und Allokationsfunktion von Schule).

Aber nicht nur die wirtschaftlichen Bedingungen haben sich radikal ge- wandelt, auch das Geschlechterverhältnis hat sich nachhaltig verändert. Frauen sind vermehrt erwerbstätig, und was noch viel entscheidender ist, Frauen haben die ihnen traditionell zugeschriebenen Rollen kritisch reflek- tiert und sind dadurch selbstbewußter und autonomer geworden (vgl. En- ders/Dragässer/Fuchs 1988, 11). Frauen haben weniger Angst denn je, auch im Berufsleben ‘ihren Mann’ stehen zu können, wenn man ihnen die Möglichkeiten dazu gibt. Sie sind besser qualifiziert und ausgebildet, als das jemals zuvor der Fall war.

Im familiären Bereich hat sich dies besonders stark ausgewirkt. Frauen fordern Rechte ein, die Männern jahrhundertelang als Privilegien qua Ge- schlecht in die Wiege gelegt wurden. Frauen trennen sich eher von ihren Partnern, auch weil der Staat eine gewisse soziale Sicherheit geschaffen hat. Scheidung und Trennung bedeuten nicht mehr das soziale Abseits, sondern sind bereits gesellschaftliche Normalität. Frauen trauen sich zu, im Notfall alleine für die Kinder zu sorgen. Frauen können sich auch ange- sichts vermehrter Erwerbstätigkeit selbst versorgen. Viele Selbstverständ- lichkeiten der traditionellen Geschlechterverhältnisse sind dadurch auf- gebrochen und haben nicht nur bei Frauen neben positiven Auswirkungen auch Unsicherheiten im Geschlechterdiskurs hervorgerufen. Männer hat diese Veränderung quasi unvorbereitet getroffen; sie sorgt insbesondere bei jungen Männern für Orientierungslosigkeit (vgl. Rautenberg- Tauber/Sohn 1994, 293). Die traditionellen männlichen Vorbilder sind de- montiert und neue gewandelte Rollenbilder bislang kaum in Sicht. Dies wirkt sich auch auf Schule aus (Integrationsfunktion von Schule). Schule als exekutive Institution von Politik soll den veränderten Normen gerecht werden und die Gleichheit der Geschlechter propagieren, hat aber die tra- ditionell verankerten Strukturen lange nicht überwunden und muß zudem mit Personal und Menschen arbeiten, welche in ihrer persönlichen Ge- schlechtskonstruktion oftmals selbst unsicher sind (vgl. Enders- Dragässer/Fuchs 1988, 11).

Die dritte nachhaltig gewandelte Anforderung an Schule liegt darin, daß sie stärker denn je mit SchülerInnen aus verschiedenen Kulturen zu tun hat. Interkulturelle Erziehung wird dadurch zu einer zentralen Aufgabe von Schule (Integrationsfunktion von Schule). Dabei geht es nicht nur um die angemessene Vermittlung der deutschen Sprache als Verständigungs- grundlage, sondern es geht um ein interkulturelles Miteinander, welches Rücksicht auf die spezifisch kulturellen Eigenarten der Schü-lerInnen nimmt. Das erweist sich als besonders problematisch, wenn SchülerInnen aus Kulturen kommen, welche noch in einem rigiden Maße an Vorstellun- gen Hegemonialer Männlichkeit und somit an traditionellen Geschlechter- beziehungen festhalten. Insbesondere bei diesen SchülerInnen besteht neben der Tatsache, daß sie die ‘hegemoniale’ Sprache Deutsch nicht ausreichend beherrschen, die Gefahr, daß sie aus der Regelschule aus- gesondert werden (vgl. Glumpler 1996).

Die vierte Anforderung, die zunehmend an Schule gestellt und in geringem Umfang bereits praktiziert wird, ist der Gemeinsame Unterricht von behinderten und nicht behinderten SchülerInnen (Integrationsfunktion von Schule). Daß die Regelschule in hohem Maße die SchülerInnen gemeinsam beschulen soll, die sie zuvor ausgesondert und somit als ‘behindert’ etikettiert hat, ist vielen PädagogInnen nicht bewußt.

Diese Arbeit soll gerade diesen fraglichen Aspekt der schulischen Aus- sonderungspraxis in Frage stellen. Dadurch würde für einen größeren Teil der SchülerInnen das Etikett ‘Behinderung’ obsolet, da es keine Funktion mehr hätte.

Schule hat somit aufgrund dieser Veränderungen ein völlig gewandeltes Anforderungsprofil erhalten. Dieses wirkt sich nachhaltig auf den schuli- schen Alltag aus. Dabei sind die Anforderungen nicht immer komplemen- tär, sondern sie widersprechen sich bisweilen auch. Einerseits soll Schule beispielsweise ausländische Zuwandererkinder integrieren, ohne daß ihr entsprechende Mittel und Zusatzaufwendungen seitens des Staates zur Verfügung gestellt werden. Durch diese teilweise Überforderung (eine Abweichung von den Anforderungen wird wahrscheinlicher) werden ver- mehrt Kinder aus der Regelschule ausgesondert und auf die Sonderschu- le verwiesen, welche lediglich sprachliche und kulturelle ‘Defizite’ aufwei- sen. Nicht nur deshalb beobachtet man an Sonderschulen in den letzten Jahren eine steigende Ausländerquote. „Der Anteil ausländischer Kinder und Jugendlicher, die eine Sonderschule für Lernbehinderte besuchen, an der Gesamtzahl der ausländischen Schülerinnen und Schüler im schul- pflichtigen Alter ist gestiegen (von 3,9% auf 4,1%); dies bedeutet, daß sich für sie die Wahrscheinlichkeit, auf eine Sonderschule für Lernbehinderte überwiesen zu werden, erhöht hat“ (Kornmann/Klingele 1994, 5f, zitiert nach Glumpler 1996, 159). Andererseits sollen Regelschulen stärker inte- grativ beschulen und Gemeinsamen Unterricht von behinderten und nicht behinderten SchülerInnen durchführen. Das geschieht in den Bundeslän- dern bereits (vgl. Schildmann 1997,92). Dennoch haben diese gestiege- nen Anforderungen dazu geführt, daß trotz Gemeinsamen Unterrichts die Schülerzahlen an Sonderschulen keineswegs gesunken sind.

4.2 Zur Differenzierung der Schule in traditionelle Regel- und Son- derschule unter Berücksichtigung geschlechtsspezifischer Aspekte

Die Differenzierung zwischen Sonder- und 14 Regelschulen sollte historisch gewachsen zwei wesentliche Funktionen erfüllen. Zum einen sollten den SchülerInnen an der Sonderschule besondere Fördermaßnahmen zuteil werden, welche in dem Umfang und Ausmaß an der Regelschule nicht möglich waren. Diese besonderen Hilfen bezogen sich in erster Linie auf die am individuellen Defizit festgestellte ‘Behinderung’. Nach den verschiedenen Kategorien von ‘Behinderung’ gliederte sich auch das Sonderschulwesen in die verschiedenen ‘Behinderungsarten’ auf (z.B. Blindenschulen, Schwerhörigenschulen, Körperbehindertenschulen etc.). Dadurch sollte eine bestmögliche Unterstützung und Milderung der ‘Behinderungsdefizite’ erreicht werden (Förderungsaspekt).

Die zweite Funktion der Trennung zwischen Sonder- und Regelschulen lag in der Entlastung der Regelschule. Da sich die Regelschule angesichts bestimmter individueller Bedürfnisse von SchülerInnen überlastet fühlte, wurde die Hilfsschule und Sonderschule zu ihrer Bildungsstütze. Schüle- rInnen wurden separat beschult und ausgesondert, um einen möglichst zielgleichen Unterricht insbesondere im Hinblick auf die Qualifikations- funktion von Regelschule gewährleisten zu können (Entlastungs- funktion).15 Sonderschule sah ihre Hauptfunktion darin, über das Angebot besonderer pädagogischer Fördermaßnahmen, die Integration von behin- derten SchülerInnen in die Gesellschaft und damit auch in die Berufswelt zu erleichtern und zu unterstützen.

Die Integrationsbewegung und -pädagogik hat diesen Weg der Integration fundamental und radikal in Frage gestellt. Integration sollte nicht das Ziel sein, sondern der Weg. Dadurch wurde die Sonderpädagogik in eine ernste Legitimationskrise versetzt.

Es ist sicherlich kein Zufall, daß die Integrationsbewegung zeitlich im sel- ben Kontext initiiert wurde wie die Frauenbewegung. Es waren in erster Linie Mütter behinderter Kinder und Erzieherinnen, welche die Aussonde- rungspraxis der traditionellen Bildungsstruktur in Frage stellten. „Den westlichen Bildungsinstitutionen ist gemeinsam, daß sie auf eine Bildungs- tradition zurückgehen, bei der Bildung männlich definiert und nur Jungen und Männern zugänglich war. Mädchen und Frauen blieben lange ausge- schlossen“ (Enders-Dragässer/Fuchs 1988, 15). Es lassen sich insofern Verbindungslinien ziehen zwischen den Emanzipationsbestrebungen der Frau und der Integrationsbewegung. Ein Indiz dafür bietet die an Universi- täten häufig praktizierte enge Verzahnung und Zusammenarbeit zwischen der Frauenforschung und der Integrationspädagogik (z.B. an der Universi- tät Dortmund).

Aus Sicht der Kritischen Männerforschung gibt es ausreichende theoreti- sche Fundamente, welche diese Entwicklungen nachvollziehbar machen. Frauen wurden jahrhundertelang diskriminiert und von bestimmten gesell- schaftlichen Positionen und Rollen ausgeschlossen. Frauen wurden iso- liert und als bildungsunfähig abqualifiziert. Es wurde ideologisch unter- stellt, daß es das beste für Frauen sei und ihrer Natur entspräche, sich um die Erziehungsaufgaben zu kümmern. Vom öffentlichen gesellschaftlichen Leben blieben sie dadurch abgeschieden und ausgeschlossen. Men- schen, die mit einer ‘Behinderung’ etikettiert werden, sind angesichts ihrer Separation und Isolation oftmals in einer vergleichbaren Lage. Es wird ü- ber sie entschieden, es wird für sie entschieden (es sei das Beste für sie) und sie werden kaum in den Entscheidungsprozeß einbezogen. Das Phä- nomen ‘Behinderung’ diente ebenso der Legitimation einer Hierarchie wie das traditionelle Geschlechterverhältnis. Daß Frauen dieses Aussonde- rungsverfahren in Frage stellen und sich verstärkt für die Integration von behinderten Menschen einsetzen, erscheint vor diesem Hintergrund ein- leuchtend.

Kritische Männerforschung öffnet darüber hinaus auch den Blick auf wesentliche Aspekte der Hegemonialen Männlichkeit, welche zu der traditionellen Differenz zwischen Sonder- und Regelschulen beigetragen haben könnten. Es wurde schon ausführlich beschrieben, daß von Männern traditionell verlangt wird, daß sie eigene Schwächen und Gefühle unterdrücken.16 Hilfsbedürftigkeit und Dysfunktionalität dürfen nicht zugelassen und müssen somit verdrängt werden.

So „muß Hilflosigkeit zum Objekt der Ablehnung und des Hasses werden. Sie ist es, die einen bedroht, und nicht die Situation, die sie verursacht hat. So rächt man sich dauernd an allem, was die eigene Hilflosigkeit hervorru- fen könnte“ (Gruen 1991, 26, zitiert nach Böhnisch/Winter 1993, 26). Daher wird Hilflosigkeit bei anderen verachtet. Dieses Verachten verbirgt die dahinter stehende eigene Angst und fördert zugleich die Haltung des Verachtens und die Notwendigkeit einer kompensierten Ideologie der Macht und des Herrschens (vgl. Böhnisch/Winter 1993, 26).

Aus Sicht der Kritischen Männerforschung könnte die These aufgestellt werden, daß ‘Behinderung’ als Konstrukt auch dazu dient, diese Art von Hilfsbedürftigkeit und Abweichung mittels Aussonderung und Separation aus dem eigenen Blickwinkel zu verbannen. Ein Mann mit einer ‘Behinderung’ ist dann kein Mann mehr, sondern ein ‘Behinderter’ (wie die Toilettenanordnung oftmals impliziert - Frauen-, Männer- und Behindertentoiletten). Der ‘Behinderte’ wird geschlechtslos und stört qua Etikettierung und Separation nicht die Hegemoniale Männlichkeit.

Bereits 1987 stellte Epple folgende These auf:

„Die Ausgliederung eines großen Anteils der Kinder eines jeden Jahrganges in Sondereinrichtungen, immer mit dem erklärten - fürsorglichen - Ziel ihrer besonderen Förderung, nach Möglichkeit auch ihrer Rückführung in die Regelschule usw., hat nicht zuletzt den Aspekt der Vertuschung männlichen 'Versagens' gegenüber männlicher Normiertheit" (Epple 1987, 20).

4.2.1 Zur Population und Geschlechterdifferenz in sonderpädagogi- schen Institutionen

Um sich vor der näheren Betrachtung der Aussonderungspraxis einen zahlenmäßigen Überblick verschaffen zu können, werden in diesem Ab- schnitt kurz einige wesentliche Zahlen und Daten zur Sonderbeschulung und Geschlechterdifferenz in den sonderpädagogischen Institutionen ge- nannt.

Der Anteil der SonderschülerInnen an der Bevölkerung im schulpflichtigen Alter (6-15 Jahre) betrug 1994 in der Bundesrepublik 4,76% (vgl. Cloerkes 1997, 21). Von diesen SchülerInnen wurden 56,98% als lernbehindert ein- gestuft. Dabei variieren die Werte zwischen den Bundesländern erheblich. „Bei den Schülern in Schulen für Lernbehinderte steht Sachsen-Anhalt mit 3,65% an der Spitze und das Saarland (1,54%) und Bayern (1,4%) am unteren Ende“ (ebd.). Für Nordrhein-Westfalen stellt die Bildungskommis- sion (1995, 249) heraus, daß „etwas mehr als 4% aller schulpflichtigen Kinder und Jugendlichen eine Sonderschule“ besuchen. Für das Schuljahr 1994/95 waren es 91.414 SchülerInnen. „Mehr als die Hälfte besucht die Schule für Lernbehinderte, die vor den Schulen mit Geistigbehinderte (13%), für Sprachbehinderte (9,6%) und für Erziehungshilfe (7,7%) der mit Abstand größte Sonderschultyp ist“ (ebd.). Zusätzlich nahmen „im Schul- jahr 1993/94 ... etwa 2.500 behinderte Kinder am gemeinsamen Unterricht an Grundschulen und etwa 500 Schülerinnen und Schüler an verschiede- nen Integrationsmaßnahmen in der Sekundarstufe I teil“ (ebd. 250).

