Organisierte Interessen als Korrektiv für Defizite der repräsentativen Demokratie


Hausarbeit, 2001

20 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Parteien im politischen System der BRD - Funktionen und Defizite
2.1 Funktionen der Parteien in der pluralistischen Demokratie
2.1.1 Ideologie- und Programmebene: Zielfindung
2.1.2 Regierungs- und Machtsystemebene: Elitenrekrutierung und Regierungsbildung
2.1.3 Mitgliederebene: Artikulation und Aggregatikon gesellschaftlicher Interessen
2.1.4 Wählerebene: Mobilisierung- und Sozialisation der Bürger
2.2 Grundsätzliche Probleme des repräsentativen Systems
2.2.1 Legalität und Legitimität - zur Problematik von Mehrheitsentscheidungen
2.2.2 Forderungen der Bürger nach direktdemokratischen Partizipationsmöglichkeiten

3. Bürgerinitiativen als Reaktion auf diese Defizite
3.1 Ziele: die Ideologie- und Programmebene
3.2 Die Regierungs- und Machtsystemebene
3.3 Artikulation und Aggregation gesellschaftlicher Interessen - die Mitgliederebene
3.4 Mobilisierung und Sozialisation der Bürger

4. Bewertung und Ausblick

1. EINLEITUNG:

Das politischen System der BRD ist in den letzten Jahren in Bewegung geraten. Derzeit zeigen sich interessante Tendenzen, die allerdings zum Teil auch recht bedenklich stimmen. So wurde das Wählerverhalten und die damit einhergehende Entwicklung des Parteiensystems seit 1949 von zwei großen Entwicklungstrends geprägt:

- Bis Ende der 70er Jahre vollzog sich ein Konzentrationsprozess hin zu einem

Parteiensystem, das durch die CDU/CSU als bürgerlich-konservative und die SPD als demokratisch-reformistische Volkspartei mit der FDP als "dritter Kraft" geprägt wurde.

- Die gegenläufige Entwicklung einer Dekonzentration im Parteiensystem begann in der zweiten Hälfte der 70er Jahre und setzt sich bis heute fort. Während die beiden großen Volksparteien CDU/CSU und SPD bei den Wahlen der 70er Jahre zusammen jeweils mehr als 90% der abgegebenen Stimmen auf sich vereinen konnten, waren es bis Ende der 80er Jahre nur noch etwa 80%. Im Wahlgebiet West konnte dieser Stimmenanteil auch bei der Bundestagswahl 1990 gehalten werden, im Wahlgebiet Ost stimmten dagegen nur 66,1% der Wähler für die beiden großen Volksparteien. Betrachtet man die Ergebnisse der letzten Landtagswahlen, so scheint sich dieser Trend fortzusetzen.

Während es zunächst Ende der 70er Jahre durch die Entstehung der Neuen sozialen Bewegungen und das Auftreten der GRÜNEN als Partei zu einer Verbreiterung des Parteienspektrums nach links kam, vollzieht sich gegenwärtig eine weitere Ausdifferenzierung durch das Auftreten rechter Parteien wie der Republikaner und der DVP.

Gleichzeitig fällt ein starker Rückgang der Wahlbeteiligung insbesondere bei den jüngeren Bevölkerungsgruppen auf. So betrug beispielsweise die Partizipation an den Bundestagswahlen 1990 bei den Wählern bis 35 Jahre lediglich etwa 67%, dh. jeder dritte nahm sein Wahlrecht nicht wahr.

Auch die Bereitschaft, sich aktiv in der Parteiarbeit zu engagieren, ist insbesondere bei jüngeren Menschen nur in geringem Umfang vorhanden. So klagen die etablierten Parteien immer wieder über ihre ungünstige demographische Struktur. Lediglich 5 % der SPD-Mitglieder sind jünger als 25 Jahre, die Zahl der Parteiaustritte ist zudem gerade bei den jüngeren Mitgliedern recht hoch.

In der öffentlichen Diskussion werden die unterschiedlichsten Gründe für diese Entwicklungen genannt. Von "Parteienverdrossenheit" ist da die Rede, von "Selbstbedienungsmentalität" und "mangelnder Glaubwürdigkeit" der etablierten Parteien. Die Wahlerfolge der neuen Parteien am rechten und linken Rand des Parteienspektrums werden daher überwiegend zurückgeführt auf:

- Parteiverdrossenheit und allgemeine Unzufriedenheit mit dem Output des politischen Systems;
- funktionale Defizite der etablierten (Volks-)Parteien bei der Interessenwahrnehmung und bei der Problemlösung;
- die mangelnde Fähigkeit der etablierten Parteien, neue Themen aufzugreifen und politisch zu verarbeiten;
- das Versagen der etablierten Politik, die nachrückende Generation ihren

Vorstellungen entsprechend angemessen in Gesellschaft, Beruf und Politik zu integrieren, was zum lebenszyklisch begründeten Aufbegehren eines Teiles der Jugend geführt habe.

Funktionsschwächen der etablierten Parteien bei der Interessenrepräsentation und Wertberücksichtigung sind aus dieser Sicht die Hauptgründe für die Zuwendung zu extremen politischen Positionen, Stimmenthaltungen und nachlassendes politisches Engagement. So interpretierte Pappi die Stimmabgabe für die Republikaner als "rationales Protestwählen", das vorliege, "wenn Wähler sich für eine neue Partei entscheiden, weil die etablierten Parteien sich zu weit von dem entfernt haben, was diese Wähler durch eine Regierung verwirklicht sehen wollen."1

Im folgenden möchte ich daher zunächst der Frage nachgehen, welche Funktionen den Parteien im repräsentativen politischen System der BRD zukommen und welche Defizite hier zu verzeichnen sind.

Sodann soll diskutiert werden, ob das seitens vieler Bürger subjektiv empfundene Versagen der Parteien eine allgemeine Politikverdrossenheit hervorruft oder ob aber eine grundsätzliche Bereitschaft zur Partizipation besteht, die sich jedoch anderer Ausdrucksformen bedient und beispielsweise in der aktiven Beteiligung an Bürgerinitiativen zum Ausdruck kommt. Schließlich soll der Versuch einer Bewertung unternommen werden, ob die Bürgerinitiativbewegung als ein Korrektiv der Repräsentationsdefizite des Parteiensystems angesehen werden kann.

2. PARTEIEN IM POLITISCHEN SYSTEM DER BRD - FUNKTIONEN UND DEFIZITE

2.1 FUNKTIONEN DER PARTEIEN IN DER PLURALISTISCHEN DEMOKRATIE

Eine Festlegung der Funktionen von Parteien im politischen System impliziert gleichzeitig eine normative Konzeption der Demokratie, wie sie sich insbesondere in der pluralistischen Demokratietheorie findet. Das idealtypische neopluralistische Konzept, als dessen wichtigster Vertreter in Deutschland Ernst Fraenkel gilt, hat sich v.a. in Auseinandersetzung mit dem totalitären Staatsverständnis, wie es insbesondere in der Spätphase der Weimarer Republik von Carl Schmitt propagiert wurde, entwickelt.

Sein Ausgangspunkt ist die entschiedene Ablehnung der "Identitäts-Theorie" der Demokratie und das Postulat, dass es dem Wesen moderner Industriegesellschaften entspreche, dass sie von Interessengegensätzen durchzogen seien, wobei aber diese gesellschaftliche Heterogenität als durchaus legitim erachtet, eine homogene Gesellschaft dagegen als wenig erstrebenswert abgelehnt wird. Das Staatsvolk besteht aus dieser Sicht aus den Mitgliedern einer in sich differenzierten Gesellschaft, die in verschiedenartigen Gruppen und Organisationen zusammengefasst sind. Daraus folgt, dass es kein a priori feststellbares Gemeinwohl geben kann. Dieses bildet sich vielmehr erst aus den Konflikten und Kompromissen der verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen und Interessen a posteriori heraus. Dieser Prozess des Ausgleichs von Partikularinteressen vollzieht sich im Rahmen des Staates unter Beachtung der Minimalerfordernisse einer allgemeingültigen Wertordnung.2 Die besondere Rolle des Staates innerhalb der pluralistischen Demokratie hebt Steffani hervor. Er sieht im Staat den "Ort" des pluralistischen Interessenausgleichs. Der Staat hat deshalb die Einhaltung der "Spielregeln" zu überwachen und "dafür Sorge zu tragen, dass der Ein-Fluss all der Bevölkerungsgruppen nicht zu kurz kommt, die außerstande sind, zwecks Wahrung ihrer Interessen ausreichend machtvolle Verbände zu bilden und funktionsfähig zu erhalten."3

Das Konzept der pluralistischen Demokratie beschreibt somit nicht etwa ein gesellschaftliches und politisches Sein, sondern ein Sollen, an dem die Realität zu messen ist. Den Parteien kommt hier eine ganz zentrale Bedeutung zu, da Repräsentation als das angemessene Prinzip politischer Interessenvertretung angesehen wird.

