Die Synthese des Nationalen und des Sozialen bei Friedrich Naumann


Seminararbeit, 2001

19 Seiten, Note: 2+


Leseprobe


Inhalt

1. Einleitung: Von der imperialen Zeit und der Ausbeutung

2. Das Leben Friedrich Naumanns

3. Die Synthese des Nationalen und des Sozialen
3.1. Abkehr vom christlich - sozialen
3.2. Politik als Beruf und gänzlicher Verzicht auf eine christliche Grundlage- Der Weg zur Gründung des Nationalsozialen Vereins

4. Der Nationalsoziale Verein
4.1. Geschichte des Nationalsozialen Vereins
4.2. Ziele und Programm des Nationalsozialen Vereins

5. Fazit: Die Gründe für das Scheitern Naumanns

6. Literaturverzeichnis

Einleitung: Von der imperialen Zeit und der Ausbeutung

Eine lange Epoche deutscher Geschichte, deutschen Träumens und Hoffens, deutscher Not und Arbeit war am 18. Januar 1871 zu Ende gegangen. Die Lehre von der Einheit Deutschlands, die einst für Kluge eine Torheit, für Mächtige ein großes Ärgernis gewesen war, war nun vollzogen, ein einiges deutsches Reich war entstanden.1 Entwicklung geht immer weiter, sie steht niemals still, und auch mit der Einigung des Reiches war die Entwicklung nicht vollendet, es ging weiter. In die darauffolgende Zeit fällt auch der Kern dieser Arbeit, in eine Zeit, in der es nun darum ging, die Erde auf die mächtigsten Staaten aufzuteilen. Wir befinden uns im Imperialismus des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Die Anzahl der Kolonien, die ein Staat besaß, war gleichzeitig ein Zeichen für Macht. Steigerung der Kolonien war gleichzusetzen mit der Statussteigerung eines Staates. Aus diesem Grund war der Nationalismus ein Mainstream in der damaligen Zeit, es machte sich ein erwachendes Selbstbewußtsein für den eigenen Staat breit. Aber es gab zwei Seiten der Medaille, denn auf der anderen Seite stand die wachsende Industrie und damit auch eine wachsende Unzufriedenheit unter den Arbeitern, die sich ausgebeutet fühlten. So kam ein weiterer Mainstream ins Spiel, der Sozialismus. In ihm erhofften sich die Arbeiter die Erlösung, welche sie endlich aus der Ausbeutung befreien sollte. So entstanden zwei sich gegenüberstehende Gruppen, die einen, die Deutschland gerne an der Spitze der Welt sehen würden, und die anderen, die politisch uninteressiert ihre Befreiung wünschten. In diese Zeit gab Friedrich Naumann seine Synthese von dem Nationalem und dem Sozialem, um beide Mainstreams zusammenzubringen. Wie und warum er das tat, sollen die folgenden Ausführungen zeigen. Bezogen wird sich dabei weitgehend auf Reden oder Schriften, in denen er sein Gedankengut verbreitete, sowie auf das Programm seines von ihm gegründeten Nationalsozialen Vereins, in dem er seine Gedanken zu instrumentalisieren versuchte. Die Frage, die dabei beantwortet werden soll, ist die, warum sein Experiment scheiterte, warum seine Synthese nicht angenommen wurde, obwohl die Bereiche Nationalismus und Sozialismus Hauptströmungen der Zeit waren, wo sind die Gründe für das Scheitern zu suchen?

2. Das Leben Friedrich Naumanns

Um Naumanns Synthese des Nationalen und Sozialen erklären zu können, ist es unverzichtbar, vorerst einen Blick auf sein Leben zu werfen, denn oft waren Wandlungen im Leben Friedrich Naumanns auch Wandlungen in seinen politischen Ansichten. Aus diesem Grund soll hier eine kurze Biographie aufgezeigt werden, die Hintergründe seiner NationalSozialen Lebensphase sollen hier allerdings nur kurz angesprochen werden, da diese in einem anderen Teil dieser Arbeit detailliert behandelt werden.

Friedrich Naumann wurde am 25. März 1860 in Störmthal bei Leipzig, als Sohn eines Pfarrers, geboren. Im Jahr 1874 kam Friedrich Naumann zu seinem Großvater nach Leipzig, damit er dort das Gymnasium besuchen konnte, zwei Jahre später wurde er in der Meißener Fürstenschule St. Afra aufgenommen. Nach der Maturitätsprüfung stand Naumann vor der Berufswahl, entweder Mathematik studieren, oder Theologie, er entschloß sich aufgrund der Familientradition für das letztere. Er studierte in Erlangen und Leipzig, er betrachtete die Theologie als Wissenschaft und nicht unbedingt als Vorbereitung zum kirchlichen Beruf. Nach seinem ersten theologischen Examen 1883 ging er als Oberhelfer nach Hamburg in das „Rauhe Haus“, einem sozialen Hilfswerk, welches von dem evangelischen Sozialethiker und Sozialpraktiker Johann Hinrich Wichern gegründet wurde. Dort übte er eine praktisch- pädagogische Tätigkeit aus, die ihm sehr zusagte, er war sich nunmehr nicht sicher, ob er wirklich Pfarrer werden wolle. Er resignierte schließlich und absolvierte 1885 sein Examen.2 Nach dem Examen kam Naumann als kirchlicher Sozialarbeiter in das sächsische Industrierevier, in dem er mit den gegenwärtigen sozialen Problemen in Kontakt kam.3 Er erlangte dort genauere Einblicke in die Existenzbedingungen der sozialen Unterschichten. Seine Erfahrungen schrieb er daraufhin in seinem „Arbeiterkatechismus“ aus dem Jahr 1889 nieder, er wollte dadurch die Überzeugungskraft der von der Kirche verkörperten Werte wieder bei der Arbeiterschaft zur Geltung bringen und den Kontaktverlust der Kirche zu den sozialen Veränderungen seiner Zeit wieder aufarbeiten. Er griff dabei die protestantische Gesellschaftsreform von Johann Hinrich Wichern auf, deren Inhalte ihn bereits während seines Aufenthaltes im „Rauhen Haus“ beeinflußten, sie hatte die Öffnung des Protestantismus gegenüber dem Befreiungsanspruch der Arbeiterschaft als Ziel. Naumann trat daraufhin 1890 der „Christlich-sozialen Bewegung“ bei, die als Aktionsfelder die Evangelischen Arbeitervereine und den von Adolf Stöcker gegründeten Evangelisch-sozialen Kongreß hatte. Naumann und einige Anhänger lösten sich als sozialliberale „jüngere Christlich-Soziale“ von den sozialkonservativen „Christlich-sozialen“ Stöckers ab, Naumann wurde zu deren Mittelpunkt.4 Naumann hoffte, das „Christlich-Soziale“ würde irgendwann die Sozialdemokratie ablösen.

