Antonin Artaud - sein Leben und seine Theatertheorie


Hausarbeit, 2001

19 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Gliederung:

1. Einleitung

2. Biographie

3. Artaud und die Gesellschaft

4. Artauds theatertheoretische Schriften aus Le theatre et son double
4.1. Le Théâtre et la peste
4.2. Théâtre oriental et Théâtre occidental
4.3. Sur le Théâtre Balinais
4.4. En finir avec les chefs-d’œuvre
4.5. Le Théâtre et la cruauté
4.5.1. Ziele des Théâtre et la cruauté
4.5.2. Begriffserklärungen Artauds

5. Zu den Auswirkungen der Theatertheorie Artauds

6. Zusammenfassung

1. Einleitung:

Ziel dieser Hausarbeit ist es die Theatertheorie Antonin Artauds vorzustellen. Dabei gehe ich zunächst auf seine Biographie ein, da diese sehr stark mit seiner Theatertheorie zusammenhängt. Meiner Meinung nach kann man Artauds Ideen und Vorstellungen des Theaters erst verstehen, wenn man sich mit seinem Lebenslauf beschäftigt, denn seine theoretischen Schriften beinhalten zu einem großen Teil eine eigene Lebensphilosophie. Danach werde ich seine Einstellung zu der Gesellschaft und der Zeit, in der er lebte, eingehen, um dann aufzuzeigen inwieweit er seine Zeitgenossen mit seiner Theaterarbeit beeinflussen wollte. Außerdem wird hier offengelegt, was er dem Theater für großen Einfluss zusprach. Er war nämlich der Meinung durch dasselbe die Kulturkrise seiner Zeit bewältigen zu können. Schließlich wird auf einen Teil seiner theatertheoretischen Schriften eingegangen. Ausgesucht wurden vor allem jene Schriften, die bis heute auf besonders großes Interesse stoßen. Darunter sind seine Aufsätze beziehungsweise Vorträge, wie Le Théâtre et la peste, Théâtre oriental et Théâtre occidental, Sur le Théâtre Balinais, En finir avec les chefs-d’œ uvre und Le Théâtre et la cruauté. Zu guter Letzt wird auf die Realisierung beziehungsweise Nicht-Realisierung seiner Theorien eingegangen. Dabei werde ich seinen großen und nachhaltigen Einfluss auf das Theater der 60er Jahre offenlegen. Meine hauptsächlich angewandte Forschungsmethode bei der Erstellung dieser Arbeit war eine ausführliche Literaturstudie, sowie das Forschen nach geeigneten Material im Internet. Im Literaturverzeichnis sind alle Bücher und Internetseiten, auf die ich mich stütze, aufgelistet.

2. Biographie:

Antonin Artaud wurde am 4. September 1896 in Marseille, als erster überlebender Sohn einer Familie aus der begüterten französischen Bourgoisie geboren. Mit 5 Jahren bereits erkrankt er an einer schweren Meningitis, deren Folgen sein ganzes weiteres Leben bestimmen sollen, denn er bleibt sein Leben lang Patient und gewöhnt sich schon früh an sedierend wirkende Drogen. Artaud beginnt bereits in der Schule, die er um 1900 in Marseille besucht, Gedichte zu verfassen, die er in einer Zeitschrift veröffentlicht, welche er zusammen mit Freunden herausgibt. Außerdem interessiert er sich für fernöstliche Literatur, Abenteuer- und Kriminalromane. Von den Lehrern wird Artaud als begabt eingestuft, jedoch erbringt er nur mittelmäßige Leistungen.1 Er fühlt sich selbst auf Grund seiner schweren Krankheit wertlos, ungeliebt und unsicher, wie folgendes Zitat von ihm belegen wird:

"Je souffre d'une effroyable maladie de l'esprit. Ma pensée m'abandonne á tous les degrés. Depuis le fait simple de la pensée jusqu'au fait extérieur de sa matérialisation dans les mots. Mots, formes de phrases, directions intérieures de la pensée, réactions simples de l'esprit, je suis á la poursuite constante de mon être intellectuel. Lors donc je peux saisir une forme, si imparfait soit-elle, je la fixe, dans la crainte de perdre toute la pensée. Je suis au-dessous de moi-même, je le sais, j'en souffre, mais j'y consens dans la peur de ne pas mourir tout á fait."2

Mit 19 Jahren verschlechtert sich Artauds Gesundheitszustand drastisch und er wird daraufhin zum ersten mal kurzfristig in eine Nervenheilanstalt eingewiesen. Er gewöhnt sich immer mehr an das Einnehmen von Drogen (Opium) und so ist er seit 1915 auf sie angewiesen, um die starken Kopfschmerzen, die eine lebenslanges Leiden darstellen, ertragen zu können. Bis 1920 verbringt er den Großteil seiner Zeit in verschiedenen psychiatrischen Kliniken, unterbrochen vom Militärdienst (1916), den er durch die Intervention seines Vaters verfrüht abbrechen darf. Er zieht daraufhin nach Paris, wo er auch unter ständiger stationärer Aufsicht einer psychiatrischen Klinik steht. Der Leiter dieser Klinik ist ihm wohlgesonnen und fördert Artauds Interessen: Er lässt ihn an seiner Zeitung im Rahmen einer Beschäftigungstherapie mitarbeiten. So lernt er die Pariser Künstlerszene kennen und knüpft die ersten Kontakte zu Theatern: Zum Beispiel zu dem Theater von Jaques Copeau3, namens Théâtre du Vieux-Colombier kennen. Dieses Theater hinterlässt bei Artaud großen Eindruck. Im Februar 1921 erhält Artaud erstmals eine kleine Rolle beim Théâtre de l’Œuvre. Dort kann er wegen gesundheitlichenProblemen allerdings nur drei Monate bleiben. Aber ein neues Engagement lässt nicht lange auf sich warten: Im September desselben Jahres arbeitet er beim Theater von Charles Dullin4, namens Théâtre de l’Atelier. Er entwirft dort Kostüme, ist als Schauspieler und erhält von Dullin sogar Unterricht in rhythmischer Gymnastik. Bis 1923 arbeitet Artaud am Theater von Dullin, das er dann jedoch durch seine eigenwillige Rolleninterpretation, die bei Dullin auf Widerstand stößt verlässt.5 Dann erhält er ein Engagement beim Théâtre Champs-Elysée und darauf folgen immer wieder verschiedenste Angebote von anderen Theatern. Einmal wendet man sich sogar mit der Bitte an ihn Regie zu führen, die Artaud jedoch zum damaligen Zeitpunkt noch ablehnt. Während dieser Jahre entstehen kunsttheoretische Essays, Rezensionen und Gedichte. Artaud hält Rezitationsabende, gibt eine Zeitung und einen Gedichtband (1923: Tric trac du ciel) heraus.