Im einzelnen lassen sich in Anlehnung an von Beyme die Funktionen der Parteien wie folgt beschreiben:

1) Zielfindung:

Parteien vertreten jeweils bestimmte Ideologien und Programme. Sie entwickeln Handlungsstrategien und klären die Bürger über alternative Handlungsmöglichkeiten auf.

2) Elitenrekrutierung und Regierungsbildung:

Parteien rekrutieren und sozialisieren das politische Personal und besetzen die Regierungspositionen damit.

3) Artikulation und Aggregatikon gesellschaftlicher Interessen:

Parteien bündeln und artikulieren die sich in der Partei organisierenden oder ihr nahestehende Interessen.

4) Mobilisierung und Sozialisation der Bürger:

Parteien mobilisieren Wähler zu ihrer Unterstützung und leisten gleichzeitig permanente politische Erziehungsarbeit.4

Es stellt sich jedoch die Frage, ob und ggf. inwieweit das gegenwärtig existierende Parteiensystem diesen normativen Ansprüchen gerecht wird bzw. ob es ihnen überhaupt gerecht werden kann.

2.1.1 Zielfindung: die Ideologie und Programmebene

Die Bedeutung "sinngebender" parteiprogrammatischer Leitbilder wird insbesondere von Guggenberger hervorgehoben, der darauf verweist, dass den Parteien auch die Funktion zukommt, "dem Wahlbürger bei der Bewältigung der wachsenden Komplexität des Politischen zur Hand zu gehen."5

Gerade in diesem Bereich ist aber ein zunehmendes Versagen der Parteien zu verzeichnen. Verantwortlich hierfür wird vielfach die Entwicklung der großen Parteien zu "Volks- oder Allerweltsparteien" gemacht, die, statt über Programme ihren Mitgliedern und Wählern eine "politische Heimat" zu bieten, die "Wählerschaft, die potentiell das ganze Wahlvolk umfasst", umwerben. Ziel der Parteien ist nicht länger, "sich die Massen moralisch und geistig einzugliedern", sie wird vielmehr zum "Phänomen des Wettbewerbs", zur bürokratischen Organisation, deren Ziel die Stimmenmaximierung bei den periodisch stattfindenden Wahlen ist.6

Eine "kulturelle Heimat", wie es einst die SPD und das Zentrum waren, können die modernen Volksparteien Mitgliedern und Wählern nicht mehr bieten. Dadurch präsentiert sich die politische Wirklichkeit dem Bürger "nicht mehr als strukturierte und begreifbare Einheit; sie zerfällt ihm in eine zusammenhanglose Vielheit von einzelnen Ereignissen, Fakten und Bewertungen, welche, im sozialen Maßstab, sinnlos, weil "unzurechenbar", bleiben."7

Dadurch entsteht eine Trennung der Sphäre des Politischen und der des einzelnen Bürgers, zwischen denen die Parteien nicht mehr mit umfassenden Interpretationsangeboten vermitteln. Aber nicht nur das eher mangelhafte Angebot der etablierten Parteien an ideologischer Orien-tierung scheint eine Rolle zu spielen, sondern auch ihre oft beklagte Konzeptions- und Alternativlosigkeit hinsichtlich mittelfristiger Problemlösungsstrategien.

Die wesentlichen Issues, also diejenigen Probleme, deren Lösung in der Bevölkerung als besonders wichtig und dringlich erachtet wird, sind:

- Ausländer- und Asylpolitik
- Umweltschutz
- Arbeitslosigkeit
- Mieten und Wohnungsmarkt
- Steuern und Steuererhöhungen

Hier wird immer wieder der Vorwurf erhoben, sowohl Regierung als auch SPD- Opposition seien nicht in der Lage, auf diese drängenden Herausforderungen weitsichtige und verantwortungsbewusste Antworten zu finden. Stattdessen stehe das Bemühen um kurzfristiges "Krisenmanagement" im Vordergrund. Mit stetem Blick auf mögliche Stimmenverluste bei den nächsten Wahlen vermeiden es die Parteien, langfristige Reformkonzepte, die mit unpopulären Maßnahmen einhergehen würden, öffentlich zur Diskussion zu stellen. Als stets aktuelles Beispiel hierfür sei auf die Sanierung der Staatsfinanzen, insbesondere auf das Problem der Finanzierung der Einheit verwiesen.

Es stellt sich daher die Frage, ob die Wahlerfolge der neuen rechten Parteien also auf deren Programmatik zurückzuführen sind. Dies ist aber gerade nicht der Fall. "Das Programm der Reps zu würdigen, ist in bestimmter Hinsicht überflüssig; kaum einer, der sie zuletzt gewählt hat oder den Emporkömmlingen nun seine Sympathie entgegenbringt, hat je einen Blick in die diversen Programme der Partei getan. (...) auf eine Formel gebracht, würde als Programmatik ausreichen: gegen Dealer und Türken, für (Ordnung in) Deutschland."8

Nach Klaus Erdmenger stellt die Wahl dieser Parteien vielmehr eine "rationale Protestwahl" dar, deren Ursachen in der Unzufriedenheit mit den aktuellen Leistungen des politischen Systems zu suchen sind. "Wohnungsnot, Arbeitslosigkeit, Angst vor sozialem Abstieg, schierer "Wohlstandschauvinismus", der in den "Ausländern" zu denen undifferenziert Aussiedler, Gastarbeiter, sogar DDR-Übersiedler gezählt werden, das Bedrohungspotential ausmacht."9

Nicht das Bedürfnis nach "einfachen Antworten" bestimmt aus dieser Sicht das Wahlverhalten, sondern der Wunsch, den etablierten Parteien einen "Denkzettel zu verpassen" und sie dadurch zu veranlassen, wirksame Handlungsstrategien zu entwickeln.

2.1.2 Elitenrekrutierung und Regierungsbildung: die Regierungs- und Machtsystemebene

Diese Funktion wird von den Parteien erfüllt, verfügen sie doch bei der Besetzung der Regierungsämter über ein faktisches Monopol.

Problematisch erscheint jedoch die Art und Weise, wie diese Funktion gelegentlich ausgeübt wird. Weder die Form des Umgangs mit einer möglichen Stasi- Vergangenheit von Abgeordneten oder Regierungsmitgliedern insbesondere auf Landesebene noch die Form der Entscheidung über die Neubesetzung des Außenministeramtes dürften geeignet sein, Glaub- und Vertrauenswürdigkeit der Parteien zu erhöhen.

2.1.3 Artikulation und Aggregatikon gesellschaftlicher Interessen: die Mitgliederebene

Parteien sind Repräsentanten gesellschaftlicher Interessen - oder mit anderen Worten: sozialer Konflikte - die europaweit parteibildend gewirkt haben. Lipset und Rokkan gehen dabei von 5 sozialen Hauptkonfliktdimensionen (Cleavages) aus:

- Zentrum vs. Peripherie: ethnische, sprachliche und kulturelle Konflikte

- Staat vs. Kirche: Konflikte der Säkularisierung, staatlicher vs. kirchlicher Kontrolle des Bildungswesens, Fragen der lebensweltlichen Normsetzung in Ehe, Familie...

- Stadt vs. Land:

Agrarinteressen vs. Industrieinteressen

- Kapital vs. Arbeit

- Sozialismus vs. Kommunismus10

Diese Konfliktlinien bestimmen nach Auffassung der Autoren bis heute die Struktur der westeuropäischen Parteiensysteme, die soziale Rekrutierungsbasis der Parteien und die Grundmuster des Wählerverhaltens. So reichen die Wurzeln der Parteien des Bonner Parteiensystems bis in die Weimarer Republik und z.T. sogar bis in das Kaiserreich zurück. Sie lassen sich den vier politischen Grundströmungen Liberale, Konservative, Katholiken und Sozialisten zuordnen. Nach einer These von Lepsius (1966) können diese Parteien als "Aktionsausschüsse... in sich höchst komplex strukturierter sozialmoralischer Milieus" verstanden werden, deren spezifische Interessen sie repräsentieren.11

Diese These erscheint zumindest für die Zeit bis Ende der 60 er Jahre äußerst plausibel. Seitdem hat jedoch die Integrationskraft der großen Parteien zunehmend nachgelassen, neue Parteien sind entstanden und alternative politische Handlungsformen wie die Neuen sozialen Bewegungen oder die Bürgerinitiativbewegung haben an Bedeutung gewonnen.

