1. Einleitung
Männer sind aktiv, Frauen passiv, Männer teilen aus, Frauen stecken ein, Männer sind aggressiv, Frauen duldsam und vermittelnd. Auch heute sind diese Zuschreibungen mehr oder weniger tief in den Köpfen beider Geschlechter verankert und werden durch die Erziehung bewußt oder unbewußt weitervermittelt. Selbstverständlich haben auch Mädchen und Frauen Aggressionen. Diese auszuleben, paßt aber allem Anschein nach noch immer nicht so recht in das Bild vom weiblichen Geschlecht. Dies erklärt zu einem, meiner Meinung nach, nicht unerheblichen Teil, den Löwenanteil von Mädchen und Frauen, die von Autoaggression betroffen sind, einer Aggression, die sich gegen den eigenen Körper, also gegen sich selbst, richtet. Selbstverletzung, Eßstörungen, Sucht- dies sind alles Begriffe, die vorrangig das weibliche Geschlecht betreffen.
In der vorliegenden Hausarbeit möchte ich den Ursachen von Autoaggression bei Mädchen und Frauen auf den Grund gehen und dabei im Speziellen das Thema Eßstörungen, besonders aber die Magersucht, näher beleuchten, da ich selbst davon betroffen war und zum Teil noch bin. Wichtig sind mir dabei die Entstehungsgeschichten und Hintergründe, denn oft stoßen Betroffene von Autoaggression auf Unverständnis und Hilflosigkeit bei den Angehörigen, Freunden, sowie der Umwelt.
Hinter jeder Art von Autoaggression stehen große seelische Not und tief sitzende Probleme, die oft lange Zeit unbemerkt bleiben. Und in einem Teufelskreis von sich- verstecken, nicht- wahrhaben- wollen, Selbsthaß und um nicht die Personen zu enttäuschen, die man liebt, erscheint der einzige Ausweg für viele Betroffene, die Zerstörung des eigenen Körpers. Meine Ansprechpartnerin in der Suchtberatungsstelle sagte einmal einen sehr treffenden Satz, den ich nie vergessen habe: „Es ist ein Krieg, der auf dem falschen Schlachtfeld ausgefochten wird.“ Ich denke, diese Aussage trifft nicht nur auf Eßstörungen, sondern auch auf jede Art von Selbstverletzung zu. Deshalb möchte ich, wie ich es schon in meinem Vortrag getan habe, zunächst auf allgemeine Besonderheiten und Merkmale von Autoaggression eingehen, bevor ich zum Hauptthema meiner Arbeit komme. Für mich hängen alle Formen von Autoaggression sehr eng miteinander zusammen, sie alle sind Ausdruck von seelischer Not, welche auf verschiedene Weise in selbstzerstörerischer Art und Weise zum Ausdruck gebracht werden, da ein anderer Ausweg für die jeweils Betroffene nicht möglich erscheint oder nicht mehr wahrgenommen wird.
2. Autoaggression und ihre Gesichter
Autoaggression ist aggressives Verhalten, welches sich gegen den eigenen Körper richtet. Das heißt, jemand greift in Erscheinung, Aussehen, Beschaffenheit des eigenen Körpers ein, um etwas Bestimmtes zu erreichen. Jedoch ist nicht jede Art der Autoaggression als krankhaft deklariert. Vielmehr ist ein großer Anteil sogar gesellschaftlich akzeptiert.
Selbstbeschädigung existiert seit Jahrhunderten schon, z.B. innerhalb von religiösen Ritualen verschiedener Kulturkreise. Die Grenzen zwischen kulturell verankerter und krankhafter Autoaggression sind jedoch fließend.1 Wo hört der „Spaß“ beim Schönheitsideal auf, wo fängt die Krankheit an?
Wenn jemand abnehmen möchte, wird dies im allgemeinen sehr positiv gewertet, auch der Besuch des Fitnesscenters erntet im Allgemeinen Anerkennung. Das gängige Schönheitsideal sieht derzeit nun mal schöne, junge, sehr schlanke Frauen, ohne Falten, aber mit Rundungen an den richtigen Stellen und muskelbepackte, durchtrainierte Männer vor. Man sieht diese perfekten Menschen, die im realen Leben doch eigentlich äußerst rar sind, jeden Tag in der Werbung, es gibt nahezu keine Ausgabe irgendeiner Frauenzeitschrift, in welcher es sich mal nicht um Abnehmen und Diäten dreht. Es ist sehr schwer, sich diesem gesellschaftlichen Druck zu entziehen. Aber wann beginnen Hungerkuren in Magersucht umzuschlagen oder mutiert Bodybuilding zum Muskelwahn?
Der Trend geht immer mehr zur Schönheitsoperation, selbst junge Mädchen legen sich teilweise schon unters Messer oder haben es zumindest vor. Doch warum fühlen sich gerade Frauen so extrem unter Druck gesetzt von Vorstellungen der Gesellschaft, von Normen und Werten, die ihnen aufoktroyiert werden? Das hängt meiner Ansicht nach sehr viel mit der Erziehung von Mädchen zusammen. Frauen, die sich oft Schönheitsop´s unterziehen oder sich schneiden, ritzen und ihren Körper auf sonstige Weise verstümmeln und malträtieren, haben ein besonders negatives Bild von sich und ihrer Weiblichkeit. Sie verbinden sie vor allem mit dem Äußeren, ihre Persönlichkeit, ihr Wesen wird dabei übergangen. Ich bin der Meinung, daß sie als Mädchen sehr dazu angehalten worden sind, freundlich, höflich, rücksichtsvoll zu sein, nicht aufzufallen, eben das typische Klischee zu erfüllen. Sie haben ihre Anerkennung aufgrund ihres Äußeren, ihrer Angepaßtheit bezogen. Sie haben eigene Wünsche zugunsten Anderer hintangestellt. Sie kennen ihre Bedürfnisse und ihren Körper oft nicht einmal und so scheint der Körper kein Teil ihrer Persönlichkeit zu sein, sondern, ein Ding, das nicht zum eigenen Selbst gehört, das man formen, in Regeln pressen und bekämpfen kann oder muß.2 So kann die sogenannte gesellschaftlich akzeptierte Form von Autoaggression rasch krankhafte Ausmaße annehmen oder aus einem sehr niedrigen Selbstwertgefühl bzw. einem besonders negativen Bild von Frau sein heraus Selbstbeschädigung als letzter Ausweg erfolgen.