Das Jahr 1895 wurde sehr bedeutend für Naumann, Kaiser Wilhelm II. zog sich mehr und mehr von der Arbeiterpolitik zurück. Nach den Reichstagswahlen 1893 war eine Stärkung der Sozialdemokraten zu verzeichnen, dies enttäuschte den Kaiser und er stellte sich auf die Seite der Konservativen. Es folgte die sogenannte „Umsturzvorlage“, welche Zuchthausstrafen bei Umsturz der Staatsordnung und Beschimpfung von Monarchie und Religion vorsah. Die Vorlage wurde zwar im Reichstag nicht angenommen, aber sie verursachte eine große Wendung. Der evangelische Oberkirchenrat wurde dadurch zum Umschwenken veranlaßt und verurteilte im Dezember 1885 alle „sozialen Pfarrer“ wegen „unbesonnener Parteinahme“ für die Arbeiterschaft. Naumann war davon besonders betroffen, da er seit 1894 ein eigenes Publikationsorgan besaß, ein christlich-soziales Blatt, genannt: „Die Hilfe“ mit den Untertiteln: „Gotteshilfe, Selbsthilfe, Staatshilfe, Bruderhilfe“. Mit der „Hilfe“, kämpfte man gegen die „Umsturzvorlage“, außerdem festigte die Wochenzeitschrift in Naumann den Beruf zur Politik, dem er sich zwei Jahre später auch widmete.5 Die gesamte nationalsoziale Epoche wird im nächsten Kapitel näher betrachtet werden. Das Leben nach dieser Zeit bis zu Naumanns Tod soll hier nicht weiter erläutert werden, da es für das Thema nicht relevant ist.

3. Die Synthese des Nationalen und des Sozialen

3.1. Abkehr vom christlich - sozialen

Wie eingangs bereits erwähnt, war das Jahr 1895 sehr bedeutend für Naumann, doch nicht nur von seiten des Kaiser wurde Naumann beeinflußt, sondern mehr noch von seinen Zeitgenossen Rudolf Sohm und Max Weber.

Rudolf Sohm, eine Rechtsgelehrter, hielt beim Posener Kongreß der Inneren Mission einen Vortrag zum Thema „Der Christ im öffentlichen Leben“

Er legte dar, daß die Probleme des Staates, der Nation und der Macht, im Interesse des Glaubens, von den Fragen des Glaubens getrennt werden sollten. Sohm sprach sich also gegen die Konstruktion eines „christlichen Staates“ aus, da Recht ursprünglich ein Heide ist, er forderte somit eine Trennung von christlich und sozial. Dies beeindruckte Naumann sehr stark, was durch Max Webers akademische Antrittsrede an der Universität Freiburg noch verstärkt wurde.6

Max Weber betrachtete in seiner Rede „Der Nationalstaat und die Volkswirtschaftspolitik“ alles aus dem ökonomischen Blickwinkel, er legte dar, daß Machtkämpfe gleichzusetzen sind mit ökonomischen Entwicklungsprozessen, welche wiederum dauernde Machtinteressen der Nation sind, nicht einzig Interessen der jeweiligen Herrscher. Der Nationalstaat, so sagte er weiter, sei somit die weltliche Machtorganisation der Nation. Er sagte zur Herrschaft selbst, es sei durchaus gefährlich und mit dem Interesse der Nation unvereinbar, einer ökonomisch sinkenden Klasse die politische Macht in die Hand zu legen, aber noch gefährlicher sei eine Klasse, zu der hin sich die ökonomische Macht bewegt und damit auch die politische Herrschaft, obwohl diese politisch noch nicht reif genug ist zur Leitung eines Staates. Im letzteren meinte Weber ohne Zweifel die aufsteigende Arbeiterklasse. Er fuhr weiter fort und sprach das Thema Bismarck an, er verurteilte die Einigung Deutschlands als einen Jugendstreich, der zwar zur äußeren Einheit geführt hatte, aber nicht zur Inneren. Weber fordert politische Reife durch politische Erziehung, er bezieht sich dabei auf England, in dem aufgrund der Weltmachtstellung eine politische Erziehung gewährleistet ist, da der Staat ständig vor großen machtpolitischen Aufgaben steht und damit den einzelnen in eine politische Schulung nimmt. Somit ist nach Webers Meinung das Entscheidende für die weitere Entwicklung Deutschlands, inwieweit die Politik imstande ist, dem Volk die Bedeutung der großen politischen Machtfragen vor Augen zu stellen. Die Sozialpolitik soll zur Aufgabe haben, eine soziale Einigung der Nation herzustellen.7

Aus dieser Rede Webers verfestigte sich in Naumann ein Grundsatz, der sein politisches Leben fortan bestimmen sollte, ihm wurde klar, daß es einen innigen Zusammenhang zwischen innerer und äußerer Politik gab und daß eine Grenzsicherung unabdingbar für einen kulturellen Aufstieg wurde und außerdem eine gute Sozialreform gleichzeitig als außenpolitische Rüstung verstanden werden konnte. Er teilte die Sorge Webers, daß die deutsche Außenpolitik gefährdet sei, aufgrund der Uninteressiertheit der Sozialdemokratie, welche auf ihrer internationalen Ideologie verharrte.8

Ein nationaler Imperialismus war von da an charakteristisch in Naumanns Reden und Schriften sowie im politischen Erscheinungsbild der Nationalsozialen.9

Dies war die Geburtsstunde von Naumanns nationalen Sozialismus auf christlicher

Grundlage, eben nicht mehr ein christlicher Staat, wie ihn Naumann zuvor anstrebte. Damit war Naumann nicht mehr christlich-sozial, sondern national-sozial.

3.2. Politik als Beruf und gänzlicher Verzicht auf eine christliche Grundlage - Der Weg zur Gründung des Nationalsozialen Vereins

Bereits im Jahre 1886 betrat Naumann erstmals das Feld aktiver Politik, er gründete im Herbst den Nationalsozialen Verein, zu dessen Vorsitzendem er gewählt wurde. Obwohl man sich „Verein“ nannte, arbeitete man als Partei, man stellte Kandidaten zur Reichstagswahl auf. Das Programm war weitgehend Naumanns Leistung, er verband darin nationales, machtstaatliches Denken mit einer christlichen Grundhaltung. Diese Grundhaltung sollte sich allerdings bald ändern. Naumann war sehr mit seinen politischen Aktivitäten beschäftigt, so daß er sich 1897 von der Inneren Mission löste und nach Berlin übersiedelte, da dort der Sitz des Nationalsozialen Vereins war. Naumann reiste in den folgenden Jahren sehr viel, was ihm eine erweiterte Weltsicht verlieh. Die entscheidendste Reise war die nach Palästina, da sich durch diese in seiner religiösen Haltung einiges änderte. Jesus galt von nun an nicht mehr als sozialer Helfer, als den ihn Naumann bis dato betrachtete. Die soziale und technische Rückständigkeit Palästinas öffnete ihm die Augen. Diese Erfahrung und die oben erwähnte Rede Rudolf Sohms rief bei Naumann eine innere Auseinandersetzung hervor.10

Rechenschaft darüber legte er 1902 in den „Briefen über Religion“ ab.