Für alle Sonderschultypen ergeben aktuelle Statistiken einen deutlich hö- heren Anteil von männlichen Schülern. Für ganz Deutschland betrug der Mädchenanteil an den verschiedenen Sonderschultypen im Schuljahr 1996/97 36,4% (vgl. Statistisches Bundesamt Schuljahr 1996/97 zitiert nach Deutscher Bundestag 1997, 5). Der Jungenanteil beläuft sich dem- gemäß auf 63,6%.

Für die einzelnen „Klassentypen“ (ebd.) ergeben sich folgende Quoten (dahinter Vergleichszahlen für Nordrhein-Westfalen):

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

TABELLE 1: STATISTISCHES BUNDESAMT SCHULJAHR 1996/97 ZITIERT NACH DEUTSCHER BUNDESTAG 1997, 5

Ein signifikant höherer Anteil von männlichen Schülern - gemessen an der Durchschnittsquote von 63,6% - ergibt sich für die Kategorien Sprachbehinderte (72,2%) und Verhaltensgestörte (85,5%). Bei der Statistik ist zu beachten, daß der Anteil der männlichen Schüler an den Lernbehinderten (62,2%) aufgrund der Gewichtigkeit dieser Kategorie (mehr als 50% aller SchülerInnen) eine besondere Bedeutung zukommt.

4.2.2 Grundschule als Institution zwischen Integration und Ausson- derung

‘Behinderung’ ist, wie schon in Kapitel 3 gezeigt, nicht ein Faktum an sich, sondern entsteht erst in einem gesellschaftlich interaktionellen Kontext. Schule als Institution bietet diesen Kontext, und ihr kommt somit bei der Bestimmung und Definition von ‘Behinderung’ als schulischer Kategorie eine besondere Bedeutung zu. In der Regel werden Kinder nicht mit einer ‘Behinderung’ eingeschult, sondern diese wird erst relevant und evident im schulischen Alltag. Das soll nicht heißen, daß die ‘Behinderung’ zuvor un- bemerkt blieb, diese aber stets vorhanden war. Es bedeutet vielmehr, daß sich ‘Behinderung’ erst in diesem mit gesellschaftlichen Normen, Erwar- tungen und Anforderungen besonders angereicherten institutionellen Rahmen als solche konstituiert. In einer Untersuchung, in der sich Lang- feldt (1998) mit den Vorstellungen auseinandersetzt, welche die befragten Lehrkräfte von der Zusammensetzung ihrer Klientel an den Lernbehinder- ten (LB)-, Geistigbehindertenschulen (GB) sowie an den Schulen für Er- ziehungshilfe haben, geht es unter anderem auch um den Anmeldezeit- punkt für eine Sonderbeschulung. Die Befragung besitzt keinen repräsen- tativen Charakter. Dennoch erscheinen einige der Ergebnisse interessant.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

TABELLE 2: LANGFELDT (1998, 46)

Der Autor konstatiert: „Der Tabelle ... ist durch Kumulierung der Häufigkei- ten auch zu entnehmen, daß entsprechend den Angaben der Lehrkräfte nach dem dritten Schulbesuchsjahr 63% der lernbehinderten, 81% der geistigbehinderten und 64% der erziehungsschwierigen Schüler zur Son- derschule angemeldet sind. Die Schullaufbahn vor dem Sonderschulbe- such ist damit bei den lernbehinderten und den erziehungsschwierigen Schülern relativ ähnlich; die der geistigbehinderten Kinder unterscheidet sich davon deutlich“ (Langfeldt 1998, 46). Diese Ergebnisse machen deut- lich, daß sich für die angeführten verschiedenen Kategorien (Lernbehinde- rung, Geistige Behinderung, Erziehungsschwierige) von ‘Behinderung’ unterschiedliche Zeitpunkte der Aussonderung ergeben (vgl. Langfeldt 1998, 46).

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TABELLE 3: VGL. LANGFELDT (1998, 46)

Es lassen sich einige wesentliche Thesen aus dieser Befragung ableiten. Wie zuvor dargelegt17 werden mehr als 50% aller SonderschülerInnen als lernbehindert eingestuft. Diese Befragung weist darauf hin, daß weit mehr als 50% (70% für LB in Tabelle 3) der SchülerInnen zur Grundschulzeit auf die Lernbehindertenschule überwiesen werden, so daß vieles dafür spricht, daß deutlich mehr als ein Viertel aller SonderschülerInnen wäh- rend der Grundschulzeit ausgesondert werden. Die tatsächliche Zahl dürf- te bei beinahe der Hälfte aller SchülerInnen liegen (bei Addition der weite- ren Kategorien). ‘Behinderung’ wird somit nicht in erster Linie zu einem Phänomen und Problem der Sonderschulen, sondern zu einem der Grundschulen, bzw. es entsteht als schulisches Phänomen erst in ihrem Kontext. Nimmt man nun Bezug auf die in Kapitel 3.6 dargestellte Definiti- on von ‘Behinderung’, so scheint es, daß in der Grundschule gesellschaft- liche Normen, Erwartungen und Anforderungen gestellt werden, denen eine nicht unbeträchtliche Zahl der SchülerInnen nicht entsprechen kann.

Diese Abweichung wird nicht nur als negativ auffällig erkannt, sondern mit im diagnostischen Überweisungsverfahren (VO-SF, vormals SAV in NRW) auch als dauerhaft eingestuft. Dabei stellen sich viele Fragen: An welchen Normen, Erwartungen und Anforderungen scheitern diese SchülerInnen? Wer stellt dieses Scheitern fest, bzw. wer macht darauf aufmerksam? Wer diagnostiziert die ‘Behinderung’? Wie kann man nach vier Schuljahren bereits eine dauerhafte Abweichung erkennen, wenn diese zuvor (Vor- schulzeit) keine oder nur eine untergeordnete Rolle gespielt hat?

4.2.3 Gründe, die zu einer Anmeldung an einer Sonderschule führen können

Ebenfalls aus der Studie von Langfeldt (1998) sind die folgenden Ergeb- nisse entnommen. Dabei wurden Lehrkräften (der Sonderschulen für Lernbehinderte, für Geistigbehinderte und Erziehungshilfe) 13 unter- schiedliche Gründe vorgelegt, die zu einer Anmeldung an eine Sonder- schule führen können.

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TABELLE 4: LANGFELDT (1998, 47)

Die Tabelle weist folgende Ergebnisse aus:

- „Die zur Schule für Lernbehinderte angemeldeten Kinder werden wahr- genommen als:

problematisch im Sozialverhalten; problematisch im Arbeits- und Lernverhalten bei gleichzeitigem Schulversagen und allgemeiner Entwicklungsverzögerung.

- Die zur Schule für Geistigbehinderte angemeldeten Kinder werden wahrgenommen als: hirngeschädigt und entwicklungsverzögert. · Die zur Schule für Erziehungshilfe angemeldeten Kinder werden wahr- genommen als:

problematisch im Sozialverhalten, problematisch im Arbeits- und Lernverhalten, milieugeschädigt, aber (im Unterschied zu den Lernbehinderten) nicht als schulisch versagend“ (Langfeldt 1998, 48).

Diese Ergebnisse erscheinen vor dem Hintergrund der Kritischen Männer- forschung höchst brisant zu sein. Zwar muß man auch hier wieder auf den stichprobenartigen Charakter dieser Untersuchung hinweisen, einige The- sen lassen sich aber durchaus ableiten. Da bei der Feststellung einer Lernbehinderung und im besonderen Maße bei der Überweisung auf eine Schule für Erziehungshilfe Probleme im Sozialverhalten sowie Schwierig- keiten im Arbeits- und Lernverhalten eine besondere Rolle spielen, scheint eine Beziehung zwischen Aspekten in der Sozialisation und der Etikettie- rung mit dem Konstrukt ‘Behinderung’ zu bestehen. Für die Kritische Män- nerforschung besonders relevant erscheint dabei die überproportional ho- he Zahl männlicher SonderschülerInnen auf den Schulen für Lernbehin- derte, Sprachbehinderte und Erziehungsschwierige. Es scheinen gewisse Aspekte in der männlichen Sozialisation zu existieren, die das Entstehen eines auffälligen Sozialverhaltens und eines problematischen Arbeits- und Lernverhaltens begünstigen. Männliche Sozialisation scheint insofern die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, als ‘behindert’ etikettiert zu werden und somit aus dem allgemeinen Schulwesen ausgesondert zu werden.

4.2.4 Schulische Verhaltensauffälligkeiten und Probleme im Sozial- verhalten bedingt durch Aspekte der männlichen Sozialisation

„Wir vertreten die These, daß dadurch der Blick auf den wesentlichen Sachverhalt verstellt wird, daß in den Verhaltensschwierigkeiten von Jungen soziale Defizite und Identitätsprobleme zum Ausdruck kommen und daß diese in ihrem Bedeutungsgehalt unterschätzt und in ihrer Komplexität nicht wahrgenommen werden“ (Enders-Dragässer/Fuchs 1988, 14).

1. Die Rolle der Mutter und das Autonomiedilemma18

Im primären Sozialisationsprozeß lernt der Junge, daß Autonomie und Ich- Entwicklung für ihn eng mit der Verdrängung von Hilflosigkeit und Abhän- gigkeit verbunden sind. Er entwickelt seine männliche Geschlechtsidentität in erster Linie in der Abgrenzung von der Mutter. Männlich bedeutet somit nicht nicht-männlich (weiblich) (vgl. Hagemann-White 1984, 92). Das Au- tonomiedilemma, welches daraus resultiert, wirkt sich auch auf den vor- schulischen und schulischen Bildungsprozeß bei Jungen aus. Da im Ele- mentarbereich unseres Bildungswesens männliche Erzieher und Lehrer nur selten oder gar nicht vorhanden sind, sind Jungen auch in dieser wich- tigen Phase der Sozialisation beinahe ausschließlich auf Frauen verwie- sen. „Aus Sicht der Jungen ist ihre Lebenswelt nicht nur in der Familie und im Kindergarten, sondern auch in der Grundschule weiblich beherrscht“ (Schnack/Neutzling 1993, 73).19 Damit ein Junge eine männliche Ge- schlechtsidentität herausbilden kann, welche gleichzeitig seine Autonomie sichert, wird er Verhaltensweisen wählen, welche sich deutlich von denen abheben, die für ihn als weiblich, als mädchenhaft gelten (vgl. Badinter 1993, 48ff). ‘Weiblichkeit’ erkennt der Junge in der Regel im mütterlichen Verhalten, im fürsorglichen, erzieherischen Kümmern der Kindergärtnerin- nen und dem pädagogischen Handeln seiner Lehrerinnen. Um zu zeigen, daß Jungen anders sind bzw. daß er zu der anderen Geschlechtskatego- rie gehört, wird ein Junge eher dazu neigen, Aufgabenstellungen und An- forderungen zurückzuweisen, diese zu modifizieren oder aber besonders gut (besser als die Mädchen) durchzuführen. Wichtig bleibt dabei, stets zu zeigen, daß ‘mann’ es anders macht als die Mädchen. Das Verweigern einer gestellten Aufgabe, das Zurückweisen von Pflichten und auch das Bemühen, eine Aufgabe besonders gut und schnell zu lösen, kann eng verbunden sein mit der Intention, die eigene männliche Geschlechtsidenti- tät in der Abgrenzung zur erzieherisch tätigen Frau zu suchen. Diese wird aus Sicht der Jungen oftmals als übermächtig erlebt. In der Verdrängung von Abhängigkeit und Hilflosigkeit, welche das Autonomiedilemma Jungen nahelegt, liegt also ein Anforderungsschema, dem ein Junge nur gerecht werden kann, wenn er für sich ausreichende flexible Verhaltensweisen kennengelernt hat und beherrscht, so daß nicht jeglicher Nachweis von Männlichkeit zu einer konfliktgeprägten Auseinandersetzung mit der weib- lichen Bezugsperson gerät.

2. Die Rolle des Vaters und die Suche nach Männlichkeit20

„(Es) fehlen den Jungen Lernangebote und das Vorbild erwachsener Männer, mit denen sie sich positiv identifizieren und an deren Beispiel und mit deren Unterstüt- zung sie sich entwickeln könnten. Deshalb sind sie in dieser Hinsicht in der Schule unterfordert und entwickeln zwangsläufig Defizite. Dies gilt insbesondere für Kom- petenzen und Verhaltensweisen, die nicht zum geschlechtsrollenstereotypen männlichen Verhaltensrepertoire gehören. Deshalb fallen die Defizite der Jungen vorläufig auch eher Frauen ins Auge als Männern“ (Enders-Dragässer/Fuchs 1988, 54).

Die Schärfe des Autonomiedilemmas wurzelt in dem Faktum, daß Jungen oftmals nicht nur im häuslich-familiären Rahmen eine männliche Bezugs- person fehlt, sie steht ihnen auch im Kindergarten und in der Grundschul- zeit nur relativ selten zur Verfügung. Das führt nicht nur zur tendenziellen Abgrenzung von Frauen, sondern auch zu einer Orientierung an Männ- lichkeitsbildern in den Medien oder an Gleichaltrigen (vgl. Metz-Göckel 1993, 95).