Es gibt verschiedene Arten von Autoaggression, die wichtigsten sind als Folie1 bzw. Folie 2 noch einmal im Anhang zu finden.
Zum selbstverletzenden Verhalten gehören die offene und die heimliche Selbstbeschädigung, sowie das Münchhausensyndrom, bei welchem die Betroffenen sich selbst so verletzen, daß sie bestimmte Symptome von Krankheiten simulieren, um dann Zuwendung und Betreuung durch Ärzte und Pflegepersonal zu erhalten. Damit verbunden sind meist phantastische Geschichten und Lügen, um eine schwere Störung des Selbstwertgefühls zu kompensieren.3
Das erweiterte Münchhausensyndrom gehört nicht direkt zur Selbstbeschädigung, führt aber auf das gleiche Ziel, nämlich Zuwendung verbunden mit Anerkennung durch die Umwelt zu erhalten, hinaus. Zu diesem Zweck täuschen Mütter an ihren Kindern durch verletzen, vergiften etc. Krankheitssymptome vor, um dann vor Ärzten und Angehörigen, als sich für das Kind aufopfernde Mutter, Anerkennung und Bestätigung zu erhalten.
Als Beispiele für gesellschaftlich akzeptiertes Verhalten hatte ich bereits Schönheitsoperationen und extremes Bodybuilding genannt.
Ich denke, daß die Formen der Eßstörungen als zunehmende Erscheinung autoaggressiven Verhaltens bei Mädchen und jungen Frauen, wohl mittlerweile fast jedem bekannt sind. Eßsucht, Bulimie und Magersucht sind zunehmend Themen in der öffentlichen Diskussion geworden, wenn auch leider nicht in dem Maße, wie es meiner Ansicht nach notwendig wäre. Ursachen und Hintergründe scheinen nach wie vor tabuisiert zu sein und somit entsteht, meiner Meinung nach, ein noch viel unklareres und verworreneres Bild vom Wesen der Eßstörung, denn ausschließlich das Schönheitsideal ist nicht der Auslöser dafür. Es steckt viel mehr dahinter und darauf möchte ich in den folgenden Kapiteln eingehen.
3. Eßstörungen
3.1 Allgemeinen Gedanken zu Eßstörungen
Stell dir vor, du stehst im Regen am Ufer eines tosenden Flusses. Pl ö tzlich rutscht die vom Wasser aufgeweichte B ö schung unter dir ab. Du f ä llst ins Wasser und wirst von den Stromschnellen mitgerissen. All deine Bem ü hungen, dich ü ber Wasser zu halten, sind vergeblich, und du wirst wohl ertrinken. Doch zuf ä llig schwimmt ein gro ß er Balken vorbei, an den du dich klammern kannst. Dieser Balken h ä lt deinen Kopf ü ber Wasser und rettet dir das Leben. An den Balken geklammert, schwimmst du stromabw ä rts und gelangst schlie ß lich wieder in ruhigeres Wasser. In der Ferne erblickst du das Ufer, und du versuchst, dorthin zu schwimmen. Doch das gelingt dir nicht, weil du dich immer noch mit einem Arm an den dicken Balken klammerst, w ä hrend du mit dem anderen Schwimmz ü ge machst. Wie ironisch, da ß das, was dir das Leben rettete, dir jetzt im Wege steht. Am Ufer stehe Menschen, die deinen Kampf mit ansehen und br ü llen: „ La ß den Balken los! “ Aber das kannst du nicht, denn du hast kein Vertrauen in deine F ä higkeiten, es bis zum Ufer zu schaffen.
Und sehr, sehr langsam und vorsichtig l äß t du den Balken fahren und ü bst ein paar Schwimmz ü ge. Wenn du drohst unterzugehen, klammerst du dich rasch wieder an. Dann l äß t du den Balken wieder los und ü bst Wassertreten, und wenn du m ü de wirst, h ä ltst du dich wieder fest. Nach einer Weile versuchst du, einmal um den Balken herum zu schwimmen, dann zweimal, dann zehnmal, zwanzigmal, hundertmal, bis du gen ü gend Kraft und Vertrauen hast, um bis zum Ufer zu gelangen. Erst dann kannst du den Balken vollst ä ndig loslassen.
(Ein Text, der mir von meiner Beraterin mitgegeben wurde)
Die Eßstörung ist vergleichbar mit dem Balken. Sie hält einen eine momentan „über Wasser“, verhindert aber, sich selbst aus einer schwierigen Situation zu befreien. Sie ist eine Zeitlang das Mittel, um mit einem viel tiefsitzenderen Problem fertig zu werden, um in dieser Situation erst einmal (über-)leben zu können. Doch irgendwann steht sie einem selbst in Wege und wird zur Falle, die verhindert, den Schritt aus dem bloßen Überleben heraus, in das eigentliche Leben zu schaffen. Ich denke, es ist wichtig, diese Sicht auf eine Eßstörung zu verdeutlichen, um im Folgenden die Gründe, die zu Eßsucht, Magersucht und Bulimie geführt haben, verstehen zu können. Ich weiß aus eigener Erfahrung, daß dies für Außenstehende, besonders aber für Angehörige von Betroffenen, nicht einfach ist. Bemerkenswert ist weiterhin für mich, daß viele Mädchen, die sich selbst verletzen, oft auch Eßstörungen haben.
Auf Folie 3 habe ich im Überblick dargestellt, welche Diagnosekriterien jede Eßstörung im Einzelnen aufweist. Doch ich möchte sie an der Stelle trotzdem noch einmal der Vollständigkeit halber nennen und erläutern.
Eßsucht:
Die Eßsucht macht sich in erster Linie durch immer wiederkehrende, nicht kontrollierbare Heißhungerattacken, welche nicht durch Erbrechen oder Abführmittel etc. ungeschehen gemacht werden. Die Betroffenen essen übermäßig schnell, meist einfach so nebenbei, kaum bewußt bzw. genußvoll und übergehen dabei sehr häufig das Sättigungsgefühl.
Das heißt, sie essen immer weiter, selbst, wenn sie gar keinen Hunger mehr verspüren und bevorzugen zudem oft noch kalorien- und fettreiche Nahrungsmittel.
