Schreiben wider das Vergessen: Anna Seghers "Der Ausflug der toten Mädchen"


Hausarbeit, 2001

28 Seiten, Note: gut


Leseprobe


INHALT

I. Einleitung

II. Der Aufbau der Erzählung
II.1. Erzähltechnik und Zeitverhältnisse in der Erzählung: Rahmen -und Binnengeschichte
II.2. Die Gestaltung des Perspektivenwechsels in der Binnenerzählung

III. Zum menschlichen Gehalt der Erzählung
III.1. Die Schicksale der toten Mädchen als exemplarische Geschicke und die Frage nach Schuld und Moral
III.2. Der Tod als zentrales Thema der Erzählung

IV. Autobiographische Bezüge - Anna Seghers hinter dem „Ausflug der toten Mädchen“

V. Ausblick

VI. Literaturverzeichnis

I. Einleitung

„Aus Deutschland ist ein furchtbares Unglück herausgewachsen, für Deutschland selbst und für die andren Völker. Der Faschismus in seiner rohsten Form, unter dem Zeichen des Hakenkreuzes. Ein Volk, das sich auf die andren Völker wirft, um sie auszurotten, ist das noch unser Volk? Die Frage beunruhigt die Kongresse, die Pen - Club - Tagungen und jeden deutschen Antifaschisten. Ein Volk, das schweigend Progomen zusieht, Mord, Brandstiftungen, den raffinierten Quälereien Schwacher und Unschuldiger. Ein Volk, das [...] dazu bestimmt scheint, die Geschichte der Menschheit um einige hundert Jahre zurückzuschreiben? Soll das unser Vaterland sein?“

(Seghers, DUW, S. 91).

Diese bange Frage stellt Anna Seghers 1941 in ihrem Essay „Deutschland und wir“. Zu dieser Zeit befindet sich die Autorin im mexikanischen Exil und beobachtet aus der Entfernung die erschreckende Entwicklung, die sich in ihrer Heimat vollzieht und abseits von Menschlichkeit und Moral liegt. Während ihres Exils setzt sich Seghers immer wieder literarisch mit dieser grauenvollen Entwicklung in Deutschland auseinander. 1943 vollendet sie ihren Roman „Transit“, der die Thematik der Flucht aus Deutschland ins Exil aufgreift und in dem sie eigene Erlebnisse verarbeitet. Doch Anna Seghers schreibt in den frühen vierziger Jahren nicht nur an großen, zeitkritischen Romanen, sondern sie widmet sich auch ihrem Schaffen als Erzählerin. In demselben Jahr, in dem sie auch „Transit“ fertig stellt, entsteht eine Erzählung, die autobiographischen Charakter trägt und intensiv um das Thema kreist:wie konnte das in Deutschland geschehen,was Anna Seghers so deutlich in ihrer Schrift „Deutschland und wir“ formuliert. Damit liefert die Autorin„einen bedeutenden Beitragüber das Problem der deutschen Schuld“(Grossmann, S. 129).

Diese Arbeit versucht nun Aufschluss darüber zu geben, inwiefern Walter Grossmanns These zutrifft und wie es Anna Seghers gelingt, den Leser in eine Welt zu ziehen, in der Unschuld und Freundschaft in Zwietracht und Verrat umschlagen. Zunächst soll hier auf formale Gesichtspunkte, wie Struktur und Zeitverhältnisse der Erzählung eingegangen werden, um dann im folgenden eine tiefere Deutung des Geschriebenen klarzulegen und den Inhalt des „Ausflugs der toten Mädchen“ auf bestimmte Aspekte hin, zu untersuchen. Bei diesen Aspekten handelt es sich beispielsweise um die Frage, welche Rolle Moral oder Tod in der Erzählung spielen. Schließlich ist der letzte Teil dieser Arbeit dem Thema gewidmet, wie sich Anna Seghers selbst in die Erzählung einbringt und ob sich Parallelen zu ihrem eigenen Leben ziehen lassen.

Insgesamt soll mit diesem Aufsatz nur auf einen kleinen Ausschnitt aus dem schier unglaublichen Schaffen der vielseitigen Schriftstellerin Anna Seghers hingewiesen werden: „Der Ausflug der toten Mädchen“ ist ein gelungener Versuch, die dunkle Zeit der deutschen Geschichte zu beleuchten und zeigt einmal mehr, wie viel erzählerisches Talent und literarisches Können in der Autorin ruhen.

II. Der Aufbau der Erzählung

II.1. Erzähltechnik und Zeitverhältnisse im

„Ausflug der toten Mädchen“: Rahmen- und Binnengeschichte Anna Seghers bedient sich im „Ausflug der toten Mädchen“ einer sorgsam ausgefeilten Erzähltechnik. Diese basiert auf der Kombination verschiedener Bewusstseinsebenen, einer synchronen Verschmelzung von Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft. Aber nicht nur die zeitlichen Schichten gehen fließend ineinander über, sondern es kommt an mehreren Punkten der Erzählung auch zum Vermischen der äußeren und inneren Erlebniswelt. Ein derartiges Gestaltungsprinzip wendet beispielsweise auch James Joyce in seinem Jahrhundertroman „Ulysses“ an (vgl. Zimmermann, S. 318).

In der Ganzheit der Erzählung ergeben sich zwei räumlich-zeitliche Ebenen und eine dritte Ebene, die auf den anderen beiden basiert. Die Ausgangssituation der Erzählerin - die Erzählergegenwart - ist das mexikanische Exil, in dem sich die Protagonistin während des Zweiten Weltkrieges befindet:„Mir kam es genauso phantastisch wie ihm vor, dass ich aus Europa nach Mexiko verschlagen war“(Ausflug, S. 7). Das mexikanische Exil ist die erste Ebene und bildet den Rahmen für ein Zurückversetzen in die Kindheit und Schulzeit. Ein Schulausflug vor dem Ersten Weltkrieg tritt in das Bewusstsein der Erzählerin und wird zur zweiten Ebene der Handlung, der Erzählervergangenheit.„Die Vergegenwärtigung der einzelnen beteiligten Schülerinnen ist dann(als eine dritte Ebene) der Ausgangspunkt für einen in die Zeit des Nationalsozialismus führenden Ausblick auf das spätere Geschick der Beteiligten,“(Haller- Nevermann, S. 92). Die beiden zuletzt genannten Ebenen fügen sich zur Binnengeschichte zusammen.

Der Wechsel zwischen den verschiedenen Erzählzeiten vollzieht sich beinahe unbemerkt und der Leser ist gezwungen, die Erzählung sehr aufmerksam zu studieren, um Anhaltspunkte dieses Perspektivenwechsels ausmachen zu können. Das erste Indiz für die nahende Veränderung der Bewusstseinsebene ist die Nennung des Begriffs „Heimfahrt“, gleich zu Beginn der Erzählung. Schon in den ersten Abschnitten der Geschichte offenbart die Protagonistin ihre Sehnsucht nach der Heimkehr, denn Mexiko bietet ihr kein sicheres Asyl:„Um Rettung genannt zu werden, dafür war die Zuflucht in diesem Land zu fragwürdig und zu ungewiß,“(Ausflug, S. 7).

Hier kommt auch die Müdigkeit und Trägheit zum Ausdruck, die die Emigrantin empfindet. An anderer Stelle bekundet sie:„Die Lust auf absonderliche, ausschweifende Unternehmungen, die mich früher einmal beunruhigt hatte, war längst gestillt, bis zumÜberdruß. Es gab nur noch eine einzige Unternehmung, die mich anspornen konnte: die Heimfahrt,“ (Ausflug, S. 8).

Diese Sehnsucht der Protagonistin, nach langer Odyssee endlich heimkehren zu können und ihre körperliche Verfassung, bewirken dann auch den Bewusstseinswechsel hin zur Kindheit. Dieser wird zunächst angezeigt durch einen eigenartigen„Schwebezustand, in dem außen und innen verbunden erscheinen“(Zimmermann, S. 319):„Das Rancho lag, wie die Berge selbst, in flimmrigem Dunst, von dem ich nicht wusste, ob er aus Sonnenstaub oder aus eigener Müdigkeit, die alles vernebelte, so dass die Nähe entwich und die Ferne sich klärte wie eine Fata Morgana,“(Ausflug, S. 8).