Nach den obigen Ausführungen kann man den Eindruck gewinnen, dass Artaud ein angesehener Mann und eine gefragte Persönlichkeit war. Dieser erste Eindruck trügt jedoch, da er Zeit seines Lebens durch sein exzentrisches Auftreten und sein paranoides Wesen, was hauptsächlich durch die Krankheit und den Tablettenkonsum verursacht wurde, Probleme mit der Integration hatte. Deshalb bleibt auch ein durchschlagender Erfolg aus. Seinen Verpflichtungen am Theater kommt er krankheitsbedingt nach und nach immer unregelmäßiger nach. Artaud wird zwar von den Eltern finanziell unterstützt, jedoch gerät er trotzdem in dieser Phase seines Lebens in eine finanzielle Notlage, aus der er sich lange nicht wirklich befreien kann. 1924 erhält er ein Engagement beim Film, das ihm vorerst aus der misslichen Lage hilft. Nach dem Tod seines Vaters im selben Jahr schließt er sich der Gruppe der Surréalisten um André Breton6 an und gab seine Arbeit als Schauspieler auf.7 Die Haltung der Surrealisten beeinflusste ihn sehr:

„Mit den kunsttheoretischen Vorstellungen der Surrealisten verband Artaud die zentrale Bedeutung, die er dem Traum und überhaupt dem Unbewussten der menschlichen Psyche (neben magischen und okkulten Kräften) für den schöpferischen Akt beimaß.“8 modernen Regietheaters. (siehe dazu: Elena Kapralik (1977): Antonin Artaud (1896 - 1948). Leben und Werk des Schauspielers, Dichters und Regisseurs. München: Matthes & Seitz, S. 384f.) . [Im folgenden: Kapralik (1977)].

Mit der Gruppe der Surrealisten nahm Artaud an verschiedensten Aktionen teil: Er schrieb Manifeste, beteiligte sich an Versammlungen und Flugblattaufrufen zur surrealistischen Revolution. 1926 wird Artaud wegen inhaltlicher Differenzen aus der Gruppe ausgeschlossen, denn im Gegensatz zu Artaud verstehen die Surrealisten ihre Kunst als politisch und kämpten für eine sozialistische Revolution. Auch ist ihre Sprach- und Realitätskritik bei weitem nicht so radikal wie die Artauds. Während dieser unbewusste Abläufe neu schöpfen und mit seinem Theater eine völlig neue Realität schaffen will, akzeptieren die Surrealisten die veränderte Wirklichkeit als real und suchen lediglich ihr angepasste Ausdrucksformen.9 Der Auslöser für den Ausschluss waren Artauds Pläne zur Gründung eines eigenen Theaters. Mit der plötzlichen Isolation kommt er nur sehr schwer zurecht. Im September 1926 gründet Artaud schließlich mit Roger Vitrac und Robert Aron das Théâtre Alfred Jarry10, das im Juni 1927 ohne festes Haus mit Inszenierungen von Artaud und Vitrac eröffnet wird. Geprägt von finanziellen Problemen und inhaltlichen Differenzen mit den Surrealisten und wechselnder Motivation der Beteiligten musste es nach zwei Jahren, nachdem lediglich vier Stücke produziert wurden, schließen. Es gab 6 Aufführungen, die zwischen Erfolg und Skandal lebten. Die Überraschung, sei es im positiven oder negativen Sinne, über die szenischen Lösungen, die die geltende Definition von Theater noch mehr veränderten als es die Avantgarde tat, beim Publikum war groß.11 Anfang der 30er verfasst Artaud, der inzwischen Mitte 30 ist seine wichtigsten und heute noch bedeutenden theatertheoretische Schriften: 1931 verfasst er den Aufsatz Sur le Théâtre Balinais, zu dem er sich bei einem Auftritt einer Tanzgruppe aus Bali inspirieren lässt. 1932 entstehen die Werke Le Théâtre et la cruauté und 1933 hält er den Vortrag namens Le Théâtre et la Peste. Zwei Jahre später wird sein Stück Les Cenci??? uraufgeführt. Publikum und Kritik reagieren auf seine ekstatische Darstellung der Rolle des Vaters mit Unverständnis.12 1936 verbringt Artaud ein Jahr in Mexiko, wo er sich mit altmexikanischer

Kultur und deren Magie beschäftigt. Dazu sagt er selbst:

"Peu de gens ont en effet compris le but de mon voyage à Mexico. Il ne s'agissait pas de changer de vie, et de fuir la France où je ne pouvais plus trouver place. [...] Je suis venu ici trouver les moyens de vivre en Sécurité en France, à mon retour. Et il faudra que les choses changent, à tout prix. Je suis donc venu au Mexique chercher la force, et les forces, de pousser ce changement."13

1938 erscheint eine Sammlung seiner Theaterschriften unter dem Titel Le théâtre et son double. Im selben Jahr tritt Artaud seine zweite mythologische Reise nach Irland an, bei der er sich wieder ethnischen Studien widmet und Interesse für Astrologie entwickelt. Er machte diese Reise in der Gewissheit einer kurz bevorstehenden Apokalypse. In der Einleitung eines Textes (Les nouvelles rélévations de l’être, 1937) zum Weltuntergang Text wird die Radikalität der Trennung Artauds von der Gesellschaft und die Kompromisslosigkeit seiner Haltung unmissverständlich deutlich:

"C'est un vrai Désespéré qui vous parle et qui ne connaît le bonheur d'être au monde que maintenant qu'il a quitté ce monde, et qu'il en est absolument séparé. Morts, les autres ne sont pas séparés. Ils tournent encore autour de leurs cadavres. Je ne suis pas mort, mais je suis séparé."14

Die Überfahrt aus Irland musste Artaud aufgrund seiner Ausweisung wegen Involvierung in eine Schlägerei antreten. Antonin Artaud wurde am 30. September 1937 in einer Zwangsjacke in das Zentralkrankenhaus von Le Havre eingeliefert.15 Mit diesem Ereignis begann eine Internierungszeit von neun Jahren, die Artaud in verschiedenen psychiatrischen Anstalten Frankreichs verbrachte, wobei sein Drogenkonsum stetig zunimmt. Er muss unmenschliche Behandlungen über sich ergehen lassen und viel Leid und Schmerz erfahren: Er wurde durch Drogenentzug, Insulin- und Elektroschocktherapien gequält. Diese Erfahrungen zerrütteten Artaud zwar körperlich, aber an seinen Überzeugungen änderten sie nichts. Letztere äußert er 1947 in Van Gogh le suicidé de la société mit ungebrochener Vehemenz erneut:

" Et qu'est-ce qu'un aliéné authentique? C'est un homme qui a préféré devenir fou, dans le sens où socialement on l'entend, que de forfaire á une idée supérieure de l'honneur humain. C'est ainsi que la société a fait étrangler dans ses asiles tous ceux dont elle a voulu se débarrasser ou se défendre, comme ayant refusé de se rendre avec elle complices de certaines hautes saletés."16

Im Frühjahr 1946 können Freunde endlich genug Geld aufbringen, um ihm ausreichenden finanziellen Rückhalt zu ermöglichen und somit seine Entlassung herbeiführen.17 1947 kann Artaud nochmals, im "Théâtre du Vieux-Colombier" und später in einer Sendung des französischen Rundfunks sein "Theater der Grausamkeit" demonstrieren, aber wirklich realisieren konnte er seine eigenen Theorien niemals. Das Scheitern des Théâtre de la cruauté warf Artaud verbittert auf sich selbst zurück. Am 4. März 1948 stirbt Antonin Artaud in der Klinik von Ivry.18

3. Artaud und die Gesellschaft:

Die Wurzel für Artauds Suche nach einer neuen Form des Theaters lag zunächst mal in der Erfahrung einer tiefgreifenden Kulturkrise, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts Einfluss auf das Schaffen vieler Künstler hatte. Die Industrialisierung, Arbeitsteilung, Rationalisierung und Säkularisierung, alles Entwicklungen des 19. Jahrhunderts, führte in den ersten Jahren des folgenden Jahrhunderts zu einem radikalen kulturellen Wandel und somit zu einer Umwälzung des alltäglichen Lebens. Aus diesen Entwicklungen resultieren folgerichtig neue Wahrnehmungs- und Handlungsmuster der Gesellschaft, die dann wiederum zu neuen Verhaltensmodellen führen.19 Anfänglich wurde diese Umwälzung der Gesellschaft von großen Fortschrittsoptimismus begleitet, jedoch im 20. Jahrhundert erkannte man die Selbstentfremdung und Dekadenz, die mit jener einherging. Auch Artaud gab eine sehr negative Diagnose der neuen Kultur ab, wie sich deutlich in seinen theoretischen Schriften erkennen lässt.20 Er selbst bemerkt, dass seine Versuche die Logik der Worte dem Chaos seiner Gedanken anzupassen immer wieder scheitern. Er erkennt eine Kluft zwischen Gegenständen und Worten und sieht darin das Dilemma der neuen Kultur. Den Beginn dieser Entwicklung setzt Artaud in der Renaissance an. Die Entwicklung des rationalen Denkens und die Einführung des kartesianischen Systems vergrößerte, seiner Meinung nach, die Lücke zwischen Körper und Geist immer mehr. Das Fortschreiten dieses Prozesses glaubte Artaud an seinem eigenen Körper beobachten zu können.21 Artaud glaubt jedoch daran, dass sich die Menschen aus dieser misslichen Situation durch eine Kulturrevolution retten können. Die Lösung sieht er darin, das durch die Kultur geformte und leidende Ich durch die magische Geste zu befreien und so die Einheit von Körper und Geist wiederherzustellen. Seiner Meinung nach tauge dazu als einziges magisches Instrument das Theater. Er glaubt an die Kraft des, wie er es nennt, „wahren Theaters“, das die Menschen zum „Aufschreien“ bringen wird und somit fähig sei die unterdrückte menschliche Natur wiederzuerwecken.22

4. Artauds theatertheoretische Schriften aus „Le theatre et son double“

4.1. Le Théâtre et la peste:

In diesem Aufsatz wird das Theater von Artaud als existenzielle Krise, „qui se dénoue par la mort ou par le guérison“23 bezeichnet. Er vergleicht das Theater mit den dunklen Mächten: Wie die Pest ist auch das Theater eine mächtige Anhäufung des Bösen, „la rélévation [...] vers l’extérieur d’un fond de cruauté [...]“24, die das Publikum zu einer kollektiven Karthasis führt, wenn diese zutage tritt. Die Pest ist mit dem Theater also zu vergleichen, weil es auf die Massen einwirkt und fähig ist diese umzuwälzen25 Wie die Pest tötet das Theater, indem es Veränderungen im Geiste hervorruft. Als Beispiel beschreibt er die Transformation des Verhaltens eines reichen, geizigen Mannes, der, nachdem er erfahren hat, dass er an der Pest erkrankt ist, sein ganzes Hab und Gut aus dem Fenster in die Massen schmeißt.26 Artaud ist also der Meinung, dass, so wie die Pest, auch das Theater Veränderungen in der geistigen Haltung der Menschen hervorrufen kann, dies sogar muss:

« Une vraie pièce de théatre bouscule le repos des sens, libère l’inconscient comprimé, pousse à une sorte de révolte virtuelle […], impose aux collectivités rassemblées une attitude héroique et difficile. »27

4.2. Théâtre oriental et Théâtre occidental:

In diesem Artikel des Buches Le théâtre et son double kritisiert Artaud zunächst das europäische Theater, um dann das orientalische als positives Beispiel des „Theatermachens“ anzuführen. Nach Artauds Feststellung ist das europäische Theater in die Sprache eingeschlossen: « […] le théâtre tel que nous le concevons en Occident a partie liée avec le texte et se trouve limité par lui. »28 Es muss mit den eingefahrenen Konventionen brechen, um für die Gesellschaft wieder Bedeutung zu gewinnen, denn seine Aufgabe sei nicht die Lösung gesellschaftlicher oder psychologischer Konflikte, sondern es soll auf objektive Weise Wahrheiten zum Ausdruck bringen und zwar durch aktive Gebärden. Nur auf diese Weise kann es, wie Artaud meint, psychologische Zustände darstellen, und zwar viel besser als Worte dies jemals vermögen. Ein Bild oder eine Allegorie haben seiner Meinung nach immer mehr Bedeutung als das trockene Wort29: «Le domaine du théâtre n’est pas psychologique mais plastique, il faut le dire »30