Darin schrieb er, daß Jesus anders zum Leben stand, als man es gegenwärtig tut, er sah das Weltende vor sich. Diesen Glauben dürfte man nicht mehr haben, niemand hat ein Recht darauf, aufgrund von Weltuntergangsgedanken praktische Konsequenzen zu ziehen, es ist somit eine Pflicht, die Welt als ewig während zu betrachten. Das Urchristentum legte einst keinen Wert auf die Erhaltung von Staat, Recht, Organisation und Produktion, da man nicht über die Existenzbedingungen der menschlichen Gesellschaft nachdachte. Der Staat braucht einen Herrscher, wobei es keine Rolle spielt, ob er demokratisch oder aristokratisch ist, der Staat ist seiner Natur nach nicht Liebe, sondern Zwang, er darf weder mit dem Weltende, noch mit der freiwilligen Güte der Menschen rechnen. Diese Bedingungen sind ein Stück des Kampfes ums Dasein und Voraussetzung der Kultur. Der Staat fand seine Musterform in Rom und nicht in Nazareth und somit war Jesus nicht der Schöpfer des Staates, sondern er gab lediglich einen Zusatz in Form von Werten, Kraft und Güte. Naumann behauptet außerdem, wo auch immer das Christentum staatsbildend auftritt, ist dies nicht im Sinne von Jesus. Man soll Jesus nicht fragen, wenn es um staatliche und wirtschaftliche Dinge geht, da zu dessen Regelung die Vernunft nötig ist und nicht die Offenbarung.11

Von diesem Zeitpunkt an war der Politiker über den Theologen hinausgewachsen. Der christliche Aspekt blieb von nun an fast völlig außer acht.

4. Der Nationalsoziale Verein

4.1. Geschichte des Nationalsozialen Vereins

Im Herbst 1896 wurde, wie bereits schon erwähnt, der Nationalsoziale Verein in Erfurt gegründet. Nach den Umsturzvorlagen wurden die „jüngeren Christlich-Sozialen“ von der konservativen Partei, die weitgehend durch ostelbische Großgrundbesitzer organisiert war, als Provokation empfunden. Der Kreis um Naumann hatte nun zwei Möglichkeiten, entweder den Rückzug auf das geistliche Amt oder die Gründung einer selbständigen Gruppe außerhalb des Protestantismus, man entschloß sich für das Letztere, und es kam zu der Vereinsgründung.12

Hier soll nicht die gesamte Geschichte von 1896 - 1903 dargelegt werden, sondern es soll sich auf die Konstellation bei der Gründung bezogen werden, die relevant für die Grundlinien des Vereins war.

In der Gründungsveranstaltung erarbeitete man Grundlinien, die als programmatische Basis dienten und später ausgeweitet werden sollten. Der entscheidende Satz dabei lautete: „Wir wünschen [...] eine Politik der Macht nach außen und der Reform nach innen.“, was den Kern, das National-Soziale ausmachen sollte. Allerdings war diese wechselseitige Abhängigkeit von Machtpolitik und sozialer Reform keine neue Erfindung, sondern wurde schon von Verschiedenen gefordert. Es gab vom Tag der Gründung an zwei Flügel in dem Verein, die in keinem Punkt übereinstimmten, außer in dem Haß auf die klassenbewußte Sozialdemokratie. Der erste Flügel war der Auffassung, die Masse sei dumm, sollte aber trotzdem wählen dürfen, um den Gebildeten Sitze im Parlament zu verschaffen, da die Gebildeten den Staat beherrschen. Man war dagegen, den Arbeitern zu Gefallen zu reden, sondern man sollte eher die Gebildeten von der inneren Berechtigung und Notwendigkeit der

Arbeiterbewegung überzeugen. Der zweite Flügel forderte eine Spaltung der Sozialdemokratie, indem man den revisionistischen Flügel stützte und den revolutionären bekämpfte. Naumann hatte die Aufgabe, zwischen beiden Flügeln zu vermitteln.13

Die Frage, die nun aufkommen könnte, ist, warum sie sich Sozialisten nannten, denn Naumann verstand unter Sozialismus etwas anderes, als es Marx tat. Naumann bezeichnete sich nicht als Kommunist und Weltverbesserer, er verurteilte die real vorhandenen Verhältnisse nicht von einer allgemeinen Gleichheitsidee aus, und er hatte auch nicht die Absicht, durch Gewalt einen neuen Zustand herzustellen. Er will das Wort „Sozialismus“ nicht als eherne Lehrform verstehen, sondern er sieht darin eine große Volksbewegung, die eine lebendige, werdende, lernende und schaffende Macht ist. Das Wesentliche ist demnach nicht eine festgeschriebene Ideologie, sondern die politische Organisation der Masse, mit gelernten modernen Arbeitern. Die Masse ist im Wachsen begriffen, an Zahl und politischer Bildung, und wird somit zum wichtigsten Teil des Staatslebens. Mit dieser Masse zu gehen, heißt für Naumann, Sozialist zu sein, denn ein Fortschritt der Masse ist auch ein Fortschritt des gesamten Volkes. Da die Sozialdemokratie eine Interessenpartei der Besitzenden ist, wie Naumann sagt, ist sie nicht sozialistisch. Den Nationalsozialen Verein zählt Naumann zur Gesamtbewegung des Sozialismus, und zwar als dessen politisch rechtsstehenden Flügel. Naumann sagt er wolle den Sozialismus stärker machen und ist deswegen für ein Vaterland, einen Kaiser und eine starke Flotte. Vaterland deswegen, weil die arbeitende Masse nur etwas erreichen kann, wenn sie patriotisch und damit staatserhaltend auftritt, erst wenn sie den Großmachtgedanken trägt, wird sie innenpolitische Macht gewinnen. Da die Sozialdemokratie keine Nationalpolitik betreibt, schadet sie damit dem gesamten Volk.14

Nach zwei gescheiterten Reichstagswahlen löste sich der Nationalsoziale Verein 1903 auf. Naumann selbst sagte einige Jahre später, daß es unmöglich sei zwischen Sozialdemokratie und Liberalismus eine neue Zwischenform einzuführen, aber man versuchte im Nationalsozialen Verein ähnliche, und gemeinsame Strömungen beider Gebiete zu erfassen. Die Ideen des Vereins waren nach dem Scheitern nicht gestorben, sondern einzig die parteimäßige Form. Der Grund lag darin, daß die Massenkraft der Sozialdemokratie zu groß war. All diejenigen Arbeiter, die nationalsozial dachten, gingen lieber zu starken Sozialdemokratie, als zu dem relativ kleinen Verein, und mit wenigen Tausend Gebildeten läßt sich eben keine Partei gründen.15

