1) Einführung
1.1) Geschichte der wissenschaftlichen Untersuchungen zum Suizid
Die Auseinandersetzung mit Selbstmord und Selbstmordversuchen hat die Menschheit im Laufe der Geschichte immer wieder beschäftigt. Das Thema Selbstmord ist nicht nur in der medizinisch - psychiatrischen Wissenschaft behandelt worden. Die Kultur- und Literaturgeschichte hat sich, wie auch die Religionswissenschaften, die Soziologie und die Psychologie, in vielfältiger Weise mit diesem Thema auseinandergesetzt. Bereits in der Mythologie gehört der Selbstmord zu den Ereignissen, die eine Tragödie einleiten oder auch beenden können.
Die Soziologie hat sich sehr früh der Erforschung des Suizides zugewandt. Die auch heute noch bedeutsame Arbeit "Der Selbstmord" von Emile Durkheim (1897) beschäftigt sich mit dem Zusammenhang zwischen der gesellschaftlichen Entwicklung und der Entwicklung der Suizidhäufigkeiten. Durkheim kommt zu dem Schluss, dass die Suizidhäufigkeit um so größer ist, je mehr die gemein- samen Werte in einer Gesellschaft auseinanderfallen und an Bedeutung ver- lieren; demgegenüber fällt die Suizidrate, wenn die Gesellschaft in hohem Maße gemeinsame Werte hat. Durkheim berichtete bereits 1896 von der relativ hohen Zahl von Kinder- bzw. Jugendlichensuiziden in Städten und schreibt: "Man darf nämlich nicht übersehen, dass auch das Kind sozialen Bedingungen unterworfen ist, die es durchaus zum Selbstmord bestimmen können. Was diesen Einfluss sogar in dem vorliegenden Fall kennzeichnet, ist die Tatsache, dass Selbstmorde von Kindern je nach Milieu verschieden sind. Sie sind nirgends so zahlreich wie in den großen Städten. Es ist doch so, dass das Leben in der Gesellschaft auch für das Kind früh anfängt, wie die Frühreife des kleinen Städters zeigt. Er ist früher und vollständiger der Zivilisation ausgesetzt und spürt früher und vollständiger ihre Wirkung. Daher kommt es auch, dass in den zivilisierten Ländern die Zahl der Kinderselbstmorde mit beklagenswerter Stetigkeit wächst" (Durkheim, 1897, S. 95f).
1.2) Allgemeines zur Entwicklung eines Suizidgedankens
Alle wissenschaftlichen Erfahrungen weisen darauf hin, dass in dem Prozess der Entwicklung bis zum Suizidversuch mehrere Faktoren wirksam werden. Die Schwierigkeit, aggressive Regungen gegen andere Menschen bei sich selbst zu akzeptieren und deutlich werden zu lassen, geht einher mit einer zunehmenden Verunsicherung des Selbstbewusstseins und Selbstwertgefühls. Gleichzeitig wird eine Beziehungsstörung wirksam, die es immer schwieriger macht, sich selbst zu verstehen und sich anderen Menschen verständlich zu machen. Der Selbstmord wird dann zu einem Zeichen, einem Appell, der die abgebrochene Kommunikation wieder herstellen soll. Die Drohung, durch einen Suizid jede Beziehung abzubrechen, zielt paradoxerweise darauf ab, Beziehungen neu zu beleben.
Suizidalität ist keine Krankheit, sondern Symptom einer zugrundeliegenden Beziehungsstörung, die in ihrem Ausmaß und in ihrer Dynamik in sehr unterschiedicher Weise gestaltet sein kann.
2) Jugendlichensuizid
Zwei Drittel aller Jugendlichen kennen Suizidgedanken. Dies muss nicht unbedingt Angst machen, da Suizidgedanken Teil einer gesunden Entwicklung in der Adoleszenzphase sein können.
Es wurden in diesem Zusammenhang sehr viele Theorien und Modelle zum Thema Jugendlichensuizid aufgestellt, jedoch möchte ich hier die für mich schlüssigsten und am ehesten nachzuvollziehenden Gedanken zusammenfassen.
2.1) Auslöser und Ursachen für Jugendlichensuizide
Im Vorfeld eines Suizidversuchs finden sich unterschiedliche Belastungssituationen.
Auslöser sind aktuell belastende Situationen. Dazu gehören konkrete Versagenserlebnisse, Enttäuschungen, Liebeskummer, sexuelle Identitätsprobleme, Trennung von Freund oder Freundin, Todesfälle in der Familie, Scheidung der Eltern, Gewalterfahrungen, Schulversagen. Solche Faktoren können den "letzten Tropfen" bedeuten, "der das Fass zum Überlaufen bringt".