Die Männer in den Medien bedienen zum großen Teil aber jene Ge- schlechtsklischees, die unter der Hegemonialen Männlichkeit zusammen- gefaßt wurden. Es werden Action-Helden, Supermänner und nicht greifba- re Übermänner dargestellt, welche nichts mit der Alltagswelt der Jungen zu tun haben. Männlichkeit wird in den Medien teilweise als etwas Großar- tiges, Bewundernswertes und Höherwertiges dargestellt. Frauen sind auch heute noch in den Medien stark unterrepräsentiert. Aber nicht nur die Me- dien, sondern auch die Jungen untereinander versuchen sich gegenseitig zu bezeugen, daß sie besser, stärker, erfolgreicher und klüger sind als die Mädchen. Benard/Schlaffer (1995, 70, zitiert nach Warzecha 1997, 242) bezeichnen dies als ständig präsente „Geschlechterpolizei“.

Daß sich dieser Anspruch und diese Anforderung nur selten mit dem deckt, was Jungen tatsächlich empfinden, macht das Dilemma offensicht- lich. Oftmals fühlen sie sich nicht verstanden, da ihr Verhalten und ihr per- sönliches Erleben nicht kongruent sind. Männliche Vorbilder, mit denen man sich in realiter streiten, auseinandersetzen und wieder versöhnen kann, sind nur selten präsent. Verständnis und Einfühlungsvermögen zwi- schen Männern und Jungen werden somit kaum vermittelt. Dies kann auch im unterrichtlichen Geschehen häufig zu Konflikten führen. Necke- reien, Balgereien, Toben, aber auch gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen Jungen dürften häufig einen ursächlichen Bezug zur brüchigen männlichen Geschlechtsidentität und seinen facettenreichen Aspekten haben.

3. Zur männlichen Adoleszenz21

In der Phase der Adoleszenz werden viele Konflikte, im besonderen der Autonomiekonflikt von Jungen reaktualisiert. Diese Phase ist bestimmt von dem Wunsch, sich von den Eltern und primären Bezugspersonen zu lösen und gleichzeitig eine persönliche Identität zu entwickeln, welche den Ü- bergang von der Phase der Kindheit ins Erwachsenenalter zu meistern in der Lage ist. Bis dahin erlebte und erfahrene Selbstverständlichkeiten werden in Frage gestellt, Normen und Anforderungen zurückgewiesen und deren Legitimation eingefordert; kurzum, Pubertät bewegt sich im Span- nungsfeld zwischen Rebellion und Anpassung (vgl. Hurrelmann 1993, 253ff). Ähnlich wie in der primären Sozialisationsphase suchen männliche Adoleszenten nach männlichen Vorbildern, an denen sie sich orientieren können. Da aber häufig weder das nähere Umfeld (Cliquen) noch päda- gogische Einrichtungen oder gar die Eltern männliche Bezugspersonen präsentieren, welche auf die individuellen Probleme, Sorgen und Nöte der Heranwachsenden eingehen, suchen diese zumeist Antworten in den Me- dien oder aber in einer weiteren Verstärkung bekannter, zumeist männ- lich-hegemonialer Verhaltensweisen (vgl. Enders-Dragässer/Fuchs 1988, 28f).

In den schulischen Institutionen werden in diesem Alter besonders viele junge Männer auffällig. Nicht immer, aber häufig führen starre Männlichkeitsbilder zu Verhaltensweisen, welche mit Aggressionen und Gewalt verbundene Situationen provozieren.

Es scheint daher erklärbar, warum insbesondere in dieser Zeit (ab dem 6. Schuljahr) noch eine höhere Zahl männlicher Adoleszenten auf die Schu- len für Erziehungshilfe überwiesen werden (vgl. Langfeldt 1998, 46).

4. Das Prinzip der Externalisierung22

Das klassische Bild von Männlichkeit verlangt von Jungen, daß sie stets mit ihren Problemen und Sorgen fertig werden. Innere psychische Konflik- te und Spannungen werden verdrängt und nach außen gekehrt. Aktivität gilt als typisches Merkmal von Männlichkeit. Im schulischen Kontext führt dieses Prinzip dazu, daß Jungen, die es nicht gelernt haben, auf andere, adäquatere Verhaltensweisen zurückgreifen zu können, sich im Unterricht auffällig verhalten. Externalisierung bringt insofern soziale Verhaltenswei- sen mit sich, welche im unterrichtlichen Rahmen des öfteren Störungen, Belästigungen oder Unterbrechungen hervorbringen. Versteht ein Junge den Unterrichtsstoff beispielsweise nicht auf Anhieb, so wird er innerlich und äußerlich unruhig. Da ein ‘richtiger’ Junge keine Fragen stellt, da er dadurch zeigen würde, daß er etwas nicht sofort kann und somit Schwä- che offenbaren würde, flüchtet sich dieser Junge in ausweichende Verhal- tensweisen (vgl. Enders-Dragässer/Fuchs 1988, 22). Er fängt beispiels- weise an, seinen Nachbarn zu ärgern, oder aber er verweigert sich laut- stark dem Unterricht, indem er auf dessen vorgebliche Langeweile hin- weist. ‘Es ist ja alles blöd, was wir hier machen’; ‘Das ist ja Weiberkram’. Insbesondere diese Sätze offenbaren, wie das Prinzip der Externalisie- rung im Unterricht wirken kann. Es wäre in einer Situation, in der ein Schü- ler den Lernstoff nicht versteht, angemessen, nachzufragen oder aber darauf hinzuweisen, daß man Hilfe bräuchte. Ein ‘richtiger’ Junge ist aber ‘Mann’ genug, um sich selbst zu helfen. Er beginnt den Unterricht zu stö- ren und bekommt nicht selten von den Geschlechtsgenossen Anerken- nung für sein männliches Gehabe. ‘Mann’ kann es der Frau (Lehrerin) da vorne ‘mal so richtig zeigen’. Leider werden diese Verhaltensweisen vom Lehrer/von der Lehrerin oftmals nicht als indirekter Weg der Kommunikati- on begriffen, sondern als direkter.23 Vielfach wird nicht hinterfragt, welches die tatsächlichen Gründe für das Verhalten sind. So bleibt eine Störung eine Störung und kann nicht begriffen werden als ein Versuch, Kommuni- kation herzustellen, welcher auf anderem Wege nicht gelingt. Jungen ha- ben oft nicht erfahren, daß es sich lohnt, Schwäche zu zeigen und andere um Hilfe zu bitten. Mitunter hält sie Angst davon ab, diese direkte Kommu- nikationsebene zu wählen.

5. Das Prinzip der Gefühlsverleugnung24

Von Jungen wird traditionell verlangt, daß sie ihre Gefühle, insbesondere unangenehme, stets kontrollieren können. Da diese Anforderung nicht erfüllbar ist, äußern sich die unterdrückten Gefühle auf andere Art und Weise (z.B. Externalisierung). Gefühle wie Hilflosigkeit, Ohnmacht und Angst dürfen als solche nicht wahrgenommen werden, da sie die Identität bedrohen. Schwäche und Hilfsbedürftigkeit können nicht nur nicht zuge- lassen werden, sie werden vielmehr verleugnet und auf andere Menschen oder Situationen projiziert (vgl. Böhnisch/Winter 1993, 26). So wird im Un- terricht beispielsweise ein Junge, der dem aktuellen Unterrichtsstoff nicht folgen kann - somit also hilfsbedürftig ist - Möglichkeiten suchen, um von seiner Schwäche und seinem unkontrollierbaren Konflikt abzulenken und diese auf andere Personen oder Dinge zu übertragen. Das gelingt bei- spielsweise dadurch, daß Schwächen und Ängste von MitschülerInnen aufgegriffen werden, um diese gezielt bloßzustellen und vor der Klasse lächerlich zu machen. Innere Gefühlskonflikte werden somit auf äußere Geschehnisse oder Personen projiziert, so daß der Eindruck entsteht, daß im Klassenverband bestimmte ‘schwache’ SchülerInnen (oftmals weibliche oder auch marginalisiert männliche) stets zur Zielscheibe von Belustigun- gen, Beleidigungen und Späßen werden. Daß diese SchülerInnen vermut- lich nur benutzt werden, um von eigenen Schwächen und Problemlagen abzulenken, wird von den Lehrkräften häufig übersehen. Dabei spielt zu- sätzlich eine Rolle, daß die betroffenen SchülerInnen Schwäche und Hilf- losigkeit so deutlich präsentieren und symbolisieren, daß sie von den Jun- gen als Bedrohung ihres starren Geschlechtsselbstverständnisses ange- sehen werden und dadurch Aggressionen hervorrufen.

6. Das Prinzip der Sprachlosigkeit25

Jungen reden nicht, Jungen handeln. Auch durch das Prinzip der Gefühls- verleugnung bedingt stehen Jungen traditionell weniger Kommunikations- wege zur Verfügung. Da sie seltener als Mädchen lernen, über sich, ihre Bedürfnisse und Gefühle zu sprechen, fehlen ihnen häufig entsprechende soziale Kompetenzen. Konflikte können gelöst werden, indem man dar- über redet und dann gemeinsam eine Lösung findet. Viele Jungen lernen diese Art von Konfliktbewältigung niemals kennen. Sprache als Möglich- keit zu betrachten, sich auszudrücken und dadurch auch Identität zu ent- wickeln, bleibt Jungen bisweilen verschlossen. So sehen einige Männer- forscher durchaus einen Zusammenhang zwischen diesem Prinzip der Sprachlosigkeit und der überproportionalen Präsenz von Jungen an den Sprachbehindertenschulen. Am Beispiel des Stotterns stellen Schnack und Neutzling (1990,122ff) einen Zusammenhang zwischen den traditio- nellen Anforderungen an Männlichkeit und Sprachauffälligkeiten her. Sie konstatieren, daß es unter Stotterern Jungen viermal so häufig zu finden sind wie Mädchen.

7. Das Prinzip der Homophobie26

Ein ausgesprochen bedeutsamer Aspekt im Verhalten zwischen Jungen und Männern stellt die latente Homophobie dar. Die permanente Angst davor, zu viel an männlicher Nähe zuzulassen und somit als abnormal, nämlich homosexuell zu gelten, führt häufig zu Verhaltensweisen, welche im schulischen Kontext als auffällig bezeichnet werden. Um sich gegensei- tig zu beweisen, daß man ‘normal’ ist, wird traditionell als männlich gelten- des Verhalten produziert, welches Konflikte provozieren kann, die häufig in Prügeleien und Streitigkeiten ausgetragen werden. Die gleichzeitig vor- handene Suche nach körperlicher Nähe auch von gleichgeschlechtlichen Mitschülern verstärkt den Effekt zusätzlich, so daß in den gewaltsamen Auseinandersetzungen und Neckereien nicht nur Hegemoniale Männlich- keit nachgewiesen, sondern auch das Bedürfnis nach körperlicher Berüh- rung auf sublime Art und Weise gestillt wird. Daß Nähe und Zärtlichkeit zwischen Jungen und Männern nicht nur möglich ist, sondern auch als schön und positiv empfunden werden kann, wird in der Institution Schule nur selten erfahren.

Männliche Lehrkräfte haben oftmals ebenfalls Berührungsängste und fürchten sich vor männlicher Nähe. So ist es im Bild Hegemonialer Männ- lichkeit leichter, einen aggressiven Schüler vom Unterricht auszuschließen oder anders zu sanktionieren, als ihn in den Arm zu nehmen, um zu fra- gen, welche Gründe er für sein Verhalten hatte. Auf diese Weise werden Hierarchien nicht nur geschlechtsspezifischer, sondern auch institutionel- ler Art gefestigt und ständig reproduziert. Vor einem Lehrer, der ‘greifbar’ und anfaßbar wäre, bräuchte man keine Angst haben, und Jungen wären dadurch eher in der Lage, eigene Schwäche an sich und anderen zuzu- lassen und zu dulden.

8. Das Prinzip der Konkurrenzfähigkeit27

Beim Prinzip der Konkurrenzfähigkeit handelt es sich nicht nur um einen wichtigen Aspekt der traditionellen männlichen Sozialisation, sondern e- benfalls um ein Grundprinzip der schulischen Bildungsinstitution (vgl. Prengel 1995, 24). Leistung soll meßbar und somit vergleichbar sein. Deshalb werden für Leistungen Noten vergeben. Über die Aussagekraft von Ziffernnoten läßt sich streiten, von SchülerInnen wird aber stets ver- langt, daß sie sich in der Konkurrenz beweisen. Nicht nur die Hierarchie zwischen LehrerInnen und SchülerInnen wurzelt letztlich in der Macht, SchülerInnen in der Konkurrenzhierarchie höher oder tiefer einstufen zu können. Konkurrenzfähigkeit führt auch zu besseren Bildungschancen und somit zu aussichtsreicheren Berufsperspektiven. Da unsere Bildungsge- sellschaft wesentliche Ressourcen über berufliche Qualifikation zuweist, kommt der Fähigkeit, sich in diesem Sinne gegen MitkonkurrentInnen durchsetzen zu können, eine entscheidende Bedeutung zu. Lebenschan- cen und -perspektiven optimieren und minimieren sich mit dieser Fähig- keit. Angesichts knapper werdender gesellschaftlicher und staatlicher Ressourcen wird das Angebot und somit die Konkurrenz zwischen den SchülerInnen um die begehrten Ausbildungsplätze und Studienplätze im- mer größer.

Schule befördert insofern das Prinzip der Konkurrenzfähigkeit und trägt damit indirekt dazu bei, daß aus dem Miteinander von SchülerInnen oft- mals ein Gegeneinander von KonkurentInnen wird. Das muß nicht unmit- telbar geschehen, aber auch Schule ist in den gesamtgesellschaftlichen Kontext eingebettet, der letztlich weitgehend auf Konkurrenz beruht. Für Jungen hat dies in der Schule die Konsequenz, daß sie im Unterricht bestätigt bekommen, daß es wichtiger ist, sich leistungmäßig gegen MitschülerInnen durchzusetzen, als gemeinsam und solidarisch an Zielen zu arbeiten. Auf diese Weise werden traditionelle Aspekte Hegemonialer Männlichkeit schulisch legitimiert und unterstützt.