Das Symbol der „Wolke von Müdigkeit“ und des Dunstes zeichnen den Weg des Perspektivenwechsels vor. Die Müdigkeit der Ich-Erzählerin, auf die während der ersten Abschnitte fünfmal hingewiesen wird, verfliegt, als sie die ersten Anzeichen der Heimat wahrnimmt. Schritt für Schritt wird das zunächst wage wahrgenommene Bild deutlicher, bis zu dem Erahnen reale Sinneseindrücke hinzukommen: Riechen, Sehen und Hören. So verdichtet sich das Bild zum realen Erleben:

„Die Reste des Wappens kamen mir bekannt vor. Ich trat in das leere Tor. Ich hörte jetzt inwendig zum Erstaunen ein leichtes, regelmäßiges Knarren. Ich ging noch einen Schritt weiter. Ich konnte das Grün im Garten jetzt riechen. [...] Jetzt war meine Neugier wach, so dass ich durch das Tor lief, auf die Schaukel zu. Im selben Augenblick rief jemand:‚Netty!“’(Ausflug, S. 9). Mit dem Rufen des Namens aus der Kindheit ist der Bewusstseinswechsel vollständig vollzogen und die Protagonistin wird nun selbst wieder zur Schülerin, die aber das Wissen um die Zukunft der noch unschuldigen Mädchen aus der Gegenwart mit herübergebracht hat. Mit dieser Situation jedoch, erfolgt eine intensive Auseinandersetzung erst in den folgenden Kapiteln dieser Arbeit. Hier sei nur erwähnt, dass die Ich-Erzählerin sich völlig dem Erinnern hingibt und teilnimmt an einer kurzen Zeit der harmonischen Kindheit. Dieses Erinnern jedoch, ist durchzogen von erschreckenden Gegenwartsbildern der sündenfreien Mädchen. Am Ende der Erzählung durchlebt die Protagonistin ein ähnliches Rückkehrerlebnis von der Erzählervergangenheit zur Erzählergegenwart, wird also wieder zur Emigrantin im mexikanischen Exil. Erste Andeutungen dieses erneuten Perspektivenwechsels finden sich im letzten Abschnitt der Erzählung. Auch hier vollzieht sich der Raum- und Zeitwandel in mehreren Wahrnehmungsstufen.

Zunächst vernimmt die Icherzählerin „befremdende“ Geräusche, die untypisch sind, für ihre rheinländische Heimat:

„Ich hörte hinter sämtlichen Türen das Klatschen von Händen auf Teig in vertrautem Rhythmus,daßman auf diese Art Pfannkuchen buk, befremdete mich [...] Ich hörte zugleich vom Hof her das zügellose Schreien von Truthähnen und wunderte mich, wieso man plötzlich im Hof Truthähnezüchtete,“(Ausflug, S. 37).

Alsbald nimmt die Protagonistin auch„dasüberaus starke Licht von den Hoffenster“(Ausflug, S. 37) wahr. Schließlich kehrt auch der „Dunst“ wieder und„das Bewusstsein der Vergangenheit verdämmert,“(Zimmermann, S. 320).

Gleichsam ist das Ausgangsszenario der Rahmenerzählung wieder völlig hergestellt: nicht nur, dass sich die Erzählerin nur vage erinnert, ihre Mutter noch gern umarmt zu haben, auch ihre anfängliche Müdigkeit stellt sich wieder ein (vgl. Zimmermann, S. 321):„Wenn ich zu müd bin, hinaufzusteigen, wo nehme ich die Kräfte her, um mein höher gelegenes Ursprungsdorf zu erreichen, in dem man mich zur Nacht erwartet?“(Ausflug, S. 37). Die Vergegenwärtigung des Vergangenen wirkt jedoch in der Ich-Erzählerin weiter und sie beschließt, den Auftrag der Lehrerin alsbald zu erfüllen und den Schulausflug sorgfältig zu beschreiben (vgl. Ausflug, S. 29):„Ich wollte gleich morgen oder noch heute abend, wenn meine Müdigkeit vergangen war, die befohlene Aufgabe machen,“(Ausflug S. 38). Mit diesem letzten Satz der Erzählung schließt sich der Kreislauf von Vergangenem und Gegenwärtigem und der Bogen zur Ausgangssituation ist gezogen.

„Die Erzählerin hat mit der Erfüllung des ihr vor drei Jahrzehnten erteilten Auftrags die Zeitbewältigt und damit auch ihre Identität, die sie beim Ertönen des Namens‚Netty’verloren zuhaben schien, wiedergewonnen,“(Zimmermann, S. 321).

I.2. Die Gestaltung des Perspektivenwechsels in der Binnenerzählung

Im vorherigen Kapitel wurde ausführlich die Erzähltechnik und der Perspektivenwechsel von der ersten zur zweiten räumlich-zeitlichen Ebene der Erzählung diskutiert. Weitaus komplexer vollzieht sich der Wechsel der Bewusstseinsebenen innerhalb der Binnengeschichte. Hier kommt es häufig zu einer Verschmelzung der Erinnerung mit dem Wissen über die Gegenwart; und das meist innerhalb eines einzigen Satzes.

Das erste Beispiel für einen derartigen Perspektivenwechsel findet sich gleich zu Beginn der Binnenerzählung, wenn die Protagonistin eine ehemalige Schulfreundin, Leni, erblickt:

„Ich wunderte mich zugleich, wieso man Lenis Gesicht gar keine Spur von den grimmigen Vorfällen anmerkte, die ihr Leben verdorben hatten. Ihr Gesicht war so glatt und blank wie ein frischer Apfel, und nicht der geringste Rest war darin, nicht die geringste Narbe von den Schlägen, die ihr die Gestapo bei der Verhaftung versetzt hatte, als sie sich weigerte,über ihren Mann auszusagen,“ (Ausflug, S. 11).

Walter Grossmann, ein Literaturkritiker, der sich mit der Zeit im „Ausflug der toten Mädchen“ befasste, meint zur Problematik des Perspektivenwechsels:

„Vergangenheit ist durch die Dichtung Realität geworden. Eine vergangene Situation wird heraufbeschworen. Es bleibt aber nicht bei dieser Wiederentdeckung. Gleichzeitig wird auch das Wissen der Dichterin von der Zukunft der Menschen ihrer Erzählung, von alledem, was zwischen dem Gegenwart gewordenen Damals und dem realen Nachher liegt, mit eingebracht. In dieser Verflechtung von Bild und Wissen liegt das Neue und Mächtige der Erzählung,“(Grossmann, S. 128).

Innerhalb der Binnengeschichte sind zwei Schemata des Hinweisens auf künftiges Geschehen erkennbar: einerseits handelt es sich um die Form des unmittelbaren Verweises auf das spätere Geschick der Klassenkameradinnen. Die andere Art, zukünftiges Geschehen darzustellen, liegt in der indirekten Andeutung desselben. Ein Beispiel für das Zusammenspiel dieser beiden Arten des Vorausdeutens, ist die Darstellung des Mädchens Marianne, auf deren späteres Fehlverhalten zunächst nur in Form von Anspielungen eingegangen wird:„Man sah ihr ebenso wenig wie einer Blume Zeichen von Herzlosigkeit an, von Verschulden oder Gewissenskälte,“(Ausflug, S. 12). Erst kurze Zeit später erfährt der Leser unvermittelt etwas über ihr „Verschulden“, worüber die Ich-Erzählerin selbst erschrickt:

„Mir kam jetzt alles unmöglich vor, was man mirüber die beiden erzählt hatte. Wenn Marianne so vorsichtig die Schaukel für Leni festhielt und ihr mit soviel Freundschaft und soviel Behutsamkeitdie Halme aus dem Haar zupfte und sogar ihren Arm um Lenis Hals schlang, dann konnte siesich unmöglich mit kalten Worten später schroff weigern, Leni einen Freundschaftsdienst zu tun. Sie konnte unmöglich die Antwortüber die Lippen bringen, sie kümmere sich nicht um ein Mädchen, das irgendwo einmal zufällig in ihre Klasse gegangen war,“(Ausflug, S. 12).

Über das „Verschulden“ Mariannes und wie es dazu kommen konnte, dass eine derart innige Freundschaft sich in Ablehnung verkehrt, davon wird im nächsten Kapitel noch ausführlich die Rede sein.

Die Gestaltung des Perspektivenwechsel soll in diesem Kapitel aber auch noch auf die Verwendung bestimmter Tempusformen hin, untersucht werden. Auffallend hinsichtlich dieses Kriteriums ist die relativ häufige Verwendung des Plusquamperfekts, wenn es Anna Seghers darum geht, zukünftiges Geschehen darzustellen, während sie über die Erzählergegenwart im Präteritum berichtet (vgl. Zimmermann:, S. 323).„Die Zeitstufen sind damit ihres temporalen Charakters völlig entkleidet,“(Zimmermann, S. 323). Werner Zimmermann verweist zur

Veranschaulichung u.a. auf folgende Textstelle:

„Siestandvergnügt und aufrecht da, bestimmt zu arbeitsreichem Familienleben, mit den gewöhnlichen Freuden und Lasten des Alltags, nicht zu einem grausamen Ende in einemabgelegenen Dorf, wohin sie von Hitlerverbannt worden war,“(Ausflug, S. 36). Es ist nicht sonderlich erstaunlich, dass Seghers sich des Präteritums bedient, um auf die Gegenwart zu verweisen, denn in der Epik wird gerade diese Zeitform gern verwendet,„nicht wie es um Vergangenes ginge, sondern weil es als Tempus der Erinnerung der Grundhaltung des Erzählens entspricht,“(Zimmermann, S. 323).