Mögliche Ursachen hierfür könnten darin zu sehen sein, dass eine Erosion der traditionellen Sozialmilieus der Parteien stattgefunden hat, dass sich neue gesellschaftliche Konfliktlinien gebildet haben und dass viele Bürger in einer aktiven Parteimitgliedschaft keine Möglichkeit sehen, ihre jeweiligen Interessen und Vorstellungen in das politische System einzubringen.

Neben dem Volksparteicharakter der Parteien war es insbesondere die Bedeutung der traditionellen Konfliktmuster, die die Stabilität des bundesdeutschen Parteiensystems bis Anfang der 70 er Jahre gewährleistete. Diese Konfliktmuster wirken bis heute fort. Die Partei-Identifikation ist noch immer stark sozialstrukturell determiniert und orientiert sich nach wie vor an der (katholisch-) konfessionellen und an der sozioökonomischen Konfliktlinie "Arbeit vs. Kapital" bzw. "an dem wohlfahrtsstaatlichen Cleavages sozialstaatlicher Umverteilung und Egalisierung auf dem einen und marktwirtschaftlicher Orientierung auf dem anderen Pol."12 Dabei spielen langfristige Bindungen der Bürger an bestimmte Parteien bzw. ideologisch-politische Grundorientierungen, die insbesondere durch Gewerkschaftsmitgliedschaft aber auch durch Kirchenbindung vermittelt werden, eine nicht zu unterschätzende Rolle. So stellten Gibowski und Kaase fest, dass auch bei der Bundestagswahl 1990 noch gewerkschaftlich organisierte Wähler aus der Arbeiterschaft insbesondere aus der Facharbeiterschaft stärker für die SPD votierten als nicht gewerkschaftlich gebundene Gruppenmitglieder. Was konfessionell gebundene Wähler anbetrifft, so stimmten diese deutlich überproportional für die Unionsparteien, während der Anteil der CDU/CSU an den nicht konfessionell gebundenen Wählern unterdurchschnittlich ausfiel.13

Die traditionellen Cleavages bestehen also als solche auch in der Gegenwart fort. Gleichzeitig ist aber ein Schrumpfen der zugehörigen sozial-moralischen Milieus zu verzeichnen. So ist der Anteil der Arbeiter an der Gesamtbevölkerung ebenso rückläufig wie die Kirchbindung (operationalisiert durch die Häufigkeit des Kirchganges).

Parallel zu dieser Entwicklung vollzieht sich ein Wandel von der Industriegesellschaft hin zur post-industriellen oder auch Dienst-Leistungsgesellschaft. Dieser zeigt sich rein äußerlich in einem enormen Zuwachs an Beamten und Angestellten. Häufig wird hiermit auch ein Wertwandel in Teilen der Bevölkerung in Verbindung gebracht, der sich in erheblichem Umfang auf das Wahlverhalten aber auch auf die Art und Weise politischer Partizipation auswirkt.

Hildebrandt/Dalton folgend kann man von einem neuen Cleavages sprechen, dem "New politics cleavage" das den Konflikt zwischen ökologischer Politik einerseits und der Politik ökonomisch-technologischen Wachstums andererseits repräsentiert.14 Als soziale Basis dieses Cleavages kristallisieren sich die Mittelschichten heraus und zwar insbesondere solche Wähler aus den Mittelschichten,

- die in den Arbeitsprozess (noch) nicht integriert sind (Schüler, Auszubildende, Studenten, arbeitslose Jungwähler ...) oder
- die Berufe im Reproduktionssektor ausüben, also Beamte und Angestellte und schließlich
- solche Wähler, deren selbständige Existenz durch den technologischen Wandel bedroht ist.15

Die Rolle der etablierten Parteien als - neben den Interessen-Organisationen - alleinige Institution der Wahrnehmung und Artikulation von Interessen wird insbesondere von denjenigen Bevölkerungsteilen, die postmaterialistischen Werten anhängen, in Zweifel gezogen. Sie finden ihre Interessen und Bedürfnisse nicht von diesen Parteien repräsentiert und sehen deshalb häufig Bürgerinitiativen als Alternativen zu den Parteien an.

In diesem Zusammenhang von Bedeutung sind zwei Problemkreise, das Problem der demokratischen innerparteilichen Willensbildung und das der umfassenden Repräsentation gesellschaftlicher Interessen und Probleme.

Was die Defizite in der Binnenstruktur der Parteien betrifft, so werden diese oft mit Begriffen wie "Oligarchisierung" und "erzwungener Apathie" beschrieben. Auch wenn diese Vorwürfe überspitzt wirken, empfinden doch viele der auf den unteren Ebenen der Parteien organisierten Mitglieder, dass sie fast keinen Einfluss auf die Politik der Gesamtpartei ausüben. Ihre Hauptaufgaben bestehen vielmehr in der Durchführung von Wahlkämpfen, der Rekrutierung der lokalen Eliten und der Gestaltung der Kommunalpolitik. Die politischen Richtungsentscheidungen werden dagegen von den Parteieliten auf der obersten Ebene des Parteiaufbaus getroffen, wobei den parlamentarischen Experten aufgrund ihres Fachwissens eine dominante Rolle zukommt. Sogenannte "Sachzwänge" und wahltaktische Erwägungen werden so zum Maßstab politischen Handelns, dem die Rücksichtnahme auf die Interessen der Parteibasis nachgeordnet ist.16

Wesentliche Gründe hierfür liegen in den Bedingungen des politischen Systems der Bundesrepublik sowie in der politischen Kultur des Landes, die Parteien begünstigen, denen es gelingt, den Eindruck von Geschlossenheit, Kalkulierbarkeit und Effizienz zu vermitteln. Offenes Austragen parteiinterner Konflikte gilt eher als Schwäche der Partei denn als Indikator praktizierter innerparteilicher Demokratie, wodurch es neuen Interessen oder Problemen fast unmöglich wird, Berücksichtigung zu finden. Die Parteien erscheinen so kaum als geeignetes Medium politischer Partizipation, was ein Ausweichen auf andere - zumindest dem Anspruch nach demokratischere - Möglichkeiten wie Bürgerinitiativen nahe legt.

Auf einen m.E. sehr wesentlichen Punkt, der oben bereits anklang, sei noch etwas näher eingegangen: das defizitäre Interessenberücksichtigungspotential der Parteien. Die pluralistische Demokratie basiert auf dem Postulat, dass im Prinzip alle gesellschaftlichen Interessen organisiert oder zumindest organisierbar sind. Dem ist entgegenzuhalten, dass diese Voraussetzung offensichtlich nicht erfüllt ist. Das politische System gewährleistet keineswegs, dass die Interessen der Mehrzahl der Bevölkerung angemessene Berücksichtigung finden. Vielmehr hängt es ganz maßgeblich von der Art des jeweiligen Interesses ab, ob es sich organisieren und wirkungsvoll verfolgen lässt. Systematisch zu kurz kommen die schwachen Interessen "marginalisierte Gruppen" (Offe), wie etwa der Kinder, Alten, Kranken, Ausländer, ferner langfristige Interessen - wie z.B. Umweltschutz - gegenüber kurzfristigen wie der Erhaltung von Arbeitsplätzen. Auch neue Interessen haben Schwierigkeiten, sich zu etablieren. Besonders problematisch ist ferner die Vertretung allgemeiner Interessen (Verbraucherinteressen ...), die im Gegensatz zu den speziellen Interessen bestimmter Statusgruppen kaum organisierbar sind und nur über begrenzte Konfliktfähigkeit verfügen.

Dem Interessenkonflikt Arbeit-Kapital kommt in diesem Zusammenhang erhebliche Bedeutung zu. So sind die Interessen kleiner Gruppen, die Produktionsmittel oder spezialisierte Produktionsfunktionen kontrollieren (Ärzte, Fluglotsen, Unternehmer) sehr viel stärker organisations- und konfliktfähig als die Interessen großer Bevölkerungsgruppen (Patienten, Passagiere, ...).17

Gerade diejenigen Interessen aber, die bereits hinsichtlich ihrer Organisations- und Konfliktfähigkeit im pluralistischen System entschieden benachteiligt sind, finden auch im Parteiensystem keine aus-reichende Berücksichtigung. So ist es kein Zufall, dass gerade die Bereiche Umweltschutz, Verkehrsplanung, Bildung und Jugend sowie Stadt-Entwicklung, Sanierung und Wohnungswesen zu den thematischen Schwerpunkten der Bürgerinitiativen zählen.