9. Das Prinzip des Mannes als Ernährer28

Eine wichtige Zielperspektive männlicher Sozialisation ist nach wie vor das Prinzip des Mannes als Ernährer. Jungen sollen sich in der Konkurrenz behaupten und dann einen Beruf wählen, der es ihnen ermöglicht, eine Familie versorgen zu können. Schule hat insofern für Jungen traditionell betrachtet eine wichtigere Funktion als für Mädchen. Da Frauen traditionell für die Familie sorgen und somit nicht erwerbstätig werden sollten, galt Schulbildung für Mädchen und Frauen lange Zeit als überflüssig. Schulbil- dung im Patriarchat war den Jungen vorbehalten. Auch heute noch tragen traditionelle Muster der Sozialisation dazu bei, daß es bei Jungen als wich- tiger betrachtet wird, daß sie gute schulische Leistungen bringen. ‘Mäd- chen können sich ja immer noch einen reichen Mann angeln’.

Mag es sich allzusehr um Klischees handeln, jahrhundertelange patriar- chale Tradition hat dieses Denken strukturell tief verankert. Daß Schule als Institution an dieser Tradition inzwischen rütteln konnte, zeigt sich an den deutlich besseren Schulnoten, die Mädchen im Vergleich zu Jungen nach Hause bringen (vgl. Preuss-Lausitz 1993, 146ff). Der Übergang ins Berufsleben führt dennoch häufig dazu, daß Männer die qualitativ höher- wertigen und v.a. besser bezahlten Arbeitsplätze bekommen.

Das liegt nicht nur an den Selektionsmechanismen des Marktes, sondern entspricht ebenso dem oftmals traditionellen Verhaltensmuster von Frauen. Da Kind und Karriere nur selten miteinander vereinbar sind, entscheiden sich Frauen bisweilen für die Familie.

Von Jungen in der Schule wird traditionell erwartet, daß sie sich durchset- zen und sich dadurch gute berufliche Perspektiven verschaffen. Jungen, die diesem Muster stark verhaftet sind, die aber Probleme haben, sich leistungsgemäß durchzusetzen, bleibt dann nur die Möglichkeit, traditio- nelle Ausweichmuster im sozialen Verhalten zu bedienen (z.B. Externali- sierung).

10. Das Prinzip des Zwanges zur Macht und Herrschaft29

Nicht nur in der feministischen Literatur wird immer wieder darauf hinge- wiesen, daß in der Grundschule Jungen das Unterrichtsgeschehen und somit die Aufmerksamkeit des Lehrers/der Lehrerin weitgehend beherr- schen. In ihrer Expertise sprechen Enders-Dragässer und Fuchs (1988, 21) davon, daß Jungen im Unterricht etwa zwei Drittel der Aufmerksamkeit des Lehrers/der Lehrerin auf sich ziehen. Wird diese Quote unterschritten, so häuften sich die Beschwerden der Jungen über eine vermeintliche Be- vorzugung der Mädchen.

Jungencliquen sind meist zahlenmäßig größer und dominanter als Mäd- chengruppen. Dadurch können sie sich im Klassengeschehen besser durchsetzen und Ziele vertreten, die mit ihrer eigenen traditionellen Ge- schlechtsidentität verbunden sind. Jungen neigen daher eher dazu, Raum und Platz zu beanspruchen. Im Sportunterricht wird dieses Verhalten be- sonders evident. Wenn es darum geht, welche Sportart die SchülerInnen ausüben wollen, so wird man in der Regel auf eine geschlossene lautstark fordernde Jungengruppe treffen, die unbedingt Fußball spielen möchte. Die Mädchen wissen zwar auch, was sie wollen, sie machen sich nur meistens nicht auf diese externalisierte Art und Weise bemerkbar.

LehrerInnen wählen dann meist den für sie angenehmeren Weg, die Opti- on der Jungen zu stützen. Dadurch ist aus Sicht der Jungen dieses Ver- halten mit Erfolg gekrönt und entsprechendes Verhalten wird verstärkt. Beim nächsten Mal werden die Jungen mit großer Wahrscheinlichkeit auf die gleiche erfolgversprechende Strategie zurückgreifen. Jungen wird da- mit oft unbewußt ein wichtiges Prinzip männlicher Sozialisation auch in der Schule vermittelt.

11. Das Prinzip der Körperferne30

Auch zur Illustration dieses Prinzips soll ein Beispiel aus dem Sportunterricht gewählt werden. Bei der Wahl der Sportarten und -übungen durch die SchülerInnen selbst fällt nicht nur auf, daß Jungen in der Regel konkurrenzbetontere Sportarten wählen, die häufig auch mit einem erhöhten Risiko für den Körper verbunden sind. Bei Sportarten wie Fußball, Handball und Basketball kann es leichter zu Verletzungen kommen als bei Sportarten wie Gymnastik, Turnen und Tanzen.

Körperbetonte Aktionen werden von Jungen auch in den Schulpausen gewählt. Anstatt zur Ruhe zu kommen und sich zu erholen, werden viele Jungen gerade zu dieser Zeit aktiv, rennen und bewegen sich. Das hat sicherlich auch positive Aspekte; jedoch ist das Maß dabei entscheidend. Verausgabt sich ein Junge in der Pause, oder kommt es zu körperlichen Auseinandersetzungen mit anderen Jungen, so ist kaum zu erwarten, daß die Aufmerksamkeit im folgenden Unterricht noch gewährleistet ist. Die eigene Grenze der körperlichen Belastbarkeit ist für Jungen oft nur schwer zu erkennen. Das fördert nicht nur das gesundheitliche Risiko, sondern bereitet auch im schulischen Unterricht Probleme, wenn Schü- lerInnen sich von der Pause erholen müssen oder ihre ‘Wunden lecken’.

12. Das Prinzip der Gewalt31

Der Nachweis traditioneller Männlichkeit ist häufig verbunden mit Aktio- nen, die als gewaltnah bzw. aggressiv bezeichnet werden können. Nicht nur dem eigenen Körper wird dabei Gewalt angetan, sondern auch zwi- schen Jungen ergeben sich wesentlich häufiger körperliche Auseinander- setzungen, als dies bei zwischengeschlechtlichen Kontakten der Fall ist. Bei Androhung und Verwendung von Gewalt spielt also häufig ein zentra- ler Aspekt traditioneller Männlichkeit eine Rolle: Der Nachweis, dazuzuge- hören. ‘Seht her, ich bin ein Mann’. Wenn ein Junge sich schon im Klas- senzimmer, was die schulischen Leistungen betrifft, nicht durchzusetzen vermag, so bleibt noch der Pausenhof, um sich zu beweisen. So ist die Eskalation und der Ausbruch von Gewalt in erster Linie ein Signal der Schwäche, ein Hinweis darauf, daß sich ein Junge anders nicht ausdrü- cken kann oder sich überfordert fühlt. „Körperliche Gewalt ist ein Jungen- verhalten. Körperliche Kommunikationsformen sind für sie elementar“ (Freund 1996, 334).

Gewalt sollte keineswegs beschönigt werden, aber es ist von zentraler Bedeutung, die Ursachen für Aggressionen und Gewalt auszumachen. Diese können in der männlichen Sozialisation wurzeln, wenn Jungen keine anderen Wege zur Durchsetzung von Zielen vermittelt wurde.

13. Zur Angst, aus dem Raster Hegemonialer Männlichkeit auszubre- chen32

Es läßt sich allgemein zusammenfassen, daß die Wahrscheinlichkeit von Verhaltensauffälligkeiten und Problemen im Sozialverhalten in dem Maße steigt, in dem Jungen Angst haben, aus dem Raster traditioneller (hege- monialer) Männlichkeit auszubrechen. Je rigider und starrer Jungen an den Prinzipien und Aspekten Hegemonialer Männlichkeit festhalten, desto wahrscheinlicher werden dissoziale Handlungsweisen auch in der Schule. „Die Jungen beeinträchtigen mit diesen Verhaltensweisen die Qualität des Unterrichts, behindern sich in ihren eigenen Lernmöglichkeiten und schaf- fen sich selbst dadurch vielfältige Lernprobleme“ (Enders- Dragässer/Fuchs 1988, 23).

„Aus den Ausführungen wird deutlich, daß die 'normale' Entwicklung von Jungen als ein pathologischer Prozeß beschrieben werden kann. Daß dieser nicht unmit- telbar auffällig wird, liegt meiner Meinung nach neben individuellen Einflußfaktoren auch an der gesellschaftlichen Definition von Männlichkeit. Durch diese wird die geschlechtsspezifische Entwicklung von Jungen nur dann auffällig, wenn Jungen mit den als männlich definierten Verhaltensweisen nicht flexibel genug umgehen können. Das wird immer dann der Fall sein, wenn Jungen ihre frühen Erfahrungen nicht anders als in ihrer Geschlechtsidentität zum Ausdruck bringen können. Vor allem, wenn ihre Identität bedroht ist, werden sie starr und verzweifelt an z.B. ag- gressiven Verhaltensweisen festhalten. Dann besteht die Gefahr, daß Jungen we- gen ihres auffälligen Verhaltens in eine Sonderschule überwiesen werden, da eine solche Inflexibilität selbst für das Schulsystem, das ja auch viele Inhalte der Geschlechtsrollen vermittelt, unhaltbar ist“ (Beermann 1994, 121).

4.2.5 Hegemoniale Männlichkeit und soziale Herkunft

Wie dargelegt, wirken sich heute noch die verschiedenen Aspekte der Hegemonialen Männlichkeit auf die Genese der männlichen Geschlechts- identität aus. Im Modell der Verschiedenen Männlichkeiten wurde aber auch deutlich gemacht, daß Mannsein sich individuell auch abweichend von der vorherrschenden Hegemonialen Männlichkeit ausformen kann. Individuelle Geschlechtsidentität wird dabei gewonnen, indem Jungen und Mädchen bestimmtes Verhalten als für ihr Geschlecht mögliches Handeln verinnerlichen und sich aktiv aneignen. Dabei sind die Geschlechtskon- strukte, welche Jungen und Mädchen vorgelebt bekommen, von besonde- rer Gewichtigkeit. Lernt ein Junge beispielsweise an dem Verhalten seines Vaters, daß ein Mann in bestimmten Situationen Schwächen zeigen kann, so wird es leichter fallen, dieses Verhalten in sein männliches Handlungs- repertoire zu integrieren.

Bei der Geschlechtsidentität handelt es sich um eine Konstruktion, welche sich in einem Prozeß zwischen gesellschaftlichen Orientierungsangeboten und individueller Aneignung von Verhaltensweisen ausprägt. Für Jungen bleibt ihre männliche Geschlechtsidentität wie gezeigt oft bedroht, d.h. sie muß immer wieder aufs neue nachgewiesen und hergestellt werden. Das Angebot von verschiedenen geschlechtsspezifischen Verhaltensre- pertoires ist jedoch insbesondere in der primären, vorwiegend familiären Sozialisationsphase gebunden an den sozialen Status. Kritische Männer- forschung hat dabei aufgedeckt, daß sich besonders starre und rigide tra- ditionelle Männlichkeitsbilder in den sozialen Unterschichten finden. Das- selbe gilt jedoch auch für die soziale Oberschicht. „Männliche Fossilien mit konservativen Rollenstandards finden sich gehäuft in den Ober- und Un- terschichten. Populär formuliert: Der Chefarzt mit seiner Herrenmentalität will sich nicht, der Hilfsarbeiter mit der ‘Rambo’-Allüre kann sich nicht ver- ändern. In den Mittelschichten sind die meisten ‘neuen Männer’ anzutref- fen, teils ihrer stärker emanzipierten, berufstätigen Frauen, teils ihres ei- genen ‘Leidensdrucks’ und Bewußtseinswandels wegen“ (Jung 1993, 12). Jungen aus der Unter- und Oberschicht stehen demnach weniger männli- che bzw. eher am traditionellen Männlichkeitsbild orientierte Vorbilder und somit auch soziale Rollenangebote zur Verfügung als Jungen aus der Mit- telschicht. Letztgenannte erleben häufig eine berufstätige Mutter, welche das Familien- und Berufsleben zu kombinieren versucht. Diese Frauen haben sich tendenziell emanzipiert, d.h. aus der traditionellen Frauenrolle befreit. Sie sind häufig gut qualifiziert, gebildet und führen ein selbstbe- stimmtes Leben. Für die Männer bedeutet dies, daß sie sich auf eine ver- änderte Rollenverteilung im familiären Kontext einlassen müssen. Von ihnen wird mehr denn je verlangt, sich auch im Haushalt und in der Erzie- hung der Kinder einzubringen. So konstatieren Helbrecht-Jordan/Gonser (1993, 183): „Der Vergleich der beiden im Abstand von zehn Jahren durchgeführten Männerstudien (Pross 1978, Metz-Göckel/Müller 1986) verweist auf Wandlungstendenzen: Männer geben sich aufgeschlossener, frauenfreundlicher als früher; allzu enge Konzepte von ‘Männlichkeit’ wur- den verabschiedet; die Variationsbreite der Einstellungen (und zum Teil sogar des Verhaltens) wurde größer“. Daß diese veränderte Einstellungen und entsprechendes Verhalten eher in der Mittelschicht vorkommen, dar- auf machen auch Böhnisch/Winter (1993, 152) aufmerksam. Für Kinder aus der Ober- und v.a. der sozialen Unterschicht gelten nach wie vor weit- gehend die traditionell männlich stereotypen Geschlechtsbilder. Diese ba- sieren auf Werten und Normen, welche in einer sich wandelnden Gesell- schaft, in der sich die Geschlechterbilder im Umbruch befinden, nicht mehr unhinterfragt geduldet werden. Insbesondere Schule als „eine ‘monokultu- relle’ Mittelschichteinrichtung, in der die Mehrheit der Kinder ihre (sub- )kulturellen Erfahrungen und Haltungen verlernen müssen, wenn sie er- folgreich sein wollen“ (Prengel 1995, 25), vermittelt heutzutage andere Werte und Normen, als dies noch vor zwanzig Jahren der Fall war. Nicht nur für die Geschlechtsdimension bedeutet Schulbildung insbesondere „für Kinder von Arbeitern, Bauern, Angestellten und Einzelhändlern immer zugleich Akkulturation“ (Bourdieu/Passeron 1971, 40, zitiert nach Prengel 1995, 24).