Naumann war der Auffassung, der Verein sei seiner Aufgabe nicht gerecht geworden, auf dessen Vorschlag ging ein Großteil der Nationalsozialen zur Freisinnigen Vereinigung über, um dort ein neues politisches Betätigungsfeld zu finden. Der Verein zählte bei seiner Auflösung 2704 Mitglieder.16

Das Ergebnis der national-sozialen Bewegung beschrieb Theodor Heuss folgendermaßen, er sagte, es war eine Programmarbeit, die rücksichtslos sein konnte, da sie nicht auf Ideologien der Vergangenheit zurückgreifen mußte und somit in Deutschland den Versuch unternehmen konnte, sachlich und geistlich Ordnung zu schaffen.17

4.2. Ziele und Programm des Nationalsozialen Vereins

Wie oben bereits erwähnt, wurden zur Gründungsveranstaltung des Vereins sieben Grundlinien festgelegt, die zur zweiten Vertretertagung 1897 mit konkreten Inhalten versehen wurden, so entstanden verschiedene Einzelprogramme, wie zum Beispiel ein Genossenschaftsprogramm, ein Schulprogramm, ein Agrarprogramm und einige mehr.18 Im folgenden Abschnitt werden die Grundlinien genannt und anschließen wird erklärt, was genau ihr Inhalt umfassen soll.

„§1. Wir stehen auf nationalem Boden, in dem wir die wirtschaftliche und politische Machtentfaltung der deutschen Nation nach außen für die Voraussetzung aller größeren sozialen Reformen im Innern halten, zugleich aber der Überzeugung sind, daß die äußere Macht auf die Dauer ohne Nationalsinn einer politisch interessierten Volksmasse nicht erhalten werden kann. Wir wünschen darum eine Politik der Macht nach außen und der Reform nach innen.“19

Die Nationalsozialen nennen sich nationalsozial, weil sie überzeugt sind, daß das Nationale und das Soziale zusammengehören, das Nationale ist dabei der Trieb des Volkes, seinen Einfluß in der Welt auszudehnen. Das Soziale ist dabei der Trieb der arbeitenden Masse, seinen Einfluß innerhalb des Volkes auszudehnen. Der Zusammenhang beider liegt darin, daß die Ausdehnung des deutschen Einflusses auf der Erdkugel unmöglich ist, ohne einen Nationalsinn der Masse, und die Ausdehnung des Einflusses der Masse im Volk wiederum ist unmöglich, ohne eine Höherentwicklung der deutschen Macht auf dem Weltmarkt. Die großen Opfer, die für Flotte und Heer gebracht werden müssen, können auf Dauer nicht ohne den Willen der arbeitenden Masse aufgebracht werden, denn auf deren Schultern lastet das Militär. Da große Kriege zu erwarten sind, Kriege gegen England, Rußland und China, kann auf die Gunst der Masse nicht verzichtet werden. Bisher dachte die Masse nicht national, weil sie kein politisches Verantwortungsgefühl kannte und weil sie bisher nur als Oppositionspartei aufgetreten war und die praktische Politik ihren Gegnern überlassen hatte. Es muß eine Politik der Macht nach außen und der Reform nach innen gefordert werden.20

Diese Grundlinie hatte die höchste Priorität, Naumann war der Auffassung, Deutschland müsse wieder stärker werden und aus seinem tiefen Schlaf erwachen.

Deutschland ist nach Naumann zu einer Macht zweiten Grades geworden, die politische Bühne ist größer geworden, und der Imperialismus hatte begonnen. Es war ein typischer Trend im ausgehenden 19. Jahrhundert, sich einen Platz auf der Erde zu sichern, da alle Erdteile entdeckt waren und die Welt somit nicht mehr größer werden konnte. England und Rußland waren dem Deutschen Reich in dieser Hinsicht weit voraus. England umfaßte ein Siebtel der Erdoberfläche und ein Fünftel der Erdbevölkerung. England wird somit zur Metropole der Welt und London die Hauptstadt der modernen kapitalistischen Welt. Deutschland habe zwei Möglichkeiten, sich entweder eine starke deutsche Kultur neben der englischen erkämpfen, oder sich von Rußland im Osten und von England im Westen zerdrücken lassen, indem die Sklaven an den Osten verlorengehen und die eigenen Leute in den Westen abwandern. Man dürfe die Weltmacht Englands nicht zulassen, man müsse verstärkt gegen diese Tatsache ankämpfen, und dies funktioniere nur durch nationale Stärke.21

Ein weiterer Punkt ist, daß die deutsche Bevölkerung immer weiter wächst und Brot, Arbeit und Bildung braucht, was die Kernfrage des sozialen Problems ist. 1870 lebten im Deutschen Reich noch 38 Millionen Menschen, 1898 sind es 53 Millionen, das ist ein Zuwachs von 800000 pro Jahr, für all diese Menschen muß eine Versorgung gewährleistet sein. Diese läßt sich einzig durch eine starke auswärtige Politik erfüllen.22

„§2. Wir wünschen eine feste und stetige auswärtige Politik, die der Ausdehnung deutscher Wirtschaftskraft und deutschen Geistes dient. Um sie zu ermöglichen, treten wir für die ungeschmälerte Durchführung der allgemeinen Wehrpflicht, für eine angemessene Vermehrung der deutschen Kriegsflotte, sowie für Erhaltung und Ausbau unserer Kolonien ein. Im Interesse der vaterländischen Macht und Ehre werden wir Mißstände in unseren militärischen und kolonialen Einrichtungen stets offen bekämpfen.“23

Politik der Macht nach außen soll so sein, wie die Politik, die von England, Rußland und Frankreich betrieben wird, eben eine Politik, die davon ausgeht, daß gegenwärtig die Erdoberfläche verteilt wird, wenn Deutschland sich daran nicht beteiligt, erleidet es sehr große Kraftverluste. Man verliert den deutschen Seehandel, die Kolonien und die deutsche Auswanderung, außerdem die Großindustrie, die für die Ernährung der immer weiter wachsenden Bevölkerung nötig ist. Außerdem wäre es ein Verlust des Einflusses des deutschen Geistes in der Welt. Der deutsche Geist umfaßt die deutsche Sprache, bisher gibt es allerdings kein deutsches Sprachgebiet in fremden Erdteilen, dies sollte man ändern. Man muß sich auch auf einen Kampf gegen die erste Seehandelsmacht der Erde, also England vorbereiten, um den wirtschaftlichen Einfluß Deutschlands auszudehnen. Die Wehrmacht muß ebenfalls stark bleiben zur Grenzsicherung gegenüber Frankreich, aus diesem Grund spricht man sich für eine allgemeine Wehrpflicht aus. Der wichtigste Punkt jedoch ist die Vermehrung der deutschen Kriegsflotte, die gegenwärtig an sechster Stelle in der Weltrangordnung steht, während die deutsche Handelsflotte an zweiter Stelle steht. Die Kriegsflotte muß so groß wie die Handelsflotte werden, um diese ausreichend schützen zu können.