Das Theater soll wieder in seinen religiösen, metaphysischen Blickwinkel gestellt werden und sich mit dem Universum versöhnen. Es muss zum Denken anregen und den Geist der Zuschauer dazu bringen Haltungen einzunehmen. So wie das orientalische Theater mit seinen metaphysischen Tendenzen und mit seinen besonderen Formen. Nur auf diese Weise vermag das Theater den Zuschauer in Bewegung zu setzen und dessen Geist zu verzaubern.31 Um diese Form von Theater zu erreichen muss der Autor durch einen Spezialisten32 verdrängt werden, für den nicht das geschriebene Wort im Vordergrund steht: « […] l’auteur qui use exclusivement de mots écrits n’a que faire et doit céder la place à des spécialistes de cette sorcellerie objective et animée. »33

4.3. Sur le Théâtre Balinais:

Zu diesem Aufsatz wurde Artaud durch ein Gastspiel einer Theatertruppe aus Bali angeregt. Er beschreibt die bestimmten Eigenschaften und eigentümlichen Formen dieser Art von Theater und macht es zu seinem Vorbild:

« Le premier spectacle du Théâtre Balinais qui tient de la danse, du chant, de la pantomime, de la musique, - et excessivement peu du théâtre psychologique tel que nous l’entendons ici en Europe, remet le théâtre à son plan de création autonome et pure, sous l’angle de l’hallucination et de la peur. »34

Das balinesische Theater gibt also, im Gegensatz zu dem psychologischen Theater, dem Theater seine ursprüngliche Bedeutung zurück: das Drama handelt nicht von Gefühlen oder psychologischen Entwicklungen, sondern von Geisteszuständen, die das Publikum berühren und vergessene Gefühle bei ihm neu erweckt. Die Wörter sind eliminiert und die Themen unbestimmt und abstrakt. Besonders die Gebärden, die besondere Musik und die eigentümlichen Töne faszinieren Artaud an diesem Theater. «On sent dans le Théâtre Balinais un état d’avant le langage et qui veut choisir son langage: musique, gestes, mouvements, mots. »35

Er betont, dass die Gestik hier den Zweck verfolgt eine unmittelbare Wirkung auf die Gedanken und den Geist des Publikums auszuüben. Es hat eine eigene autonome Theatersprache, die die Grundlage für eine neue Sprache des europäischen Theaters bilden sollte.

«Ce qu’il ya en effet de plus frappant dans ce spectacle [...], pour nous, Européens, est l’intellectualité admirable que l’on sent crépiter partout dans la trame serée et subtile des gestes, dans la mosdulation infinement variées de la voix, dans cette pluie sonore, comme d’une immense forêt qui s’égoutte et s’ébroue, et dans l’entrelacs lui aussi sonore des mouvements. »36

Nur auf die oben beschriebene Weise kann laut Artaud das wahre, reine Theater realisiert werden, das die Zuschauer heftig beeindruckt. Jede Übersetzung der von ihm verspürten Gefühle in logische Sprache wäre sinnlos und gar nicht möglich.37 Auf die Arbeit Artauds haben diese Erkenntnisse, die Artaud durch das Studieren des balinesischen Theaters machte, eine große Auswirkung. Sein Ziel ist es nun auch für das europäische Theater eine eigene konkrete Sprache des Theaters zu schaffen, die aus der Enge des Wortes ausbricht. Er möchte mit diesem Vorbild ursprüngliche Ausdrucksformen des Körpers im Raum reaktivieren. Auch das europäische Theater soll sich extremer optischer und akustischer Effekte bedienen, um so beim Zuschauer intensive Gefühlszustände hervorzurufen.38

4.4. En finir avec les chefs-d’œ uvre:

Artaud kritisiert in diesem Aufsatz die erstickende Atmosphäre, die er in der Gesellschaft spürt, da sie erstarrt ist im Respekt vor allem, was in Form geschriebener oder gemalter Meisterwerke oder als gesellschaftliche Institution Gestalt angenommen hat. Man muss Schluss machen mit der Vorstellung von Meisterwerken, in der die Menschen ohne Fluchtmöglichkeit gefangen sind. Nur so kann, Artauds Meinung nach, Phantasie und Imagination neu erweckt werden. Die tradierten Dramen behandeln zwar Themen, die die

Menschen existentiell betreffen, zu ihrer veralteten Form der Sprache finden die heutigen Menschen jedoch keinen Zugang mehr.

«On doit en finir avec cette idée des chefs-d’œuvre r´servés à une soi-disant élite, et que la foule ne comprend pas […]. Les chefs-d’œuvre du passé sont bons pour le passé: ils ne sont pas bons pour nous. »39

Artaud macht es sich also zur Aufgabe eine Sprache zu finden, die die Menge der heutigen Zeit mit ihren Erfahrungen, wie Krieg, Pest und Revolution, anspricht und die sie verstehen können.40 Artaud geht sogar noch weiter und behauptet, dass alles Geschriebene nur einmal taugt und dass es dann zerstört werden muss, denn jedes ausgesprochen Wort ist tot und jede verwendete Form ist nicht mehr nützbar: «La poésie écrite vaut une fois et ensuite qu’on la détruise. Que les poètes morts laissent la place aux autres. »41 Artaud schreibt weiter, dass Autoren, Regisseure und Schauspieler die Stücke missbrauchen, um sich selbst zu profilieren. Sein Ziel ist die völlige Abkehr von diesem patriarchalischen System. Alle Instanzen der westlichen Zivilisation werden von ihm fundamental abgelehnt und sollen durch das Theater aufgebrochen werden.

«Je propose donc un théâtre où des images physiques violontes broient et hypnotisent la sensibilité du spectateur pris dans le théâtre comme dans un tourbillon de forces supérieurs. »42

4.5. Le Théâtre et la cruauté:

Dies ist wohl das wichtigste und meist zitierte Kapitel aus dem Buch „Le théâtre et son double“. Darin beschreibt Artaud, wie er sich ein ideales Theater vorstellt und wie er seine theoretischen Erkenntnisse umzusetzen gedenkt. Seine Definition von Grausamkeit ist dabei folgende: Er meint nicht Grausamkeit im Sinne von Blut, Gemetzel oder Schlachten sondern - viel schrecklicher - die tiefe Grausamkeit der menschlichen Existenz:

« Et sur le plan de la représentation, il ne s’agit pas de cette cruauté que nous pouvons exercer les uns contre les autres […], mais de celle beaucoup plus terrible et nécessaire que les choses peuvent exercer contre nous. »43