In krassem Gegensatz stehen Harmonie und Geborgensein der Erzählergegenwart und das erschreckende Bild der Zukunft eng beieinander, so dass sich Anna Seghers besonders drastischer grammatikalischer Mittel bedient, um diesen Kontrast zwischen Gegenwärtigem und Kommendem auf das schärfste darzustellen. Dieser Grundgedanke der Autorin macht auch die Verwendung des Plusquamperfekts, wenn es darum geht, die Zukunft offenzulegen, verständlich, denn offenbar geht es ihr darum,„das Unwiderrufliche der Faktizität, des tatsächlich Geschehenen bewusst[zu machen], das hier um so mehr dieser Bekräftigung bedarf, als die Gegenwart gemeinhin den Blick in die Zukunft versperrt,“(Brinkmann, S. 324).

Natürlich nutzt Anna Seghers auch andere Tempusformen, um auf zukünftige Geschehnisse zu verweisen. Das Futur beispielsweise wird verwendet, um von Mariannes Jugendfreund zu berichten, um den das Mädchen„auch, wenn ihr Feldpostbrief mit dem Stempel‚Gefallen’zurückkommt, wie eine Witwe trauernwird,“(Ausflug, S. 22). Auch Sätze im Konjunktiv I und II sind keine Seltenheit, wie zum Beispiel, wenn es um das vermeintliche Schicksal desselben Otto Fresenius geht: „...[SS- Sturmbannführer] wäreOtto Fresenius, selbst wenn er gesund aus dem Krieggekommen wäre,nie geworden...,“(Ausflug, S. 22). Darüber hinaus spielt auch die Verwendung des Präteritums von „sollen“ keine unwesentliche Rolle, denn im Text lassen sich zahlreiche Vorausdeutungen finden, die mittels dieser grammatikalischen Konstruktion angemerkt wurden. Ein Beispiel:„Dabeisolltensie doch bald genug bekommen an aufgeblähter Staatsmacht, an großspurigen Befehlen,“(Ausflug, S. 35). Dieses Beispiel entspricht auch der These Brinkmanns, der behauptet, dass „sollen“, wenn es im Präteritum steht,„den Gedanken an eine fremde,überpersönliche Instanz mitschwingenlässt,“(Brinkmann, S. 369).

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Darstellung„[der]unmittelbare[n], fast makabre[n]Verschmelzung von heiterem Beginn und grausamem Ende, von friedlicher Idylle und kriegerischer Zerstörung“(Zimmermann, S. 325) ein Hauptelement der Binnenerzählung ist, mit dem Zweck, dem Leser die Unfassbarkeit des Werdegangs der einzelnen Klassenkameradinnen (und Lehrerinnen) näher zu bringen und die Frage aufzuwerfen, wie es zu einer derartigen Entwicklung kommen konnte.

III. Zum menschlichen Gehalt der Erzählung

II.1. Die Schicksale der toten Mädchen als exemplarische Geschicke und die Frage nach Schuld und Moral

In ihrer Erzählung „Der Ausflug der toten Mädchen“ geht es Anna Seghers nicht um einen sentimentalen Ausflug in die Vergangenheit. Vielmehr versucht die Autorin eine mögliche Antwort auf die Frage zu finden, wie es dazu kommen konnte, dass die Mehrheit der deutschen Bevölkerung sich von der Ideologie Hitlers blenden ließ und damit ein menschenfeindliches Weltbild vertrat, dass die Moral ad absurdum führte:„Wie konnte dann später ein Betrug, ein Wahn in ihre Gedanken eindringen...“(Ausflug, S. 30).

Die Frage nach demwielässt sich jedoch nicht im Allgemeinen beantworten. Stattdessen richtet Anna Seghers ihren Blick im Rückerinnern auf einzelne Menschen, deren Umgebung und soziales Umfeld; ein Alltagsleben, das menschliche Leistung und menschliches Scheitern begreiflich macht (vgl. Haller-Nevermann).

„(...) Sie lässt uns in das Verhängnis individuellen Schicksals blicken und die Bruchstelle im Leben des Individuum erkennen. Ein allgemeines Verurteilen wird abgelehnt, und die Antwort muss in jedem einzelnen Fall anders lauten,“(Grossmann, S. 129).

Als Ausgangsszenario dieser Schicksalsanalysen wählt Anna Seghers die Zusammenkunft einer Schulkasse etwa fünfzehnjähriger Mädchen, die aufgrund von Zufall eine Gemeinschaft bilden und eine unbestimmte, breite Auswahl an Leben bieten: Was die Autorin literarisch in dieser Erzählung porträtiert, sind durchschnittliche Deutsche und ihr Verhalten im Dritten Reich. Anna Seghers zeigt die Mädchen in der Blüte ihrer Jugend und Unschuld, in der Freundschaft und Loyalität Lebensinhalte sind. Sie umreißt die Charakterzüge und - stärke jener Jugendlichen, verschweigt aber nicht ihr moralisches Bestehen oder Nichtbestehen als Erwachsene, in einer Zeit, in der Charaktertreue und Beständigkeit häufig in Schwäche und Verrat umschlagen. Durch diese Art des Erzählens wird dem Leser das moralische Dilemma im Nationalsozialismus nahegebracht und eindrücklich das Entsetzliche und die Kaltblütigkeit des Nazi-Regimes und seiner Anhänger, aber auch das qualvolle Leid und der grausame Tod seiner Gegner, geschildert. Hans Mayer bekundete zurecht, dass „(...) die Schicksale der toten Mädchen exemplarische Geschicke sind. Anna Seghers schrieb eine exemplarische Geschichte,“(Mayer, S. 125).

Das Verhältnis der Schülerinnen untereinander ist geprägt von Harmonie, Idylle und Verbundenheit: in diesem Ensemble junger Mädchen scheint es keine Gemeinheit, Niedertracht oder Verleumdung zu geben. Besonders intensiv ist dieser Eindruck, wenn die Protagonistin ihre Freundschaft mit zwei Mädchen, Marianne und Leni, beschreibt:„Marianne und Leni und ich, wir hatten alle drei unsere Arme ineinander verschränkt in einer Verbundenheit, die einfach zu der großen Verbundenheit alles Irdischen unter der Sonne gehört,“(Ausflug, S. 30). Allerdings wird diese harmonische Vision der Jugendzeit alsbald zerstört, denn Anna Seghers beschreibt vorausdeutend die späteren Spannungen zwischen den Schülerinnen, die drohen, ihr Traumbild zu zerstören. Es sind jene Spannungen, die die Freundschaft unter den Mädchen zerstörte und im weiteren Sinne, unzähligen Menschen Verderben und Tod brachten. Ohne auf politische oder gesellschaftliche Hintergründe einzugehen, die zum Aufstieg des Nationalsozialismus führten, stellt Anna Seghers nun die einfache, aber schmerzvolle Frage:„Marianne hatte noch immer den Kopf an Lenis Kopf angelehnt. Wie konnte dann später ein Betrug, ein Wahn in ihre Gedanken eindringen, dass sie und ihr Mann allein die Liebe zu diesem Land gepachtet hätten und deshalb mit gutem Recht das Mädchen, an das sie sich jetzt lehnte, verachteten und anzeigten,“(Ausflug, S. 30).

Es ist bekannt, dass Begriffe wie „Volk“, „Heimat“ und „Vaterland“ im Dritten Reich vielverwendet und missbraucht wurden, um die Menschen auf emotionaler Ebene für die Ideologie Hitlers zu begeistern: Ein Angehöriger des deutschen Volkes zu sein bedeutete, sein Land zu lieben und aus diesem Grunde Störfaktoren, die die Einheit der Arierrasse gefährdeten, auszumerzen. Da Leni sich aber entschieden gegen die Ideologie und die Praktiken des nationalsozialistischen Regimes wendet und sich aktiv an antifaschistischen Aktionen beteiligt, wird sie, die große Charakterstärke beweist, zur Gegnerin ihrer einstigen Freundin Marianne. Marianne und ihr Mann hingegen, werden zu Hitlers geblendeten Helfershelfern und damit zu Repräsentanten des Systems. Doch wie konnte Marianne, der man zu ihrer Jugendzeit „ebenso wenig wie einer Blume Zeichen von Herzlosigkeit an[sieht],von Verschulden oder Gewissenskälte“(Ausflug, S. 12), ihre Freundin, der sie vertraute und liebte, später denunzieren und damit in den sicheren Tod schicken?

