Faust - der ewig Suchende


Seminararbeit, 2001

18 Seiten


Leseprobe


1. Einleitung:

Die Seminararbeit beschäftigt sich mit Goethes Werk „Faust“. Der Arbeitstitel „Faust - Der ewig Suchende“ versucht den zentralen Aspekt des von Konflikten geplagten Faust zu untersuchen: nämlich seiner Suche nach einem greifbaren Ziel im Leben. Dabei kann der Begriff Ziel oder Zufriedenheit in eine lange Reihe austauschbarer Begriffe eingegliedert werden, die oberflächlich betrachtet wenig miteinander zu tun haben, aber doch wieder auf dasselbe hinführen. Wonach sucht Faust? Wonach verzehrt er sich? Ist es die innere Ruhe, mit sich selber im Reinen zu sein oder ist es die Liebe zu einem anderen Menschen und das Gefühl wiedergeliebt zu werden? Diese große Sehnsucht nach etwas ist bei Faust so augenscheinlich, dass es sogar für den Teufel selbst eine Herausforderung wert ist.

Am Anfang des Dramas bezieht sich seine Rastlosigkeit noch auf den wissenschaftlichen Bereich, wo er aber immer wieder an Grenzen stößt und sich in anderen Gebieten versucht. Im Laufe der Handlung ändert sich der Bereich des Strebens und Suchens und bekommt einen sozialen Aspekt, nämlich den der Suche nach der Geliebten. Das fortwährende Streben als Charaktereigenschaft Fausts ist das Hauptthema dieser Hausarbeit und ich will versuchen einige der zahlreichen Facetten aufzuzeigen, die dieses Verlangen beinhaltet. Dabei wird nach Mephistos Auftreten das sexuelle Verlangen im Mittelpunkt stehen, da Mephisto sich in diesem Bereich am ehesten eine „Sättigung“ Fausts verspricht. Den ersten Teil wird jedoch Fausts Rastlosigkeit vor Mephistos Auftreten beschreiben.1

2. Fausts Charakter

Faust ist die Schlüsselfigur in dieser Arbeit. Er ist der Ausgangspunkt für alles Geschehene, ohne den es kein Auftreten weder von Mephisto, noch von Gretchen geben würde. Das Besondere an Faust ist, dass er im Vergleich zu anderen Protagonisten in der Dramenliteratur keine echte Heldenfigur im üblichen Sinn darstellt. Beschäftigt man sich näher mit seinem Auftreten, Umfeld und Charakter wird diese Aussage noch unterstrichen. Wer ist dieser Faust? Er ist ein relativ betagter Mann, der sein ganzes Leben damit verbracht hat zu studieren und dessen einziges Lebensziel darin besteht seinen enormen, schon krankhaften Wissensdrang zu stillen. Unter anderem hat er ein abgeschlossenes Theologie-, Jura- und Philosophiestudium. Trotz all dieser erlernten Berufe, die ihm einen gewissen Wohlstand hätten sichern können, zieht er es vor als Gelehrter zu leben, isoliert von der Außenwelt, versunken in seiner eigenen, kleinen Bücherwelt. Er ist sozusagen unbehaust, wohnt in seinem kleinen, dunklen vollgestopften Studierzimmer. Er hat kaum soziale Kontakte, weder Freunde noch Familie. Seine Kommunikation mit anderen Lebewesen beschränkt sich hauptsächlich auf seinen Famulus Wagner. Dennoch genießt er in der Bevölkerung ein hohes Ansehen, was jedoch auf seine Vergangenheit als Arzt zurückzuführen ist. Er ist ein absoluter Einzelgänger und das soziale Umfeld, welches bei einem öffentlich auftretendem Menschen automatisch besteht, muss Faust als Individualist immer wieder aufs neue suchen und aufbauen, wenn er sich außerhalb seines Reiches bewegt. In den Szenen bis zum 2.Teil entwickelt Faust nur vorübergehende Kontakte zu Personen und gesellschaftlichen Bereichen, nicht aber einen konstanten Bezug zu einer festen sozialen Umgebung. Dies wird noch verstärkt, nachdem er Mephisto folgt und überall nur noch Gastrollen spielt. Die Ursache, welche diese absolute Individualität herbeigerufen hat, liegt in seinem unbändigen Willen nach Wissen und Erkenntnis. Das beinahe schon plakative Wiederholen des Strebensbegriffs in den entscheidenden Situationen wird dem Leser schon nahezu aufgedrängt.2