2.1.4 Mobilisierung- und Sozialisation der Bürger: die Wählerebene

Hierzu wurde bereits wesentliches ausgeführt. Zusammenfassen lässt sich die Kritik an der Wahrnehmung dieser Funktion der Parteien wie folgt:

- "die Parteiidentifikation der Bürger nimmt ab, gleichzeitig nimmt die Kandidaten- und / oder Problemorientierung zu;
- die Sozialisationsfunktion, die Parteien früher hatten, wird auf andere Träger verlagert (Schule, Medien, Bürgerinitiativen usw.);
- die Sozialstruktur von Parteimitgliedern und Wählern klafft zunehmend auseinander;
- damit zusammenhängend nimmt die Professionalisierung der Politik, das Übergewicht der Berufspolitiker zu;
- Parteien verlieren schließlich das Monopol auf politische Aktivitäten, Interessen können u.U. effektiver über Bürgerinitiativen und andere gesellschaftliche Strukturen (z.B. Schule, Betrieb) wahrgenommen werden.18

2.2 GRUNDSÄTZLICHE PROBLEME DES REPRÄSENTATIVEN SYSTEMS

2.2.1 Legalität und Legitimität: - zur Problematik von Mehrheitsentscheidungen

Wie oben bereits erläutert, basiert die pluralistische Demokratie auf einem "Minimalkonsens" über die Spielregeln des pluralistischen Interessenausgleichs.

Dieser Basiskonsens aller Bevölkerungsteile scheint jedoch brüchig geworden zu sein. Diese Entwicklung steht im engen Zusammenhang mit einer zunehmend kritischeren Sichtweise der Legitimität politischer Entscheidungen auf der Basis des Mehrheitsprinzips. Persönliche Betroffenheit spielt hierbei eine wesentliche Rolle. Zu Recht verweist Guggenberger darauf, dass für wachsende Teile der Bevölkerung die subjektive Wahrnehmung und Beurteilung der eigenen Lebenschancen und Lebensbedürfnisse an Bedeutung gewinnt. Hält man diese für gefährdet oder bedroht, wie dies für viele Bürger gerade im Bereich des Umweltschutzes der Fall ist, so schlägt sich dies in Legitimitätszweifeln nieder. Hier aber auch in anderen Politikfeldern wie Kernenergie, Gentechnologie, Datenerfassung, Raumfahrt oder Waffentechnologie haben politische Entscheidungen eine neue Qualität erreicht, indem ihre Konsequenzen zunehmend irreversibel geworden sind.19

"Während sich die Berechnungsgrundlage der Rentenformel relativ umstandslose modifizieren lässt, ist die Entscheidung für Bau und Betrieb von Kernkraftwerken über Jahrhunderte hinweg in ihren Auswirkungen nicht mehr reversibel. Dieser Entscheidungstypus gewinnt jedoch zunehmend an Relevanz."20 Mitglieder und Sympathisanten der neuen sozialen Bewegungen und von Bürgerinitiativen sind aufgrund dessen nicht mehr ohne weiteres bereit, sich dem grundsätzlichen Folge- und Gehorsamsanspruch des Staates zu unterwerfen, da dieser trotz seiner verfassungsmäßigen Freiheits- und Grundrechtsgarantien nicht länger vermag, ein menschenwürdiges Dasein zu gewährleisten. Zwar kann sich die Politik der etablierten Parteien, die sich im wesentlichen an Wachstum und technologischem Fortschritt orientiert, noch immer auf deutliche

Bevölkerungsmehrheiten berufen, es stellt sich aber die Frage, ob hinsichtlich solcher existentieller Entscheidungen der Hinweis auf bestehende Mehrheitsverhältnisse tatsächlich noch Legitimität erzeugen kann oder ob es sich hierbei nur noch um ein (überholtes) "quantitatives Demokratieverständnis" (H.E. Bahr) handelt. Nach Guggenberger stellt die Mehrheitsregel kein "voraussetzungsfreies politisches Formprinzip" dar. Keineswegs darf die Mehrheit über alles und nach Belieben entscheiden. Vielmehr erfordert der Verpflichtungsanspruch des Mehrheitsprinzips einen grundlegenden Konsens darüber, über welche Bereiche überhaupt auf dieser Basis entschieden werden kann und über welche nicht. Die Mehrheitsregel bezieht ihre Legitimation schließlich aus dem Gedanken, dass die jeweils unterlegenen Minderheiten eines Tages selbst zur Mehrheit werden können und so prinzipiell die Möglichkeit haben, gegen ihren erklärten Willen getroffene Entscheidungen und ihre Konsequenzen zu korrigieren oder revidieren. Diese Prämisse wird durch die neue Qualität politischer Entscheidungen, ihre zeitliche und ihre räumliche Reichweite zunehmend außer Kraft gesetzt. "Die hier zu treffenden Entscheidungen sind infolge ihrer historisch unvergleichlichen Reichweite von vornherein auf seiten der Betroffenen mit dem Bewusstsein der Folgenirreversibilität befrachtet. Jedermann weiß, dass gegen KKWs, wenn sie erst mal stehen, "neue Mehrheiten" nichts mehr nützen. Es ist gewiss kein Zufall, dass wir den spektakulärsten Fall schwindender Verpflichtungskraft der mehrheitlichen Entscheidungsregel gegenwärtig im Bereich der Durchsetzung und des Baus kerntechnischer Anlagen erleben."21

Die fundamentale Kritik an der ausschließlichen Anwendung des Mehrheitsprinzips lässt sich daher wie folgt zusammenfassen: "Mehrheitsentscheidungen dürfen keine durch nachfolgende neue Mehrheiten nicht mehr korrigierbare Festlegungen beinhalten. Ent-Scheidungen, die einen Teil der Bürger wider seinen erklärten Willen in seinen Lebensinteressen und seinen elementaren Lebensäußerungen betreffen, sind über die Berufung auf aktuelle Mehrheiten schwerlich zu rechtfertigen: Es könnte ja durchaus sein, dass diese aktuelle Mehrheit gegenüber den morgen und übermorgen "Betroffenen" nur eine verschwindende Minderheit darstellt."22

Diese bereits an den Prämissen der repräsentativen, auf dem Mehrheitsprinzip basierenden Demokratie ansetzende Kritik ist sicherlich in ihren Schlussfolgerungen, die letztlich zumindest auf Teilbereiche von besonderer politischer Brisanz bezogen den demokratischen Charakter der politischen Willensbildung und Entscheidungsfindung in Frage stellt, plausibel und legitim.23

Es stellt sich jedoch die Frage, wie dieses bereits auf demokratie-theoretischer Ebene angelegte Defizit des Repräsentationsgedankens in der politischen Praxis ausgeglichen werden kann.

2.2.2 Forderungen der Bürger nach direktdemokratischen Partizipationsmöglichkeiten

"Die in Art. 21 GG vorgesehene Mitwirkung der Parteien bei der politischen Willensbildung des Volkes hat sich in ein faktisches Parteienmonopol verkehrt, während sich die Willensbildung des Volkssouveräns darauf beschränkt, bei Wahlen (im Wortsinne) seine Stimme abzugeben."24

Dieser Beschreibung der Realität der politischen Willensbildung in der Bundesrepublik ist im Grunde nichts mehr hinzuzufügen. Dem stehen ein merklicher Vertrauensverlust der etablierten politischen Parteien und daraus resultierende Partizipationsforderungen der Bevölkerung gegenüber. Eine mögliche Antwort hierauf ist die Etablierung plebiszitärer Elemente in der verfassungsmäßigen Ordnung des Bundes. Im Vordergrund steht hier die Frage einer Einführung von Sachplebisziten in Form von Volksentscheiden. Dieses Thema wird in der Literatur aber auch im politischen Alltag äußerst kontrovers und nicht immer sehr sachlich diskutiert.