In der Schule treffen also je nach sozialer Herkunft völlig unterschiedliche Geschlechtsidentitäten und -bilder aufeinander. Während Jungen aus der Mittelschicht über ein flexibleres und größeres Verhaltensrepertoire im Hinblick auf die eigene Geschlechtskonstruktion verfügen können, haben Jungen aus der Unter- und Oberschicht zumeist traditionelle und somit rigidere und einschränkendere Verhaltensweisen als ‘männlich’ konnotiert internalisiert. Die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, in denen Sozia- lisation und somit auch schulische Sozialisation stattfindet, haben sich gewandelt. Ehemals selbstverständliche Geschlechterimages sind diffus und brüchig geworden. Je nach sozialer Herkunft und viel entscheidender noch, je nachdem, welche geschlechtsbezogenen Verhaltensmöglichkei- ten Jungen kennengelernt haben, kommen sie mit ausgesprochen hetero- genen Männlichkeitsvorstellungen in die Institution Schule und treffen dort auf eine Lernsituation, in der in der Regel Frauen als Vermittler und Vor- bild fungieren. Preuss-Lausitz (1993, 164f) weist auf das modernisierte Männerbild hin und stellt geschlechtsspezifische Differenzen in den Vor- dergrund seines Fazits:

„Das entscheidende Kennzeichen der heutigen Situation ist gerade die Vielfalt und Widersprüchlichkeit von Erwartungen, denen Mädchen und Jungen ausgesetzt sind. Ich glaube, daß viele Mädchen und Jungen diese Widersprüchlichkeit diffus empfinden. Mädchen haben gegenwärtig Vorteile: Das ‘modernisierte’ Frauenbild - selbstbewußt und erfolgreich im Beruf, sozial kommunikativ, einfühlsam als Mutter, partnerschaftlich als Ehefrau usw. - wird in allen Medien in immer neuen Varianten vorgeführt. Die (alten) Männer sind auf der öffentlichen Anklagebank, ohne daß der ‘modernisierte’ Mann so recht überzeugend erkennbar ist. Kein Wunder, daß die ‘kleinen Helden in Not’ (Schnack/Neutzling 1990) sind, da sie nicht so recht wis- sen, welches Bild zwischen Softie- Langweiler- und Superman- Fiktion sie für sich selbst finden können. Die Pädagogen jedenfalls, Feministinnen wie männliche Er- ziehungswissenschaftler, haben sie bislang meist sich selbst überlassen".

4.2.6 Zur Wechselbeziehung von Hegemonialer Männlichkeit und der Legitimationskrise der Sonderschule

„Drohende oder auch akute Arbeitslosigkeit nimmt Männern zunehmend eine wich- tige, oft die einzige Stütze ihrer Identität“ (Rautenberg-Tauber/Sohn 1994, 294).

Über Jahrhunderte galt im Sinne der Hegemonialen Männlichkeit, mit der ihr impliziten geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung, daß Männer ihre Männlichkeit über ihren beruflichen und somit über ihren sozialen Status nachweisen mußten. Ein Mann, der nicht arbeiten konnte oder wollte, galt nicht als ganzer Mann (vgl. Schnack/Neutzling 1997, 120).33 Der Mann sollte über seine Erwerbsarbeit die finanzielle Grundlage zur Versorgung und Ernährung seiner Familie schaffen. Die Postmoderne hat diese grund- legenden Prinzipien radikal in Frage gestellt. Nicht nur, daß immer häufi- ger Frauen in traditionelle Männerberufe eindringen, die revolutionäre Umgestaltung der Wirtschaftsstrukturen, die derzeit weltweit stattfindet, bedingt einen stetig wachsenden Prozentsatz von Arbeitslosen (vgl. Beck- Gernsheim 1998). Betroffen von dieser aus der wirtschaftlichen Dynamik und Rationalisierung erwachsenen Erwerbslosigkeit sind im besonderen Maße jene Männer und Frauen, die den gewandelten Anforderungen an Qualifikation und Bildung nicht gerecht werden können. Trotz der Tatsa- che, daß Frauen immer noch überproportional häufig von Arbeitslosigkeit betroffen sind, wird dieses Schicksal auch vermehrt Männern zuteil. Be- troffen sind in erster Linie diejenigen Erwerbstätigen, deren Arbeit im Zuge der technischen Neuerungen wegrationalisiert wurde. Das sind häufig Be- rufe, welche eine geringe oder keine besondere berufliche Qualifikation benötigten (vgl. Dalin 1997, 45f). Damit werden Männer und Frauen aus der sozialen Unterschicht besonders häufig mit dem Phänomen der Er- werbslosigkeit konfrontiert.34 Da in diesen sozialen Schichten traditionelle Geschlechterimages noch stärker vorhanden sind und tradiert werden, wirkt sich die wirtschaftliche Umstrukturierung auch auf die Geschlechts- identität dieser Menschen besonders eindrücklich aus. Da traditionelle Männlichkeit in hohem Maße von der gesellschaftlichen Position in der Berufswelt abhängig gemacht wird, trifft Arbeitslosigkeit diese Menschen nicht nur finanziell, sondern sie wirkt sich nachhaltig destabilisierend auf die individuelle Geschlechtsidentität aus. Arbeitslosigkeit ‘entmannt’ diese Männer sozusagen. Da sie oftmals nicht gelernt haben, ihre männliche Identität über andere Dinge wie z.B. Hobbies, Freunde und ehrenamtliche Tätigkeiten zu stützen, erleben sie Arbeitslosigkeit als Angriff auf ihre ge- schlechtliche Existenz. Bei Jungen, deren Väter arbeitslos sind, wirkt sich das ihnen vorgelebte Modell von Männlichkeit nachhaltig auf das eigene Selbstkonzept aus.

Da ihnen ein zentrales Standbein traditioneller Männlichkeit fehlt, sind sie darauf angewiesen, diese auf anderem Wege unter Beweis zu stellen. Insbesondere den Sonderschulen als schulische Institution, welche es eine wichtige Aufgabe betrachtet, die berufliche Integration ihrer Klientel zu begleiten und zu fördern, sieht sich den wandelnden Wirtschaftsstrukturen zunehmend hilflos gegenüber.

Die Jugendarbeitslosigkeit steigt dramatisch an, viele Jugendliche finden nicht einmal mehr eine Ausbildungsstelle.

Besonders betroffen sind all diejenigen Sonderschüler, für die auf dem zweiten Arbeitsmarkt, der subventionierte Stellen zur Verfügung stellt (z.B. Werkstätten für Behinderte, Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen), kein Platz ist. Die berufliche Integration von Lernbehinderten, Erziehungsschwierigen und Sprachbehinderten wird zunehmend problematisch. Warzecha (1997, 249) führt hierzu an:

„Auf der Makroebene gilt es, eine Realität im Blick zu behalten, daß die Mehrheit der marginalisierten männlichen Heranwachsenden von der Schule in die Arbeits- losigkeit entlassen wird. Dies vermeiden weder sozialintegrative Programme, noch Fördermaßnahmen, die die Arbeitslosigkeit lediglich verschleiern. Der damit ein- hergehende männliche Identitätsverlust läßt sich nicht mit formalisierten Bera- tungskontingenten auffangen. Er beinhaltet - gekoppelt an Deprivationserfahrun- gen der primären Sozialisation - eine erhebliche soziale Dynamik und Sprengkraft“.

Es stellt sich die Frage, welche Funktion Schule noch verbleibt, wenn es ihr weder gelingt, die SchülerInnen ausreichend zu qualifizieren, noch die- se in die berufliche Erwachsenenwelt zu integrieren. Gesellschaftliche In- tegration wird in hohem Maße gleichgesetzt mit der beruflichen Integration (vgl. Exner 1997, 74). Die Selektions- und Allokationsfunktion der Schule führt diese SchülerInnen an den Rand der Gesellschaft, ohne ihnen bis- lang Perspektiven aufzeigen zu können, wie diese Situation zu ändern sein könnte. Als vierte klassische Funktion von Schule verbleibt noch die Überlieferung von Traditionen. Wie schon beschrieben gilt für diese Son- derschülerInnen, daß Schule ihnen Traditionen vermittelt, welche letztlich nicht ihre eigenen sind.

In dieser rasanten wirtschaftlichen Entwicklung scheint (Sonder-)Schule als Institution zunehmend ihre gesellschaftliche Funktionen zu verlieren. Das Ansteigen rechtsradikaler Tendenzen, insbesondere unter männli- chen Jugendlichen sowie die steigende Jugendkriminalität sollten nicht nur den PädagogInnen, sondern auch den PolitikerInnen zu denken geben. Ansonsten besteht die Gefahr, daß SonderpädagogInnen dafür bezahlt werden, daß sie den brisanten Status Quo an den Schulen verwalten und verwahren. Dalin sieht in der Aufbewahrungsfunktion von Schule keines- falls einen positiven Aspekt. „Für viele mag das ein gangbarer Weg sein; aber die Vorstellung von der Schule als einer Aufbewahrungsstätte hat bei einem erheblichen Teil der Jugend auch schon zu dem Gefühl der Ent- fremdung und zur Entstehung von Gewalttätigkeiten beigetragen“ (ders. 1997, 46). Es muß deshalb dringend darüber nachgedacht werden, wel- che gesellschaftlichen Funktionen Schule haben kann, wenn die berufliche Integration immer häufiger nicht gelingt. Daher könnte es durchaus sinn- voll und eine veränderte Funktion von Sonderschule sein, die SchülerIn- nen vertraut zu machen mit sozialrechtlichen Bestimmungen. Die Kompe- tenz zu erwerben, sozialrechtliche Hilfen und Unterstützungen in Anspruch nehmen zu können, könnte mehr Bezug zu den zukünftigen Perspektiven der SchülerInnen haben als die ausschließliche Wissensvermittlung in den verschiedenen Fächern.

Aus Sicht der Kritischen Männerforschung erscheint dabei ein wesentli- cher Aspekt eine gezielte pädagogische Jungenarbeit zu sein, die Ab- schied nimmt von der Vorstellung, daß sich Männlichkeit über den berufli- chen Status konstruiert. Jungenarbeit sollte dabei ermöglichen, daß ins- besondere Jungen aus den Unterschichten Angebote bekommen, die es ihnen ermöglichen, ihre Geschlechtsidentität zu finden, ohne permanent auf traditionell Hegemoniale Männlichkeitsbilder zurückgreifen zu müssen.

4.3 Gezielte Jungenarbeit

Kritische Männerforschung hat sich zum Ziel gesetzt, die bestehenden Geschlechterhierarchien zu überwinden und Grundlagen für ein neues, verändertes Mannsein jenseits patriarchaler Strukturen zu schaffen. Das bedeutet für die Sonderpädagogik nicht nur, daß sich Kritische Männerfor- schung damit auseinandersetzen muß, daß überproportional viele Jungen aus der Regelschule ausgesondert werden, sondern sie muß auch Mög- lichkeiten eruieren und erproben, welche dazu beitragen, die strukturelle Hierarchie, welche zwischen dem Regel- und Sonderschulsystem besteht, zu überwinden.

Insofern verfolgt Kritische Männerforschung m.E. ähnliche Intentionen wie die Integrationsforschung, welche sich ebenfalls zum Ziel gesetzt hat, be- stehende Hierarchien abzubauen (vgl. Schildmann 1996, 23ff). Kritische Männerforschung, feministische Frauenforschung und Integrationspäda- gogik haben gemeinsame Ansätze und sollten in Zukunft enger verzahnt Forschung betreiben.

Kritische Männerforschung hat bereits ein Fundament gelegt, welches sich dazu eignet, sowohl für die Regel- als auch für die Sonderschulen gezielte Jungenarbeit unterrichtlich zu erproben (vgl. Brandes/Bullinger 1996c, Brenner/Grubauer 1991, Enders-Dragässer/Fuchs 1988, Ottemeyer- Glücks 1988, Sielert 1989, Willems/Winter 1990).

Jungenarbeit verfolgt das Ziel, nicht nur die Hierarchien zwischen Män- nern und Frauen, zwischen Männern und Männern, sondern auch zwi- schen Menschen, die als ‘behindert’ etikettiert werden und nicht behinder- ten Menschen zu überwinden. Für die Jungenarbeit in der Regelschule bedeutet dies, daß höchste pädagogische Priorität besitzen sollte, daß weniger Jungen, am besten gar keine SchülerInnen mehr ausgesondert werden. Dadurch würde gezielte Jungenarbeit Integrationsarbeit im Vor- feld der Aussonderungspraxis leisten. In den Sonderschulen ist gezielte Jungenarbeit ebenfalls von großer Bedeutung, da angesichts der ü- berproportialen Zahl von Schülern die genannten Aspekte und Probleme traditioneller Männlichkeit besonders häufig und massiv auftreten. Dabei ist entscheidend, daß Jungenarbeit einen wichtigen Beitrag dazu leisten kann, der Sonderschule eine veränderte bildungspolitische Funktion zu übertragen.35 Gesellschaftliche und berufliche Integration wird nur dann gelingen, wenn Jungen gewisse soziale Kompetenzen vermittelt werden, welche ein tolerantes und friedliches Miteinander erlauben. Jungenarbeit kann Selbstvertrauen und Selbstwertgefühl befördern, welches bei Son- derschülerInnen oftmals nicht vorhanden ist.

Im folgenden sollen aus der Sicht der Kritischen Männerforschung zu- nächst einige zentrale Aspekte der Bildungsstruktur diskutiert werden, welche grundlegend verändert werden müßten, um Schule - und das gilt sowohl für die Regel- als auch für die Sonderschule - den gewandelten Anforderungen und Bedingungen anzupassen. Es sollen Möglichkeiten aufgezeigt werden, wie Schule reformiert und konzipiert werden könnte unter Berücksichtigung zentraler Ziele der Kritischen Männerforschung.

Im Anschluß daran sollen die theoretischen Ausführungen auf den unterrichtlichen Schulalltag transferiert werden. Jungenarbeit im Unterricht soll dabei als eine Möglichkeit vorgestellt werden, um Jungen soziale Kompetenzen zu vermitteln und Rollen anzubieten, die traditionelle Männersozialisation ihnen bislang weitgehend vorenthält.