Die schon angedeutete „Gewissenskälte“ und „Herzlosigkeit“ Mariannes sind Charakterzüge, die durch mehrere Faktoren herbeigeführt wurden. Das Mädchen ist zunächst jung und formbar und es hätte nur jemandem bedurft, der„dem zarten schönen Gesicht [...] Marianne[s] nach und nach einen Zug von Rechtlichkeit, von gemeinsam geachteter Menschenwürde eingeprägt [hätte], der sie dann verhindert hätte, ihre Schuldfreundin verleugnen,“(Ausflug, S. 21). Hier legt Anna Seghers offen, dass die sozialen Bindungen, insbesondere aber das Einwirken eines geliebten Menschen, die Charakterzüge prägen und positiv beeinflussen kann. Allerdings versperrte sich diese Möglichkeit für Marianne: ihr Verlobter Otto Fresenius, der dem Mädchen vermutlich zu einem moralisch gefestigten Wertesystem verholfen hätte, fiel im Ersten Weltkrieg. Stattdessen heiratet Marianne den nationalsozialistisch geprägten Gustav Liebig, dessen Weltbild in völligem Widerspruch zu den Idealen steht, die Otto Fresenius verkörperte. SS-Sturmbannführer„wäre Otto Fresenius, selbst wenn er gesund aus dem Krieg gekommen wäre, nie geworden, weder SS-Sturmbannführer noch Vertrauensmann der Gauleitung. Die Spur von Gerechtigkeit und Rechtlichkeit, die seinen Zügen schon jetzt im Knabengesicht unverkennbar innewohnte, machte ihn untauglich für eine solche Laufbahn und solchen Beruf,“(Ausflug, S. 22). Hier zeigt sich auch, dass nur ein gefestigter Charakter den Verführungen des Regimes widerstehen kann, um für seine moralischen Überzeugungen einzustehen, wozu Marianne nicht in der Lage ist. Sie übernimmt das Weltbild ihres Mannes und lässt sich von ihm von einer Freundschaft mit Leni abbringen und auch, weil der gesellschaftliche Druck zu groß ist, als dass Marianne standhaft bliebe:

„Ehe sie, Leni und ihr Mann, von der Gestapo verhaftet sein würden, sollte Marianne von ihrem neuen Mann Liebig [...] so viel verächtliche Worteüber den Mann ihrer Schulfreundin hören, dass ihr selbst bald die Freundschaft mit einem für so verächtlich gehaltenen Mädchen entglitt,“ (Ausflug, S. 23).

Der Verrat an Leni geht jedoch noch tiefer, denn nicht nur, dass Marianne durch ihre Anzeige die ehemalige Freundin zum Tode verurteilt, sondern sie„wollte sich später auchüberhaupt nicht mehr an sie erinnern, als man um ihre Hilfe bat“(Ausflug, S. 20) bei dem Verstecken der Tochter Lenis vor dem Zugriff der nationalsozialistischen Handlanger. Schließlich kommt die Kleine in ein Erziehungsheim und so verschuldet die eine Freundin den Verlust des Kindes der anderen. Der Verrat der Freundschaft und Mariannes „Verschulden“ zieht sich leitmotivisch durch die gesamte Erzählung und verdeutlicht exemplarisch wie der Glaube an falsche Ideale, dem vor allem charakterlich labile Menschen folgen, in den moralischen Verfall stürzt.

Anhand einer anderen Figur der Erzählung, Nora, zeigt Anna Seghers das Phänomen des offen ausgeübten Antisemitismus. Antisemitismus veranlasst Nora tatsächlich nicht nur dazu, die Erinnerungen an ihre einstige, jüdische Lehrerin Fräulein Sichel scheinbar gänzlich zu verdrängen; sie werden im Erwachsenenalter ersetzt durch Hass und völlige Missachtung der menschlichen Würde:„Im ersten Weltkrieg würde sie [Nora] sich noch immer freuen, dass sie in einer Abteilung des Frauendienstes, die gleiche

Dienstzeit wie Fräulein Sichel hatte. Doch später sollte sie dieselbe Lehrerin, die dann greisenhaftzittrig geworden war, mit groben Worten von einer Bank am Rhein herunterjagen, weil sie auf einer judenfreien Bank sitzen wollte,“(Ausflug, S. 16 ).

Wie bei Marianne liefert Anna Seghers auch hier keine sozi-politischen und psychologischen Motive, die hinter der völligen Bewusstseinsänderung Noras stehen. Durch das Nebeneinanderstellen der Vergangenheit und Zukunft, bringt sie stattdessen die Frage nach demWie ist das möglich? in die extremste Form. Nicht nur, dass Nora und ihre Freundinnen passiv der Ächtung und Verfolgung der Juden in Deutschland zusehen, sie werden auch zu aktiven Teilnehmern an der Demagogie:

„Alleübrigen Mädchen an unserem Tisch freuten sich mit Noraüber die Nähe der jungenLehrerin, ohne zu ahnen, dass sie später das Fräulein Sichel bespucken und als Judensau verhöhnen würden,“(Ausflug, S. 16 )

Es würde einer Fehleinschätzung der tatsächlichen Sachlage gleichkommen, zu behaupten, dass die Macht des nationalsozialistischen Regimes ausschließlich auf offenem Terror und aufwieglerischer Propaganda begründet war. Vielmehr war es das „freiwillige“ Mitlaufen unzähliger Menschen, welches das System vor allem trug. Für die Macht der indirekten Unterdrückung und des Zwangs gibt Anna Seghers in der Geschichte das Beispiel des Lehrers Neeb, der „nachdem er endlich mit dem Mädchen verheiratet war, das er wegen ihrer Gesinnung gewählt hatte, achtete er bald ein Zusammenleben in Frieden und Wohlstand höher als die gemeinsame Gesinnung. Deshalb hing er auch die Hakenkreuzfahne aus seinem Wohnzimmerfenster, denn das Gesetz bedrohte ihn im Unterlassungsfall, seine Stellung und dadurch das Brot für seine Familie zu verlieren,“(Ausflug, S. 24).

Neeb kapituliert mangels moralischer Courage und folgt gewollt oder ungewollt dem bekannten Prinzip „Des Brot ich ess’, des Lied ich sing“.

Reinhard Kühnl geht in seiner Diskussion um die Beeinflussung und Mobilisierung der Massen im Nationalsozialismus auf eine Vielzahl von Faktoren ein, die dazu führten, dass die Vorherrschaft des NS-Regimes gesichert war und die Mehrheit der Menschen hinter Hitler stand. Neben Terror, Propaganda, anfänglicher militärischer Erfolge und der Beteiligung an Greueltaten, nennt er auch folgende:

„Die vielfältigen Möglichkeiten zur Bestätigung des Selbstwertgefühls, die das System für seine Anhänger bereitstellte: die Chance, in einer der vielen Massenorganisationen an einer von der Propaganda als großund ehrenvoll dargestellte Aufgaben aktiv mitzuwirken; die Chance, in einer dieser Massenorganisationen eine mit Befehlsgewaltüber andere, mit Titel und womöglich mit Uniform ausgestattete Position zu erhalten; die Chance, sich zu einer zur Herrschaft berufenen Nation zu zählen und diesesÜberlegenheitsgefühl gegenüber kommunistischen, jüdischen, polnischen und russischen„Untermenschen“auch zu praktizieren usw.“(Kühnl, S. 177 ). Viele dieser Faktoren greift auch Anna Seghers im „Ausflug der toten Mädchen“ auf. Nora beispielsweise erfüllt als verantwortliche „Leiterin der Nationalsozialistischen Frauenschaft“ ihren Aufgaben, genauso wie sie als junges Mädchen Kaffee und Zucker beim Ausflug verteilt. Auch Ida findet eine passende Stellung als „Funktionärin bei den nationalsozialistischen Krankenschwestern“. An der Ostfront lebt sie ihre Rachegefühle und ihre Bitterkeit aus und wird damit zum Werkzeug der NS-Ideologie:„Sie prägte den jüngeren Pflegerinnen die staatlichen Anweisungen ein, die zur Vermeidung von Gesprächen und falschen Mitleidsdiensten bei der Pflege Kriegsgefangener mahnten,“(Ausflug, S. 18). Mariannes Mann ist„stolz auf Rang und Ordnung“und wird zum SS-Sturmbannführer ernannt. Als er bemerkt,„dass Lenis Mann den von ihm für so ehrenvoll gehaltenen Eintritt verschmähte, machte er die Behörden der kleinen Stadt auf den nachlässigen Untertan aufmerksam,“(Ausflug, S. 23). Mariannes Gatte begeht selbst keinen Terror; es genügt, wenn er ein Vorkommnis, das er für „vaterlandsschädigend“ hält, bei einer höheren Instanz anzeigt.