Kolonialbesitz ist eine Notwendigkeit, um Erhaltung der deutschen Kraft in anderen Erdteilen zu sichern. Solche Kolonien können nur durch Friedensschlüsse nach erfolgreichen Seekriegen gewonnen werden.24

Die Aus- und Einfuhr muß verstärkt werden, um eine umfassende Versorgung zu gewährleisten, Bis 1876 gab es in Deutschland mehr Getreide, als eigentlich gebraucht wurde, 1898 hingegen ernährten sich ein Fünftel der deutschen Bevölkerung von fremdem Brot, Tendenz steigend. Brot hängt also von der Einfuhr und somit von Schiffen ab, allerdings nicht nur Brot, sondern auch andere Produkte wie Baumwolle, Petroleum, Reis und Tabak, also Produkte, auf die der Deutsche nicht mehr verzichten will. Man braucht also eine stetig wachsende Ausfuhrindustrie, um Waren gegen Waren zu tauschen. Um diesen Handel reibungslos zu ermöglichen, braucht man eine starke Kriegsflotte, die den Handel zur See überwacht und vor feindlichen Übergriffen schützt.25

Diese zweite Grundlinie behandelte die außenpolitischen Aspekte, die fünf noch ausbleibenden Programmpunkte befassen sich mit der inneren Politik, also mit den sozialen Reformen.

„§3. Wir stehen fest auf dem Boden der deutschen Reichsverfassung und wünschen ein kräftiges Zusammenwirken der Monarchie und der Volksvertretung. Wir sind für Unantastbarkeit des allgemeinen Wahlrechts zum Reichstage und für Ausdehnung desselben auf Landtage und Kommunalvertretungen. Wir fordern Verwirklichung der politischen und wirtschaftlichen Vereinsfreiheit und ungeschmälerte Erhaltung der staatsbürgerlichen Rechte aller Staatsbürger.“26

Die arbeitende Menge kann durch das allgemeine Wahlrecht Einfluß auf die innere und äußere Politik nehmen, indem sie die Zahl ihrer parlamentarischen Vertreter vermehrt. Die Vertreter sollen jedoch nicht in der Opposition agieren, sondern die Interessen der Arbeit auf Grund der Reichsverfassung vertreten. Die Monarchie ist dabei als Einrichtung günstig für die Arbeiterbewegung, da es die erste Aufgabe der Monarchie ist, die Größe der Nation zu erhalten, aus diesem Grund kann sich die Monarchie nicht immer auf Volksteile stützen, die an wirtschaftlicher und politischer Bedeutung verlieren, gemeint sind hier die preußischen Großgrundbesitzer. Die Masse muß jedoch staatserhaltend sein, damit die Monarchie für die Interessen der Arbeiterschaft eintreten kann, es soll jedoch keine absolute Monarchie entstehen, sondern ein kräftiges Zusammenwirken von Monarchie und Volksvertretung. 27

Die nächste Grundlinie wird die Arbeiterfrage betreffen und Stellung zu Gewerkschaften und Genossenschaften nehmen.

„§4. Wir wollen eine Vergrößerung des Anteils, den die Arbeit in ihren verschiedenen Arten und Formen in Stadt und Land unter Männern und Frauen an dem Gesamtertrag der deutschen Volkswirtschaft hat, und erwarten dieselbe nicht von den Utopien und Dogmen eines revolutionären marxistischen Kommunismus, sondern von fortgesetzter politischer, gewerkschaftlicher und genossenschaftlicher Arbeit auf Grund der vorhandenen Verhältnisse, deren geschichtliche Umgestaltung wir zu Gunsten der Arbeit beeinflussen wollen.“28 Der Gesamtertrag, wie er hier angesprochen wird, wird zum einen gewonnen durch die Bebauung des vaterländischen Bodens, die Benutzung all seiner Flüsse, Seen und Bergwerke, sowie die Pflege seines Viehbestandes. Zum anderen wird er gewonnen durch den Ertrag des Land- und Seehandels mit anderen Völkern, wie auch durch Kapitalanlagen im Ausland. Das Nationaleinkommen kann nur steigen, durch eine lebhafte und erfindungsreiche Arbeit auf all den oben genannten Gebieten, verknüpft mit einer effektiven Wirtschaftspolitik im Innern und nach außen. Man kann nicht genau sagen, ob ein Industriestaat oder ein Agrarstaat besser ist, da von beidem etwas nötig ist, eventuelle Widersprüche zwischen beiden Gebieten müssen vereinbart werden. Deutschland soll ein Arbeitsstaat werden, was bedeuten wird, daß das Nationaleinkommen in erster Linie der Arbeit gehört. Für die Nationalsozialen gehören zu den Arbeitern auch Kaufleute, Beamte, Unternehmer, Beamte, Handwerker und Bauern. Man will für die Gruppe eintreten, die für den Staat am notwendigsten ist, deren Organisationskraft am größten ist und deren Lage am meisten bedroht ist, eine Sozialpolitik für alle ist nicht möglich, sie ist Utopie, man kann eine solche Politik nur für bestimmte Gruppen machen. Utopien finden sich bei fast allen Oppositionsparteien und bei den Parteien, die keine Gegenwartspolitik betreiben. Aus diesem Grund erkennen die Nationalsozialen die Sozialpolitik der Sozialdemokratie an, so lange sie zu praktischen Erfolgen in der Arbeiterschaft führt, halten aber nichts von den Utopien des marxistischen Kommunismus. Der Kommunismus ist deswegen utopisch, weil er die Arbeiterschaft international revolutionär macht und sie somit unfähig wird die Gesetzgebung des eigenen Staates zu beeinflussen.29 Dazu hielt Naumann im Jahre 1901 an der technischen Hochschule in Charlottenburg eine Rede, zum Thema, „Nationaler und internationaler Sozialismus“.

Dort erklärte Naumann zum ersten die Grundgedanken des Sozialismus. Er ist eine Bewegung der abhängigen Klassen des Volkes nach oben, sie fordern bessere Nahrung, mehr Bildung und mehr Macht, was sich im Sozialismus zusammenfaßt. Naumann fügt aber auch hinzu, daß es Bewegungen der Massen nach oben schon immer gegeben hat. Im Altertum gab es die Sklavenkriege und im ausgehenden Mittelalter die Bauernkriege, dies war auch kein Sozialismus. Im gegenwärtigen neuen Wort des Sozialismus liegt jedoch ein Problem, ein modernes Problem, denn was soll mit denen passieren, die keine eigenen kleinen Existenzen aufbauen können, also mit denen, die in den Großbetrieben arbeiten. Großbetriebe sind ein neuer Typus des Betriebs, der erst durch die moderne Technik kam. In diesen Betrieben waren sich die einzelnen darüber im Klaren, daß sie nur in der Masse etwas bewirken konnten, also eine Klasse als Einheit, dem Einheitssubjekt. So entstand der Gedanke von dem großen Subjekt der „abhängigen Masse“. Diese Masse denkt sich handelnd, die Produktion mitbestimmend, regelnd, die Konsumtion in die Hand nehmend und dirigierend, sie denkt sich als das Subjekt überhaupt. Doch alle diese Dinge sind Wunschdenken, da es ein mühseliger Kampf werden wird, das angestrebte Ziel, einen Betrieb mit Gesamteinfluß, zu erreichen.

