A. Einleitung
Beim breiten Lesepublikum außerordentlich beliebt, wurde Gustav Freytags „Soll und Haben“ zu einem der erfolgreichsten Romane des 19.Jahrhunderts.1Indessen war dieses Werk seit seiner Veröffentlichung 1855 bis zum heutigen Tag bei Kritikern und Schriftstellerkollegen heftig umstritten. Ein Kritikpunkt war von jeher - und insbesondere nach 1945 - die Darstellung der Juden im Roman.2Letzter Höhepunkt der Diskussion war die vom WDR 1977 geplante Verfilmung des Romans, was letztendlich nach zahlreichen Protesten nicht realisiert wurde. Diesem Umstand verdanken wir eine erneute Reflexion mit dem Erfolgsphänomen Gustav Freytag, welche zum Teil wissenschaftlich, zum Teil recht polemisch geschah. Eine neuere Publikation zu dieser Thematik stammt von Martin Gubser, der in seiner Dissertation das Buch selbst mit betont objektiven Blick in den Vordergrund gestellt wissen möchte und deshalb eine sehr detaillierte Aufschlüsselung der einzelnen Judendarstellungen vornimmt.3Im Mittelpunkt dieser Arbeit soll weniger die Art und Weise der Judendarstellungen im Vordergrund stehen, sondern vielmehr nach einer werkimmanenten Begründung für die einseitig antijüdische Darstellung gesucht werden.
Zum einen gebietet der Umfang dieser Arbeit eine solche enge Fragestellung und zum anderen ist die tendenziös antisemitische Darstellung allzu offensichtlich, als das sie nicht einem jedem Leser des Romans offensichtlich wäre. Auch biographische Erkenntnisse über den Autor sollen zugunsten der Ausgangsfrage nur am Rande behandelt werden. Dass Gustav Freytag ein engagierter Liberaler war, in dritter Ehe mit einer Jüdin verheiratet war, zahlreiche jüdische Bekannte hatte und sich in anderen Schriften durchaus differenzierter über Juden geäußert hat, bedeutet nicht, dass man ein von ihm autorisiertes und publiziertes Buch nicht als solches unabhängig von diesen Aspekten betrachten darf, zumal Freytag erst 14 Jahre nach „Soll und Haben“ deutlich gegen antisemitische Tendenzen Stellung bezog.4 Angesichts dieser scheinbaren Unvereinbarkeit von Biographie und literarischer Darstellung, drängt sich geradezu die Frage auf, warum die Judendarstellungen in „Soll und Haben“ so einseitig negativ ausfallen.
Der erste Abschnitt dieser Arbeit enthält eine kurze Darstellung der jüdischen Figuren im Roman, die allerdings keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt. Anstatt detailgetreuer Wiedergabe, soll vielmehr eine tiefergreifende Analyse der sprachlichen Mittel und verwendeten Gemeinplätze im Vordergrund stehen.
Der zweite Abschnitt dieser Arbeit geht sodann näher auf die Ausgangsfrage ein, indem die Judendarstellungen auf ihren Realismusgehalt, ihrer Funktionalität und ihren vielleicht ideologische Hintergrund hin untersucht werden.