Die staatliche Ideologie und persönlicher Groll vereinigen sich in Lores Schicksal gegen sie: ein eifersüchtiger Geliebter nennt ihren lockeren Umgang mit Männern, „Rassenschande“ und zeigt sie an, womit er ihren Tod bestimmt, denn Lore begeht aus Angst vor den Nazis Selbstmord. Hier spricht Anna Seghers einen Gesichtspunkt des Lebens unter der nationalsozialistischen Herrschaft an, der das System als autoritäres Gefüge entlarvt, dessen Terror auf Denunziation gegründet ist. Der faschistische Staat verließ sich auf die Mithilfe des Durchschnittsdeutschen, dessen Handlungen und Aussagen scheinbar harmlos waren, jedoch schreckliche Konsequenzen nach sich ziehen konnten. Aussagekräftige Beispiele dafür, gibt es in der Erzählung genug. Neben den bereits genannten, hat Anna Seghers auch die Figur des Walter eingefügt, den sie so beschreibt:„Jetzt waren die zu seinem Kummer noch kurzen Höschen zu strammüber seinem Hintern, später würde er, ein zwar schonältlicher, aber nochäußerst ansehnlicher SS-Mann, als Transportleiter Lenis verhafteten Mann für immer fortbringen,“(Ausflug, S. 26). Damit impliziert die Autorin, dass die Eitelkeit eines Menschen und der Wunsch, eine Uniform zu tragen, dazu führte, dass ein anderer und wahrscheinlich viele mehr, gewaltsam den Tod fanden.

Mit einer gewissen Ironie beschreibt die Autorin auch exemplarisch das Schicksal des Schreiners Ebi, der für seine Familie und sein Geschäft lebt. Seine politische Neutralität und die Akzeptanz des Krieges als unabwendbare Naturkatastrophe werden ihm zum Verhängnis:„Seine Meinung zuändern fand er auch wohl keine Zeit, als bei dem englischen Fliegerangriff auf Mainz seine Kinder und seine Gesellen das Leben verließen, mit seinem Haus und seiner Werkstatt in Staub und Fetzen verwandelt,“(Ausflug, S. 25). Doch Anna Seghers beleuchtet nicht nur moralisch negativ einzustufende Persönlichkeiten, sondern sie geht in der Erzählung auch auf antifaschistischen Widerstand ein und auf Menschen, die genug Charakterstärke besitzen, um in ihren Überzeugungen nicht zu schwanken und daran festhalten, auch wenn es ihr Leben kostet. Die erste Äußerung bezüglich antifaschistischen Widerstandes bezieht sich auf die Autorin selbst und ihre Erfahrungen als deutsche Antifaschistin im mexikanischen Exil:

„Ich hatte gelernt, auf alle die guten und bösen Namen zu hören, mit denen mich Freunde undFeinde zu rufen pflegten, die Namen, die man mir in vielen Jahren in Strassen, Versammlungen,Festen, nächtlichen Zimmern, Polizeiverhören, Büchertiteln, Zeitungsberichten, Protokollen undPässen beigelegt hatte,“(Ausflug, S. 10).

In diesem einen Satz verarbeitet Anna Seghers ihre langjährige Arbeit als aktive Gegnerin des Faschismus, die von der Teilnahme an organisierten Demonstrationen und Kundgebungen, bis hin zum Schreiben antifaschistisch-geprägter Bücher reicht. In ihrer kurzen Umschreibung ist die Flucht aus Deutschland enthalten, die unter der ständigen Bedrohung von Haft und Deportation stand und schließlich in Mexiko endete. Aber sie war nicht allein: unzählige andere antifaschistische Exilanten in Mexiko oder anderen Ländern der Welt, die sich gegen die nationalsozialistische Ideologie richteten und gegen die menschenunwürdigen Lebensbedingungen im faschistischen Staat aufbegehrten, in Wort oder Tat.

Einer der Exilanten, der in der Erzählung auftaucht, ist Herbert Becker. Er ist keine heldenhafte Erscheinung, aber sein antifaschistischer Kampf begann frühzeitig und die Erzählerin trifft ihn in Mexiko wieder:„Ich sah ihn noch oft durch unsere Stadt jagen, grinsend und Grimassen schneidend. Er hatte noch immer das gleiche bebrillte, pfiffige Bubengesicht, als ich ihn vor wenigen Jahren in Frankreich wiedertraf, da er gerade aus dem spanischen Bürgerkrieg kam,“(Ausflug, S. 27f.). Hier gedenkt die Autorin jener, die mutig in Spanien kämpften und erreicht durch die Schilderung des Herbert Becker, den man mit seinem jugendlichen Elan jederzeit irgendwo wiederzutreffen erwartet, den Eindruck, dass der Antifaschismus nicht untergeht und der Kampf solange dauert, bis der Faschismus besiegt ist.

Die Protagonistin erinnert sich jedoch auch anderer Freunde, die in Deutschland blieben und sich dort für politische und persönliche Freiheit einsetzten, obwohl sie Übergriffe und Verhaftungen durch die Gestapo fürchten mussten. Eine Falte auf Lenis Stirn bewirkt, dass sich die Erzählerin erinnert:„Ich kannte die Falte in ihrer Stirn, in ihrem sonst spiegelglatten und runden Apfelgesicht, von allen Gelegenheiten, von schwierigen Ballspielen und Wettschwimmen und Klassenaufsätzen und beim Flugblätterverteilen,“(Aufsatz, S. 11). Die Konzentration und die unumstößliche Entschlossenheit, die symbolisiert werden durch Lenis Stirnfalte, tauchen zunächst nur bei schwierigen Schulaufgaben auf, doch im späteren Leben als Erwachsene, wenn sie verbotene Flugblätter druckt und verteilt, wird die Falte zum ständigen Merkmal Lenis. Dies ist nur ein äußeres Zeichen dafür, wie entschlossen sie ist, für ihre Ideale und Überzeugungen einzutreten, wofür sie sich schließlich in einem Konzentrationslager langsam zu Tode hungern muss. Aber nichtsdestotrotz bleibt Lenis Stirnfalte ein Symbol für Charakterfestigkeit, etwas dass seit ihrer Kindheit ihr Leben begleitet und was ihr die Nazis nicht nehmen konnten. Das macht der Erzählerin Hoffnung, in dem Kampf gegen den Faschismus zu bestehen. Sie muss sich nur diesen Ausdruck der Entschlossenheit ins Gedächtnis rufen, um sich der jugendlichen Unschuld und politischen Integrität der Freundin zu erinnern:„Ich wunderte mich, wieso ich ihren Kopf, der durch das breite Band um den Mozartzopf beschattet war, bisweilen vergessen konnte, wo ich doch sicher war, dass sie selbst im Tod ihr Apfelgesicht mit der eingekerbten Stirn behalten hatte,“ (Ausflug, S. 11).

Indem Anna Seghers das Schicksal Lenis und ihres Mannes beschreibt, richtet sie eine Hommage an diejenigen, die unter qualvollem Leid ihr Leben lassen mussten, weil sie für ihre antifaschistische Weltsicht eintraten und von den Nazis zu Tode gefoltert wurden; ein Gedenken an die Opfer der faschistischen Konzentrationslager. Lenis „Apfelgesicht mit der eingekerbten Stirn“ wird zum poetischen Symbol für politischen Widerstand gegen das faschistische Deutschland.

Im „Ausflug der toten Mädchen“ erinnert Anna Seghers aber nicht nur an politisch- antifaschistischen Widerstand, sondern schildert auch den religiösen Protest, verdeutlicht durch die Figuren des Fräulein Mees und Liese Möbius. Fräulein Mees’ religiöse Überzeugung stellt keine politische Bedrohung für ein faschistisches System dar, aber weil der Nationalsozialismus alle Bereiche des täglichen Lebens erfasst und völlige Hingabe jedes Einzelnen verlangt, bildet das Kreuz, das Fräulein Mees um ihren Hals trägt, einen Störfaktor, ein Indiz für ihre Ablehnung des Systems. Auf diese Weise wird selbst diese Geste zum Widerstand, denn es erfordert viel Mut, trotz gesellschaftlicher Sanktionen an seinem Glauben festzuhalten. Fräulein Mees’

Kreuz wird somit zum „Wahrzeichen“ für Glaubensfestigkeit, die nicht ins Wanken gerät und deswegen verdient die Lehrerin Respekt„vor ihrer immer gleichgebliebenen Haltung, der auch die Vorladung vor das von Hitler in Szene gesetzte Volksgericht mit Androhung von Gefängnis nichts anhaben konnte,“(Ausflug, S. 28). Genauso wie die Lehrerin hält auch Liese Möbius unter dem Druck des nationalsozialistischen Regimes an ihren religiösen Überzeugungen fest und„auch die Versetzung in eine geringe Schule für Schwachbegabte, was unter Hitler für Geringschätzung galt, störte sie gar nicht, weil sie durch ihren Glauben an Verfolgung aller Art gewöhnt war,“(Ausflug, S. 34).