3. Fausts Streben nach Wissen

Den Begriff des Strebens machen viele Komponenten aus: nach dem Wortlaut des Dramas heißt Streben zunächst einmal rastlose Tätigkeit. Diese beschreibt die Grundeinstellung Fausts, der er seine ganze Kraft widmet. Seine rastlose Tätigkeit ist verbunden mit nie gesättigter Begierde, mit ewigem Unbefriedigtsein. Begriffe wie Sättigung, Befriedigung, Beruhigung oder Faulheit kommen in Fausts Denken nicht vor. Das Wechselverhältnis von permanenter Tätigkeit und immerwährender Begierde bezeichnet somit einen unendlichen Prozess. Da das Streben als Persönlichkeitsmerkmal zu sehen ist und sich nicht etwa ein Ziel setzt, ist die Verwirklichung der Taten eigentlich unabschließbar. Das ganze Ausmaß seines Wissensdrangs wird erst so richtig in der Szene „Bergschlucht“ deutlich: sein Streben erreicht metaphysische Dimensionen und Faust strebt sogar im Jenseits zu höheren Stufen.

Zwischen Streben und Genießen besteht insofern ein Zusammenhang, dass das Streben den Genuss zum Ziel hat, wobei für Faust aber von Anfang an klar ist, dass dieser Genuss eine sehr kurzweilige Befriedigung darstellt. Streben und Genießen sind ein und derselbe Prozess, Genießen ist nur in

Form von Streben möglich. Mephisto muss am Anfang, wie auch am Ende erkennen, dass Faust der unaufhörlich Tätige ist, was ihn aber auch fasziniert und zu der Wette verleiten lässt. Doch am Schluss muss er zugeben, dass Faust keine Lust sättigt und dass ihm kein Glück der Welt genügt.

4. Der Verführer Mephisto

Der Auftritt Mephistos bringt eine Wende in Fausts Leben.3

Mephisto hat sich nach einer Wette mit Gott die Aufgabe gestellt, Faust dazu zu bringen, dass er zumindest nur für einen Augenblick sein Streben vergisst und Sättigung erfährt. Mephisto will ihm die sexuellen Freuden des Lebens aufzeigen und versucht ihn von seiner bisherigen Begierde auf eine andere zu lenken. Mephisto ist nicht nur eine eigenständige Figur in Goethes Drama, sondern eine zentrale Funktion des Mephisto besteht in der Darstellung von Fausts Charakter. Mephisto verkörpert zwar den Teufel und übernimmt somit die Rolle des Bösen, ist jedoch in Goethes Werk beinahe ein irdischer Charakter. In der Literatur vertritt der Teufel als das Böse häufig den Bereich verbotener menschlicher Wünsche. Somit kann man Mephistos Taten auch als Projektion der geheimen Wünsche Fausts deuten. Ein wichtiger Bereich ist Fausts Sexualität, dessen dunkle Seite Mephisto vertritt. Er weckt in Faust die unterschwellig vorhandene Sexualität. Den Anfang macht er in der Szene „Auerbachs Keller“, wo er Faust durch seine Kräfte die Freuden des Lebens aufweist. Der Weintisch wird als Symbol und Quelle der Fruchtbarkeit und Lust dargestellt. Dort benutzt Mephisto in ausgelassener Stimmung zum ersten Mal den Lustbegriff als kleinen Vorgeschmack.

„Die Kraft ist schwach allein die Lust ist groß“.4

Danach zeigt er Faust im Zauberspiegel die schöne Helena, wodurch er Fausts „inneres Feuer“ entfacht. Mephistos ist Herrscher über das Reich der entfesselten Lüste und in der Walpurgisnacht öffnet er das Tor der sexuellen Spielarten. Er selbst hat starke homosexuelle Züge an sich. Gerade in Theaterstücken wird die Rolle des Mephisto von einem gutaussehendem, auf Äußeres Wert legenden Mann gespielt. Er ist aber nicht auf Homosexualität beschränkt, wobei er selbst nicht einmal auf ein Geschlecht festzulegen ist wie die Spiegelszene zeigt: dort übernimmt er die Rolle der Hexe. Wenn jetzt aber Mephisto die geheimen Wünsche des Faust verkörpert, dann müssten die anderen sexuellen Komponenten auch einen Teil Fausts ausmachen. Eindeutige Hinweise gibt es aber nur für Heterosexualität: das entfesselte Feuer für Helena und danach Gretchen. Auch in der Walpurgisnacht schlägt er sexuell perverse Angebote aus, die Mephisto ihm zukommen lässt und klammert sich an den Gedanken an seiner Grete. Die historisch-gesellschaftliche Form des Sexualtabus zur Zeit Goethes ließ wohl eine zu deutliche Gestaltung dieser Formen von Sexualität nicht zu und deswegen darf Mephisto, der schon ohnehin das Böse verkörpert diese Eigenschaften haben und Faust, als Gegenpart zu ihm, wird als sexuell „normal“, also als heterosexuell dargestellt.