Die Hauptformel für den Sozialismus gaben Karl Marx und Friedrich Engels, sie gingen von dem Lohnarbeiter im Massenbetrieb aus. Naumann selbst sieht sich jedoch nicht als Marxist, aber er gibt zu, daß Marx in diesem wirren Gebiet von Tendenzen, Ideen und Träumereien eine Ordnung schaffte und so dem Sozialismus eine begriffliche Klarheit verlieh. Marx glaubte daran, daß sich der Großbetrieb vollends durchsetzen würde, und er glaubte an die Möglichkeit, ihn voll und ganz zu demokratisieren, indem man die Produktionsmittel vergesellschaftet. Marx betrachtete dies aus einer internationalen Perspektive, er dachte an eine internationale demokratische Weltwirtschaft als Endziel, dieser Gedanke wurde zum Kerngedanken des internationalen Sozialismus. Naumann erkennt darin ein Problem, nämlich daß die Nationalitäten, die nebeneinander stehen, aufgrund der Verteilung der Erdteile in Rivalität stehen und somit der Endzielgedanke sehr fern ist. Der internationale Sozialismus setzt außerdem voraus, daß der Industrialismus gesiegt hat, was noch nicht erreicht ist. Naumann fügt hinzu, daß erst soviel Industrie in ein Land hinein muß, daß alle Agrarherrschaft an Bedeutung verliert, und man damit von Sozialismus, also einem siegreichen Aufsteigen, sprechen kann. Naumann bringt dazu das Beispiel Englands, dem einzigen Land, in dem der Industrialismus gesiegt hat und in dem bereits akzeptiert wurde, daß die Industrie die Quelle des Brotes und die Trägerin des Volkslebens ist. Allerdings läßt sich in England feststellen, daß alleine mit dem Sieg noch kein Sozialismus erreicht ist, sondern nun erst die Möglichkeit einer industriellen Bewegung besteht, zum Beispiel in Form von Gewerbevereinen oder Konsumverbänden. Somit ist, laut Naumann, in England die Bahn geebnet, daß Sozialismus wahr werden kann. Naumann behauptet, daß ein sich sozialistisch entwickelnder Staat sich wirtschaftlich isoliert halten sollte, also eine nationale Durchführung auf nationalem Boden, er fordert also statt eines internationalen Sozialismus einen nationalen Sozialismus. Der Sozialismus muß dabei mit dem Staat rechnen, also nicht gegen ihn arbeiten, erst dann hat er Aussichten auf Erfolg.30

Für Naumann spielt immer wieder der nationale Aspekt die entscheidende Rolle, wie man an den oben genannten Ausführungen erkennen kann, er will also versuchen, den Sozialismus staatsfähig zu machen. Naumann verurteilt nicht alles am Sozialismus, er übernimmt die Elemente, die für ihn nicht utopisch und somit umsetzbar scheinen.

So spricht er sich auch für Genossenschaften und Gewerkschaften aus, die ebenfalls den Anteil der Arbeit am Nationaleinkommen vermehren sollen. Gewerkschaften sollen Unterstützungsverbände, Lohnkampforganisationen und sozialpolitische Erziehungsanstalten für Lohnarbeiter und Angestellte eines Berufes sein. Aus ihnen sollen sich Arbeitervertretungen entwickeln, die von der Regierung und den Unternehmerverbänden anerkannt werden, und sie sollen ebenfalls einen mitbestimmenden Einfluß auf die deutsche Wirtschaftspolitik haben. Die Genossenschaften sind Einkaufs-, Kredit-, Arbeits- oder Verkaufsverbände, sie sollen die Kleinbauern, Handwerker und Kleinkaufleute zu Gliedern eines größeren Wirtschaftskörpers machen und damit wirtschaftliche Mißstände, die durch Vereinzelung entstanden sind, beseitigen. Sie sollen dem Schutz kleinerer Existenzen im Wirtschaftskampf dienen.31

Die nächste Grundlinie befaßt sich mit dem Verhältnis zwischen deutscher Bildung und deutscher Arbeiterschaft.

„§5. Wir erwarten, daß die Vertreter deutscher Bildung im Dienst des Gemeinwohls dem politischen Kampf der deutschen Arbeit gegen die Übermacht vorhandener Besitzrechte unterstützen werden, wie wir andererseits erwarten, daß die Vertreter der deutschen Arbeit sich zur Förderung vaterländischer Erziehung, Bildung und Zunft bereit finden werden.“32

Mit den Nationalsozialen kommen durch die deutsche Bildung neue Kräfte in die soziale Bewegung. Zu diesen Gebildeten gehören diejenigen, die eine höhere Ausbildung genossen haben, ohne Besitzinteresse gespürt zu haben, also Geistliche, Lehrer, Juristen, Ärzte, Techniker, kaufmännische Beamte, Privatangestellte, Künstler und Schriftsteller. Eine Partei der Gebildeten kann es nicht geben, da viele direkte Staatsbeamte sind und so im Interesse ihres Berufes nicht den Oppositionsbewegungen beitreten können, oder weil andere von den besitzenden Schichten in irgendeiner Form abhängig sind, außerdem ist die Zahl der Bildungsvertreter zu gering, geradezu 2% der Bevölkerung, um eigene Politik zu machen, also bleibt ihnen nichts anderes übrig, als sich an andere Gruppen anzuschließen.

Trotzdem haben sie einen sehr hohen indirekten Einfluß, da sie in den Parteien die Träger des Wissens, Schriftsteller, Redner und auch Organisatoren sind. Bisher haben sich nur wenige Akademiker der Arbeiterbewegung angeschlossen, für den politischen Sozialismus sind Gebildete aber notwendig, wenn er sich an den Arbeiten der Gesetzgebung und Verwaltung beteiligen will. Bisher haben sich die Gebildeten vom Sozialismus ferngehalten, weil sie gesehen haben, daß er dem Gemeinwohl des deutschen Volkes nicht dient, weil er einseitige Klassenpolitik betreibt, ohne nationale Grundgedanken. Deutsche Gebildete sind deswegen national gesinnt, weil sie, laut Naumann, die Geschichte am besten kennen und zur Entstehung des deutschen Reiches im wesentlichen beigetragen haben.33

Der Nationalsoziale Verein ist, und das zeigt die nächste Grundlinie, für Gleichheit unter den Menschen, er fordert aus diesem Grund die Regelung der Frauenfrage.