4.3.1 Die institutionelle Ebene

‘Behinderung’ wird nach dem Verständnis dieser Arbeit nur dann aufkom- men und festgestellt werden, wenn eine gesellschaftlich negativ bewertete dauerhafte Abweichung von Normen, Erwartungen und Anforderungen vorliegt. Schule besitzt insofern in zweierlei Hinsicht Möglichkeiten darauf hinzuwirken, daß ‘Behinderung’ als Phänomen im schulischen Kontext ‘verhindert’ werden kann.

Zum einen könnte Schule dazu beitragen, daß Abweichungen von Nor- men, Erwartungen und Anforderungen nicht grundsätzlich als negativ be- wertet werden. Die zweite wäre die kritisch-normative Ebene. Da Schule in besonderem Maße Normen vermittelt, Erwartungen und Anforderungen an SchülerInnen stellt, liegt es in der Verantwortung von Schule, diese stets zu hinterfragen und kritisch zu reflektieren.

Welche Anforderungen und Erwartungen führen letztlich dazu, daß Schü- lerInnen ihnen nicht gerecht werden können und wie kann ich (als Lehre- rIn oder anderweitig pädagogisch Verantwortliche/r) mich dafür einsetzen, daß SchülerInnen sich weder überfordert noch unterfordert fühlen? Dafür muß der politische Rahmen von Schule neu abgesteckt werden.36 Richtli- nien und Lehrpläne sollten reformiert werden. Erst wenn die Politik und auch Schule als Teil der Exekutive von Politik kritisch mit den Funktionen umgehen, zu deren Zwecken sie existieren, kann ein schulisches Konzept entwickelt werden, welches nicht mehr Aussonderung und somit ‘Behinde- rung’ als Prinzip des Umgangs mit Abweichung befördert. Schule könnte dann Wege eröffnen - und die Reformansätze der Grundschulen haben dies gezeigt - wie ein gesellschaftliches Lernklima entwickelt werden kann, welches die individuellen Bedürfnisse der SchülerInnen stärker berück- sichtigt, als dies traditionell bislang der Fall war. Dadurch, daß individuelle Lernbedürfnisse in den Vordergrund treten und differenzierte Lernangebo- te gemacht werden, wird sich auch das Anforderungsprofil von Schule den individuellen Möglichkeiten der SchülerInnen anpassen. Aussonderung und damit die Etikettierung mit der Begrifflichkeit ‘Behinderung’ im umfas- senden Sinne könnten dadurch vermieden werden. Für Jungen könnte sich auf der institutionellen Ebene einiges verändern. Ein wichtiger Faktor wäre der verstärkte Einsatz von männlichen Lehrpersonen im vorschuli- schen und schulischen Bereich.

Ebenso wie in der Politik Förderprogramme bzw. Quotenregelungen für Frauen existieren, so sollte es Programme geben, die gezielt darauf hin- wirken, daß mehr Männer den Beruf des Erziehers und des Primarstufen- lehrers wählen. So formuliert die Bildungskommission in NRW in ihren Ausführungen zur Schulkultur: „Unterschiedliche gesellschaftliche und berufliche Rollen sollen in der Schule erlebbar sein. Geschlechtsspezifi- schen Rollenverständnissen sollte dabei besondere Aufmerksamkeit zu- kommen. Geeignete Unterrichtsformen und ein möglichst paritätisches Verhältnis von Frauen und Männern in allen Funktionen spielen eine wich- tige Rolle" (Bildungskommission NRW 1995, 81). Ein zentraler strukturel- ler Ansatz wäre dabei, den gesamten pädagogischen Elementarbereich aufzuwerten und die Hierarchie, die im Bildungswesen herrscht, abzubau- en.

Die berufliche Qualifikation dieser pädagogischen Berufe würde sich da- durch ebenfalls nachhaltig verändern. Ein Aspekt der pädagogischen Grundausbildung müßte die Aufnahme des Themas ‘Geschlech- tersozialisation’ in den verpflichtenden Ausbildungskatalog sein. Ange- hende LehrerInnen sollten sich ausführlich und intensiv mit den Faktoren auseinandergesetzt haben, welche sowohl für Mädchen als auch für Jun- gen eine oftmals völlig differente geschlechtsspezifische Sichtweise eröff- nen (vgl. Enders-Dragässer/Fuchs 1988, 104). Dabei sollten Lehrperso- nen ihre eigene Geschlechtsidentität aufarbeiten und reflektieren. Erst dann wird es möglich sein, sich in die Rolle der SchülerInnen hineinzuver- setzen. In bezug auf die Verhaltensgestörtenpädagogik konstatiert Ahr- beck (1994, 128): „Kinder kann nur erziehen, wer mit bestimmten psychi- schen Prinzipien in sich selbst - männlichen wie weiblichen - zurecht- kommt, unabhängig davon, ob es sich im einzelnen um die pädagogische Arbeit mit Mädchen oder Jungen handelt“. Der Ausbildung kommt insofern eine entscheidende Bedeutung zu, als daß sie Angebote machen kann, um die Geschlechtsdimension, welche im alltäglichen Handeln permanent auf uns einwirkt, deutlich zu machen und ins Bewußtsein zu rücken. Da- durch würde transparenter, inwieweit sich geschlechtsspezifische Soziali- sationsfaktoren auf das Vorhandensein sozialer Kompetenzen auswirken. Für Jungen wäre wichtig, daß LehrerInnen verstehen können, warum sie auf traditionelle Verhaltensmuster zurückgreifen, sowie daß Schule ihnen Angebote macht, ihre Kompetenzen zu erweitern. (Universitäre) Ausbil- dung sollte nicht nur Seminare im Bereich der Frauenforschung anbieten, sondern sich allgemeinen geschlechtsspezifischen Fragen und Aspekte widmen, welche in gleichem Umfang Jungen betreffen. Eine Möglichkeit wäre, Frauenforschung, und dies geschieht an vielen Ausbildungsorten bereits, auf eine breite Geschlechterforschung hin zu erweitern.

Zusammenfassender Überblick:

- Strukturelle Bildungshierarchien überwinden
- Zielperspektive Geschlechterparität im Bildungsbereich
- Reform der Ausbildung von PädagogInnen
- Geschlechtsdimension/ -sozialisation als verpflichtender Teil der Aus- bildung

4.3.2 Unterrichtliche Jungenarbeit in geschlechtshomogenen Grup- pen

Die unterrichtliche Arbeit in spezifischen Jungengruppen ist ein wichtiges Element zur Veränderung der Geschlechtskonstruktionen. Da sich Jungen im koedukativen Kontext oftmals gegenüber Mädchen abgrenzen und be- haupten müssen, ist die Gefahr groß, daß dort Geschlechtsklischees eher befördert als durchbrochen werden (vgl. Enders-Dragässer/Fuchs 1988, 22).

In Jungengruppen können dabei Möglichkeiten angeboten werden, soziale Verhaltensweisen zu lernen und zu praktizieren, welche jenseits des tradi- tionell männlichen Verhaltensraster bestehen. Jungen könnte kontinuier- lich ein Raum angeboten werden, in dem sie sich ohne den Druck des Nachweises der eigenen Männlichkeit gegenüber den Mädchen und Frau- en über persönliche, aber auch geschlechtsspezifische Fragestellungen äußern können. Dazu ist eine vertrauensvolle und anspannungsfreie At- mosphäre besonders relevant.

Für die Jungen wäre es sicherlich hilfreich, wenn männliche Pädagogen zur Verfügung ständen, die sich persönlich als Mann in diese Fragen ein- fühlen und einbringen könnten. Dadurch würden nicht nur kognitive Lern- vorgänge ermöglicht, der Lehrer könnte auch ein Vorbild darstellen, wie man als Mann anders sein darf, ohne dafür sanktioniert zu werden. Aber auch Frauen können Jungen dazu anleiten, offener über ihre Gefüh- le und Probleme zu reden. Vielfach wurde sogar die Erfahrung gemacht, daß sich Jungen gegenüber Frauen offener und ehrlicher ausdrücken als sie es Männern gegenüber praktizieren (vgl. Lee 1998).

Ein sehr positives Beispiel für Jungenarbeit an einer Sonderschule liefern die Autoren Rautenberg-Tauber/Sohn (1994). Ihre Intentionen und Erfahrungen lassen sich z.T. auch auf die Grundschule übertragen. Als Ziele ihres Projektes nennen sie:

- Jungen in ihrer Identitätssuche unterstützen und ihnen Orientierungshilfen geben und Vorleben anderer Formen von Männlichkeit, welche das traditionelle Männlichkeitsverständnis in Frage stellen. Dabei sollen gleichzeitig veränderte Rollenangebote gemacht werden;
- Solidarität und Unterstützung untereinander erfahren lernen;
- Vertrautheit ermöglichen und offene Beziehungen unter den Jungen för- dern;
- Eigene und fremde Grenzen wahrnehmen und achten lernen;
- Geschlechtsspezifische Rollenerwartungen bewußt machen;
- Soziale Kompetenzen wie Kommunikations- und Konfliktfähigkeit sollten gefördert werden (vgl. Rautenberg-Tauber 1994, 294f).

In ihren Projektsitzungen, an denen 15 Schüler einer Sonderschule im Alter von 13 bis 16 Jahren teilnahmen, wurden wichtige geschlechtsspezi- fische Fragestellungen der Jugendlichen angesprochen und aufgegriffen. Dabei versuchten die drei Projektleiter, möglichst auf kognitive Lernange- bote zu verzichten und unmittelbar handlungsbetonte Methoden, welche einen hohen affektiven Charakter besitzen, einzusetzen. Ein wichtiges pä- dagogisches Medium war das Rollenspiel. Im Rollenspiel konnten die Schüler beispielsweise Situationen im Umgang mit den Mädchen nach- stellen und spielen. Die Erfahrungen mit dem Rollenspiel konnten dann in einer Gesprächsrunde ausgetauscht werden. In dem ausgewählten Bei- spiel der Autoren sollten die Schüler Situationen spielen, in dem ein Junge ein Mädchen anspricht. Die Schüler waren dabei sehr motiviert und konn- ten im Anschluß offener über ihre Ängste im Umgang mit den Mitschüle- rinnen reden. Es wurde festgestellt, daß neben der Angst, einen ‘Korb’ zu bekommen, die Reaktion der Peer-Group auf das vermeintliche Scheitern ein großer Angstfaktor der Jungen darstellt. Ihnen wurde deutlich, daß sie häufig unangemessene Verhaltensweisen gegenüber Mädchen wählen, um sich selbst vor etwaigen Niederlagen zu schützen. Nicht nur diese Ein- heit, sondern das gesamte Projekt wurde von den Jungen bewertet. Die Resonanz der Jungen auf das Projekt war durchweg positiv. Sicherlich kann man die spezifischen Fragestellungen der Jugendlichen nicht unmittelbar auf die Verhältnisse einer Grundschule transferieren, eine modifizierte Zielsetzung und die Methodik des offenen Gesprächs und des Rollenspieles lassen sich durchaus anbringen.

Gerade in den unteren Klassen ist es für Jungen wichtig, daß ihnen Rück- zugsorte zur Verfügung gestellt werden, an denen sie sich keinem sozia- len Druck ausgesetzt fühlen. Der Lehrer/die Lehrerin kann dabei eine ver- trauensvolle Atmosphäre herstellen, in der Jungen nicht meinen, sich permanent etwas beweisen zu müssen. Ein ausgesprochen bewährtes Beispiel auch für die körperliche Kontaktaufnahme zwischen Jungen sind Phantasiereisen oder das ‘Pizzabacken-Spiel’, bei dem sich ein Schüler auf den Schultisch legt und der Partner auf ihm eine virtuelle ‘Pizza’ backt. Es entsteht auf diese Weise körperliche Nähe zwischen Jungen, welche ansonsten gesellschaftlich untersagt ist.

Jungen sollen sich angenommen fühlen, insbesondere mit ihren Schwie- rigkeiten im Umgang mit der Geschlechtsidentität. Auf diese Weise könnte Jungenarbeit in geschlechtshomogenen Gruppen einen wichtigen Beitrag dazu liefern, daß Jungen in ihren Verhaltensmustern flexibler werden. Im Umgang mit den Mädchen hätte das zur Folge, daß sich Jungen nicht so häufig bedroht fühlen würden und dann sozial unangemessen reagierten.

4.3.2.1 Das Programm ‘Boys meet babies’ als Beispiel

Weitere gute Erfahrungen mit einem Projekt spezifischer Jungenarbeit wurden von PädagogInnen in den USA gesammelt. Dort wurde an Schu- len ein Programm durchgeführt, welches zum Ziel hatte, die sozialen Kompetenzen der Jungen zu erweitern und darüber hinaus überlasteten Müttern zu helfen. Müttern wurde das Angebot unterbreitet, morgens ihre Babies mit in den Unterricht zu bringen. Für ein paar Stunden sollten sich die SchülerInnen (v.a. Jungen) zunächst mit dem Baby beschäftigen. Die Mutter war dabei anfangs gegenwärtig und für Fragen seitens der Jungen offen. Dabei wurden erstaunliche Erfahrungen gemacht. So wird beschrie- ben, daß zwölf- und dreizehnjährige Jungen, „die zum Teil aus sehr schwierigen Familienverhältnissen stammten, plötzlich ganz lebendig (wurden), wenn sie mit einem Kleinkind zusammen waren“ (Lee 1998, 238, in Anlehnung an das Buch „Boys will be boys“ von Miriam Miedzian). Jungen entdeckten dabei an sich Eigenschaften und Gefühle, die sie sonst stets zu unterdrücken versuchten. In Anleitung durch die Mutter/den Vater konnten Jungen somit den fürsorglichen Umgang mit Kleinkindern lernen. Babies und Kleinkinder strahlen Hilflosigkeit und gleichzeitig Wär- me und Vertrauen aus. Auf diese Art lernten die Jungen, die eigene Hilflo- sigkeit und Bedürftigkeit offener auszudrücken. Ein Baby äußert seine Be- dürfnisse unmittelbar, indem es anfängt zu schreien und zu weinen. Diese Erfahrungen ermutigten Jungen dazu, ehrlicher und freier mit ihren Gefüh- len umzugehen.