Die Menschen sind nicht frei, da ihr Dasein ständig von Gefühlen wie Beklemmung, Angst, Hass und Hilflosigkeit bestimmt wird. Diese Tatsache will Artaud der Gesellschaft vor Augen führen. Artaud äußert sich hier noch mal deutlich, dass er der Meinung ist, dass wir ein Theater brauchen, das uns wachrüttelt und unsere Herzen und Nerven anspricht. Das für Artaud ideale Schauspiel aber ist mit allen Sinnesorganen wahrnehmbar, das heißt allumfassend. Theater muss wieder feierlich werden und auf die Zuschauer wie eine Seelentherapie wirken und unvergesslich bleiben. Artaud fordert eine von Schauspielern und Zuschauer gemeinsam vollzogene reale Handlung im Theater und damit eine Überwindung des Unterschieds zwischen Spiel und Wirklichkeit. Einen möglichen Weg dorthin sieht er in dem Theater der Grausamkeit, wo der Zuschauer eine existenzielle Grenzerfahrung durchlebt. Auf diese Weise wird die Kunst überschritten und das Theater ist kein Schauspiel mehr sein sondern ein Moment des Lebens.44

Im zweiten Manifest schreibt er dazu, dass die Grausamkeit aber auch ruhig blutig sein kann. So offenbaren sich die geheimsten Anlagen des Zuschauers wie Hang zum Verbrechen, erotische Obsessionen und utopischer Sinn für das Leben. Artaud benutzte Schreie, schlug rhythmisch mit einem Hammer auf einen Stein ein, um diese Fremdeinflüsse wieder zu exorzieren.45

4.5.1. Ziele des Théâtre de la cruauté :

Ein Ziel ist es zum Massenschauspiel zurückzukehren und etwas von der Poesie zu suchen, die Artauds Meinung nach von der Menschenmenge ausgeht. Das Theater wird seine Notwendigkeit wiederfinden, indem es alles zurückgibt, was in Liebe, Krieg, Verbrechen, Ausgelassenheit... zu finden ist.46 Das Theater soll jedoch auch die Realität wiederfinden, an die die Zuschauer glauben können, dazu muss es auf die Zuschauer so wirken, wie Träume es tun.

«Le théâtre ne pourra redevenir lui-même, c’est-à-dire constituer un moyen d’illusion vraie, qu’en fournissant aux spectateurs des précipités véridiques de rêves […]. »47

Die Sensibilität des Zuschauer muss dabei sowohl durch visuelle als auch durch akustische Pracht angesprochen werden. Nicht das Ansprechen von Geist und Verstand steht hierbei im Vordergrund, sondern das Hervorrufen von Gefühlen.48 Der Bereich der leidenschaftlichen und artikulierbaren Gefühle wird so verlassen und so gibt das Theater dem Publikum die Möglichkeit tiefer zu dringen. Diesen Vorgang kann man laut Artaud erreichen, indem man die Kräfte der alten Magie wiedersucht und die Natur ins Theater zurückkehren lässt. Die Zukunft für das Theater ist es also zunächst einmal seine eigentliche und ursprüngliche rituelle Bedeutung wiederzufinden. « [...] et c’est là l’objet de la magie et des rites, dont le théâtre n’est qu’un reflet. »49

4.5.2. Begriffserklärungen Artauds:

Diese oben genannte Bedeutung und Wirksamkeit kann es aber erst dann wiederfinden, wenn es seine eigene Sprache zurückbekommt: Dazu muss die Unterwerfung unter den Text beendet werden und eine Art Sprache zwischen Denken und Gebärde gefunden werden. Diese neue Sprache ist nur durch den dynamischen Ausdruck im Raum zu umreißen: Es findet also eine Expansion der Sprache außerhalb von Wörtern statt. Elemente einer solchen Sprache sin beispielsweise Gebärden, Gegenstände, Bewegungen, Haltungen, Musik und Töne. Wichtig für Artaud ist dabei, dass all diesen Elemente eine genaue Symbolik (wie bei den Balinesen) zukommt. Die Sprache muss also aus präzisen Zeichen bestehen, die genau bestimmt sind50, wobei ein eigenes Alphabet noch erstellt werden muss. Zum Beispiel könnten solche Zeichen aus der besonderen Intonation, die immer wieder reproduzierbar ist, bestehen, oder durch Gesichtsausdrücke beziehungsweise bestimmte Masken, dargestellt werden. Solche Symbole sind für Artaud äußerst wichtig für eine Konkretisierung des Theaters. Natürlich ist die Voraussetzung, dass diese für alle verständlich sind und es einen Reichtum an Ausdrucksmöglichkeiten gibt.51

Die Inszenierung ist für ihn der Ausgangspunkt jeder Bühnenschöpfung, um die sich die Sprache bildet. Kein Element der Inszenierung ist sinnlos; alle gehorchen einem strengen Rhythmus. Geschaffen wird sie von einem alleinigen Schöpfer, der den alten Dualismus zwischen Autor und Regisseur beendet.52

Wichtig für ihn ist es Musikinstrument zu verwenden, die ungewohnte, entweder in Vergessenheit geratene oder noch nicht erschaffene Klangeigenschaften besitzen. Sie machen den Zuschauer durch unerträgliche Laute wahnsinnig und fordern dadurch seine Sensibilität heraus.53

Die Beleuchtung ist sehr bedeutend durch ihre Wirkung auf den Geist. Sie zeichnet sich durch neue, "kosmische" Farb- und Schwingungseffekte aus, die Gefühle wie Wärme, Kälte, Zorn, Furcht. In seiner Begrifflichkeit überschreitet Artaud hier die physikalischen Grenzen des Mediums Licht.54

Jahrtausende alte Kostüme erzielen ihre hypnotisierende Wirkung wie bei tranceartigen Riten der Naturvölker. Im Gegensatz zu leeren und nichtssagenden modernen Einheitskostümen, sind sie so Artaud magisch-mythisch aufgeladen.55 Anstelle einer Dekoration schaffen gigantische Figuren und grauenerregende Masken ein Szenario, das in unbekannte Dimensionen reicht und diese Gegenstände tragen in sich schon wieder eine bestimmte Zeichensymbolik, also eine Bedeutung.56 Die Trennung zwischen Bühne und Zuschauerraum wird abgeschafft. Stattdessen sitzen die Zuschauer auf drehbaren Stühlen, die kreisförmig um einen kleinen Freiraum angeordnet sind. In diesem spielen sich die Hauptteile der Handlung ab. Die übrigen Effekte passieren rings um den Zuschauer. Die Galerien, die an den Wänden entlang laufen, ermöglichen Dreidimensionalität. Artauds Ziel dabei ist es die Trennung zwischen Produzent und Rezipient aufzulösen.57

Der Schauspieler ist sowohl ein wichtiges Element des Theaters, da alles von seinem Spiel abhängt, als auch eine passive Requisite, denn er darf keine eigene Persönlichkeit keine Eigeninitiative einbringen. Das Schauspiel an sich ist somit allumfassend. Es soll den ganzen Raum einnehmen und genau das ist für Artaud Kunst.58