Im Nachhinein leiden sie verstärkt unter Schuld- und Schamgefühlen, bis hin zu Depressionen. Das geht soweit, daß sich Eßsüchtige vor sich selbst und ihrem Körper ekeln. Die Folgen sind natürlich nicht zu übersehen, denn das markanteste Merkmal einer Eßsucht ist das relativ hohe Übergewicht, welches mit einer starken Belastung des Herzens, des Kreislaufs und des Skelettes einher geht. Ich möchte aber betonen, daß nicht jede/jeder, Übergewichtige automatisch unter Eßsucht leidet, dies trifft auch auf besonders schlanke Menschen zu, auch hier muß nicht unbedingt eine Magersucht vorliegen.4
Bulimie (Bulimia Nervosa):
Die Bulimie wird auch Eß-/Brechsucht genannt, das Hauptmerkmal dieser Eßstörung ist einerseits ähnlich wie bei der Eßsucht, nämlich regelmäßig wiederkehrende unkontrollierbare Heißhungerattacken. Andererseits allerdings versuchen die Betroffenen im Unterschied zur Eßsucht über selbst herbeigeführtes Erbrechen, Abführmittelmißbrauch oder/und extreme körperliche Anstrengung die Gewichtszunahme nach einem Eßanfall zu verhindern.
Meistens sind bulimische Menschen normal- bis leicht übergewichtig. Die Bulimie ist eine heimliche Eßstörung, es kann mehrere Jahre dauern, bis sie von der Umwelt „entdeckt“ wird, denn nach außen hin scheinen die Betroffenen ein ganz normales Leben zu führen. Sie sind ehrgeizig, haben hohe Ansprüche an sich und erwecken oft den Eindruck, als ginge ihnen das Leben leicht von der Hand. Im Gegensatz zum äußeren Anschein stehen sie jedoch unter einem enormen Leidensdruck. Bulimiker/innen nehmen bei einem Eßanfall, welche ca. 2mal die Woche, aber auch mehrmals täglich auftreten können, 6000kcal und mehr zu sich. Eine solche Attacke kann schon mal bis zu 70 DM kosten. Die Betroffenen ekeln sich vor sich selbst, haben das Gefühl abnorm zu sein, es kommt im Laufe der Zeit zu Isolierung, Depressionen und oft auch zu Selbstmordgedanken und -versuchen. Zwischen den Heißhungerattacken erlegen sie sich eine strenge Diät, meist verbunden mit intensiven körperlichen Anstrengungen, auf. Das gesamte Denken kreist nur noch um die eigene Figur, das Gewicht und manifestiert sich in einer übertriebenen Furcht, dick zu werden. Daran sieht man, wie fließend die Grenzen zwischen den Eßstörungen sind. Bulimiker/innen können zwischenzeitlich anorektische Phasen haben und umgekehrt. Auch bei der Eß-/Brechsucht treten enorme körperliche Folgeschäden auf. Die typischsten sind Zahnschmelzschäden, Speiseröhreneinrisse, Magenwandperforationen und Kalium-/Magnesiummangel, welcher zu Nierenschäden führen kann.5
Magersucht (Anorexia Nervosa):
Die letzte der drei Arten von Eßstörungen, mit welcher ich mich auch noch im Folgenden näher beschäftigen werde, zeichnet sich durch eine extreme, durch dauerhaftes Diät- halten bis Hungern, herbeigeführte Gewichtsabnahme aus. Die Magersüchtigen haben keinen Bezug zu ihrem Körper, sie meinen selbst bei augenscheinlichem Untergewicht noch, sie wären zu dick. Die Tagesstimmung hängt fast ausschließlich von der Waage ab, denn Magersüchtige fürchten sich vor jedem Gramm, das sie zunehmen. In gewisser Weise genießen sie die Kontrolle, die sie über ihren Körper haben und sind gleichzeitig abhängig davon. Der Begriff Anorexia Nervosa ist in soweit irreführend, als daß dieser eigentlich Appetitlosigkeit bedeutet. Magersüchtige haben aber sowohl Appetit als auch Hunger, sie sehen diese natürlichen Eigenschaften jedoch als Schwäche des Körpers an und bekämpfen diese mit allen Mitteln. Daraus gewinnen sie ihren Selbstwert, nämlich einen starken Willen zu haben und mit ihrem Verstand, ihren schwachen Körper besiegen zu können.
Im Gegensatz zu Bulimiker/innen kommt das Umfeld bei Magersüchtigen der Krankheit meist etwas schneller auf die Schliche, da der Verfall des Körpers durch die geringe Nahrungsaufnahme sich nicht bis in alle Ewigkeit verstecken läßt.
Anorexia Nervosa liegt vor, wenn die/der Betroffene innerhalb kurzer Zeit (3-4 Monate) 20% seines Ausgangsgewichtes verliert und dies selbst durch streng kontrollierte und eingeschränkte Nahrungsaufnahme(Vermeidung hochkalorischer Speisen) und/oder Abführmittelmißbrauch und/oder übertriebene körperliche Aktivität, herbeiführt. Typisch sind für Magersüchtige außerdem das ständige Kreisen der Gedanken um Körperschema, Kalorien und Gewicht, sowie auffallender Perfektionismus und Hyperaktivität.
Oft wird in diesem Zusammenhang auch die fehlende Krankheitseinsicht als Merkmal genannt. Dem kann ich mich aber nicht ganz anschließen. Denn aufgrund meiner eigenen Betroffenheit habe ich die Erfahrung gemacht, daß es Magersüchtige gibt, die sehr wohl merken und auch wissen, daß sie ein Eßproblem haben. Jedoch verleugnen sie es, zum einen, weil sie ihren Weg nicht aufgeben wollen (Er ist ja die Quelle ihres Selbstbewußtseins!) und zum anderen, weil sie es nicht mehr können. Ab einem gewissen Zeitpunkt spürt man nämlich nicht einmal mehr ein Hungergefühl und kann nicht mehr normal essen, selbst wenn man es wollte. Viele Magersüchtige ergeht es wie mir selbst auch, sie sind irgendwann nicht mehr in der Lage, einzuschätzen, was überhaupt eine „normale“ Portion ist.
Auch bei der Anorexia treten im Laufe der Zeit infolge der chronischen Unterernährung körperliche Folgeschäden auf. Zuerst einmal sinken der Stoffwechsel, der Puls, der Blutdruck sowie die Körpertemperatur ab. Dies macht sich durch ständiges Frieren, Müdigkeit und Verstopfung bemerkbar. Später zeigen Haarausfall, trockene Haut und das Ausbleiben der Menstruation (Nicht bei Einnahme der Pille!) die hormonellen Veränderungen im Körper an. Als Spät- bzw. Langzeitfolge kann Osteoporose auftreten.