Gegner einer direkten Beteiligung des Volkes an Sachentscheidungen führen insbesondere folgende Argumente an:

- Das Volk ist manipulierbar. Es kann daher leicht zum Opfer extremistischer Kräfte werden. Nicht rationales Abwägen, sondern Emotionen würden so das Abstimmungsverhalten der Bevölkerung bestimmen. Standardbeispiel: Nach spektakulären Mordserien steigt die Zahl der Befürworter der Todesstrafe rapide an.
- Das Volk verfügt nicht über den erforderlichen Sachverstand zur Entscheidung über höchst komplexe politische Fragestellungen.
- Ständige Volksabstimmungen über "Modethemen" höhlen die Bedeutung von Parlamenten und Parteien aus und "rütteln somit an den Grundfesten des repräsentativen Systems".
- Häufige Volksabstimmungen bedingen einen permanenten Wahlkampf, der nicht zu einer Politisierung der Bevölkerung führt, sondern eher zu Politikverdrossenheit und "Wahlmüdigkeit" beiträgt.
- Beteiligungen von maximal 40-60% der Stimmberechtigten bei Plebisziten auf Landesebene und im westlichen Ausland belegen ein geringes Interesse der Bevölkerung an dieser Form politischer Teilhabe. Darüber hinaus fehlt Abstimmungsergebnissen, die mit einer derart geringen Beteiligung der Bevölkerung zustande gekommen sind, jegliche demokratische Legitimation. Es handelt sich vielmehr um ein Diktat einer lautstarken Minderheit gegenüber der Bevölkerungsmehrheit.

Dem ist entgegenzuhalten, dass eine Einführung direktdemokratischer Verfahren auch auf Bundesebene den bekannten Defiziten der "Zuschauer-Demokratie"25 entgegenwirken könnte. Sie bietet die Chance, die "Lern- und Konsensfähigkeit des politischen Systems zu steigern"26 und endlich das Prinzip der Volkssouveränität zu verwirklichen. Dabei will sie nicht etwa die repräsentative Willensbildung grundsätzlich in Frage stellen oder ablösen, sondern sie stellt vielmehr eine wesentliche Ergänzung des parlamentarischen Normalverfahrens dar.

Im einzelnen erweisen sich die von Gegner vorgebrachten Argumente als wenig stichhaltig. So stellen Volksentscheide und Volksbegehren in den Bundesländern und im westlichen Ausland nicht die Regel politischer Entscheidungsfindung, sondern die absolute Ausnahme dar. Der Gesetz-Gebungsalltag bleibt weiterhin die Domäne der Berufspolitiker in den Parlamenten. Dies kann angesichts des immensen Zeit- und Arbeitsaufwandes, dessen es bedarf, um ein Plebiszit zu initiieren, auch gar nicht anders sein, erfordert die Organisation und Koordination der betreffenden Aktivitäten doch ein hohes persönliches Engagement, dass zu erbringen, Bürger nur in ihnen besonders wichtig erscheinenden Bereichen - quasi als ultima ratio - bereit sein dürften. Darüber hinaus müssen sich die Antragsteller verbandsmüßig organisieren, sie bedürfen der politischen, rechtlichen und fachlichen Beratung durch anerkannte Fachleute und schließlich muss das Thema auf genügend allgemeines Interesse stoßen, um sich über Monate hinweg in der öffentlichen Diskussion behaupten zu können. All das lässt kaum befürchten, dass permanent Abstimmungen über wechselnde Modethemen stattfinden, Emotionen statt rationaler Erwägungen die öffentliche Diskussion und das Abstimmungsverhalten dominieren und dass extremistische Positionen über diesen außerparlamentarischen Weg maßgeblichen Einfluss erlangen können.

Was nun den Vorwurf einer mangelnden demokratischen Legitimation und Verpflichtungskraft aufgrund relativ geringer Abstimmungsbeteiligung betrifft, so vermag auch dieses Argument angesichts sinkender Beteiligungen bei den Wahlen zu den Vertretungskörperschaften auf allen Ebenen des politischen Systems nicht zu überzeugen. Betrachtet man etwa die Ergebnisse der letzten Kommunalwahlen in Berlin, so drängt sich die Frage auf, weshalb eigentlich ein Parlament, dass von knapp 60% der Bürger gewählt wurde, einen höheren Grad an Legitimität besitzen sollte. Letztlich können sich von einem derart zustande gekommenen Repräsentativorgan nach dem Mehrheitsprinzip getroffene Entscheidungen auch nur auf etwa ein Drittel der Bürger berufen.

Die Chancen direkter Demokratie als Ergänzung oder Korrektiv des repräsentativen parlamentarischen Systems dürften also mögliche Nachteile bei weitem überwiegen. Der Bürger würde so über seine Rolle als Stimmbürger hinaus in den politischen Entscheidungsprozeß eingebunden, was dem Ideal des mündigen Staatsbürgers sicher eher gerecht würde. Politiker würden nachdrücklich an ihre gesellschaftliche Verantwortung erinnert und schließlich hätte eine stärkere Bürgerbeteiligung sicherlich positive Auswirkungen auf die politische Sozialisation der Bürger, insbesondere auf das demokratische Bewusstsein. Alles in allem könnte so ein Gegengewicht zu Parteien- und Politikverdrossenheit, politischer Apathie und defizitärer Interessenvertretung durch das politische System geschaffen werden.

3. BÜRGERINITIATIVEN ALS REAKTION AUF DIESE DEFIZITE

Dass dies bereits seit geraumer Zeit dingend erforderlich wäre, belegen verschiedene Repräsentativumfragen in der Bevölkerung während der letzten 20 Jahre. Bereits 1971 beklagten nach einer Infas-Untersuchung 68% der Bundesbürger die übermächtige Parteien- und Interessenabhängigkeit des Staatswesens und Anfang der 80er Jahre, genauer im März 1982, gaben gerade noch 18% der Befragten an, mit der Arbeit des Bundestages zufrieden zu sein.27 Auch aktuelle Zahlen belegen diese Entwicklung: so ist derzeit eine große Zahl von Bundesbürgern äußerst unzufrieden mit den Leistungen von Bundesregierung und Opposition, von Parteien und Politikern. Eine ungewohnt hohe Zahl der Befragten - nämlich ein Viertel - gab an, im Augenblick nicht wählen zu wollen, viele andere würden extremen Parteien ihre Stimme geben. So hätten derzeit erstmals die Republikaner die Chance, in den Bundestag einzuziehen. Trotz des gleichermaßen schlechten Abschneidens von Regierung und Opposition kann aber von einer allgemeinen Krise der Demokratie noch keine Rede sein. Immerhin 62% der Westdeutschen erklärten, mit der Demokratie zufrieden zu sein.28 Die allgemeine Unzufriedenheit mit den politischen Repräsentationsorganen und die hohe Zahl der (potentiellen) Nichtwähler dürfen auch nicht zu der Schlussfolgerung verleiten, dass in der Bevölkerung keine grundsätzliche Bereitschaft bestehe, sich für die Verwirklichung von Gemeinwohlzielen zu engagieren. Schon 1971 hielten es nach einer Infas-Umfrage55 % der Befragten für wichtig, Einfluss auf den Staat zu nehmen, und 78 % erklärten ihre (zumindest bedingte) Bereitschaft zu aktiver Mitarbeit an gemeinwohlorientierten Aktionen.29 Ein hoher Stellenwert kommt hier den Bürgerinitiativen zu. Auch wenn keine genauen Zahlen vorliegen, so dürften doch etwa ebenso viele Bürger in solchen Initiativen tätig sein, wie die Parteien Mitglieder aufweisen können. Die Zahl derjenigen, die potentiell bereit wären, sich an einer Bürgerinitiative zu beteiligen, liegt mit über 60% sogar fast dreimal so hoch wie die Bereitschaft zur Parteimitgliedschaft.

Neben diesen quantitativen Befunden gibt es auch interessante qualitative Unterschiede. So wird Bürgerinitiativen eine wesentlich höhere Kompetenz zur Problemlösung, Glaubwürdigkeit und Integrität zugesprochen als den etablierten Parteien und Politikern. Bürgerinitiativen werden also ganz offensichtlich von vielen Bürgern als Alternative zu den Parteien angesehen. Insofern scheint die Frage berechtigt, ob und ggf. inwieweit Bürgerinitiativen tatsächlich in der Lage sind, die Funktionsschwächen des Parteiensystems, die vor allem in Repräsentationsdefiziten und mangelnden Partizipationsmöglichkeiten bestehen, zumindest teilweise zu kompensieren. Gerade was den partizipatorischen Aspekt anbetrifft, wurde oben die Einführung plebiszitärer Elemente auch auf Bundesebene als ein möglicher Lösungsansatz diskutiert. Angesichts des immensen Zeit- und Arbeitsaufwandes, den Volksentscheid und Volksbegehren erfordern, dürften aber auch die Grenzen dieser Verfahren deutlich geworden sein. Sie können nicht mehr als die ultima ratio in besonderen Ausnahmefällen sein. Die größere praktische Relevanz dürfte daher der Partizipationsform "Bürgerinitiative" zukommen.