Artaud will sich lediglich von bestimmten Werken inspirieren lassen (z.B. von Stücken Shakespeares, der Bibel und alten Fabeln) und diese sehr frei inszenieren. Die Stücke müssen für ihn keine Aktualität besitzen und nicht von Leben oder Tatsachen handeln, aber der Menschen.59

5. Zu den Auswirkungen der Theatertheorie Artauds:

Artaud war einer der faszinierendsten und vieldeutigsten Persönlichkeiten des Theaters des 20. Jh. Er gehört zur Avantgardebewegung Anfang des 20. Jahrhunderts. Jedoch hatte er zu Lebzeiten nie das Gefühl der Akzeptanz bei den Zeitgenossen gefunden. Erst in den 60er Jahren wurde er mit großer Begeisterung und Interesse wiederentdeckt. Nicht zuletzt wegen seines wilden Lebenslaufes übte er auf diese Generation wohl große Anziehungskraft aus.

Er war eine willkommene Identifikationsfigur für das eigene Selbstverständnis50 und ist deshalb wirkungsgeschichtlich auch in dieser Periode einzuordnen, die unter dem Titel Theater der Erfahrung51 zusammengefasst ist.52 Eine Besonderheit an Artauds Theateridee ist, dass er sie selbst weder in seiner Arbeit als Regisseur noch in der des Schauspielers verwirklichen konnte.53 Er selbst äußerte sich negativ über die Ergebnisse, die das Theater Jarry auf die Bühne brachte. Dies lag wohl nicht zuletzt an den fehlenden Mitteln die Artaud für die Umsetzung seiner Vorstellungen benötigt hätte. Seine Wirkung geht deshalb eher von seinen theoretischen Schriften aus und von dem Mythos seines Lebens, als von seine praktischen Tätigkeit am Theater. „Artaud erscheint als Inkarnation eines Theaterlebens mit wahrhaft tödlicher Konsequenz.“54 Artauds Theatertheorie kann als völlig entgegengesetzter Entwurf zu Brechts epischem Theater verstanden werden. Bei Brecht stehen Vernunft, Verbesserung der Menschen und politische Ziele im Vordergrund, wohingegen bei Artaud der „unmittelbare Affekt“, die „Karthasis im reinsten Sinne“ und das „Aufbrechen der äußeren Hüllen der Menschen“ das Wichtigste sind.55 Diese beiden Pole bestimmen das Theater des 20. Jahrhunderts. Artaud ist dabei der Part, der seine Zeitgenossen ermunterte mit den alten Traditionen des Theaters zu brechen und ein bislang noch nie dagewesenes „totales Theater“ zu schaffen.56 Wie schon gesagt, wirkte Artaud vor allem auf die 60er Jahre ein. Das absurde Theater und vor allem Eugène Ionesco sowie der Regisseur und Theatertheoretiker Peter Brook und Jerzy Grotowski berufen sich ganz konkret auf Artaud. Ihre Theatermodelle wären ohne Artaud als Vorläufer nicht denkbar gewesen. Nachwirkungen finden sich heute noch in der Körpersprache von Schauspielern und in der Dramatik von zum Beispiel Jean Genet, Samuel Beckett, Heiner Müller, Peter Weiss und anderen. Mit seinen Vorstellungen führte Artaud einen Entwicklungsstrang in die Grenzgebiete zwischen Theater und bildender Kunst. So entwickeln sich in den 60er Jahren ganz neue Kunstformen, der es auf eine Vermischung zwischen Kunst und Leben ankommt. Zu solchen neuen Formen gehört das Happening, die Aktionskunst und Performance. Hier wird die geschlossene Werkstruktur durch eine offene Raum-Zeit- Situation ersetzt. Künstler und Betrachter werden als gleichberechtigte Partner behandelt, das heißt der Produzent und der Rezipient sind nicht mehr strikt getrennte Partien, sondern die Grenzen sind fließend. Das Publikum wohnt einem künstlerischen Prozess bei, der direkt und unmittelbar - manchmal sogar körperlich - auf die Beteiligten eingewirkt wird. Die Kunsthandlung steht hier im Mittelpunkt.. Angestrebt wird eine direkte Einflussnahme auf die Psyche des Zuschauers und des Darstellers ohne Umwege der Sprache oder Ratio. Diese Kunstformen, die damals entstanden ist fasst man unter dem Begriff Theater der Erfahrung zusammen. Eine neue Art von Gesamtkunstwerken entsteht, die wiederum auf das Theater Auswirkungen haben, das heißt auf die Raum- und Szenengestaltung, auf mediale Techniken und auf seine Zeichensysteme. Aber dabei ist es wichtig zu beachten, dass der Spielcharakter beim Theater nie in Frage gestellt wird. Hier hält man das geschlossene ästhetische System aufrecht. Die kritische reflexive Qualität, die dem Happening verloren geht, bleibt im Theater bewahrt. Man kann sagen, dass sich erst in der Form von Happening und Performance zumindest Teile der Theatertheorie Artauds umgesetzt werden. Dennoch zählt die Theatertheorie Artauds zu den nicht realisierten, da sie eigentlich auf die völlige Aufhebung von Theater zielten.

6. Zusammenfassung:

Als ich begann mich mit Artaud zu beschäftigen, so fiel es mir anfangs sehr schwer seinen theoretischen Ausführungen zu folgen und diese zu durchleuchten. Seine Gedanken sind mir manchmal zu exzentrisch und für mich nicht wirklich nachvollziehbar gewesen. Er hat ja im Grunde eine Theorie verfasst, die gar nicht realisierbar ist, was sich am besten dadurch beweisen lässt, dass seine theoretischen Ausführungen nie wirklich realisiert wurde. Seine eigene Inszenierungen waren weit von seinen Theorien entfernt. Am 18.Juli 1947, 6 Monate vor seinem Tod am 4.März 1948, schreibt er: „Ich hätte Blut durch den Nabel scheißen müssen, um zu erreichen, was ich will".57 In einem Brief an André Breton äußert er sich dazu folgendermaßen:

"...denn mir ist plötzlich klar geworden, daß die Zeit vorbei war, Menschen in einem Theater zu versammeln, selbst um ihnen Wahrheiten zu sagen und daß man mit der Gesellschaft und ihrer Öffentlichkeit keine andere Sprache mehr sprechen kann als die der Bomben, der Maschinengewehre, der Barrikaden und allem, was daraus folgt."58

Je mehr ich jedoch nach seinem Leben forschte, um so besser konnte ich auch seine Theorien nachvollziehen. Man muss wissen, was für ein verrückter, exzentrischer, faszinierender und kranker Mann hinter solchen Gedanken steckt, um zumindest teilweise einen Zugang dazu finden zu können.