„Der Ausflug der toten Mädchen“ ist ein Zuspruch für jene, deren persönlicher Mut und politische oder religiöse Aufbietung ermöglichte, dass sie gestärkt waren gegen den Faschismus. Anna Seghers’ Erzählung ist als ein literarisches Monument anzusehen, für zahlreiche beispielhafte Menschen, die sich der Gewalt nicht beugten. An deren Integrität und die Opfer, die sie dafür brachten, erinnert Anna Seghers in der Erzählung und sorgt dafür, dass sie nicht vergessen werden. Dies zeigt die Autorin unter anderem auch an dem Schicksal des Mädchens Gerda, deren Pädagogenlaufbahn sich schon zu Jugendzeiten abzeichnet und die dann in der Weimarer Republik zur Schulreformerin wird. Ihr Schicksal bildet ein Pendant zu dem ihres Gatten, des Lehrers Neeb. Während er sich aus Angst vor dem Verlust seines gesellschaftlichen Status und persönlicher Annehmlichkeiten dem System beugt, begeht Gerda aus tiefer Verzweiflung über diese Entwicklung Selbstmord. Doch ihre Existenz hinterlässt Spuren im Leben vieler Menschen, denen sie geholfen oder die sie beeinflusst hat:„Wenn auch ihr Leben zuletzt unbeachtet und sinnlos endete, so war darin nichts verloren, nicht die bescheidenste ihrer Hilfeleistungen. Ihr Leben selbst war leichter vertilgbar als die Spuren ihres Lebens, die im Gedächtnis von vielen sind, denen sie einmal zufällig geholfen hat,“(Ausflug, S. 19).

Neben dem Erinnern an die dargebrachten Opfer jener märtyrerhaften Menschen im Nationalsozialismus, die ihre antifaschistische Haltung mit dem Leben bezahlen müssen, geht es Anna Seghers aber vor allem auch um die Anprangerung der Umstände, die ein solches Märtyrertum überhaupt erforderlich machen. Die zentrale Bedeutung der Erzählung„besteht [folglich] darin aufzuzeigen, dass dieses Land durch eine totalitäre Führung seiner Humanität beraubt ist, dass menschenwürdiges Leben in dieser historischen Konstellation nicht möglich ist,“(Haller-Nevermann, S. 94). Nicht zuletzt deswegen, enden die Schicksale aller Mädchen tragisch, bis auf das der Erzählerin, in einem gewaltvollen Tod, was im folgenden Kapitel erörtert werden wird.

III.2. Der Tod als zentrales Thema der Erzählung

Das Phänomen des Todes taucht leitmotivisch in der gesamten Erzählung auf und schon mit dem gewählten Titel des Werkes, „Der Ausflug der toten Mädchen“, stellt Anna Seghers die Weichen für den zu erwartenden Inhalt. Nicht nur, dass - abgesehen von der Protagonistin - letztlich alle Mädchen den Tod erfahren, sondern auch dass die Ursache für ihren Untergang in den gegebenen Lebensumständen zu suchen ist, bildet die Kernaussage der Erzählung:„All diese Frauen sterben im Grunde am Dritten Reich,“(Mayer, S. 123).

Hierin liegt also die Gemeinsamkeit, die das Ende der vierzehn Mädchen wie ein Rahmen umschließt und zusammenführt. Ihr Schicksal, dem sie nicht entrinnen können, ist durch eine nahezu unfassbare, historische Konstellation besiegelt, was die Autorin mannigfaltig beleuchtet. Anna Seghers lässt es auch nicht aus, auf die Sinnlosigkeit des Todes jedes einzelnen beschriebenen Mädchens hinzuweisen und damit stellvertretend auf die Vielzahl der Menschenopfer zu deuten, die der Nationalsozialismus forderte.

Insbesondere setzt sich Anna Seghers in der Erzählung mit der Verfolgung und Deportation der Juden im Dritten Reich auseinander. Wie schon im vorigen Kapitel besprochen, thematisiert die Autorin das Problem des aktiven Antisemitismus in Deutschland und verschweigt nicht die Folgen dieses Doktrins. Am Beispiel der jüdischen Lehrerin Fräulein Sichel und deren ehemaliger Schülerin Sophie Meier, stellt Anna Seghers die Diskriminierung der jüdischen Menschen, die schließlich zu deren Tode führt, dar. Um die Unmöglichkeit des Lebens unter der menschenverachtenden Diktatur des Nationalsozialismus aufzuzeigen, macht Anna Seghers auch deutlich, dass Jugend unmittelbar in Alter eingeschmolzen wird (vgl. Haller-Nevermann, S. 93). Sophie Meier, deren Haar gerade noch„so schwarz wie Ebenholz, wie das Haar Schneewittchens“(Ausflug, S. 28) war, sitzt später neben der Jahrzehnte älteren Lehrerin,„als sie zusammen im vollgepferchten plombierten Waggon von den Nazis nach Polen deportiert wurden. Sophie war völlig verhutzelt und veraltert, als sie in den Armen von Fräulein Sichel wie eine gleichaltrige Schwesterüberraschend abstarb“(Ausflug, S. 28).

Der grausame Tod im Konzentrationslager ist die letzte Konsequenz der rassistischen, antijüdischen Politik des NS-Regimes, was Anna Seghers, wenn ihr die Flucht ins Exil nicht gelungen wäre, am eigenen Leibe hätte erfahren müssen. Sie selbst wurde glücklicherweise verschont, doch der nationalsozialistische Terror machte auch vor ihrer Familie nicht halt, denn während ihres Aufenthalts in Mexiko wurde ihre Mutter von den Nazis deportiert und ermordet. Dies spiegelt sich auch in der Erzählung „Der Ausflug der toten Mädchen“ wider, wo der Tod der Mutter der Protagonistin zu einem tragenden Moment der Handlung wird. Doch hierzu mehr im Kapitel „Autobiographische Bezüge“. Vorerst sei nur in den Raum gestellt, dass das „jüdische Schicksal unter dem Hakenkreuz“ (Haller-Nevermann) ein Thema ist, vom dem die Autorin selbst betroffen war und dass sie es vor allem deswegen explizit im „Ausflug der toten Mädchen“ aufgreift.

Eine andere Opfergruppe der Nazis, mit der sich Anna Seghers in der Erzählung auseinandersetzt, betrifft die antifaschistischen Akteure in Deutschland nach 1933. Hier beleuchtet die Autorin vor allem das Schicksal des Mädchens Leni, die als Erwachsene antifaschistische Flugblätter verteilt und deswegen von der Gestapo verhaftet wird und jämmerlich im Konzentrationslager verhungert. Im engeren Sinne, lässt sich Lotte nicht als Antifaschistin bezeichnen, aber auch sie stirbt durch die Verfolgung der Nationalsozialisten: Sie flieht als Klosterschwester nach Holland, wird dorthin von den Nazis verfolgt und höchstwahrscheinlich von ihnen ermordet. Doch im Mittelpunkt der Erzählung steht nicht nur der, durch direkten nationalsozialistischen Terror herbeigeführte Tod, sondern auch das Auslöschen der Existenz durch weniger greifbare Faktoren. Der Selbstmord Lores beispielsweise, ist auf dem willkürlichen Racheverhalten eines national-sozialistischen Liebhabers gegründet. Im Falle Gerdas ist der Suizid eine Reaktion auf die Charakterschwäche ihres eigenen Mannes, die sie nicht bereit ist, zu teilen.

„In dreimaliger Wiederholung wird der Freitod Gerdas dargestellt. Nicht nur in der formalen Ebene der Wiederholung, sondern auch inhaltlich wird gerade an dieser Figur, an ihrem Tod, die Botschaft des Textes ersichtlich. Der Mut zur Menschlichkeit in einer unmenschlichen Zeit bleibt ohne Ergebnis; Humanität in diesem Land ist erstickt, sie hat keine Chance,“(Haller- Nevermann, S. 98).

Die Chance zu Überleben hatten aber auch alle übrigen Mädchen der ehemaligen Schulkasse nicht, denn sie allen wurden zu Opfern des Krieges, den Hitler führte, um die Weltherrschaft an sich zu reißen. Ironischerweise war beinahe jede der inzwischen erwachsenen Schülerinnen, die infolge des Krieges umkamen, eine Befürworterin desselben:

Marianne stirbt durch einen Bombenangriff, genauso wie Ida, die durch eine Bombe getötet wird,„die Freunde und Feinde zerknallte und natürlich auch ihren Lockenkopf,“ (Ausflug, S. 18). Else wird bei einem„englischen Fliegerangriff auf Mainz“(Ausflug, S. 25) hingerafft, genauso wie ihre Familie und mehrere Schreinergesellen der Werkstatt ihres Mannes. Bei demselben Fliegerangriff werden auch Liese Möbius, Marie Braun und Katharina, zusammen mit ihrer Schwester Toni, grausam durch eine Bombe getötet.