In diesem Zusammenhang muß leider erwähnt werden, daß Magersucht tödlich verlaufen kann, die häufigsten Todesursachen sind Verhungern und Tod durch Suizid. Immerhin 10% aller Magersüchtigen sterben an ihrer Krankheit, bei 30% tritt eine Chronifizierung der Krankheit ein, weitere 30% werden nach einer Behandlung geheilt und die restlichen 30% schaffen es aus eigener Kraft, aus der Magersucht wieder herauszukommen.
Diese gefährliche Krankheit ist auf dem Vormarsch, inzwischen ist jede/r 7. Jugendliche ein Magersucht- Risikofall. Magersucht ist nach wie vor weiblich, es sind 16 mal mehr Frauen als Männer betroffen. Alarmierend ist meiner Meinung nach, daß bereits zwei von fünf Mädchen glauben, zu dick zu sein, 75% aller Frauen Diäterfahrung besitzen und 15% ständig Diät machen. Derzeit sind ca. 500 Diäten auf dem Markt, die sich mittels Werbestrategien und Präsenz in nahezu jeder Frauenzeitschrift fast ausschließlich an das weibliche Publikum richten. Eine Grundlage, die nach meiner Ansicht Bulimie und Magersucht nicht bekämpft, sondern eher fördert.
3.2 Magersucht
3.2.1 Das Wesen der Krankheit
Magersucht beginnt schleichend. Durch Diät oder auch manchmal nur zufällig durch Streß oder eine Krankheit nehmen die Betroffenen ein paar Kilo ab. Sie fühlen sich gut damit. Oft ernten sie deshalb sogar positive Anerkennung. Das steigert natürlich das Selbstwertgefühl und spornt sie an, zunächst das Gewicht zu halten. Später reicht das nicht mehr aus und sie fangen an, immer weiter abzunehmen. Die Betroffenen lassen das Essen mehr und mehr zum Mittelpunkt ihres Lebens werden. Das heißt, sie meiden bewußt Nahrung, die hochkalorisch ist, sie zählen Kalorien und Fett jeder Mahlzeit, die sie zu sich nehmen.6 Doch während andere mit einer Diät wieder aufhören können und bei ihnen das Essen bleibt, was es ist, nämlich notwendige Energie zum Leben, schaffen es Magersüchtige nicht mehr, zu einem normalen Eßverhalten und zu Genußfähigkeit zurück zu finden. Für sie besteht Essen irgendwann nur noch aus Fett und Kalorien, welche dick machen und Appetit und Hungergefühl werden als Schwäche des Körpers erlebt, welcher nur darauf wartet, wieder zuzunehmen.
Man kann sagen, daß Magersucht in drei Stadien verläuft. Nach der anfänglichen Diät (1. Stadium), wirkt das Hungern selbst entlastend und selbstwertsteigernd, das persönliche Idealgewicht wird allmählich nach unten geschraubt, so daß die Betroffene eigentlich nie aus dem Diäthalten herauskommt (2. Stadium). Mit jedem Gramm weniger fühlt sich die Betroffene besser und auch überlegener gegenüber den anderen, die „keinen Willen haben“. Sie hat eine Fähigkeit, welche sie besser beherrscht als alle anderen, in der sie perfekt ist; nämlich die totale Kontrolle über sich zu haben. Doch aus genau diesem Grund wird das Hungern zum Gefängnis, denn irgendwann bezieht die Betroffene ihr ganzes Selbstvertrauen nur noch aus dieser Kontrolle, das heißt Hungern und Abnehmen wird zum Sinn des (Über-) Lebens (3. Stadium). Innere Werte sind in dieser Phase völlig ohne Bedeutung für Magersüchtige. Was zählt, ist das Gewicht, und selbst Mahnungen von Eltern und Umfeld geben noch mehr Antrieb, weiter zu hungern.
Die eigene Körperwahrnehmung ist total verzerrt. Manche Magersüchtige sehen sich in Ausschnitten. Das heißt, sie beachten nur vermeintliche Problemzonen, wie Bauch oder Po und ignorieren völlig den ausgemergelten Gesamtzustand ihres Körpers Einerseits halten sie ihn für aufgedunsen und dick, andererseits sind nicht wenige sogar stolz, wenn Beckenknochen und Rippen hervorstehen und die benötigte Kleidergröße nicht einmal mehr im Sortiment des normalen Geschäftes zu finden ist. Oftmals kochen Betroffene wahre Festtagsmenüs für ihre Familie oder kaufen Kochbücher um davon zu träumen, was sie später einmal essen wollen. Sie selbst verwenden immer raffiniertere Tricks, um gerade in Gesellschaft nicht essen zu müssen. Ich möchte damit deutlich machen, wie „arm“ das Leben von Magersüchtige irgendwann wird. Hobbys, Freunde, alles wird aufgegeben, weil das ganze Denken, der gesamte Tagesablauf nur auf das Thema Essen oder Nicht- Essen ausgerichtet ist. Es bleibt kein Platz mehr für andere Dinge und genau darin besteht der Teufelskreis. Wer keinen anderen Lebensinhalt mehr außer der Eßstörung und seinen „Pflichten“, wie z.B. das Studium hat, der kann seinen Selbstwert nur aus der Magersucht schöpfen und wird daher um so starrer an ihr festhalten. Die Magersucht wird ab einem bestimmten Zeitpunkt einfach fest in die Persönlichkeit integriert und schon aus diesem Grund ist es sehr schwierig, sie wieder aufzugeben. Entscheidend ist irgendwann nämlich nicht mehr das schöne Aussehen, welches vielleicht mal zu Beginn als Ziel stand (Viele Magersüchtige finden sich längst krank und häßlich.) , sondern das Hungern an sich.7 Das ist der Punkt, der für Außenstehende so schwer zu verstehen ist. Solange nichts anderes den Stellenwert der Eßstörung einnehmen kann, wird eine Magersüchtige ihre Krankheit mit Zähnen und Klauen verteidigen, auch dann, wenn es ihr schon körperlich sehr schlecht geht und sie ganz genau weiß, daß sie sich eigentlich selbst damit schadet. Denn wer will so einfach ein mühsam erworbenes Selbstwertgefühl, eine Fähigkeit, die andere nicht haben, aufgeben, um an anderer Stelle wieder ganz von vorn anfangen zu müssen?