3.1 ZIELE: DIE IDEOLOGIE- UND PROGRAMMEBENE

Auch wenn die politische Handlungsform Bürgerinitiative nichts grund-legend Neues darstellt, so fällt doch ihr verstärktes Auftreten ab etwa 1970 auf. Diese Entwicklung steht im engen Zusammenhang mit einer wachsenden Unzufriedenheit der Bevölkerung mit den Leistungen des politischen Systems und den verstärkten Partizipationsforderungen, denen Politik und Administration nur unzureichend Rechnung tragen. Hinzu kommt eine wachsende Sensibilität für neue Politikfelder, deren sich die etablierten Repräsentationsorgane zunächst nur zögernd angenommen haben. Auch wenn das Tätigkeitsspektrum der Bürgerinitiativen sehr breit ist, lassen sich doch verschiedene Schwerpunkte ausmachen:

- Umweltschutz
- Verkehrs- und Industrieplanung
- Bildung und Jugend
- Stadtentwicklung, Sanierung und Wohnungswesen.30

Untersuchungen haben gezeigt, dass die Mehrzahl der Bürgerinitiativen aus konkretem Anlas heraus entstanden ist, was zu dem Vorwurf geführt hat, es handle sich um sog. "single purpose movements" oder "Ein-Punkt-Bewegungen", die nach dem Sankt-Florians-Prinzip darauf gerichtet seien, missliebige Vorhaben lediglich in ihrer Region zu verhindern, ohne über eine Programmatik oder ernstzunehmende Vorschläge für Handlungsalternativen zu verfügen.

Bei genauerer Betrachtung erweist sich diese Sichtweise als unangemessen. Auch wenn Bürgerinitiativen überwiegend aufgrund konkreter Miss-Stände entstehen, so scheinen sie darüber hinaus - insbesondere im Bereich des Umweltschutzes - häufig auch allgemeinere Anliegen zu vertreten. So spricht vieles dafür, dass Bürgerinitiativen Ausdruck eines gesellschaftlichen Wertwandels sind. Es fällt auf, dass die thematischen Schwerpunkte überwiegend im Reproduktionsbereich liegen. "Das Ethos der Leistung, der Konkurrenz und des Wachstums wird, Schritt für Schritt, durch ein Ethos des "sozialen Wohlbefindens", der immateriellen Lebensqualität und der humanen "Zuträglichkeit" ersetzt. Dieses neue Ethos umfasst Werte, Einstellungen und Verhaltensmuster, die in vieler Hinsicht quer zu den tradierten Orientierungen der Arbeitsgesellschaft liegen."31

Die oft beklagte Trennung der Sphäre des Politischen und der des einzelnen Bürgers, zwischen denen die Parteien nicht mehr mit umfassenden Interpretationsangeboten vermitteln können, scheint also durch die Bürgerinitiativen zumindest zum Teil aufgehoben zu werden. Sie richten sich oft nicht nur gegen konkret erlebte Missstände, sondern bieten darüber hinaus auch in gewisser Weise ideologische Orientierung, Konzepte und Alternativen hinsichtlich mittelfristiger Problemlösungsstrategien. Als Beispiel hierfür sei auf die Bürgerinitiativen im Bereich der Energiepolitik und Kernenergienutzung verwiesen. Es ist sicherlich kein Zufall, dass die Themenschwerpunkte der Bürgerinitiativen und die seitens der Bevölkerung als besonders dringlich erachteten Issues weitgehend übereinstimmen.

3.2 DIE REGIERUNGS- UND MACHTSYSTEMEBENE

Bürgerinitiativen wird eine höhere Glaubwürdigkeit und Sachkompetenz als Parteien und Politikern zugesprochen. Ein wesentlicher Grund hierfür dürfte sein, dass Bürgerinitiativen - anders als Parteien - nicht nach Beteiligung an der politischen Macht streben. Sie wollen zwar staatliche Planungs- und Entscheidungsprozesse beeinflussen, nicht aber dauerhaft Positionen in Parlamenten, Regierungen und Verwaltungen besetzen. Insofern erscheinen auch ihre Argumente oft sachbezogener und nicht durch macht- und parteipolitische Gesichtspunkte bestimmt. Ein Beleg hierfür ist in einer Infas-Erhebung aus dem Jahre 1977 zu sehen, deren Ergebnisse auch heute noch tendenzielle Gültigkeit besitzen dürften. In einer auf Informationsniveau und Glaubwürdigkeit abstellenden Rangordnung rangierten "die Bürgerinitiativen (26%) zwar hinter den Wissenschaftlern (64%), jedoch mit deutlichem Vorsprung vor "städtischen Stellen" (15%), Journalisten (11%), Politikern (10%) oder gar Sprechern von Industriebetrieben und Elektrizitätsgesellschaften (je 6%). Nach einer 1978 publizierten, auf (umwelt-)politische Effizienz abstellenden Untersuchung des Wissenschaftszentrums Berlin erwartete beinahe die Hälfte der Befragten (48%) von den Bürgerinitiativen den wirksamsten Beitrag zum Umweltschutz, während nur 8% solche Hoffnungen auf die Parteien und ganze 2% auf die Gewerkschaften setzten. Zwar mag mittlerweile das Vertrauen der Bevölkerung zu den Parteien im Bereich des Umweltschutzes zugenommen haben, um die Glaubwürdigkeit der Parteien ist es aber nach wie vor nicht zum Besten bestellt.

3.3 ARTIKULATION UND AGGREGATION GESELLSCHAFTLICHER INTERESSEN: DIE MITGLIEDEREBENE

Ein häufig gegen die Bürgerinitiativen gerichteter Vorwurf ist der, dass sie ebenso wie die herkömmlichen Interessengruppen ganz spezifische Minderheiteninteressen vertreten. Als Beleg hierfür wird in der Regel auf die soziale Schichtung und Sozialstruktur der Bürgerinitiativen verwiesen, die sich in der Tat kaum von dem sozialen Profil der etablierten Parteien unterscheiden. So kommen verschiedene Erhebungen durchaus übereinstimmend zu dem Ergebnis, dass die personelle Zusammensetzung von Bürgerinitiativen wie folgt gekennzeichnet ist:

- die Zahl der Männer übersteigt die der Frauen eindeutig;
- der Großteil der Bürgerinitiativ-Mitglieder ist zwischen 25 und 50 Jahren alt;
- die Mehrheit der Mitglieder verfügt über Abitur bzw. Hochschulabschluß, Volksschulabsolventen sind dagegen die unterproportional vertreten;
- die Mitglieder von Bürgerinitiativen rekrutieren sich v.a. aus Angehörigen freier

Berufe, aus Angestellten und Beamten der Bereiche Wirtschaft und Verwaltung, wohingegen kaum Arbeiter, Hausfrauen und Rentner unter ihnen zu finden sind.33 Bürgerinitiativen sind somit keineswegs sozial repräsentativ geschichtet. Ob man daraus aber schließen kann, dass Bürgerinitiativen ausschließlich mittelschichtspezifische Bedürfnisse und Interessen vertreten, erscheint fraglich. Dagegen sprechen v.a. die Themenschwerpunkte, die von Bürgerinitiativen aufgegriffen werden. Hierbei handelt es sich nämlich überwiegend um Interessen, die im pluralistischen System bisher weitgehend vernachlässigt wurden, mithin die bereits oben genannten

- schwachen Interessen "marginalisierte Gruppen" (Offe), wie etwa der Kinder, Alten, Kranken, Ausländer,
- ferner langfristige Interessen - wie z.B. Umweltschutz,
- neue Interessen und schließlich
- allgemeine Interessen wie Verbraucher- oder Umweltschutzinteressen.