Als ein Resümee ließe sich ziehen, dass„von den vierzehn Schulmädchen eines explizit als Jüdin ermordet [wird], eines als Antifaschistin; der weitaus größte Teil stirbt als Kriegsopfer, das heißt durch Bomben oder als Opfer eines Weltbildes, das sich mehr oder weniger stringent gegen den NS-Staat richtet, als Ordensschwester, als aufrechte Demokratin und als Figur, die sich nicht systemkonform verhält. Eine Lehrerin wird explizit als Jüdin ermordet,“(Haller-Nevermann, S. 99).

Die eingangs erwähnte Sinnlosigkeit all dieser Tode kommt noch mehr zu Bewusstsein, wenn man bedenkt, dass jene Frauen sterben mussten, weil eine Ideologie höher erachtet wurde, als die menschliche Existenz. In einem Staat, dessen Prinzipien auf Inhumanität und Missachtung der Ethik gegründet sind, wird das Leben an sich in Frage gestellt. Anna Seghers unternimmt in der Erzählung den Versuch, dies aufzuzeigen, indem sie ein solches System der Erniedrigung und Einschüchterung darstellt, mit dem Resultat, dass nicht nur die Verfolgten dieses Systems, sondern auch seine Anhänger, den Tod finden.

IV. Autobiographische Bezüge - Anna Seghers hinter

dem „Ausflug der toten Mädchen“ „Schreiben wider das Vergessen“, diese Botschaft gilt nicht nur den Lesern der Erzählung, als eine Erinnerung daran, sich geschichtliches Bewusstsein zu bewahren. Diese Losung sieht Anna Seghers auch als eine individuelle Aufgabe, um sich ihrer eigenen Erlebnisse in der Vergangenheit zu erinnern. Daher verarbeitet sie ganz bewusst autobiographische Elemente in der Erzählung.„Stets[hat man]den Eindruck, dass Anna Seghers die Menschen kannte, von denen sie erzählt; dass Fetzen ihres eigenen Lebens bei der epischen Einkleidung verwendet wurden[Nirgends sonst wird]ausdrücklich, unverkennbar von Anna Seghers eine Geschichte aus dem Leben der Anna Seghers erzählt,“ (Mayer, S. 119 f. ).

1943, in dem Jahr, in dem Anna Seghers die Erzählung „Der Ausflug der toten Mädchen“ schrieb, ist die Autorin, die in vielen ihrer Werke den Tod thematisiert, selbst mit ihm in Berührung gekommen. Während ihres Exils in Mexiko hatte Anna Seghers nämlich einen Unfall, über den Bodo Uhse in einem Brief berichtet (vgl. Batt, S. 179):„Ein vorbeirausxhendes Auto hatte Dich umgerissen, als Du die Straßeüberqueren wolltest, und nie ist geklärt worden, ob leichtfertiges Ungeschick oder wohlüberlegte mörderische Absicht dabei das Steuer geführt hat. Nicht Tage, Wochen schwanktest Du zwischen Leben und Tod,“(Batt, S. 179). Monatelang lag Anna Seghers nach diesem tragischen Unfall im Krankenhaus, wo sie sich langsam von den Folgen des Unglücks - einer zertrümmerten Schädeldecke - erholte. Aus der Kopfverletzung resultierte ein vorübergehender Gedächtnisverlust und nur langsam war es der Autorin möglich, ihre Erinnerungen, vor allem auch aus der Kindheit, wiederzuerlangen (vgl. Batt, S. 179). Hierin könnte man die Gründe finden, die Anna Seghers dazu veranlassten, eine autobiographisch angehauchte Erzählung zu verfassen: Vielleicht war es ihr durch das Schreiben möglich, verlorengegangene Erinnerungen zu beleben. Allerdings gehen ihre Ausführungen kaum ins Persönliche, sondern die epische Ich- Figur bleibt immer vor dem Geschehen stehen und ist zugegen als Zuhörerin und Erzählerin (vgl. Mayer, S. 121):„Anna Seghers gibt eigene Lebenstatsachen preis, Jugendzeit und Exilzeit, aber nach wie vor in der Form epischer Gestaltung, der schönen Literatur, nicht der autobiographischen Aussage,“Mayer, S. 121).

So sind die autobiographischen Elemente fetzenartig in die Erzählung eingestreut. Ihre Kindheit beispielsweise, verlebte die Autorin in Mainz, wo sie am 19.11.1900 geboren wurde. Auch der Ort der Kindheit ist in der Erzählung Mainz bzw. die

Mainzer Umgebung, noch jenseits der Zerstörungen durch den zweiten Weltkrieg. Hierfür lassen sich zahlreiche Belege im Text finden:„Ein Dampfer tutete vom Rheinher“(Ausflug, S. 19),„wir fuhren unter der Rheinbrücke durch“(Ausflug, S. 20),„ich trottetmit ein paar Schülerinnen Richtung Christhofstraße[...], dann verstand ich klar, dieChristhofskirche konnte unmöglich bei einem nächtlichen Fliegerangriff zerstört worden sein, dennwir hörten ihr Abendläuten,“(Ausflug, S. 32).

Auch ihren richtigen Mädchennamen gibt Anna Seghers in der Erzählung preis, denn ursprünglich wurde sie als Netty Reiling, einzige Tochter des jüdischen Kunst- und Antiquitätenhändlers Isidor Reiling, geboren:„’Netty!’Mit diesem Namen hatte mich seit meiner Schulzeit niemand mehr gerufen,“(Ausflug, S. 9 f.). Außerdem besuchte die große Schriftstellerin dereinst eine jüdische Privatschule in Mainz, die „Höhere Mädchenschule“ (vgl. Haller-Nevermann, S.91): „’In der Lehranstalt für höhere Töchter herrschte religiöse Toleranz, alle Konfessionen wurden geachtet,’“ (Haller- Nevermann, S. 91).

Allerdings schränkt Hans Mayer hier ein, dass„man der völligen Identität zwischen der Erzählerin und der‚wirklichen’Anna Seghers nicht allzu sehr vertrauen[sollte]“(Mayer, S. 121), denn seines Erachtens befinden sich die geschilderten Mädchen bereits in der Adoleszenz, an ihrem Verhalten bezüglich erster aufkommender Liebesbeziehungen gemessen, müssten demnach also etwa 15 Jahre alt sein. Da der beschriebene Ausflug aber noch etwa zwei bis drei Jahre vor dem ersten Weltkrieg stattfindet und Anna Seghers zu diesem Zeitpunkt erst zwölf Jahre alt war, entspricht das Geschriebene nicht den Tatsachen, sondern basiert auf literarischen Erfindungen (vgl. Mayer , S. 121).

Die Literaturwissenschaftlerin Marie Haller-Nevermann allerdings, hat Nachforschungen über tatsächlich existierende Personen angestellt, die auch in der Erzählung auftauchen und ist dabei zu folgenden Ergebnissen gekommen:

„- In der mit großer Achtung gezeichneten Figur von‚Fräulein Mees’lässt sich die Englischlehrerin Dr. Magdalena Herrmann erkennen [...].

-Die Lehrerin Johanna Sichel (sie unterrichtete an der oben genannten Schule Deutsch, Französisch, Englisch und israelitische Religion) wurde zusammen mit Hedwig Reiling imMärz 1942 deportiert [...].

-Auch das Schicksal der Schulfreundin Gerda, die sich 1933 das Leben nahm, gibt Seghers selbst als verbürgt aus.“(Haller-Nevermann, S. 92)

Doch nicht nur Fakten aus der Kindheit Anna Seghers’ finden sich in der Erzählung wieder, sondern auch Ereignisse und Gegebenheiten ihres Exildaseins in Mexiko finden im „Ausflug der toten Mädchen“ Beachtung. Die Beschreibung der mexikanischen Landschaft beispielsweise und das Heimatlosigkeitsgefühl der IchErzählerin, sind Indizien für selbsterlebte Empfindungen und Beobachtungen der Autorin. Hier nur ein paar Beispiele, worin das Exilland Mexiko wie eine trostlose Phantasielandschaft dargestellt wird:

„Das Dorf war festungsartig von Kakteen umgeben wie von Palisaden. Ich konnte durch eine Ritze in die graubraunen Bergabfälle hineinsehen, die kahl und wild wie ein Mondgebirge, durch ihren bloßen Anblick jeden Verdacht abwiesen, je etwas mit Leben zu tun gehabt zu haben. [...] Um Rettung genannt zu werden, dafür war die Zuflucht in diesem Land zu fragwürdig und zu ungewiß,“(Ausflug, S. 7).