Eine Betroffene beschreibt das Wesen dieser Krankheit, stellvertretend für viele andere Magersüchtige, nach meiner Meinung ziemlich treffend:
„ Ich lebte in einer anderen, eigens f ü r mich geschaffenen Welt, akzeptierte alles, was zu der Krankheit geh ö rte, und hatte gelernt, mit der Krankheit umzugehen. Sie machte mich psychisch stark, und diese psychische St ä rke war mir wichtiger als das Gef ü hl physischer Schw ä che. Ich wu ß te sehr wohl von den Folgen der Krankheit und sp ü rte sie selbst, aber Angst davor hatte ich nicht. Ein Leben ohne Magersucht w ä re ein Leben ohne Leistung und ohne meine Pers ö nlichkeit gewesen, f ü r mich gleichbedeutend mit dem Tod. [ ... ] Aber diese meine Welt mit ihren eigenen Gesetzen war mit der realen, gesunden Welt nicht zu vereinbaren. Zwangsl ä ufig mu ß ten mir menschliche Beziehungen gleichg ü ltig werden, und zwangsl ä ufig zog ich mich immer mehr zur ü ck. Zwar sp ü rte ich den Wunsch an dem anderen Leben teilzuhaben, aber das war gleichbedeutend mit Essen und Zunehmen und darum nicht realisierbar. “ 8
Wenn ich diese Worte lese, bin heute sehr froh, das mein Wunsch zu leben, stärker war als die Magersucht.
3.2.2 Mögliche Ursachen
Es gibt eine ganze Reihe von Ursachen, warum jemand magersüchtig wird. Da werden oft die Schönheitsideale genannt, die uns Werbung und Gesellschaft vorgaukeln. Sicher tragen sie einen nicht unerheblichen Teil dazu bei, aber die alleinigen Auslöser für eine Magersucht sind sie mit Sicherheit nicht.
Die Ursachen von Magersucht lassen sich neben der individuellen Persönlichkeitsstruktur (Veranlagung/ Gefährdung) des Mädchens grob in zwei Gruppen teilen.
Die eine beinhaltet die gesellschaftliche Seite mit ihren derzeit geltenden Werten und Normen, welche insbesondere an Mädchen hohe Anforderungen stellen. Dies wird deutlich, wenn wir uns vor Augen halten, wie das Frauenbild im Moment gestaltet ist. Von einer Frau wird heutzutage erwartet, daß sie leistungsfähig und berufsorientiert, aber nicht zu karrierebewußt ist . Das heißt, die traditionelle Rolle der Hausfrau- und Mutter ist zwar nach wie vor präsent, jedoch nicht mehr in dem Maße anerkannt, wie früher. Gleichzeitig wird aber trotzdem von der Frau verlangt, daß sie nach wie vor für den reproduktiven Bereich zuständig ist und auch für diesen zur Verfügung steht. Darüber hinaus stellen Schönheitsideale ihre oben schon benannten Anforderungen. Die Rolle der Frau ist also enormen Umbrüchen unterworfen und Mädchen und junge Frauen müssen mit eklatanten Widersprüchen fertig werden, um ihren Platz in der Gesellschaft zu finden.9
So ist es nicht verwunderlich, daß Mädchen und junge Frauen einerseits nicht immer genügend auf die Frauenrolle vorbereitet werden oder sich mit ihr nicht idendifizieren können bzw. wollen. Andererseits können sie völlig mit dieser Rolle überfordert sein oder, um dem gesellschaftlichen Bild zu entsprechen, dieser perfektionistisch nacheifern.10
Die zweite Gruppe von Ursachen für Magersucht ist eine ganz entscheidende Instanz, nämlich das Familiensystem. Es bietet einen sehr fruchtbaren Boden für Eßstörungen.
Auffallend ist, daß Magersüchtige oft aus nach außen hin intakt erscheinenden Familien kommen. Selten findet man Patientinnen in broken- home- Situationen oder „ungeordneten“ Familienverhältnissen. Bisher stammten die Betroffenen überwiegend aus der oberen Mittelschicht. Mittlerweile jedoch trifft man diese Krankheit auch in den anderen Schichten der Gesellschaft an. Folgende charakteristische Merkmale haben diese Familien jedoch gemeinsam: Sie haben die bestehenden Werte und Normen internalisiert, d.h. in diesen Familien wird auf Pflichterfüllung, gute und sehr gute Schulleistungen, eine gute Berufsausbildung sehr großen Wert gelegt, die Kinder genießen hierbei jede erdenkliche Förderung.11 Oftmals trifft man hier noch die traditionelle Rollenverteilung an, der Vater ist der Ernährer der Familie und sieht es als die Pflicht seiner Familie, insbesondere der der Ehefrau, an, ihm dafür den Rahmen zu bieten, in welchem er seine Kräfte regenerieren kann. Doch auch wenn beide Partner arbeiten, ist trotzdem überwiegend die Konstellation gegeben, daß die Ehefrau fast ausschließlich allein für den Haushalt und die Kindererziehung zuständig ist und sich auch oft zuständig fühlt. Schwerpunkte der Erziehung sind typischerweise Wohlverhalten, gute Manieren, ein gepflegtes Äußeres, gute Schulleistungen. Die Töchter fallen bei der Umwelt sehr zur Freude ihrer Mütter meist durch ein freundliches Wesen, Höflichkeit, Bescheidenheit, Angepaßtheit und gute schulische Leistungen auf. Betrachtet man diese Familien von außen erscheinen sie einem als wahre „Bilderbuchfamilien“. Sogar die Patientinnen selbst beschreiben ihre Familie oft als intakt, der einzige Fehler sei eigentlich „nur“ ihre Krankheit. Doch wenn man einmal genauer hinter die glatte Fassade dieser Familiensysteme schaut, wird einem deutlich, daß längst nicht alles so intakt ist, wie es nach außen scheint. Für mich zum Beispiel war es sehr schwer, zu erkennen, daß nicht nur ich selbst, sondern auch meine Familie, ein Stück weit zur Magersucht beigetragen hat. Ich habe auch heute noch Schwierigkeiten damit, diese Möglichkeit zuzulassen.