Langandauernde Belastungsfaktoren bestimmen jedoch das Lebensgefühl des Suizidgefährdeten. Sie sind die Ursachen für suizidales Verhalten. Die Jugendzeit ist für jeden die Zeit, in der er sich von der Geborgenheit der Kindheit trennt. Es ist die Zeit, sich selbst stark genug zu fühlen, von nun an alles selbst zu machen und zudem besser, aufrichtiger, konsequenter als die Eltern. Dann ist es wieder die Zeit der Selbstzweifel, der Unsicherheit, der Schwäche - schnell wechselnd will der Jugendliche wieder zurück in die Geborgenheit der Kindheit, will wieder klein sein, nichts machen, nichts selbst entscheiden müssen.
Auf Seiten der Eltern führen diese Wechselbäder der Gefühle und die eigene große, vielleicht uneingestandene Trennungskrise zu entsprechender Verun- sicherung im Umgang mit den Jugendlichen und ebenfalls zu Kränkungen und Entwertungen, die häufig den Boden für sich zuspitzende Trennungskonflikte bilden.
Die körperlichen Veränderungen, die damit verbundenen Unsicherheiten, erste sexuelle Erfahrungen oder das Gefühl, hinterherzuhinken, da alle anderen in der Klasse vorgeben, schon sexuelle Erfahrungen zu haben, machen die Veränderungen dieser Jugendzeit schnell zur Krisenzeit. Die Ablösung von den Eltern ist für jeden Jugendlichen eine schwer zu bewältigende Aufgabe, die häufig mit Phantasien verbunden sind wie:
Wozu das alles?
Warum erwachsen werden?
Wer liebt mich eigentlich?
Wäre es nicht besser, mit allem Schluss zu machen?
Die Phantasie "Ich brauche diesen Weg nicht mehr so weiter zu gehen, ich kann ihn auch selbst beenden" gibt insofern auch eine neue Qualität der Selbständig- keit.
Ein zweiter sehr wichtiger Aspekt kommt hinzu: in der noch weiter bestehenden Abhängigkeit von den Eltern oder Ersatzeltern (Heim etc.) führen die Auseinandersetzungen um die Selbständigkeit als Erwachsener und das gleich- zeitig gewünschte Angenommensein als Kind zu häufigen Kränkungen in den Beziehungen des Jugendlichen. Über die Suizidphantasien gelingt es, die Erwachsenen in der Phantasie zu bestrafen und mit dem Selbstwertgefühl wieder ins Lot zu kommen. Dabei wird zugleich die Beziehung des Erwachsenen zum Jugendlichen in der Phantasie überprüft und der ohnmächtigen Wut Ausdruck verliehen ("Wenn mich meine Eltern lieben, werden sie nach meinem Tod leiden"). Diese für die Entwicklung des Jugendlichen wichtigen Phantasien werden jedoch selten offen ausgesprochen. Von den Jugendlichen selbst und von den erwachsenen Bezugspersonen werden diese Gedanken als "psychiatrisches Problem" eingestuft. Das führt dazu, dass viele Jugendliche sich selbst mit dem Gedanken quälen: "Bin ich verrückt, weil ich Phantasien von Selbstmord und meiner Beerdigung habe?"
Aufgrund dieser Gedanken ist im Internet das Phänomen sogenannter Selbstmordforen entstanden, wo sich Jugendliche zu diesem Thema austausch- en. Gefragt, wozu ein solches Forum (in diesem Fall www.selbstmord.de) dient, meinen Mitglieder:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Solche Foren haben freilich nicht immer nur positive Aspekte und dürfen nicht als Lösungen für wirklich Suizidgefährdete gesehen werden.
In der April 2001-Ausgabe des „SPIEGEL reporter“ habe ich einen interessanten Artikel mit dem Titel „www.teenage-angst.de“ gefunden. Darin berichtet der Autor über ein Mitglied eines solchen Forums, dessen dort mitgeteilter Selbst- mordwunsch zu Reaktionen der „Forum-Freunde“ wie „möge dir der tod eine erlösung sein!“ oder „viel glück auf deiner reise“ geführt haben. Dazu meint ein Forum-Mitglied:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Zurück zu Gründen für Jugendlichensuizid: Suizidgedanken haben oftmals auch eine lebensstabilisierende Funktion, wenn sie in eine Stärkung des eigenen Selbst münden. Was jedoch, wenn diese Phantasie ins Leere geht, wenn sich bei einem Kind oder Jugendlichen nicht das Gefühl einstellt, "dann werden meine Eltern um mich traurig sein", "dann werden meine Eltern alle Ungerechtigkeiten, die sie mir angetan haben, spüren und bereuen“? In solchen Fällen eines offenen, unklaren Ausganges suizidaler Gedanken werden sich die Gedanken verdichten, um sozusagen in der Praxis die Reaktion der Eltern zu überprüfen, ob sie über den Tod des Kindes wirklich traurig sind. Es kommt zu Auffälligkeiten, wie viel zu spät von der Schule zurückzukommen, um die Reaktion der Eltern oder anderen wichtigen Beziehungspersonen zu überprüfen. "Warten sie wirklich auf mich oder sind sie froh, wenn ich weg bin?" Wenn auch hier die Antwort nicht zu finden ist, verdichten sich die Gedanken zum Suizid. "Wenn ich dann daliege, leblos, voller Tabletten, müsst ihr neu entscheiden: Wollt ihr mich, liebt ihr mich, so rettet mich - ansonsten will ich lieber sterben."