Auch ein Verweis auf die folgenschwere Kopfverletzung, die sie bei dem oben erwähnten Unfall in Mexiko davongetragen hatte, ist im „Ausflug der toten Mädchen“ zu finden. Wenn die Ich-Erzählerin nämlich in die Kindheit zurücktaucht, ist sie erstaunt darüber,„daßich[sie]die zwei dicken Zöpfe anpacken konnte: Man hatte sie also doch nicht im Krankenhaus abgeschnitten,“(Ausflug, S. 10).

Zu dem entsetzlichen Erlebnis des Unfalls kommt auch noch eine ebenso traumatische Erfahrung hinzu: kurz bevor Anna Seghers angefahren wurde, erhielt sie die Nachricht vom Tod ihrer Mutter, die im März 1942 von den Nazis deportiert wurde und schließlich im Lager umkam (vgl. Batt S. 180). Dass die Autorin diese schreckliche Kenntnis vom Tod der Mutter in ihrer wohl autobiographischsten Erzählung verarbeitet, liegt auf der Hand. Marie Haller-Nevermann geht sogar soweit, zu behaupten, dass diese Kenntnis der Hauptgrund für das Schreiben der Geschichte ist. In jedem Falle aber, ist der Tod der Mutter ein zentrales Element der Erzählung und schließt sich rahmenartig um die Binnengeschichte. Die Trauer, welche die Autorin empfunden haben muss, macht sich gleich zu Beginn des Geschriebenen bemerkbar „als ‚der schwere Druck von Trübsinn, der auf jedem Atemzug gelegen hatte’,als ‚Schwermut aus dem Blut selbst, wie ein bestimmtes Korn aus einer bestimmten Luft und Erde,’“(Haller-Nevermann, S. 89). Anna Seghers gibt hier den Verweis auf ihre Herkunft und knüpft somit die Verbindung zu ihrer Mutter.

Am Ende der Binnengeschichte„unternimmt Anna Seghers einen letzten, zum Scheitern verurteilten Versuch der Imagination einer Wiederbelebung mit der Mutter,“(Haller- Nevermann, S. 91), was der Ich-Erzählerin schließlich unter großen Bemühungen auch gelingt:

„Ich stutzte vor dem ersten Treppenabsatz. [...] Der graue Nebel von Müdigkeit hüllte alles ein.

[...] Ich zwang mich zu meiner Mutter hinauf, die Treppe, vor Dunst unübersehbar, erschien mir unerreichbar hoch, unbezwingbar steil, als steige sie eine Bergwand hinauf,“(Ausflug, S. 37). Das Erklimmen des Treppenabsatzes wird für die Erzählerin zum ünüberwindbaren Hindernis, dass zwischen ihr und ihrer Mutter steht:„Doch mir versagten die Beine. Ich hatte nur als kleines Kind eineähnliche Bangnis gespürt, ein Verhängnis könnte mich am Wiedersehen hindern,“(Ausflug, S. 37). Dieses befürchtete „Verhängnis“ wird im folgenden zur furchtbaren Wahrheit:„das Treppenhaus weitete sichüberall in einer unüberzwingbaren Tiefe wie ein Abgrund. [...] Wie schade, ich hätte mich gar zu gern von der Mutter umarmen lassen,“(Ausflug, S. 37). Damit kehrt die Erzählerin in die Realität des mexikanischen Exils zurück und die Vision von der Mutter erlischt..

„Seghers ist bis an dieäußere Grenze des Vorstellbaren gegangen - und hier reißt die Vision ab.Im Alptraum realisiert sie die Gültigkeit des Todes. Der literarische Abschied scheint nunmehrvollzogen,“(Haller-Nevermann, S. 91).

Wie viel von der Person Anna Seghers nun wahrhaftig in der Erzählung reflektiert wird, bleibt allerdings offen. Natürlich könnte man die Interpretation des „Ausflugs der toten Mädchen“ auf rein autobiographischer Ebene anlegen, doch dabei gingen zahlreiche wichtige Inhalte verloren. Denn:„Die Erzählung ist[zwar]als Requiem angelegt: für die toten Mädchen, die eigene Jugendzeit, nicht zuletzt für die Eltern der Erzählerin Anna Seghers,“(Mayer, S. 121). Aber sie ist eben auch ein Text, der versucht, geschichtliches Bewusstsein wachzurufen, indem er Beispiele dafür gibt, dass der Mensch nicht nur durch die äußeren Umstände beeinflusst wird, sondern dass er diese auch selbst herbeiführt.

V. Ausblick

Die Erzählung „Der Ausflug der toten Mädchen“ bietet, wie ich hoffe bewiesen zu haben, eine facettenreiche Darstellung menschlichen Verhaltens und Fehlverhaltens während der Zeit der nationalsozialistischen Diktatur in Deutschland. Anna Seghers Schilderungen bleiben nicht auf der äußeren Ebene stehen, sondern dringen vor bis zu den gesellschaftlichen und individuellen Ursachen, die den Aufstieg und die Festigung des Regimes bewirkten. Dabei gewährt die Autorin dem Leser noch gebührenden Freiraum für eine eigene Interpretation und unterlässt es, ein (direktes) moralisches Urteil zu fällen. Aus diesem Grunde ist die Erzählung, wie ich finde, ein gelungenes Beispiel für die Schilderung menschlicher und zwischenmenschlicher Abgründe und ein Beweis dafür, dass das moralisch Verwerfliche dem Menschen nicht angeboren ist, sondern vielmehr eine Folge mehrerer miteinander verknüpfter Faktoren, die vor allem im sozialen Umfeld und in dem Menschen selbst, verborgen liegen.

Leider war es mir nicht möglich, innerhalb meiner Ausführungen eine detaillierte Analyse der Sprache Anna Seghers’ zu geben, denn dies hätte den Rahmen dieser Arbeit gesprengt. Allerdings wäre es sicherlich interessant, die Erzählung auf sprachliche Eigenheiten und Metaphern hin, zu untersuchen. Auch das Auftauchen verschiedener Symbole (wie beispielsweise das Symbol des Flusses) innerhalb des Geschriebenen, böte weiten Raum für eine Interpretation.

VI. Literaturverzeichnis

Primärliteratur

Seghers, Anna: Der Ausflug der toten Mädchen. In: Der Ausflug der toten Mädchen und andere Erzählungen. 4. Aufl., Berlin: Aufbau Taschenbuch Verlag GmbH, 1998.

Sekundärliteratur

Batt, Kurt: Anna Seghers. Versuch über Entwicklung und Werke. Frankfurt

a. M.: Röderberg-Verlag GmbH, 1973.

Grossmann, Walter: Die Zeit in Anna Seghers’ „Der Ausflug der toten Mädchen“. In: Sinn und Form. 1962. H 1, S. 126 - 131.

Haller-Nevermann, Marie: Jude und Judentum im Werk Anna Seghers’.

Untersuchungen zur Bedeutung jüdischer Traditionen und zur Thematisierung des Antisemitismus in den Romanen und Erzählungen von Anna Seghers. Frankfurt am Main: Peter Lang, 1996. (Europäische Hochschulschriften: Reihe I Deutsche Sprache und Literatur)

Kühnl, Reinhard: Faschismustheorien: Texte zur Faschismusdiskussion 2: Ein Leitfaden. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag, 1979.

Mayer, Hans: Anmerkungen zu einer Erzählung von Anna Seghers. In: Sinn und Form. 1962, H. 1, S. 117 - 125.

Seghers, Anna: Deutschland und wir. In: Gesammelte Werke in

Einzelausgaben. Bd. XIII: Aufsätze, Ansprachen, Essays 1927 - 1953. 1. Aufl., Berlin: Aufbau-Verlag, 1980.

Zimmermann, Werner: Anna Seghers: Der Ausflug der toten Mädchen

(1962/64). In: W.Z.: Deutsche Prosadichtungen unseres

Jahrhunderts. Bd. 2. Düsseldorf: Pädagogischer Verlag Schwann, 1969, S. 329 - 343.

Ende der Leseprobe aus 28 Seiten

Details

Titel
Schreiben wider das Vergessen: Anna Seghers "Der Ausflug der toten Mädchen"
Hochschule
Universität Potsdam
Note
gut
Autor
Jahr
2001
Seiten
28
Katalognummer
V104992
ISBN (eBook)
9783640032891
Dateigröße
415 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Schreiben, Vergessen, Anna, Seghers, Ausflug, Mädchen
Arbeit zitieren
Doreen Thümmel (Autor:in), 2001, Schreiben wider das Vergessen: Anna Seghers "Der Ausflug der toten Mädchen", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/104992

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