Bürgerinitiativen verfolgen also keineswegs ausschließlich Exklusivinteressen, sondern solche Anliegen, deren Berücksichtigung zugleich auch - zumindest potentiell - der Allgemeinheit zugute kommt. Es ist daher Guggenberger beizupflichten, der das Interessenberücksichtigungspotential der überwiegenden Mehrzahl der Bürgerinitiativen wie folgt resümiert:

"Für den umweltpolitischen Bereich ist die weitreichende Verallgemeinerungsfähigkeit der dort artikulierten Interessen evident: An sauberer Luft und einer unverbauten Landschaft kann, ja sollte jedermann gelegen sein; ebenso aber auch an den meisten der im soziokulturellen Bereich herausgestellten Bedürfnisse: an nicht zu großen Schulklassen, an einer ausreichenden Zahl von Kindergärten und Spielplätzen, einer vernünftigen Krankenversorgung, an der Förderung lokaler Sportmöglichkeiten, an der Erhaltung der historischen Bausubstanz u.a.m. Wenn Bürgerinitiativen solche Interessen und Bedürfnisse vertreten, nehmen sie ganz unzweifelhaft Aufgaben von gesamtgesellschaftlichem Rang wahr."34

Auf einen weiteren Aspekt sei in diesem Zusammenhang noch verwiesen, nämlich auf die Frage, inwieweit lokale Bürgerinitiativen, die sich etwa gegen großtechnologische Projekte wie Autobahnbauten oder Kernkraftwerke in ihrer Region wenden, als repräsentativ für die Gesamtbevölkerung angesehen werden können. Guggenberger argumentiert hier äußerst plausibel mit der überdurchschnittlichen Sachkompetenz direkt Betroffener. "Der hohe Grad an Sach- und Zusammenhangwissen, auf den man in jenen Regionen trifft, die als Standorte großtechnologischer Projekte ausersehen sind bzw. waren, rechtfertigt zugleich das erhöhte Gewicht der politischen Mitsprache: Warum sollen nicht die Bewohner um Wyhl und Gorleben gute, in gewisser Hinsicht gar ideale "Repräsentanten" der Gesamtbevölkerung sein? (...) Spricht nicht (...) alles dafür, dass sie nicht besser und nicht schlechter sind als die große Mehrheit auch, dass sie sich gerade so verhalten, wie sich die anderen alle, wären sie anstelle der betroffenen Minderheit, auch verhalten würden? Stehen sie damit nicht stellvertretend für eben jene Haltung, welche einer verantwortungsbewussten, wachen Mehrheit eigentlich zukäme? Und wäre nicht, wenn überhaupt, der Vorwurf der Gedankenlosigkeit und der verantwortungsfernen Gleichgültigkeit an eben jene schweigende und indifferente Mehrheit zu richten, die unbekümmert um die Auswirkungen für die Minderheit der Betroffenen, dieser Lasten und Risiken aufbürdet, die sie selbst zu übernehmen nicht bereit ist."35

Bleibt nur anzumerken, dass die Mehrzahl der Bürgerinitiativen sich nicht gegen solche spektakulären Großprojekte zur Wehr setzt, sondern auf lokaler Ebene tätig wird.

3.4 MOBILISIERUNG- UND SOZIALISATION DER BÜRGER

Anknüpfend an die in diesem Zusammenhang geäußerte Kritik an den etablierten Parteien soll im folgenden auf die subjektiven Erfahrungen der Mitglieder, ferner auf die Organisationsstrukturen und die Sozialisationswirkungen von Bürgerinitiativen eingegangen werden.36

Ein wichtiges Merkmal der überwiegenden Mehrzahl von Bürgerinitiativen ist ihre geringe Zahl aktiver Mitglieder, die in der Regel bei 20 bis maximal 50 Personen liegt. Hinzu kommen oft noch "registrierte" Mitglieder und Sympathisanten, so dass sich die Organisationen nicht selten auf bis zu 200 Mitglieder berufen können. Dabei scheint es so zu sein, dass der Organisationsgrad positiv mit der Zahl der Mitglieder und der Bestandsdauer korreliert.

Bößhaar fasst dies wie folgt zusammen: kleine Bürgerinitiativen (mit der Tendenz zu offener Organisation) entscheiden eher informell und bestellen auch ihre Sprecher eher informell, während große Initiativen (mit der Tendenz zu geschlossener Organisation) eher zu formellen Verfahren neigen. Mit steigender Mitgliederzahl scheint daher auf in Bürgerinitiativen die Gefahr einer "Oligarchisierung" zu bestehen. Andererseits betätigt sich die überwiegende Mehrzahl der Bürgerinitiativen aber auch ausschließlich auf der kommunalen oder regionalen Ebene und die Tendenz zu einer überregionalen Zusammenarbeit ist eher schwach ausgeprägt. Dadurch ist die Gesamtorganisation für das einzelne Mitglied stets überschaubar, das Erfordernis formeller Beteiligungsregeln ist nicht in dem Maße wie bei Massenorganisationen gegeben. Diese Faktoren dürften einer "Abkoppelung" der "Führung" von der "Basis" eher entgegenwirken, so dass die Bürgerinitiativen ihrem demokratischen Anspruch durchaus gerecht werden können.

Entsprechend ergaben auch Befragungen unter Mitgliedern der Bürgerinitiativbewegung, dass diese ihre Tätigkeit überwiegend positiv erleben. Im Vordergrund steht die Erfahrung, Einfluss auszuüben und das Gefühl persönlichen Engagements und persönlicher Verantwortung - Erfahrungen, die Parteimitgliedern häufig versagt bleiben. Auch das Anwachsen des allgemeinen politischen Interesses, das Bewusstsein der Veränderbarkeit von Institutionen und der Abbau von Ohnmachtgefühlen gegenüber Staat und Verwaltung spielen eine wesentliche Rolle.

Die Bürgerinitiativen scheinen somit tatsächlich die defizitäre Wahrnehmung der Sozialisationsfunktion durch die Parteien auszugleichen.

Ob sie über die eigenen Mitglieder hinaus auch eine Mobilisierung der Bürger bewirken, hängt im wesentlichen von ihrem konkreten Anliegen und den jeweiligen Aktionsformen ab. So bedienen sich Bürgerinitiativen überwiegend solcher Aktionsformen, die auf die Mobilisierung der Öffentlichkeit gerichtet sind, wie Presseerklärungen, Flugblattaktionen, Informationsveranstaltungen, Demonstrationen u.a.m.

Der Erfolg einer Bürgerinitiative hängt nicht zuletzt davon ab, ob es ihr gelingt, über ihren Mitgliederkreis hinaus, die von ihr repräsentierten Anliegen als gesellschaftlich relevant zu vermitteln. Außer auf der subkommunalen Ebene (sog. Anliegerinitiativen) ist die einzelne Initiative dabei maßgeblich auf die Medien angewiesen.

4. BEWERTUNG UND AUSBLICK

Ausgehend von den Problemen der Interessenrepräsentanz der etablierten Parteien und den geringen Partizipationsmöglichkeiten der Bürger an staatlichen und administrativen Entscheidungsprozessen stellen die Bürgerinitiativen mit einigen Einschränkungen in der Tat eine wesentliche Ergänzung des Parteiensystems und damit eine Bereicherung des gesamten politischen Systems dar. Insbesondere auf der kommunalen Ebene, also dort, wo Politik "hautnah" erlebt wird, bieten sie dem Bürger die Chance, seine Interessen und seine Unzufriedenheit mit konkreten Planungen und Entscheidungen effektiv zum Ausdruck zu bringen. Gerade auf dieser Ebene erzielen Bürgerinitiativen auch ihre größten Erfolge. Neben der erhöhten Transparenz politischer Prozesse, die die Intervention von Bürgerinitiativen erreichen kann, sind auch die von der Mitarbeit in solchen Organisationen ausgehenden Sozialisationswirkungen nicht zu unterschätzen. Sie wirken der weitverbreiteten Dichotomisierung in "die da oben" und "wir hier unten" entgegen und beweisen, dass Verwaltung und Politik beeinflussbar sind. Insgesamt stellen sie ein nicht zu unterschätzendes Feedback für die politischen Entscheidungsträger dar. Eine wichtige Funktion kommt den Bürgerinitiativen auch im Hinblick auf die Konfrontation des politischen Systems mit neuen bzw. bisher weitgehend vernachlässigten Problemen zu. So werden die Interessen entlang der Konfliktlinie Arbeit-Kapital im politischen System systematisch begünstigt, andere Lebensbereiche (wie Wohnen, Bildung, Gesundheit...), die dem Reproduktionssektor zuzurechnen sind, dagegen benachteiligt. Bürgerinitiativen engagieren sich aber gerade in bezug auf diese disparitären Bedürfnisse und haben hier auch schon beachtliche Erfolge erzielt. Ihnen aufgrunddessen allerdings den Status eines Korrektivs des Parteiensystems zuzusprechen, erscheint unrealistisch. Bürgerinitiativen sind m.E. zwar ein angemessenes Instrument der Einflussnahme auf Planungen und Entscheidungen im überschaubaren lokalen Bereich. Eine echte Konkurrenz für die Parteien können sie aber nicht sein. Dafür ist allein schon die Kooperation zwischen den einzelnen lokalen Initiativen - sieht man vom Bereich des Umweltschutzes ab - zu gering. Gerade diese wäre aber erforderlich, um die Landes- oder Bundespolitik effektiv beeinflussen zu können. Es erscheint auch fraglich, ob dies ohne professionelle Führungsgremien überhaupt realisierbar wäre. Hier erscheinen Plebiszite wie Volksentscheid und Volksbegehren als angemessene und notwendige Partizipationsform, bei deren Vorbereitung und Durchführung aber ebenfalls den Bürgerinitiativen eine maßgebliche Bedeutung zukommt.