5. Exkurs: Raub der Helena

In der griechischen Mythologie gilt Helena als schönste Frau Griechenlands; sie war Tochter des Gottes Zeus und der Leda. Als Kind von Theseus entführt, wollte sie zur gegebener Zeit heiraten, wurde jedoch von ihren Brüdern Kastor und Polydeukes befreit. Ihre verhängnisvolle Schönheit wurde der Sage nach direkte Ursache für den Trojanischen Krieg. Die Geschichte des Kriegs begann, als die drei Göttinnen Hera, Athene und Aphrodite den trojanischen Prinzen Paris baten, die Schönste unter ihnen zu wählen. Er wählte Aphrodite, denn sie hatte ihm die Liebe einer Frau von unvergleichlicher Schönheit versprochen. So segelte Paris nach Griechenland um Helena, die schönste Frau, die ihm versprochen wurde, zu treffen. Er wurde von ihr und ihrem Gemahl Menelaos freundlich empfangen und obwohl die beiden eine glückliche Ehe führten, erlag Helena Paris, nicht zuletzt durch Aphrodites Einfluss. Paris nahm Helena nach Griechenland mit und Menelaos unternahm einen mit zahlreichen griechischen Führern unterstützen Kriegszug, um seine Helena zurückzuerobern. Nach zehnjährigem Kampf mit zahlreichen Toten kam es zu einem direkten Duell Paris gegen Menelaos, wobei Helena zusehen musste. Als sie sich der Stelle des Duells näherte, war ihre Schönheit immer noch so unvergleichlich, dass jegliche Kämpfer nur Mitleid verspürten. Obwohl nun die Griechen den Sieg über Helena in Anspruch nahmen, half Aphrodite Paris vor Menelaos zu entkommen und schleuste ihn, umgeben von einer Wolke, in die Schlafgemächer Helenas in Sicherheit, wo diese ihn dann „tröstete“. Nach dem Fall Trojas wurde Menelaos wieder mit Helena vereint. Sie nahmen ihre Herrschaft wieder auf und Helena gebar ihm eine Tochter, Hermione, und alle führten ein Leben in königlicher Pracht.56

6. Faust und das „Schöne“

Der Mythologie nach muss Helenas Schönheit so groß gewesen sein, dass deswegen jahrelange Kriege entbrannt sind und zahlreiche Menschen ihr Leben lassen mussten. Die Sage lehrt auch, dass ein gewaltsamer Versuch diese schöne Frau zu besitzen, mit einem Fluch belegt ist. Auch im „Faust“ ist die Wirkung der schönen Frau, in diesem Fall Gretchen, mit Verlusten und Tod gleichzusetzen. Die Beziehung zwischen Faust und Grete ziehen den Tod ihrer Mutter, ihres Bruders, ihres Kindes und sogar ihren eigenen nach sich. Häufig wird in Interpretationen beschrieben, dass von unendlicher Schönheit Verderben ausgeht und dass Schönheit nur eine Abart des Schrecklichen ist. Oft ist auch von der „Tragik einer möglichen Begegnung mit Helena“7 die Rede. Diese Aussage zeigt sehr deutlich, dass der nach Schönheit Suchende und auch Findende einen hohen Preis dafür zahlen muss. Schönheit wird als magische Gefahr für den Menschen und die menschliche Ordnung beschrieben. Selbst Gretchen muss im Kerker erkennen:

„Schön war ich auch, und das war mein Verderben.“8 Helenas Bekenntnis zeigt Parallelen: „[...], dass Glück und Schönheit dauerhaft sich nicht vereint.“9

Natürlich hat Schönheit nicht nur vernichtende Elemente, sondern kann genau die gegensätzliche Wirkung erzielen. Fausts Suche nach der perfekten, schönen Frau beflügelt ihn und gleichzeitig stößt er damit in soziale Bereiche und Verhaltensweisen vor, die ihm vorher nicht bekannt waren. Auf diese Art und Weise erweitert er seinen Horizont. Mit Grete und Mephisto geht er die einzigen Liebes- und Freundschaftsbeziehungen überhaupt ein. Er ist der typische Einzelgänger ohne Kontakte zu Freunden oder gar Verwandten. Selbst Wagner, der den anfänglich einzigen sozialen Kontakt zu Faust darstellt, ist ihm nur lästig und der fröhlichen Runde in Auerbachs Keller kann er auch nichts abgewinnen. Wenn ihm schon der Freundschaftsbegriff fehlt, kann er somit auch kein Feindschaftsverhältnis kennen.