Vermutlich wird ein solches Programm nur dann erfolgsversprechend sein, wenn keine Mädchen anwesend sind. Ansonsten besteht die Gefahr, daß die Jungen sich zurückhalten und ihr Interesse am Baby verleugnen und den Mädchen die fürsorgliche Pflege überlassen. Dadurch würden jedoch die Geschlechterklischees weiter bestärkt werden. Der Erfolg dieses Pro- grammes in den USA spricht dafür, daß es für Jungen zunächst wichtig ist, in einer reinen Jungengruppe zu arbeiten. Sie könnten dadurch soziale Kompetenzen erwerben, die ihnen im familiären Kontext sonst verschlos- sen bleiben. Durch die Begegnung mit Babies und Kleinkindern würde Jungen zudem Verantwortung übertragen werden, die ihnen sonst kaum jemand zutraut (vgl. Enders-Dragässer/Fuchs 1988, 27).

Es ist sicherlich kein Zufall, daß auch in Deutschland junge Männer, die im Zivildienst mit Kindern arbeiten und dabei auch Verantwortung übernom- men haben, später eher dazu neigen, einen pädagogischen Beruf anzu- streben als Männer, die den Wehrdienst bei der Bundeswehr abgeleistet haben.37 Das Programm ‘Boys meet babies’ könnte sich insofern auch in der pädagogischen Schulpraxis hierzulande bewähren. Für eine progres- sive Jungenarbeit ist besonders vonnöten, Männern Angebote zu unterbreiten, sich mit erzieherischen Aufgaben und Tätigkeiten näher auseinanderzusetzen.

„Zukünftig wird es verstärkt darum gehen müssen, Männern mehr Möglichkeiten zur Wahrnehmung familialer Aufgaben zu geben, auch in den 'älteren Familien'. Explizit sind es die Männer, denen hier Veränderung abverlangt wird: 'Bedenklich ... scheint, daß die Dynamik im Wandel der Geschlechterrollen recht einseitig von den Frauen ausgeht und die Männer sich deutlich schwer tun, ihr erwerbsorientier- tes Verhalten zu verändern bzw. dies auch weniger wollen. Vereinbarkeit von fami- lialen und beruflichen Aufgaben in der Zukunft wird ... die Bereitschaft der Männer zu größerem Engagement in familialen Aufgaben stärken müssen" (Zwischenbe- richt der Enquete-Kommission 'Demographischer Wandel', zitiert nach Beck- Gernsheim 1998, 108).

Zusammenfassender Überblick:

- Interessen der Jungen an der Erziehungsarbeit wecken
- Marginalisierte Männlichkeiten thematisieren
- Umgang mit Mädchen und Frauen üben
- Soziale Kompetenzen der Jungen fördern
- Männliche Vorbilder zur Verfügung stellen
- Traditionelles Geschlechterverhältnis kritisch beleuchten
- Rollenkompetenzen erweitern
- Konfliktlösungsstrategien anbieten
- Positive Aspekte männlicher Nähe vermitteln
- Direkte Kommunikationsstrategien vermitteln (Ich-Botschaften, über Gefühle reden, zuhören lernen)
- Frustrationstoleranz und Empathievermögen fördern
- Schwächen und Hilflosigkeit eingestehen lernen
- Eigene und fremde Grenzen wahren und verstehen lernen · Andersartigkeit akzeptieren und somit Toleranz fördern

4.3.3 Unterrichtliche Jungenarbeit im koedukativen Kontext

Um unterrichtliche Jungenarbeit im koedukativen Kontext zu skizzieren, wird im folgenden eine Differenzierung zwischen expliziter Jungenarbeit in Stunden, welche ausschließlich geschlechtsspezifische Fragestellungen behandeln, und dem allgemeinen fachwissenschaftlichen Unterricht vor- genommen.

Explizite Jungenarbeit im koedukativen Kontext erscheint erfolgsversprechender zu sein, wenn die Lehrperson männlich ist und anders als bei einer Frau somit nicht noch zusätzlich als Konfrontations- bzw. Abgrenzungsfigur benutzt werden kann. Es wird schwer sein, Geschlechterstereotype zu reflektieren, wenn der Anstoß dazu von einer Frau kommt. Lee beschreibt in ihrem Buch, wie wichtig es für Jungen ist, zu wissen, daß sie nicht einer Frau, sondern einem Mann unterstehen.

„Ihr Bedürfnis nach Männlichkeit ist so groß, daß sie eher einen unsichtbaren Mann als helfenden Führer akzeptieren als eine Frau aus Fleisch und Blut. Darauf wies Dr. Skynner hin, als er einen Vorfall an der Tavistock-Klinik in London be- schrieb, wo Therapeutinnen Schwierigkeiten mit den Jungengruppen hatten, mit denen sie arbeiteten. Die Jungen reagierten nicht auf sie, und die Gruppenarbeit stagnierte. Dann kam ihnen die Idee, den Jungen zu sagen, daß sie einen männli- chen Vorgesetzten hätten. Dr. Skynner sagte: ,Die Probleme waren wie wegge- wischt. Als die Frauen den Jungen klarmachten, daß ein Mann für sie verantwort- lich war und daß auch sie als Therapeutinnen einem Mann unterstanden, funktio- nierte das sofort. Obwohl sie ihn nie zu Gesicht bekamen, wurde dieser Mann im Lauf der Zeit zu einer Vaterfigur im Hintergrund, und die Jungen fühlten sich woh- ler, als sie erfuhren, daß die Frauen ihm Bericht erstatteten. Der Boss war ein Mann' " (Lee, 1998, 221).

Daher ist die Wahrscheinlichkeit größer, sich und die eigene männliche Geschlechtsidentität zu reflektieren, wenn der Impuls von einer männli- chen Person kommt, die sich selbst persönlich im Unterricht einbringt. Ein wichtiges Ziel unterrichtlicher Jungenarbeit liegt darin, den Schülern die Angst zu nehmen, aus dem Raster Hegemonialer Männlichkeit auszu- brechen. Das kann dadurch geschehen, daß Marginalisierte Männlichkei- ten thematisiert werden (beispielsweise körperbehinderte Männer, homo- sexuelle Männer, Hausmänner, alleinerziehende Väter usw.). An diesen Beispielen kann im Unterricht deutlich gemacht werden, daß es möglich ist, sich anders als dem traditionellen Klischee entsprechend zu verhalten. LehrerInnen könnten einen alleinerziehenden Vater in den Unterricht ein- laden. Die SchülerInnen könnten Fragen stellen und der Vater darauf ant- worten. Der Vater könnte von seinen Problemen und Schwierigkeiten be- richten, die seine bislang noch unübliche Rolle in unserer Gesellschaft mit sich bringt. Er könnte von den Vorurteilen erzählen, die ihm begegnen, aber auch von den positiven Erfahrungen, die er als alleinerziehender Mann macht. Viele Jungen würden das erste Mal mit einem Mann konfron- tiert werden, der von sich und seinen Problemen erzählt, der aber auch bereit ist, Aufgaben zu erledigen, die man traditionell dem Bereich der Mutter zuschreibt (Haushalt führen, Erziehungsarbeit leisten, Doppelbelas- tung Familie und Arbeit etc.). Jungen könnten an diesem Beispiel vielerlei lernen. Zum einen würde ihnen ein Mann als Orientierungsfigur präsen- tiert, welcher aus dem Raster Hegemonialer Männlichkeit ausbricht und dabei keine Angst zeigt. Zweitens würde Jungen deutlich, daß Männer diese Rollen und Aufgaben ebenso erfüllen können wie Frauen. Das wür- de das Abgrenzungsbedürfnis der Jungen von Weiblichkeit durch entge- gengesetztes Verhalten unterlaufen. Das Autonomiedilemma könnte somit modellhaft abgeschwächt werden. Drittens könnten Jungen für sich die Perspektive entwickeln, später selbst als Vater erzieherisch tätig zu wer- den und sich in gleichem Umfang um familiäre Dinge zu bemühen.

Ein weiterer wichtiger Punkt dürfte sein, daß der Vater über sich und seine Erfahrungen offen berichtet und somit greifbar ist. Er kann glaubwürdig erklären, wie schwer diese Arbeit ist, aber auch welche positiven Aspekte sie mit sich bringt. In den Augen der Jungen würde dadurch nicht nur die den Frauen traditionell zugeteilte Hausarbeit aufgewertet werden, es wür- de auch ein entscheidender Beitrag geleistet werden, die Geschlechterhie- rarchie zwischen Frauen und Männern zu mildern. Sehr anschaulich könn- te ein Mann berichten, wie schwer es ist, gegen die gesellschaftlichen Ge- schlechtscodes zu verstoßen. Er könnte dennoch erklären, daß es sich lohnt, Männlichkeit neu zu definieren und ein verändertes Mannsein zu entwickeln. Durch diese Art unterrichtlicher Nähe zu einem Mann könnte des weiteren ein Beitrag geleistet werden, die latente Homophobie zwi- schen Männern abzubauen. Ein alleinerziehender Vater steht aus Sicht der Jungen zunächst nicht im Verdacht, homosexuell zu sein. Dennoch verhält er sich in gewisser Weise traditionell weiblich. Neben dem Beruf (falls berufstätig) gibt es das für ihn wichtige Familienleben. Er demonst- riert, daß er sich um die Bedürfnisse seines Kindes/seiner Kinder küm- mert. Auf diese Weise kann durch die Thematisierung Marginalisierter Männlichkeiten und/oder deren Präsenz ein Beitrag geleistet werden, daß Jungen ihr geschlechtsspezifisches Verhaltensrepertoire erweitern.

Gezielte Jungenarbeit und damit die Geschlechtsdimension sollte nicht nur in spezifischen Projekten, sondern auch in den fachwissenschaftlichen koedukativen Unterricht einfließen. Dort ist es wichtig, daß - egal ob männ- liche oder weibliche Lehrperson - Jungen angehalten werden, ihre sozia- len Kompetenzen zu verbessern. Wie schon angemerkt, beanspruchen Jungen im Unterricht einen Großteil der pädagogischen Aufmerksamkeit für sich und ihre Probleme.38

Daß dies zugelassen wird, hat unter anderem damit zu tun, daß auch sei- tens der LehrerInnen noch Denkmuster herrschen wie ‘Die Jungen sind nun einmal so’ oder ‘Wenn ich die Jungen im Griff habe, dann funktioniert der Unterricht’. „Die Verhaltensauffälligkeiten und Verhaltensprobleme von Jungen scheinen zum Schulalltag wie selbstverständlich dazuzugehören. Sie gelten als ‘normal’ und werden sehr vordergründig als ‘Störungen’ o- der ‘Disziplinverstöße’ behandelt“ (Enders-Dragässer/Fuchs 1988, 13). Dahinter stecken geschlechtsspezifische Vorurteile und Annahmen, die eben genau das Verhalten provozieren, welches auch erwartet wird. Im Sinne einer ‘Self-fulfilling-prophecy’ verhalten sich Jungen mit ihrem for- dernden Verhalten nur so, wie es von ihnen erwartet wird.

Agiert und reagiert eine Lehrperson auf diese Art und Weise, so wird sie geschlechtstypische Verhaltensweisen eher fördern als durchbrechen. Jungen muß im Unterricht deutlich gemacht werden, daß sie ebenso wie die Mädchen verantwortlich sind für ein tolerantes und angenehmes Klas- senklima. Externalisiertes Verhalten und somit Störungen im Unterricht dürfen von der Lehrperson nicht mit Aufmerksamkeit belohnt werden, sondern es muß Jungen vielmehr gezeigt werden, daß es andere, sinnvol- lere Wege gibt, um eigene Bedürfnisse nach Anerkennung und Bestäti- gung zu befriedigen. Das Arbeiten in Kleingruppen kann dazu dienen, so- ziale Kompetenzen zu vermitteln. Dadurch daß SchülerInnen in Gruppen mit verantwortlich sind für die gemeinsame Leistung, werden im sozialen Arrangement untereinander Verhaltensweisen erprobt, die sonst oftmals zu kurz kommen.

Eine weitere Möglichkeit, Jungen stärker in die Verantwortung zu nehmen, könnte in dem Konzept des ‘Peer-teaching’ liegen. Dabei unterrichten SchülerInnnen SchülerInnen, was ebenfalls dazu beitragen kann, daß neue soziale Rollen erprobt werden. Jungen können darüber lernen, wie schwer es ist, andere Menschen anzuleiten und wie wichtig dabei eine konstruktive Lernatmosphäre ist. Insbesondere die Schüler, die im Unter- richt am häufigsten stören, neigen dazu, in einer von ihnen geleiteten Sit- zung höchste Aufmerksamkeit zu verlangen und keine Störung und Unter- brechung zu dulden. Auf diese Weise erlernen sie flexibleren Umgang mit Rollen und erhöhen dadurch gleichzeitig ihr Empathievermögen. Sich in die Rolle und Lage anderer Menschen hineinzudenken und zu-versetzen, kann nur gelingen, wenn man diese Rolle in ähnlicher Weise schon einmal eingenommen hat. Eine besonders geeignete Unterrichtsform des Einstu- dierens von sozialen Kompetenzen ist das Rollenspiel. Im Rollenspiel können Verhaltensweisen und Rollen übernommen werden, die einem sonst im ‘realen’ Leben verschlossen bleiben. Jungen könnten beispiels- weise die Rolle eines Mädchens spielen und umgekehrt, um dann im Klassenforum darüber zu sprechen, warum die Rolle so oder so gespielt wurde. Dadurch würden nicht nur Geschlechtsstereotypien deutlich, son- dern diese könnten auch durch die SchülerInnen selbst hinterfragt und verändert werden.