Ich finde es bemerkenswert, was er für eine große Erwartung und was er für einen starken Glauben in das Theater hatte, das er ja als „magisches Instrument“ umschreibt. Obwohl er so schlimme Erfahrungen in den psychiatrischen Kliniken machen musste, ließ er sich nicht entmutigen, behielt seinen Glauben in seine eigenen Theorien und gab nicht auf mit Versuchen diese zu verwirklichen. Hier wird deutlich, was für unglaubliche Kräfte in diesem Mann steckten, der das Theater man könnte fast schon sagen neu definierte.

An der absoluten Notwendigkeit, die für Artaud selbst sein Handeln hatte, ist nicht zu zweifeln. Er rettete sich vor geistiger und körperlicher Vernichtung mit einer Utopie. Einer Utopie des idealen, reinen und allumfassenden Theaters, das seiner Meinung nach in der Lage ist die Menschheit zu verändern.

Aber nicht nur für ihn selbst war sein Handeln notwendig. Zwar wurde seine Theorie nicht hundertprozentig verwirklicht, aber den immensen und unglaublich wichtigen Einfluss auf das Theater der 30er und vor allem auf das Theater der 60er bis heute, kann man fast gar nicht ermessen. Insofern bin ich der Meinung, dass Artaud keinesfalls ein gescheiterter Mann ist. Im Gegenteil: Er gehört zu den wichtigsten Persönlichkeiten der modernen Theatergeschichte, die für seine Nachwelt unvergesslich geblieben ist.

Literaturliste :

Primärliteratur:

Artaud, Antonin (1964). Le thátre et son double. Paris: Gallimard.

Sekundärliteratur:

Bossier, Ullrich (1996). „Nachwort“. In: Alfred Jarry (1996). König Ubu. Berlin: Reklam.

Brauneck, Manfred (1998). Theater im 20. Jahrhundert. Programmschriften, Stilperioden, Reformmodelle. Reinbek: Rowohlt.

Fischer-Lichte, Erika (Hrsg.). (1995). TheaterAvantgarde. Wahrnehmung - Körper - Sprache. Tübingen; Basel: Francke.

Kapralik, Elena (1977). Antonin Artaud (1896 - 1948). Leben und Werk des Schauspielers, Dichters und Regisseurs. München: Matthes & Seitz.

Online:

Kirmaier, Tanja/ Florian Prittwitz,/Elgin Wolf (1999/2000). Online! Antonin Artaud. Le théâtre et la cruauté - Zwischen Genie und Wahnsinn. URL: http://www.stud.uni- muenchen.de/~florian.prittwitz/Florian/dokumente/Artaud.html

Schultz, Alexander (1997-2000). Online! „Antonin Artaud: Jenseits von Kunst und Kultur.“ In: parapluie. URL: http://parapluie.de/archiv/unkultur/artaud/index.html.

[...]


1 Siehe dazu: Manfred Brauneck (1998). Theater im 20. Jahrhundert. Programmschriften, Stilperioden, Reformmodelle. Reinbek: Rowohlt, S. 466. [Im folgenden: Brauneck (1998)].

2 Antonin Artaud: Corréspondance avec Jacques Rivière. In: Oeuvres Complètes I, S. 24. Zitiert nach : Online! Alexander Schultz (1997-2000): „Antonin Artaud: Jenseits von Kunst und Kultur.“ In: parapluie. URL: http://parapluie.de/archiv/unkultur/artaud/index.html [Im folgenden: Schultz (1997 -2000) Online!]

3 Jaques Copeau (1879 bis 1949) Er wollte auf dem Weg größtmöglicher Einfachheit in szenischer Gestaltung bis zum Kern der Dichtung vordringen. Seine Theaterarbeit faszinierte Artaud und beeinflusste seine Theaterarbeit in den Anfängen.

4 Charles Dullin (1885 - 1949) war ein französischer Regisseur und Schauspieler. Er leitete seit 1922 das Théâtre de l'Atelier am Montmartre in Paris. Anfangs handelte es sich bei diesem Theater um eine Art Forschungslaboratorium namens ècole nouvelle du comédien, in der alle Zweige der Theaterkunst gepflegt werden sollten. Optik und Akkustik, sowie der Einsatz von Musik spielten in seiner Arbeit eine große Rolle. Aus seinem Theater ging eine Vielzahl führender Theaterleute hervor; seine puristischen Inszenierungen beeinflussten stark das französische Theater der Gegenwart. Man bezeichnet ihn sogar als den Begründer des

5 Siehe dazu: Kapralik (1977), S. 384f.

6 André Breton (1896 - 1966) ist einer der Herausgeber der Zeitschrift "Litérature". Er zählt zu den Begründern, der surrealistischen Bewegung, die um 1919 entstand. In der Zeit bis 1924, als das "1. Manifest des Surrealismus" von André Breton erscheint, erarbeitet sich diese Menschen-, Glaubens- und Lebensgemeinschaft ein Programm. Ihr Ziel ist die radikale Veränderung des Lebens und der Gesellschaft. Dazu soll ein neuer kollektiver Mythos ausgebildet werden. Rationale und logische Denksysteme haben ihrer Meinung nach spätestens mit dem 1. Weltkrieg versagt. Sprache und Wissenschaft werden deswegen massiv kritisiert. Die Surrealisten berufen sich auf das dialektisch-materialistische Gedankengut von Marx und in ihren Bildern und Sprachschöpfungen auf die Traumdeutung und Psychoanalyse Sigmund Freuds. Mit Mitteln wie dem psychisch automatisierten Schreiben und dem Traumprotokoll versuchen sie, Wege zu finden, die Realität eines neuen Zeitalters darzustellen. (Siehe dazu: Manfred Brauneck (1998). Theater im 20. Jahrhundert. Programmschriften, Stilperioden, Reformmodelle. Reinbek: Rowohlt, S. 467f.)

7 Siehe dazu: Brauneck (1998). S. 466f.

8 Brauneck (1998). S. 467f.

9 Siehe dazu: Online! Tanja Kirmaier, Florian Prittwitz, Elgin Wolf (1999/2000). Antonin Artaud. Le théâtre et la cruauté - Zwischen Genie und Wahnsinn. URL: http://www.stud.uni- muenchen.de/~florian.prittwitz/Florian/dokumente/Artaud.html (Im folgenden: Kirmaier (1999/2000). Online!)