„§6. Wir sind für Regelung der Frauenfrage im Sinne einer größeren Sicherung der persönlichen und wirtschaftlichen Stellung der Frau und ihre Zulassung zu solchen Berufen und öffentlich rechtlichen Stellungen, in denen sie die fürsorgende und erziehende Tätigkeit für ihr eigenes Geschlecht wirksam entfalten kann.“34 Frauen umfassen die Hälfte des deutschen Volkes, sie sind von großer Bedeutung. Sie streben nach größerer materieller, rechtlicher und geistiger Selbständigkeit. Frauen sind vermehrt in Großindustrie, Hausindustrie, Handel, sowie literarische und künstlerische Arbeitszweige eingetreten, also sollen sie die gleichen Rechte bekommen. Alle Berufe sollen für Frauen geöffnet werden, solange sie Gesundheit und Sittlichkeit nicht gefährden, Gebiete wie Kriegsdienst, Staatsleitung und Pfarramt sollen sich allerdings niemals für Frauen eröffnen, sie bleiben Männersache. Aufgrund der geringen politischen Bedeutung können Frauen die Ziele ihrer Bewegung nicht selbst erreichen, deswegen unterstützt sie der Nationalsoziale Verein.35

Als letzten Punkt behandeln die Grundlinien die Religionsfrage, die, wie an anderer Stelle bereits erwähnt wurde, in Naumanns Leben eine große Rolle spielte.

„§7. Im Mittelpunkt des geistigen und sittlichen Lebens unseres Volkes steht uns das Christentum, das nicht zur Parteisache gemacht werden darf, sich aber auch im öffentlichen Leben als Macht des Friedens und der Gemeinschaftlichkeit bewähren soll.“36

Die Religionsfrage ist für Naumann die wichtigste Frage des geistigen Volkslebens, das Christentum muß aber aus der Politik herausgehalten werden. Diesen Punkt näher zu durchleuchten ist hier nicht notwendig, da dies an anderer Stelle bereits getan wurde. Damit lassen sich die Ausführungen zu Programm und Zielen des Nationalsozialen Vereins beenden.

5. Fazit: Die Gründe für das Scheitern Naumanns

Wie Naumann selbst festgestellt hatte, scheiterte die Synthese des Nationalen und des Sozialen daran, daß die Massenkraft der Sozialdemokratie einfach zu stark und zu eingesessen war. Naumann versuchte mit seiner Konzeption etwas Neues, das schon oft gefordert wurde, aber niemals zuvor unternahm jemand den Versuch, es zu instrumentalisieren. Eine kleine Gruppe, wie es der Verein war, konnte sich nicht so leicht gegen eine Massenorganisation, wie die Sozialdemokratie es war, durchsetzen. Naumann versuchte, um es mit Theodor Heuss zu sagen, zwei traditionell antithetische Begriffe in eine Synthese zu zwingen, und „zwingen“ ist dabei auch das treffende Wort, denn die beiden Begriffe waren zu konträr, als daß sie sich zusammenfügen ließen.37 Auch sein politischer Partner Max Weber kritisierte Naumanns Synthese, er teilte nur wenige Ansichten mit ihm. Webers Kritik, speziell am Programm des Nationalsozialen Vereins, bestätigte sich mit Naumanns Scheitern. Webers Kritik besagte zum einen, daß die klassenpolitische Zuordnung im Verein höchst fragwürdig war, da nur ein geringer Teil an Arbeitern in ihm engagiert war. Er bezeichnete den Verein als Partei der Mühseligen und Beladenen, solche, die keinen Besitz haben, aber welchen haben möchten, das erkennt man auch an der Spaltung im Verein, die oben bereits angesprochen wurde.38

Weber bezeichnete die Nationalsozialen als „Hampelmänner“, die mal nach rechts und mal nach links sprangen. Was fehlte, waren politische Gesichtspunkte. Überhaupt wirft Weber Naumann vor, er sei unpolitisch, er sei zu sentimental, und Sentimentalität sei keine gute Grundlage für das harte politische Geschäft. Weber schließt seine Kritik mit dem alten Thüringer Wort: „ Landgraf werde hart!“39

Natürlich kann Naumanns Sentimentalität allein nicht Schuld an dem Scheitern gewesen sein, aber es war sicherlich ein Grund, er war im Herzen ein Pfarrer, und somit ähnelten seine politischen Gedanken einer Predigt, was sie wahrscheinlich sentimental erscheinen ließen. Es gab so viele Gründe, man kann sie nicht auf einen einzigen Nenner zurückführen. Naumann hatte bei seiner Konzeption auf den Kaiser gebaut, der jedoch nicht die erwartete Reaktion zeigte, was sicher auch ein Grund für das Scheitern war, außerdem, und das darf man nicht vergessen, war die Arbeitermasse noch nicht bereit, noch nicht gebildet genug, hier gab es noch keine festen politischen Standpunkte, die Arbeiter ließen sich mitreißen, was sicher zum Erfolg der Sozialdemokratie beitrug. Naumann hatte es nicht geschafft, mit einer Hand voll Intellektuellen, die Masse mitzureißen. Hätte er 1903 nicht aufgegeben, dann hätte er es vielleicht in die große Politik schaffen können, denn 30 Jahre später hat es auch jemand geschafft, mit den gleichen Begriffen, Nationalismus und Sozialismus, aber einem weniger durchdachten Programm, er hat es geschafft, die Masse mitzureißen, und es wäre besser gewesen, die Masse hätte sich von Naumann mitreißen lassen. Zumindest weiß man das heute gut genug.

6. Literaturverzeichnis

Damaschke, Adolf, Was ist National - Sozial? Eine Antwort, Berlin 1898.

Heuss, Theodor, Das war Friedrich Naumann, München 1974.

Lieber, Hans-Joachim (Hrsg.), Politische Theorie von der Antike bis zur Gegenwart, Wiesbaden 2000.

Mommsen, Wolfgang J., Schwentker, Wolfgang, Max Weber und seine Zeitgenossen [=Veröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts London, Bd. 21], Göttingen, Zürich 1988.

Naumann, Friedrich, Ausgewählte Schriften, in: Graf zu Solms, Max (Hrsg.), Civitas Gentium. Quellenschriften und Monographien zur Soziologie und Kulturphilosophie, Frankfurt a. M. 1949.

Naumann, Friedrich, Demokratie und Kaisertum. Ein Handbuch für innere Politik (1900), 4. neubearbeitete Aufl., Berlin 1905.

Naumann, Friedrich, National - Sozialer Katechismus. Erklärung der Grundlinien des National - Sozialen Vereins, Berlin 1897.