Ein relevanter Aspekt des koedukativen Unterrichts besteht darin, daß der Lehrer/die Lehrerin gemeinsam mit den SchülerInnen eine Unterrichtsat- mosphäre erzeugt, in der sich SchülerInnen nicht aufgrund ihres Ge- schlechts benachteiligt fühlen. Die Lehrperson sollte deshalb darauf ach- ten, daß individuelle Bedürfnisse wichtiger sind als geschlechtshomogene Gemeinsamkeiten, die oftmals nur sozial erzeugt werden. Möchte ein Mädchen Fußball spielen, so sollten LehrerInnen dies unterstützen und gefällt es einem Jungen zu tanzen oder zu turnen, so sollte dies ebenfalls gefördert werden. Leider tragen LehrerInnen allzuoft selbst dazu bei, daß sich geschlechtshomogene Gruppen formieren. Daß Jungen den Werkun- terricht und Mädchen lieber den Hauswirtschaftsunterricht belegen, wird durch unreflektiertes Lehrerverhalten häufig befördert. Es bestehen also vielfältige Möglichkeiten, im Unterricht soziale Kompetenzen zu fördern und Jungen dazu anzuleiten, andere Kommunikationswege zu benutzen als die von ihnen geschlechtsspezifisch traditionell erlernten.

Zusammenfassender Überblick:39

- Störungen und externalisiertes Verhalten von Jungen nicht mit Auf- merksamkeit belohnen
- Marginalisierte Männlichkeiten thematisieren · Geschlechterhierarchien abbauen
- Auflösung geschlechtsstereotyper Zuweisungen · Differenzen leben können
- Orientierungen und Fähigkeiten beider Geschlechter unterstützen · Abwertung und Ausgrenzung von ‘Weiblichem’ überwinden · Unterschiedlichkeiten respektieren ohne Festlegung · Gegenerfahrungen ermöglichen
- Reflexive Koedukation
- Reflexion der Geschlechterverhältnisse
- Entwicklung der Geschlechtsidentität unterstützen · Rollenkompetenzen erweitern
- Soziale Verhaltensweisen von Jungen fördern

5 Zusammenfassung und Ausblick

In dieser Arbeit wurde der Versuch unternommen, die Kategorien Behinderung, Schule und Männlichkeit in einen Zusammenhang zu stellen. Im ersten Kapitel der Arbeit wurden die zentralen Anliegen der Kritischen Männerforschung dargestellt. Aus der Sicht dieser Forschungsrichtung wurden im zweiten Kapitel der Arbeit wesentliche Aspekte und Kristallisationspunkte in der männlichen Sozialisation skizziert.

Da die Begrifflichkeit ‘Behinderung’ bislang nicht eindeutig definiert ist und sich mit ihr fundamentale sonderpädagogische Fragestellungen verbinden, wurde ihr eigens ein Kapitel gewidmet. Es wurde deutlich, daß ‘Behinderung’ als Phänomen stets in den gesellschaftlichen Kontext von Normen, Werten und Anforderungen eingebunden ist.

Im letzten Kapitel wurden diese theoretischen Ausführungen konkret auf die Institution Schule übertragen. Schule als Sozialisationsort, in dem sich ‘Behinderung’ aufgrund bestimmter Normen und Anforderungen konstitu- iert, eignet sich in besonderem Maße dazu, Verbindungslinien zu zeichnen zwischen den Aspekten der männlichen Sozialisation und der Aussonde- rung von SchülerInnen in Sonderschulen. Dabei wurden aus der Sicht der Kritischen Männerforschung ausreichend Indizien für die These gesam- melt, daß Aspekte in der männlichen Sozialisation zu einer überproportio- nal häufigen Aussonderung von Jungen aus der Regelschule beitragen. Gezielte Jungenarbeit wurde zuletzt als eine Möglichkeit vorgestellt, wie man den Problemen und Verhaltensweisen, welche männliche Sozialisati- on traditionell befördert, pädagogisch begegnen könnte.

Aus Sicht der Kritischen Männerforschung müßte sich Sonderpädagogik verstärkt mit geschlechtsspezifischen Fragestellungen auseinandersetzen. Diese spielten und spielen in der fachlichen Diskussion nur selten eine Rolle.

Es ist ein wesentlicher Verdienst der Frauenforschung in der Behinderten- pädagogik, daß diese Aspekte zumindest in bezug auf Mädchen und Frauen (z.T. auch auf Jungen) thematisiert wurden. Dennoch fehlt es bis- lang an umfassenden Theorien und Forschungen, welche Geschlechter- forschung und Sonderpädagogik miteinander verknüpfen. Kritische Männerforschung könnte neben der Frauenforschung ihren Bei- trag dazu leisten, daß sich die allgemeine Sonderpädagogik verstärkt mit diesen zentralen Fragestellungen beschäftigt. Männliche Forscher könn- ten dabei helfen, bestehende Hemmschwellen und Berührungsängste, die auf seiten vieler StudentInnen mit geschlechtsspezifischen Anliegen ver- bunden sind, abgebaut und überwunden werden. Es wäre dann nicht mehr von ‘Emanzenkram’ und ‘Frauengelaber’ die Rede, von dem sich insbe- sondere männliche Studierende gerne abzugrenzen suchen. Ein großes Manko ist, daß es an Kritischer Männerforschung an den Uni- versitäten bislang weitgehend fehlt. „Die Jungenforschung bildet eine For- schungslücke. Notwendig wäre eine Aufarbeitung der Hintergründe dieser Lücke und eine Neubewertung der traditionellen (männlichen) Wissen- schaft und Forschung" (Warzecha 1997, 248).

Die Sonderpädagogik hat als wissenschaftliche Fachdisziplin die Aufgabe, sich stets aufs neue ihrer konstitutierenden Fundamente und Begrifflich- keiten zu versichern. Dabei spielt die Begrifflichkeit ‘Behinderung’ eine besondere Rolle. Was ist ‘Behinderung’? Wie gehen wir mit ‘Behinderung’ um? Welches anthropologische Weltbild rechtfertigt den besonderen Um- gang mit ‘Behinderung’?

Geschlechterforschung hat in der Kritik an der geschlechtshierarchischen Struktur des Patriarchates bewiesen, daß eine veränderte Geschlechter- hierarchie sich nachhaltig auswirkt auf das jeweilige gesellschaftliche Menschenbild. Es dürfte daher auf der Hand liegen, daß eine Sonderpä- dagogik, welche die ihr traditionell impliziten Hierarchien auch auf der Ge- schlechterebene in Frage stellt, sich automatisch auf ein verändertes Menschenbild einläßt. Daß dies Auswirkungen auf die Begrifflichkeit ‘Be- hinderung’ hervorruft, hat die Integrationspädagogik deutlich gemacht.

Der ethische Umgang mit dem Konstrukt ‘Behinderung’ ist insofern nicht nur eine zentrale Fragestellung der Moderne, sondern er liefert zudem Antworten darauf, welches Menschenbild als Grundlage einer modernen Gesellschaft im 21.Jahrhundert dient (vgl. Dalin 1997).

Kritische Männerforschung in der Sonderpädagogik könnte einen Beitrag dazu leisten, daß die Hierarchien, welche zwischen Männern und Frauen, Behinderten und nicht Behinderten, zwischen staatlichen Anforderungen und individuellen Interessen bestehen, abgebaut und gemildert werden. Es wäre eine Vision von Schule, auch von Sonderschule, Jungen und Mädchen dabei zu helfen, eine individuelle Geschlechtsidentität heraus- zubilden, welche nicht mehr den Geschlechterstereotypen zu entsprechen hat, sondern den individuellen Wünschen und Vorstellungen. Eine zentra- le gesellschaftliche Anforderung, welche oftmals massiven Druck auf die Individuen ausübt, würde dadurch gemildert. Jungen und Mädchen könn- ten als Individuen mit unterschiedlichen Interessen und Wünschen wahr- genommen werden, ohne zunächst über ihr Geschlecht definiert zu wer- den.

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„Schluß, aus, vorbei! Ich laß den Zug sausen, und dann schnauf ich mich aus. Und wie der Zug immer kleiner wird, so schwindet auch mein Gefühl, nicht genug zu sein. Tschüß Mama, tschüß Papa, tschüß Tarzan! Fahrt schön, wohin auch immer ihr wollt, ich schau mir derweil den Frühling an! Und sitz am Kirchplatz im Cafe und guck zufrieden den Weibern nach. Kein Bock mehr, König von Deutschland zu werden! Gar nichts muß aus mir werden, ich bin mir genug! Ich brauch nicht mehr zu rennen, ich kann zu mir stehen! Und wenn du mich fragst, ob ich nun bequem werden will, dann sag ich dir eines: Aber sicher, mein Freund! Mich treibt nichts und nie- mand mehr, ein toller Mann zu werden. Aber keine Sorge, so stark und lebendig wie gerade jetzt habe ich mich schon lange nicht mehr gefühlt!" (Schnack/Neutzling 1993, 324f).

- „Und, wie war die Staatsarbeit?“
- „Ganz schön anstrengend, aber auch aufregend. Es war zwar ein hartes Stück Arbeit, aber das Thema fasziniert mich immer noch.“
- „Na denn - Prost!“

[...]


1 Der Konstruktivismus ist eine philosophische Richtung, welche davon ausgeht, daß Wirklichkeit ein Kon- strukt und keine objektive Größe darstellt (vgl. dazu Watzlawick 1998, von Förster 1998, 41). Rosenhan (1998) schildert z.B. nachdrücklich, wie psychische Störungen und Krankheiten systemisch konstruiert werden.

2 Zu dem Thema ‘Väter’ gibt es zahlreiche aktuelle Veröffentlichungen. Da im Rahmen dieser Arbeit nicht näher auf dieses breite Feld eingegangen werden kann, folgen einige Literaturverweise: Badinter 1993, Kreckel 1997, Meiser 1997, Schnack/Neutzling 1997, Vogt/Sirridge 1993.

3 In diesem Zusammenhang vgl. Vogts/Sirridge (1993, 135ff), die über unterschiedliche Kommunikationsstrategien der biologischen Geschlechter schreiben.

4 Zu Aspekten der männlichen Sozialisation im Zusammenhang mit der vorwiegenden Erziehung durch Frauen vgl. Rohr (1997).

5 Für den aktuellen deutschen Bundestag (1998) ergibt sich eine Frauenquote von 31% (vgl. Süddeutsche Zeitung vom 12.10.1998, 1).

6 Philosophische Gedanken dazu macht sich Fromm, indem er über die wechselseitige Abhängigkeit von Aktivität und Passivität, von Masochismus und Sadismus sinniert (vgl. Fromm 1998, 37ff) .

7 Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat sich erst 1992 von dieser Krankheitsdefinition verabschiedet (vgl. Jung 1993, 201).

8 In der DDR galt der Begriff ‘Behinderung’ als bürgerlich verbrämt und wurde nur selten verwendet (vgl. Metzler/Wachtel/Wacker 1997, 13).

9 Vgl. dazu Kapitel 3.3.

10 Vgl. dazu Kapitel 3.3.

11 Vgl. dazu Kapitel 3.3.

12 In den Grund- und Strukturdaten des Bundesministeriums für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Tech- nologie (bmb+f) (1997,104ff) werden folgende Zahlen benannt. Von den Grund- und HauptschullehrerInnen sind 221.600 von 299.800 LehrerInnen weiblichen Geschlechts. Das entspricht einer Quote von 73,9%. Für die Grundschule separat liegen keine Daten vor, der Prozentsatz weiblicher Lehrkräfte dürfte aber noch er- heblich höher sein. Für die Schulkindergärten und Vorklassen errechnet sich eine Frauenquote von 94,4%.

13 Für Gymnasien errechnet sich beispielsweise aus den Daten des Bundesministerium für Bildung (bmf+f) eine Männerquote von 55,5% (vgl. Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Techno- logie 1997, 104ff).

14 Wenn im folgenden von Sonderschule die Rede ist, so sind in erster Linie Sonderschulen für Lernbehinder- te, für Sprachbehinderte (Sprechbehinderte) und für Erziehungsschwierige (Verhaltensauffällige, Verhal- tensgestörte u.ä.) gemeint, da sie für diese Arbeit von besonderer Bedeutung sind.

15 Vgl. dazu Kapitel 4.1.1.

16 Vgl. dazu Kapitel 2.5.

17 Vgl. dazu Kapitel 4.2.1.

18 Vgl. dazu Kapitel 2.1.

19 Vgl. dazu Kapitel 4.1.2.

20 Vgl. dazu Kapitel 2.2.

21 Vgl. dazu Kapitel 2.3.

22 Vgl. dazu Kapitel 2.4.

23 Zu verschiedenen Kommunikationsstrukturen und -ebenen vgl. Marmet (1996, 15ff).

24 Vgl. dazu Kapitel 2.5.

25 Vgl. dazu Kapitel 2.6.

26 Vgl. dazu Kapitel 2.7.

27 Vgl. dazu Kapitel 2.8.

28 Vgl. dazu Kapitel 2.9.

29 Vgl. dazu Kapitel 2.10.

30 Vgl. dazu Kapitel 2.11.

31 Vgl. dazu Kapitel 2.12.

32 Vgl. dazu Kapitel 2.13.

33 Vgl. dazu Kapitel 2.9.

34 Mayer (1998) macht darauf aufmerksam, daß die gegenwärtigen wirtschafltichen Tendenzen Frauen wieder zunehmend in die Mutterrolle drängen. Im besonderen Maße gilt dies für Frauen aus dem unteren sozialen Milieu.

35 Vgl. dazu Kapitel 4.2.6.

36 Vgl. dazu Kapitel 4.1.3.

37 Einen Einblick in die Verwobenheit von Männlichkeitsimages und Zivildienst gibt Bartjes (1996) in seinem Aufsatz „Ich tu’ es für die Leute und ich tu’ es für mich“.

38 Vgl. dazu Kapitel 4.2.4.

39 Vgl. dazu Bildungskommission NRW (1995, 130ff).

Ende der Leseprobe aus 127 Seiten

Details

Titel
Kritische Männerforschung und Behinderung
Hochschule
Technische Universität Dortmund
Note
1,0
Autor
Jahr
1999
Seiten
127
Katalognummer
V104581
ISBN (eBook)
9783640029044
Dateigröße
810 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
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Schlagworte
Kritische, Männerforschung, Behinderung
Arbeit zitieren
Manuel Höfs (Autor:in), 1999, Kritische Männerforschung und Behinderung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/104581

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