Ein Suizidversuch erzählt immer eine längere Geschichte. Die meisten Jugend- lichen, die einen Suizidversuch unternehmen, wollen leben. Viele formulieren ihre Gefühle so: "Ich wollte eigentlich nicht tot sein, nur meine Ruhe haben, den Druck und alle Probleme los sein. Ich will eigentlich leben, aber so wie jetzt kann ich nicht mehr."
2.2) Wie äußert sich Suizidgefährdung bei Kindern und Jugendlichen?
Suizidgefährdung ist auf den ersten Blick nicht ohne weiteres erkennbar. Fast allen Suiziden gehen Signale bzw. mehr oder weniger konkrete Hilferufe voraus. Alarmzeichen zeigen sich häufig durch ein verändertes Verhalten, das auch in der Schule zu beobachten ist. Dazu gehören:
- Leistungsabfall (Schule)
- Negatives und /oder feindseliges Verhalten, Reizbarkeit
- Konzentrationsunfähigkeit
- Beschäftigung mit dem Thema Tod (Aufsätze, Zeichnungen)
- Gefühl der Hilflosigkeit
- veränderte Essens- und/oder Schlafensgewohnheiten
- Ruhelosigkeit
- Entfernen von Freunden und Aktivitäten
- Weinen, Traurigkeit, Depression
- das Weggeben von ursprünglich besonders geschätzten Besitztümern
- Verwendung von Drogen oder/und Alkohol
- kürzlicher Verlust durch Tod, Scheidung oder Übersiedlung
- Gespräche über Tod / Selbstmord
- vorhergehende Suizidversuche
Je mehr Warnzeichen zutreffen bzw. je tiefer diese in der oben angeführten Liste angesiedelt sind, umso wichtiger ist die Hilfe für den jungen Menschen. Die größte Gefahr beim Zutreffen von mehreren Warnzeichen ist der Suizid.
3) Zur Häufigkeit von Suizidhandlungen
Die Gruppe der Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen weist im Vergleich zu anderen Altersgruppen keine hohe Suizidrate auf. (Man kann generell sagen, dass die Wahrscheinlichkeit, durch Suizid zu sterben, mit dem Lebensalter zunimmt).
Bei jungen Menschen ist die Wahrscheinlichkeit, durch andere Todesursachen zu sterben, ebenfalls gering. So kommt es, dass trotz niedriger Suizidrate der Suizid die dritthäufigste Todesursache bei jungen Menschen darstellt (bei jungen Männern um 20 Jahre sogar an zweiter Stelle der Todesursachen steht). Generell sterben Männer doppelt so häufig wie Frauen durch Suizid. Dieser geschlechtsspezifische Unterschied kommt bei jungen Menschen noch deutlicher zum Ausdruck.
3.1) Suizidversuche
Über Suizidversuche werden keine amtlichen Statistiken geführt. Eine Erfassung aller Suizidversuchshandlungen ist zudem sehr schwierig, weil nur ein Teil der suizidalen Handlungen, z.B. die in Krankenhäusern behandelt werden müssen, bekannt wird. Viele Suizidversuchshandlungen werden nur Beratungsstellen oder Hausärzten bekannt oder bleiben völlig unbehandelt und damit unbekannt. So überrascht es nicht, dass die Untersuchungen zur Häufigkeit von Suizidversuchen zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen kommen.
Einigkeit besteht jedoch in generellen Aussagen wie der Feststellung, dass die Zahl der Suizidversuche in der Gruppe junger Menschen am größten ist. Man kann davon ausgehen, dass die Suizidversuche über alle Altersklassen hinweg ca. zehnmal so häufig sind wie die Suizide. Für die Gruppe junger Menschen gilt, dass hier ca. 20-30 Suizidversuche auf einen tatsächlichen Selbstmord kommen.