Naumann, Friedrich, Nationale Sozialpolitik, Göttingen 1898.

Naumann, Friedrich, Nationaler und Internationaler Sozialismus. Vortrag von Friedrich

Naumann. Gehalten in der Abteilung für Sozialwissenschaft der Technischen Hochschule in Charlottenburg (Stenogramm), Berlin 1901.

Naumann, Friedrich, Werke. Zweiter Band [=Schriften zur Verfassungspolitik], Köln, Opladen 1964.

Theodor, Gertrud, Friedrich Naumann oder der Prophet des Profits. Ein biographischer Beitrag zur Geschichte des frühen Imperialismus, Berlin 1957.

Theiner, Peter, Friedrich Naumann und Max Weber. Stationen einer politischen Partnerschaft, in: Mommsen, Wolfgang J., Schwentker, Wolfgang, Max Weber und seine Zeitgenossen [=Veröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts London, Bd. 21], Göttingen, Zürich 1988.

Weber, Max, Gesammelte Politische Schriften, in: Winckelmann, Johannes (Hrsg.) [= UTB für Wissenschaft], 5., photomechanisch nachgedruckte Aufl., Tübingen 1988.

Wenck, Martin, Die Geschichte der Nationalsozialen von 1895 bis 1903, Berlin 1905. National - Sozialen Vereins, Berlin 1897.

Werth, Christoph H., Sozialismus und Nation. Die deutsche Ideologiediskussion zwischen 1918 und 1945, Opladen 1996.

Winkler, Heinrich August, Die Deutsche Geschichte vom Ende des Alten Reiches bis zum Untergang der Weimarer Republik [=Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung], Bonn 2000.

[...]


1 Vgl., Damaschke, Adolf, Was ist National - Sozial? Eine Antwort, Berlin 1898, S. 4.

2 Vgl., Naumann, Friedrich, Ausgewählte Schriften, in: Graf zu Solms, Max (Hrsg.), Civitas Gentium. Quellenschriften und Monographien zur Soziologie und Kulturphilosophie, Frankfurt a. M. 1949, S.12 ff.

3 Vgl., http://www.fnst.de/stiftung/biographie.phtm am 02.04.01.

4 Vgl., Theiner, Peter, Friedrich Naumann und Max Weber. Stationen einer politischen Partnerschaft, in: Mommsen, Wolfgang J., Schwentker, Wolfgang, Max Weber und seine Zeitgenossen [=Veröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts London, Bd. 21], Göttingen, Zürich 1988, S. 419-422.

5 Vgl., Naumann, Friedrich, Ausgewählte Schriften, in: Graf zu Solms, Max (Hrsg.), CivitasGentium. Quellenschriften und Monographien zur Soziologie und Kulturphilosophie, Frankfurt a. M. 1949, S. 21 ff.

6 Vgl. ebd., S. 21 - 47.

7 Vgl., Weber, Max, Gesammelte Politische Schriften, in: Winckelmann, Johannes (Hrsg.) [= UTB für Wissenschaft], 5., photomechanisch nachgedruckte Aufl., Tübingen 1988, S.14 - 25.

8 Vgl., Naumann, Friedrich, Ausgewählte Schriften, S. 21 - 47.

9 Vgl., Theiner, Friedrich Naumann und Max Weber, S. 419 - 427.

10 Vgl., Naumann, Ausgewählte Schriften, S. 21- 47.

11 Vgl., Naumann, Friedrich, Briefe über die Religion, in: Ausgewählte Schriften, S. 168 - 171.

12 Vgl., Theiner, Friedrich Naumann und Max Weber, S. 419 - 427.

13 Vgl., Theodor, Gertrud, Friedrich Naumann oder der Prophet des Profits. Ein biographischer Beitrag zur Geschichte des frühen Imperialismus, Berlin 1957, S. 56 - 64.

14 Vgl., Naumann, Friedrich, Weshalb wir und Sozialisten nennen?, in: Naumann, Friedrich, Ausgewählte Schriften, S. 125 - 129.

15 Vgl., Wenck, Martin, Die Geschichte der Nationalsozialen von 1895 bis 1903, Berlin 1905 [=Vorwort von Friedrich Naumann], S. III - IV.

16 Vgl.,Naumann, Friedrich, Ausgewählte Schriften, S. 28 f..

17 Vgl., Heuss, Theodor, Das war Friedrich Naumann, München 1974, S.44.

18 Vgl., Wenck, Die Geschichte der Nationalsozialen von 1895 bis 1903, S.84 ff.

19 Vgl., Naumann, Friedrich, National-Sozialer Katechismus. Erklärung der Grundlinien des National-Sozialen Vereins, Berlin 1897, S. 5.

20 Vgl., ebd., S. 5 - 9.

21 Vgl., Naumann, Friedrich, Nationale Sozialpolitik, Göttingen 1898, S.1 - 4.

22 Vgl., Damaschke, Adolf, Was ist National-Sozial? Eine Antwort, Berlin 1898, S. 4 ff.

23 Naumann, Friedrich, National-Sozialer Katechismus, S. 9.

24 Vgl. ebd., S. 9-13.

25 Vgl., Naumann, Friedrich, Nationale Sozialpolitik, S. 5 f.

26 Naumann, National-Sozialer Katechismus, S. 13.

27 Vgl. ebd., S. 13 - 19.

28 Ebd., S.19.

29 Vgl. ebd., S. 19 - 24.

30 Vgl., Naumann, Friedrich, Nationaler und Internationaler Sozialismus. Vortrag von Friedrich Naumann. Gehalten in der Abteilung für Sozialwissenschaft der Technischen Hochschule, Berlin 1901, S. 3 - 15.

31 Vgl. Naumann, National - Sozialer Katechismus, S. 24 f.

32 Ebd., S.25.

33 Vgl. ebd. S. 25 - 29.

34 Ebd., S. 29 .

35 Vgl. ebd., S. 29 - 32.

36 Ebd., S. 32.

37 Vgl., Heuss, S.33.

38 Vgl., Theiner, Peter, S. 419 - 427.

39 Vgl., Weber, S. 26 f.

Ende der Leseprobe aus 19 Seiten

Details

Titel
Die Synthese des Nationalen und des Sozialen bei Friedrich Naumann
Veranstaltung
Seminar: Politisches Denken im Vorfeld des Nationalsozialismus. Zur Ideengeschichte der Weimarer Republik.
Note
2+
Autor
Jahr
2001
Seiten
19
Katalognummer
V105160
ISBN (eBook)
9783640034574
Dateigröße
392 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Synthese, Nationalen, Sozialen, Friedrich, Naumann, Seminar, Politisches, Denken, Vorfeld, Nationalsozialismus, Ideengeschichte, Weimarer, Republik
Arbeit zitieren
Sandro Gärtner (Autor:in), 2001, Die Synthese des Nationalen und des Sozialen bei Friedrich Naumann, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/105160

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