Bürgerinitiativen können somit zwar nicht als Korrektiv der Funktionsschwächen des Parteiensystems oder gar des gesamten politischen Systems angesehen werden, sie leisten aber einen wertvollen Beitrag zur politischen Sozialisation der Bürger und wirken Ohnmachtgefühlen, Resignation und politischer Apathie entgegen. Es wäre deshalb wünschenswert, wenn die etablierten Parteien aus den Stärken der Bürgerinitiativen auf ihre eigenen Schwächen schließen und hieraus Konsequenzen für ihre Strukturen und inhaltlichen Schwerpunkte ziehen würden.

Literaturverzeichnis:

Bößhaar, Klaus-Peter: Bürgerinitiativen im politischen System der Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt/Main 1982

Brand, Karl-Werner (Hrsg.): Neue soziale Bewegungen in Westeuropa und den USA, Frankfurt 1985

Guggenberger, Bernd / Kempff, Udo: Bürgerinitiativen und repräsentatives System, Opladen 1984

Guggenberger, Bernd: Bürgerinitiativen in der Parteiendemokratie, Stuttgart 1980 Kroll, Ilona: Vereine und Bürgerinitiativen heute, Marburg 1989

Landeszentrale f. polit. Bildung Baden-Würtemberg (Hrsg): Wahlverhalten, Stuttgart 1991

Mayer-Tasch, Peter Cornelius: Die Bürgerinitiativbewegung, Reinbek 1985

Nullmeyer, Frank / Raschke, Joachim: Soziale Bewegungen, Fernuniversität 1988

Oberreuter, Heinrich (Hrsg.): Wahrheit statt Mehrheit? An den Grenzen der Mehrheitsdemokratie, München 1986

Roth, Roland / Rucht, Dieter (Hrsg.): Neue soziale Bewegungen in der Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt 1987

Schmitt, Hermann: Das Parteiensystem der Bundesrepublik Deutschland, Fernuniversität 1987

Zwick, Michael M.: Neue soziale Bewegungen als politische Subkultur, Frankfurt 1990

Anmerkungen:

ERKLÄRUNG

Hiermit erkläre ich, daß ich die vorliegende Hausarbeit mit dem Thema

Interessenrepräsentation in der BRD

- Bürgerinitiativen - ein Korrektiv für Defizite des Parteiensystems ?

ohne fremde Hilfe erstellt habe. Alle verwendeten Quellen wurden angegeben. Ich versichere, daß ich bisher keine Hausarbeit oder Prüfungsarbeit mit gleichem oder ähnlichen Thema an der FernUniversität oder an einer anderen Hochschule eingereicht habe.

Korbach, den 07.07. 1992

[...]


[1] vgl. Pappi, F.U.: Die Republikaner im Parteiensystem der Bundesrepublik. Protesterscheinung oder politische Alternative, in: APuZ B <21/90, S.37f

[2] vgl. Fraenkel, E.: Deutschland und die westlichen Demokratien, Stuttgart, 1973

[3] Steffani, W.: Pluralistische Demokratie, Opladen, 1980

[4] vgl. von Beyme, K.: Parteien in westlichen Demokratien, München 1982

[5] vgl. Guggenberger, B.:Bürgerinitiativen in der Parteiendemokratie, Stuttgart, 1980, S.68

[6] vgl. Kirchheimer, O.: Der Wandel des westeuropäischen Parteiensystems in: politische Vierteljahresschrift 6/1965, S. 20-41

[7] vgl. Guggenberger, B., 1980, a.a.O., S.69

[8] Leggewie, Claus: Die Republikaner. Phantombild der neuen Rechten, Berlin 1989, S.87

[9] Erdmenger, K.: Rep-Wählen als rationaler Protest ? in: Landeszentrale f. polit. Bildung Baden-Würtemberg (Hrsg): Wahlverhalten, Stuttgart 1991, S.249

[10] Lipset, S.M./ Rokkan, S.: Party systems and voter alignments, New York 1967

[11] Lepsius, R., zitiert nach: Schmitt, H.: Das Parteiensystem der Bundesrepublik Deutschland, Fernuniversität 1987

[12] Schultze, R.O.: Wählerverhalten und Parteiensystem, aus: Wahlverhalten a.a.O, S.22

[13] vgl. Gibowski, Wolfgang G./ Kaase, Max: Auf dem Weg zum politischen Alltag. Eine Analyse der gesamtdeutschen Bundestagswahl vom 02.12.1990, in APuZ B 11- 12/1991

[14] Hildebrandt, K./ Dalton, R.J.: Die Politik, in: Kaase, M. (Hrsg): Wahlsoziologie heute. Analysen aus Anlaß der Bundestagswahl 1976, in PVS 18.Jg, S.230ff

[15] Schultze, R.O., a.a.O., S.31

[16] vgl. Böhret, C. u.a.: Innenpolitik und politische Theorie, Opladen 1987, S.193ff

[17] vgl. Böhret, C., a.a.O., S.175ff

[18] vgl. Böhret, C., a.a.O., S.202

[19] vgl. hierzu und zum folgenden: Guggenberger, B.: Krise der repräsentativen Demokratie, in: Guggenberger, B./Kempff, U.: Bürgerinitiativen und repräsentatives System, Opladen 1984, S.23ff

[20] aus: Guggenberger, B.: Krise der repräsentativen Demokratie, in: Guggenberger, B./Kempff, U.: a.a.O.

[21] aus: Guggenberger, B.: Krise der repräsentativen Demokratie, in: Guggenberger, B./Kempff, U.: a.a.O., S.41

[22] Guggenberger, B.: An den Grenzen von Verfassung und Mehrheitsentscheidung oder: Die neue Macht der Minderheit, aus: Oberreuter, Heinrich (Hrsg.): Wahrheit statt Mehrheit? An den Grenzen der Mehrheitsdemokratie, München 1986

[23] anders etwa: Oberreuter, H.: Abgesang auf einen Verfassungstyp? Aktuelle

Herausforderungen und Mißverständnisse der parlamentarischen Demokratie, in ders. (Hrsg.): Wahrheit statt Mehrheit? An den Grenzen der Mehrheitsdemokratie, München 1986

[24] Evers, T.: Volkssouveränität im Verfahren. Zur Verfassungsdiskussion über direkte Demokratie, in: APuZ B23/91

[25] Wassermann, R.: Die Zuschauerdemokratie, Düsseldorf, 1986

[26] Evers, T.: a.a.O

[27] zitiert nach Mayer-Tasch, Peter Cornelius: Die Bürger-initiativbewegung, Reinbek 1985, S. 39f

[28] Vgl. FGW, Politbarometer vom 19.06.1992

[29] Mayer-Tasch, Peter Cornelius, a.a.O, S. 10

[30] vgl. etwa Bößhaar, Klaus-Peter: Bürgerinitiativen im politischen System der Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt/Main 1982, S. 38

[31] Guggenberger, Bernd: Bürgerinitiativen in der Parteiendemokratie, Stuttgart 1980, S.55

[32] Mayer-Tasch, Peter Cornelius, a.a.O, S. 21

[33] Bößhaar, Klaus-Peter: a.a.O., S. 46ff

[34] aus: Guggenberger, B.: Bürgerinitiativen - oder: Wie repräsentativ ist die "Repräsentative Demokratie" in der Bundesrepublik? in: Guggenberger, B./Kempff, U.: a.a.O., S.183

[35] Guggenberger, B.: An den Grenzen von Verfassung und Mehrheitsentscheidung oder: Die neue Macht der Minderheit, aus: Oberreuter, Heinrich (Hrsg.): a.a.O., S. 51f.

[36] hierzu und zum folgenden vgl: Bößhaar, Klaus-Peter: a.a.O., S.49f und Kempff, U.:Bürgerinitiativen - Der empirische Befund, in: Guggenberger, B./Kempff, U.: a.a.O., S.295ff

Ende der Leseprobe aus 20 Seiten

Details

Titel
Organisierte Interessen als Korrektiv für Defizite der repräsentativen Demokratie
Hochschule
FernUniversität Hagen
Note
1,0
Autor
Jahr
2001
Seiten
20
Katalognummer
V105067
ISBN (eBook)
9783640033645
Dateigröße
397 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Organisierte, Interessen, Korrektiv, Defizite, Demokratie
Arbeit zitieren
Barbara Zuleger (Autor:in), 2001, Organisierte Interessen als Korrektiv für Defizite der repräsentativen Demokratie, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/105067

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