Quellenangabe:
- Internet: http://www.projekt-x-graz.org/
http://www.suicideinfo.org/
http://www.neuhland.de
http://members.aol.com/suicidepsy/ http://www.selbstmord.de
- Brockhaus Enzyklopädie
- SPIEGEL reporter, Ausgabe April 2001, „www.teenage-angst.de“, S.40-45, Hamburg
Häufig gestellte Fragen
Was sind die Hauptthemen dieses Textes über Suizid?
Dieser Text behandelt die Themen Suizid im Allgemeinen und speziell Jugendlichensuizid. Er geht auf die Geschichte der wissenschaftlichen Untersuchungen zum Suizid ein, die Entwicklung von Suizidgedanken, Auslöser und Ursachen für Jugendlichensuizide, Anzeichen von Suizidgefährdung bei Kindern und Jugendlichen, und die Häufigkeit von Suizidhandlungen.
Was sind einige frühe soziologische Perspektiven auf Suizid?
Emile Durkheim beschäftigte sich in seiner Arbeit "Der Selbstmord" mit dem Zusammenhang zwischen gesellschaftlicher Entwicklung und Suizidhäufigkeiten. Er kam zu dem Schluss, dass Suizidraten höher sind, wenn gemeinsame Werte in einer Gesellschaft auseinanderfallen und an Bedeutung verlieren.
Was ist die Rolle von Aggression und Beziehungsstörungen bei der Entwicklung von Suizidgedanken?
Die Schwierigkeit, aggressive Regungen zu akzeptieren, führt zu Verunsicherung des Selbstbewusstseins. Gleichzeitig führt eine Beziehungsstörung dazu, dass es schwieriger wird, sich selbst und anderen verständlich zu machen. Suizid wird dann zu einem Appell, die abgebrochene Kommunikation wiederherzustellen.
Sind Suizidgedanken immer ein Zeichen einer psychischen Krankheit?
Nein, Suizidalität ist kein Krankheitssymptom, sondern ein Symptom einer zugrundeliegenden Beziehungsstörung. Zwei Drittel aller Jugendlichen kennen Suizidgedanken, die Teil einer gesunden Entwicklung in der Adoleszenz sein können.
Welche Auslöser und Ursachen werden für Jugendlichensuizide genannt?
Auslöser sind aktuelle Belastungssituationen wie Versagenserlebnisse, Liebeskummer, sexuelle Identitätsprobleme, Trennung von Freunden, Todesfälle, Scheidung, Gewalterfahrungen, Schulversagen. Langandauernde Belastungsfaktoren sind die Ursachen, z.B. die Ablösung von der Geborgenheit der Kindheit und die damit verbundene Unsicherheit.
Wie äußert sich Suizidgefährdung bei Kindern und Jugendlichen?
Suizidgefährdung kann sich durch Leistungsabfall, negatives Verhalten, Reizbarkeit, Konzentrationsunfähigkeit, Beschäftigung mit dem Thema Tod, Gefühl der Hilflosigkeit, veränderte Ess- und Schlafgewohnheiten, Ruhelosigkeit, Entfernen von Freunden, Traurigkeit, Weggeben von Besitztümern, Drogen- und Alkoholkonsum, kürzliche Verluste und Gespräche über Tod/Selbstmord äußern.
Wie häufig sind Suizide und Suizidversuche bei jungen Menschen?
Die Suizidrate bei Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen ist im Vergleich zu anderen Altersgruppen nicht hoch. Suizid ist dennoch die dritthäufigste Todesursache bei jungen Menschen. Suizidversuche sind deutlich häufiger als Suizide, wobei es bei jungen Menschen ca. 20-30 Suizidversuche auf einen tatsächlichen Selbstmord gibt.
Welche Rolle spielen Selbstmordforen im Internet für Jugendliche mit Suizidgedanken?
Selbstmordforen können für Jugendliche mit Suizidgedanken ein Ort des Austauschs sein. Sie können aber auch negative Aspekte haben und dürfen nicht als Lösungen für Suizidgefährdete gesehen werden.
Was ist die lebensstabilisierende Funktion von Suizidgedanken?
Suizidgedanken können eine lebensstabilisierende Funktion haben, wenn sie zu einer Stärkung des eigenen Selbst führen. Durch Suizidphantasien gelingt es Jugendlichen, die Erwachsenen in der Phantasie zu bestrafen und mit dem Selbstwertgefühl wieder ins Lot zu kommen.
- Citation du texte
- Resi Nickl (Auteur), 2001, Jugendsuizid und die Bedeutung der Gesellschaft. Eine Analyse von Auslösern und Ursachen, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/105512