10 Alfred Jarry (1873 - 1907) war ein Dramatiker den sowohl die Dadaisten, wie auch die Surrealisten zu ihren Ahnherren zählen. Zu Lebzeiten nie wirklich anerkannt wurde er im Gefolge der Dramatiker des Absurden Theaters wiederentdeckt und berühmt. Sein Ziel war es den Schauspieler zu entindividualisieren, indem sie Masken trugen und stark stilisierte Bewegungen ausführten. Er wollte also keine Charaktere darstellen, sondern durchschaubare Typen. Die Dramaturgie zielt auf die Illusionszerstörung ab. Jarry wollte mit diesen Mitteln durch Theater die Kunst und das Leben vereinen. Eines seiner bekanntesten Stücke ist Roi Ubu. (siehe dazu: Ullrich Bossier (1996). Nachwort. In: Alfred Jarry (1996). König Ubu. Berlin: Reklam, S. 75ff.) All die Ziele, die Jarry durch seine Form des Theaters erreichen wollte, lassen sich gut mit denen Artauds verbinden und deshalb hat letzterer wohl auch den Namen dieses Dramatikers für das neu gegründete Theater gewählt

11 Kirmaier (1999/2000). Online!

12 Siehe dazu: Brauneck (1998), S. 467ff.

13 Siehe dazu: Schultz (1997 - 2000) Online!

14 Antonin Artaud. Les Nouvelles révélations de l'être. In: Oeuvres Complétes VII, 120f. Zitiert nach : Schultz (1997-2000). Online!

15 Siehe dazu: Schultz (1997 - 2000) Online!

16 Antonin Artaud. Van Gogh le suicidé de la société, Oeuvres Complêtes XIII, 17. Zitiert nach : Schultz (1997 - 2000). Online!

17 Siehe dazu: Fischer-Lichte, Erika (Hrsg.). (1995). TheaterAvantgarde. Wahrnehmung - Körper - Sprache. Tübingen; Basel: Francke, S. 370. [Im folgenden: Fischer-Lichte (Hrsg.) (1995).]

18 Siehe dazu: Brauneck (1998), S. 469.

19 Siehe dazu: Fischer-Lichte (Hrsg.) (1995), S.1.

20 Siehe dazu: Fischer-Lichte (Hrsg.) (1995), S.370.

21 Siehe dazu: Fischer-Lichte (Hrsg.) (1995), S.373.

22 Siehe dazu: Fischer-Lichte (Hrsg.) (1995), S.374.

23 Antonin Artaud (1964). Le thátre et son double. Paris : Gallimard, S. 46. [Im folgenden: Artaud (1964).]

24 Artaud (1964), S. 44.

25 Siehe dazu: Artaud (1964), S. 43ff.

26 Siehe dazu: Artaud (1964), S. 34f.

27 Artaud (1964), S. 40f.

28 Artaud (1964), S. 105.

29 Siehe dazu: Artaud (1964), S. 109ff.

30 Artaud (1964), S. 109.

31 Siehe dazu: Artaud (1964), S. 112.

32 Artaud meint damit wohl den Regisseur...

33 Artaud (1964), S. 113.

34 Artaud (1964), S. 81.

35 Artaud (1964), S. 94.

36 Artaud (1964), S. 87f.

37 Siehe dazu: Artaud (1964), S. 82ff.

38 Kirmaier (1999/2000). Online!

39 Artaud (1964), S. 115.

40 Siehe dazu: Artaud (1964), S. 116.

41 Artaud (1964), S. 121.

42 Artaud (1964), S. 128.

43 Artaud (1964), S. 123.

44 Siehe dazu: Artaud (1964), S. 131ff.

45 Siehe dazu: Artaud (1964), S.180ff.

46 Siehe dazu: Artaud (1964), S. 132.

47 Artaud (1964), S. 141.

48 Siehe dazu: Artaud (1964), A. 140.

49 Artaud (1964), S. 141.

50 Artaud führt hier als Beispiel die Hieroglyphenschrift an. (Siehe dazu: Artaud (1964), S. 145)

51 Siehe dazu: Artaud (1946), S. 145

52 Siehe dazu: Artaud (1964), S. 144.

53 Siehe dazu: Artaud (1964), S. 147.

54 Siehe dazu: Artaud (1964), S. 147.

55 Siehe dazu: Artaud (1964), S. 148.

56 Siehe dazu: Artaud (1964), S. 151.

57 Siehe dazu: Artaud (1964), S. 148f.

58 Siehe dazu: Artaud (19649, S. 152.

59 Siehe dazu Artaud (1964), S. 151.

50 Siehe dazu: Fischer-Lichte (1995), S. 371.

51 Unter dem Begriff Theater der Erfahrung ist keine einheitliche Stilrichtung zusammenzufassen. Es handelt sich eher um eine programmatischen Anspruch, der sich nicht auf die Kunstform, sondern auf die Theaterarbeit und deren Erfahrungsmomente bezieht. Es handelt sich um Gruppentheater das sich außerhalb der konventionellen Theatersysteme bewegt. Im Vordergrund steht das Ausleben der Emotionalität und Körperlichkeit. Die Sprache, der literarische Text sind in den Hintergrund gerückt. Man setzt sich nicht mehr mit Rollen auseinander. Vorbilder dabei sind außereuropäische Theaterformen; das Mystische und das Rituelle sind dabei wichtig. (Siehe dazu: Brauneck (1998), S. 458.)

52 Siehe dazu: Brauneck (1998), S. 464.

53 Siehe dazu: Brauneck (1998), S. 466.

54 Brauneck (1998), S. 466.

55 Kirmaier (1999/2000). Online!

56 Kirmaier (1999/2000). Online!

57 Bettina Schulte(3.9.1996). In: Badische Zeitung.

58 Antonin Artaud (1968) : Lèttres à André Bréton. In: L'Èphèmére 8. Zitiert nach : Schultz (1997 - 2000). Online!

Ende der Leseprobe aus 19 Seiten

Details

Titel
Antonin Artaud - sein Leben und seine Theatertheorie
Hochschule
Universität Leipzig
Veranstaltung
(Post)modernes Theater
Note
1,3
Autor
Jahr
2001
Seiten
19
Katalognummer
V104613
ISBN (eBook)
9783640029358
ISBN (Buch)
9783656761334
Dateigröße
422 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Antonin, Artaud, Leben, Theatertheorie, Theater
Arbeit zitieren
Angelika Stiehler (Autor:in), 2001, Antonin Artaud - sein Leben und seine Theatertheorie, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/104613

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