Der Vater ist in der Familie oft kaum präsent für die Töchter, weder als Person, noch emotional. Um so stärker ist die Beziehung der Betroffenen zur Mutter, welche nicht selten eine dominante, überfürsorgliche Art hat. Sie ist einerseits die Vertraute, (Die Mädchen beschreiben häufig, daß sie mit ihrer Mutter alles bereden können.) andererseits übt sie emotionalen Druck auf die Tochter aus, dies muß nicht einmal bewußt geschehen. Da die Ehe zwischen Vater und Mutter in den meisten Fällen nicht befriedigend ist, nutzt die Mutter die enge Bindung zu ihrer Tochter, um sich ihre Probleme von der Seele reden zu können. Diese fühlt sich dadurch wertgeschätzt und erwachsen, ist allerdings mit der Verantwortung, welche ihr die Mutter unterschwellig aufbürdet (Bsp: „Aber das bleibt unter uns...“) nur schwer oder nicht gewachsen. Innerhalb der Familie werden Emotionen nur athmosphärisch geäußert. Das bedeutet man bemerkt zwar, wenn „dicke Luft“ herrscht, weiß aber nicht was eigentlich los ist. Typisch ist auch die Verallgemeinerung von Aussagen: „Man tut..., Es gehört sich..., Wir früher...usw. Das Verhältnis der Familienmitglieder ist nie ganz klar, zuweilen kann sich das Bündnis zwischen Mutter und Tochter gegen den Vater richten oder das zwischen Vater und Tochter gegen die Mutter. Die Eltern können sich aber auch kurzfristig gemeinsam gegen die Tochter verbünden, so daß sie eigentlich nie ganz auf die Elternteile vertrauen kann. Aggressionen sind verpönt und werden sofort gemaßregelt. Deshalb haben die Mädchen kaum die Gelegenheit, negative Gefühle, wie Frust, Zorn und Aggressionen adäquat auszuleben oder anzusprechen. Hinzu kommen häufig noch ambivalente Aussagen gegenüber der Tochter. Ein Beispiel wäre: Die Mutter erlaubt der Tochter in die Disco zu gehen und gibt gleichzeitig nonverbal das Signal, daß sie das eigentlich gar nicht möchte und die Tochter lieber zu Hause hätte. Sie impft der Tochter auf diese Weise Schuldgefühle ein, wenn diese ihren eigenen Wünschen und Bedürfnissen nachgeht und die Mutter nicht mit einbezieht. Unterbewußt gibt sie ständig das Signal: „Sieh her, ich tu alles für dich und du machst trotzdem, was du willst, sei eine gute Tochter und kümmere dich um deine Mutter, sei ein bißchen dankbarer und sorge dafür, daß es mir gutgeht.“
Man sieht an diesem Beispiel sehr deutlich, wo das Problem in dieser Familie liegt. Der persönliche Bereich der Tochter, ihr Spielraum, ihre persönliche Freiheit wird stark verregelt und eingeengt. Vor der Mutter kann nichts geheim bleiben, sie spürt alles auf, kennt die Bedürfnisse der Tochter, sie weiß, was für sie gut ist und was nicht. Sie läßt sie nicht selbst herausfinden, was sie will, erlaubt ihr keine Fehler in der Lebensplanung und versucht deshalb ihr von vornherein die Schwierigkeiten aus dem Weg zu räumen. Als Gegenleistung fordert sie, mehr oder weniger Anpassung und Unterordnung. Das kann so weit gehen, daß die Mutter sogar bestimmt, wann die Tochter Hunger hat, friert oder müde ist und so die Tochter ihren eigenen Gefühlen und ihrer Wahrnehmung nicht mehr traut. Einerseits wird von ihr Verantwortung und Reife verlangt (Übernahme von häuslichen Pflichten und Funktion als Seelentrösterin für die Mutter), andererseits bleibt sie unselbständig, weil der Tochter nicht zugestanden wird, eigene Lebenserfahrungen zu machen. Jeder Ansatz von Ablösung aus dem Elternhaus ist mit Schuldgefühlen besetzt, da die Mütter den Töchtern den Verlust ihres Lebensinhaltes bzw. Gesprächspartners, die Angst vor Einsamkeit signalisieren. Die Magersucht kann man demnach auch als ein Kampf um Eigenständigkeit der Töchter verstehen, denn die Krankheit ist ja praktisch das einzige, was ihnen allein gehört. Über ihren Körper können die Mädchen selbst bestimmen und die Mutter hat keine Macht, ihn zu kontrollieren. Leider geht damit das Spüren der Lebendigkeit des eigenen Körpers verloren, denn er wird ja nur noch als Instrument der eigenen Kontrolle mißbraucht.
Auffällig ist auch, daß Sexualität und Lust nicht selten Tabuthemen innerhalb der Familie sind. Durch die unbefriedigende Ehe der Eltern wird der Tochter die Enttäuschung und Frustration der Mutter deutlich und macht die Übernahme der weiblichen Rolle zusätzlich unattraktiv für das Mädchen. Die Mutter übermittelt nämlich direkt wie auch indirekt, daß für sie Weiblichkeit kein erfülltes Leben bedeutet, sondern nur als Benachteiligung empfunden wird, daß Sexualität nichts Lustvolles, sondern nur ein notwendiges Übel ist.
Es ist jedoch das Bestreben der Eltern, nach außen hin die perfekte Familie darzustellen und dies auch vor sich selbst zu vertreten. Sie kommen nur sehr schwer damit zurecht, daß die Tochter, die bisher kaum Schwierigkeiten gemacht hat, eine schwere psychosomatische Krankheit und nicht nur einen „Schlankheitsfimmel“ haben soll. Besonders schockierend ist dabei, sich damit auseinandersetzen zu müssen, daß die Ursachen zu einem nicht unerheblichen Teil in dieser angeblich so perfekten Familie liegen sollen, also auch bei ihnen, als Eltern. Die Diagnose Magersucht bringt das ganze Familiensystem ins Wanken und es ist daher äußerst schwierig mit Eltern und Töchter innerhalb der Therapie auf eine gemeinsame Basis zu kommen.12
3.2.3 Die Persönlichkeit der Betroffenen
Oft wurde sich die Frage gestellt, weshalb einige Mädchen magersüchtig werden, während andere unter ähnlichen Bedingungen gesund bleiben. Da drängt sich natürlich der Gedanke auf, ob es vielleicht eine Persönlichkeitsstruktur gibt, die das Risiko, an Magersucht zu erkranken, eher begünstigt als andere.
Nichtsdestotrotz ist es schwierig dieser Frage auf den Grund zu gehen, da es nicht immer klar ist, ob man bestimmte Eigenschaften nun zu den Ursachen für eine Erkrankung zählen kann oder ob sie schon Folgen davon sind. Einige Magersüchtige wiesen bereits in der Kindheit psychische Auffälligkeiten, wie z.B. häufiges nächtliches Schreien und große Ängstlichkeit, auf. Weiterhin fallen bei Magersuchstpatientinnen typische Eigenschaften ins Auge. Kennzeichnend währen da beispielsweise ein niedriges Selbstwertgefühl, hohes Anspruchsniveau an sich und andere, Egozentrik, Ehrgeiz, Pflichtbewußtsein, Perfektionismus (Dieser ist besonders typisch.), Mangel an Spontaneität und eine eingeschränkte Emotionalität (Der Verstand ist das Maß aller Dinge.)13 Einige Eigenschaften davon mögen im Charakter der jeweiligen Person schon angelegt sein, andere wurden höchstwahrscheinlich erst über die Erziehung durch die Eltern geprägt. Eine wesentliche Rolle spielt da, meiner Meinung nach, die Überbehütung verbunden mit der Wertminderung von Meinungen, die nicht konform mit denen der Eltern sind bzw. das Nichternstnehmen von Gefühlen und Wahrnehmungen der Töchter. Da eigene Bedürfnisse und Wünsche außerdem meist wenig oder nicht respektiert wurden, oder zumindest mit Vorwürfen und Schuldzuschreibung gekoppelt waren, wissen die Mädchen später kaum was sie wollen und entwickeln eine tiefe Unsicherheit vor dem Leben. Dies drückt sich im mangelnden Selbstbewußtsein und erhöhter Abhängigkeit von Anerkennung und Liebe, in der mangelnden Kritikfähigkeit (Sie wird sofort als Angriff auf die gesamte Persönlichkeit verstanden und bringt den sowieso schon labilen Selbstwert ins Schwanken.), sowie einem starken Mißtrauen gegenüber jeglichen Beziehungspersonen aus. Viele Magersüchtige isolieren sich von Gleichaltrigen. Nicht nur, weil in ihrem Kopf neben den Gedanken um Essen und Kalorien kein Platz mehr für andere Dinge ist, sondern auch, weil sie Angst davor haben, sich gegenüber anderen nicht perfekt zu verhalten und dadurch keine Anerkennung zu bekommen bzw. abgewiesen und verachtet zu werden. Sie empfinden sich einerseits als minderwertig im Vergleich zu anderen, zur selben Zeit aber erheben sich Magersüchtige über Gleichaltrige, welche sie dann als minderbemittelt oder schwach einstufen. Dies ist der Widerspruch, in welchem sich die Betroffenen bewegen, um mit ihrem Selbst (über)-leben zu können.
Magersüchtige leben angepaßt, unauffällig, umgänglich und total gesellschaftskonform, dies ist ihre Art, sich Anerkennung zu „verdienen“, doch im Grunde bewundern sie eigentlich die, die das Leben mit allen Farben und Facetten genießen und auskosten und sich nicht in Regeln und Normen pressen lassen. Innerhalb ihrer Ansprüche, die sie an sich stellen, innerhalb dieses Perfektionismus, haben sie ihre Persönlichkeit, ihr Wesen vollkommen aus den Augen verloren. Sie ahnen dies zwar, aber haben Angst, sich so zu geben, wie sie eigentlich sind, weil sie nicht mehr wissen, was ihre Persönlichkeit ausmacht. Vor und während der Erkrankung haben sie so viele Rollen und Masken angenommen, daß sie gar nicht mehr wissen, welcher Mensch dahinter steckt. Auch ich habe diese Erfahrung gemacht. An dieser Stelle entscheidet sich, ob die Magersucht besiegt werden kann. Das Mittel dafür ist nach meiner Ansicht, den Mut aufzubringen, sich selber nach und nach wieder und neu zu entdecken, herauszufinden, wer man ist, welche Wünsche und Träume man hat, und was man selbst (und nicht die Eltern) vom Leben erwartet, so daß man den „Balken“ Magersucht einfach nicht mehr braucht, weil andere Dinge die Persönlichkeit ausmachen und wichtig für einen sind.
3.2.4 Heilungchancen und was Angehörige tun können
Ich habe es mit Hilfe von Beratungsgesprächen (ohne die ich allerdings nicht allein gesund geworden wäre!) aus eigener Kraft, d.h. ohne Therapie geschafft, den Teufelskreis der Magersucht zu durchbrechen. Meine eigene Wohnung, ein liebevoller Partner, gute Freunde und meine große Lebensfreude haben mich dabei sehr unterstützt. Ich habe das Glück und die Kraft gehabt, rechtzeitig zu bemerken, daß ich ein Problem habe und ich vermochte es, den Kopf noch rechtzeitig aus der Schlinge zu ziehen. Was hilft nun konkret, die Eßstörung zu besiegen?
Wie ich es gerade an meinem Beispiel deutlich gemacht habe, geht es vor allem darum, Alternativen für die Magersucht zu finden, Dinge die einem Freude machen, die einem vor Augen führen, welche Fähigkeiten man besitzt, Dinge, die das Leben mit neuen, positiven Inhalten füllen. Kontakte zu alten und neuen Freunden knüpfen kostet zwar sehr viel Überwindung, es bestärkt aber das Selbstwertgefühl, bricht die Isolation auf und hilft, Ansprechpartner zu haben, wenn es einem mal wieder schlecht geht. Denn ich glaube, eins sollte man nicht aus den Augen verlieren, die Magersucht ist eine individuelle Bewältigungsstrategie für Probleme. Ich denke, wenn man diese Krankheit einmal hatte, besteht immer wieder die Gefahr, in bestimmten Situationen, erneut in die alten Muster zurückzufallen. Meiner Meinung nach, ist es daher sehr wichtig, in Zukunft besonders achtsam mit sich umzugehen. Auch Rückfälle gehören zu Heilung dazu, denn immerhin handelt es sich um eine schwere psychische Erkrankung, und von daher braucht es Zeit, um neue Strategien und Bewältigungsmuster zu lernen. Hilfreich ist auch eine Selbsthilfegruppe, in welcher man sich austauschen kann. Im Rahmen dieser lernen Betroffene, Verantwortung für sich selbst und ihr Handeln zu übernehmen und erfahren zugleich, daß sie nicht allein oder abnorm sind.
Für die meisten Eßgestörten ist es ratsam, eine Therapie zu machen, ambulant oder auch stationär. Es hat beides Vor- und Nachteile, welche man gut gegeneinander abwägen muß, in jedem Fall ist eine psychologische und therapeutische Betreuung sehr wichtig, denn in den allermeisten Fällen schafft man es nicht mehr allein, aus dem Teufelskreis Eßstörung auszubrechen.
Mein letzter Punkt beschäftigt sich mit der Frage, was Angehörige tun können, um die Betroffene zu unterstützen. Hier herrscht oft ein unklares Bild, allgemeine Verunsicherung, sowie Hilflosigkeit. Zuerst einmal ist es wichtig, daß Eltern und Freunde möglichst normal mit der Betroffenen umgehen, ihr zeigen daß sie gemocht und wertgeschätzt wird und daß sie jeder Zeit das Gespräch suchen kann. Falsch ist auf jeden Fall, eine Magersüchtige zum Essen zwingen zu wollen, das Aussprechen von Drohungen oder Erpressungen führt in den meisten Fällen nur zu einer Verschärfung der Situation und ändert nichts an den Ursachen der Krankheit.14
Trotzdem darf das Thema Essen nicht völlig vermieden werden, die Eltern und Freunde sollten schon den Betroffenen ihre Sorge und Ängste mitteilen, jedoch gleichzeitig signalisieren, daß das Mädchen jeder Zeit auf Hilfe und Unterstützung zählen kann. Auf den Punkt gebracht bedeutet dies, einfach für die Betroffene da sein, ihr Gesprächsbereitschaft signalisieren, sie nicht im Stich lassen, jedoch trotz allem, ihre Grenzen, ihre Persönlichkeit und Bedürfnisse zu respektieren. Das ist sehr schwer, aber es ist die einzige und wohl wirksamste Möglichkeit, den Heilungsprozeß zu fördern.
Dabei sollten sich Angehörige nicht scheuen, selbst Hilfe in Anspruch zu nehmen und sich unterstützen zu lassen, sei es jetzt von einer Selbsthilfegruppe oder einer professionellen Beratung.
4. Zusammenfassung
„ Tief im Inneren sehne ich mich nach Liebe und Geborgenheit. Nach au ß en gebe ich mich willensstark, frei und gelassen, aber im Inneren bin ich schwach, wie ein Blatt im Wind. “ 15
Diese Worte habe ich im Buch „Magersüchtig“ von Monika Gerlinghoff gelesen. Sie stammen aus dem Tagebuch einer jungen Frau, welche nach unzähligen Therapien noch immer Magersucht hat und es für sie nicht möglich ist, ohne sie zu leben. Ich habe diese Worte für meine Zusammenfassung gewählt, weil sie genau meine Situation während der Krankheit beschreiben und doch so ein großer Unterschied zwischen meiner und ihrer existiert. Es ist erstaunlich, für mich zu sehen, daß sich so viele Krankheitsgeschichten ähneln und doch haben sie alle ihre individuelle Dynamik. Manche springen ins kalte Wasser und „schwimmen“, um zu leben und andere können niemals ans Ufer gelangen, weil es ihnen nicht gelingt, den „Balken“ loszulassen. Es ist nicht möglich, jemanden zu retten, der eine Eßstörung hat. Das, so denke ich, ist die wichtigste Erkenntnis, zu der man kommen muß. Die Betroffenen können sich nur allein retten, sie allein müssen die Kraft aufbringen, ein Leben ohne die Eßstörung führen zu können. Sie müssen sich dafür dem Grundproblem, daß sie haben, stellen: Verantwortung, für ihr Leben und sich selbst zu übernehmen, gut für sich zu sorgen..
Das, was man als Angehöriger oder Therapeut tun kann und soll, ist zu versuchen, ihnen die Chance und den Blick zu eröffnen, sich selbst kennen- und liebenzulernen. Ich vergleiche das gerne mit einem Krückstock, er hilft beim Aufstehen und Gehen, solange man noch nicht stark genug ist, dies aus eigener Kraft zu tun. Doch irgendwann muß man sich selbst so gut kennen, um zu wissen, wann man den Krückstock nicht mehr braucht. Es kostet Kraft, allein zu gehen, aber es eröffnet eine neue Lebensqualität und Freiheit
4. Literaturverzeichnis
AOK; „Eßstörungen- Streben nach dem Ideal?“; Informationsbroschüre 24, 1997, WDV, Bad Homburg
Barmer Ersatzkasse (Petra Mader); „Eßstörungen bei Kindern und Jugendlichen“Informationsbroschüre, Echo Verlags GmbH, Köln
BzgA (Sylvia Beck); „Ess-Störungen“- Informationsbroschüre, Köln, 2. Überarbeitete Fassung
Eckhardt, Annegret; „Im Krieg mit dem Körper“, Rowohlt, Hamburg, 1994
Gerlinghoff, Monika; „Magersüchtig“, Piper, München, 1985
Wardetzki, Bärbel; „Iß doch endlich mal normal“, Kösel, München, 1996
Wardetzki, Bärbel; „Weiblicher Narzißmus“, Kösel, München, 1991
www.Hausarbeiten.de ; Christiane Nill, „Magersucht und Bulimie als zeittypische Störungen“
[...]
1 vgl. Eckhardt, S.13
2 ebenda, S. 28
3 vgl. Eckhardt, S. 70
4 vgl. BzgA, S. 7/8
5 vgl. BzGH, S. 16/17 vgl. Barmer, S. 15/16
6 vgl. Barmer Ersatzkasse, S. 13
7 Gerlinghoff, 1985, S. 51
8 Gerlinghoff, 1985, S. 52
9 vgl. Christiane Nill, Kapitel 7
10 vgl. ebenda, Kapitel 4.1
11 vgl. Gerlinghoff, S. 61
12 Gerlinghoff, S. 66/67
13 ebenda S.67/68
14 AOK, S. 21
15 Gerlinghoff, S.170
- Arbeit zitieren
- Katja Walther (Autor:in), 2001, Autoaggression bei Mädchen und jungen Frauen, Schwerpunkt Eßstörungen-Magersucht, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/105597
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