Eine weitere wichtige Rolle spielt der Begriff „schön“ in der Wette mit Mephisto, in der Faust als rastloser Mensch Mephisto seine Seele verspricht, wenn dieser ihn dazu bringt zu fühlen und zu sagen:

„Werd´ ich zum Augenblicke sagen: Verweile doch! Du bist so schön.“10

Gemeint ist damit die subjektive Erfüllung seiner Rastlosigkeit und seines ewigen Strebens und er endlich den Moment gefunden hat, der seine Seele zufrieden macht. Schönheit bezeichnet in diesem Fall den Bereich der höchsten Werte im Zustand der Vollkommenheit. Schönheit kann man hier mit innerem Frieden gleichsetzen und innerer Friede wäre dann erreicht, wenn der Mensch und die Welt das Ideal des Vollkommenen erreichen würden.

7. Die Spiegelszene

Nach einem ersten Vorgeschmack in Auerbachs Keller, was das Leben außerhalb der Mauern seines kleinen Studierzimmers und außerhalb der Zwänge im Kopf, die immer nur den Wissensdurst kennen, noch an Erbaulichem zu bieten hat, bringt Mephisto Faust in die Hexenküche. Sein Plan ist es Fausts wissenschaftliches Verlangen, welches ihm niemals eine Sättigung bringen wird, in sexuelles Verlangen umzulenken. Damit verspricht er sich den Erfolg Fausts Unzufriedenheit zu beenden und somit die Wette für sich zu gewinnen. Er zeigt Faust einen Zauberspiegel und die schöne Helena erscheint ihm darin. Mephistos Bemühungen scheinen sich auszuzahlen, da sich Faust sofort unsterblich in dieses Spiegelbild verliebt und wild entschlossen ist, die Frau zu finden.

„Oh Liebe, leih mir den schnellsten Flügel und führ mich in ihr Gefild.“11

Faust verspürt sofortige Erregung durch den Anblick des Bildes und hat nur noch das Ziel diese schöne Frau ausfindig zu machen. Mephisto in der Gestalt der alten Hexe gibt ihm einen Zaubertrank, um den doch schon relativ betagten Faust zu verjüngen. Davon verspricht er sich eine gesteigerte Libido und nicht zuletzt durch sein jüngeres Erscheinungsbild mehr Anziehungskraft für die weibliche Welt. Nach der Verjüngung erwähnt Mephisto die Wirkung und spielt auch auf die steigende Cupido an:

„Du siehst mit diesem Trunk im Leibe bald Helenen in jedem Weibe.“12

Und damit beginnt Fausts Suche nach der Geliebten in seiner realen Welt.

Auf die Spiegelszene lässt sich Freuds Theorie vom Phantasieren anwenden: Er spricht davon, dass Erwachsene ihre Träume und Wünsche in Phantasien ausdrücken. In diesem Fall kann er nicht Helena begehren, da sie eine Figur aus der griechischen Mythologie ist. Da sie aber das Idealbild der Schönheit verkörpern soll, erscheint ihm dieses Ideal in Form von ihr. Der glückliche Mensch phantasiert laut Freud nie, nur der Unbefriedigte, und Faust ist schließlich derjenige, der keine Befriedigung aus etwas ziehen kann. Unbefriedigte Wünsche sind die Triebkräfte der Phantasien und jede einzelne Phantasie ist eine imaginäre Wunscherfüllung, eine sogenannte Selbstkorrektur der unbefriedigenden Wirklichkeit. Nach Freud gibt es zweierlei Arten von Tagträumen: die erotischen und die ehrgeizigen. Die Spiegelszene gehört wohl zu den erotischen Phantasien, wobei Fausts Ehrgeiz ebenfalls eine Rolle spielt. In der Regel schwebt die Phantasie zwischen drei Zeitstufen, d.h. zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Über die Vergangenheit lässt sich in diesem Fall nichts sagen, die Gegenwart ist der Anlass der Phantasien Helenas Anblick und die Zukunft bezieht sich auf Fausts Vorhaben mit der schönen Frau.13

8. Suche nach Helena/Grete

Wie in der Szene „Hexenküche“ bereits beschrieben, wurde Fausts Cupido durch das Erscheinen der Helena geweckt und nun kann die Suche nach der Geliebten in der realen Welt beginnen. Der verjüngte Faust geht mit seinem Diener/Lehrer Mephisto auf „Brautschau“. Das erste, für ihn ansehnliche, Mädchen, das er trifft will er unverzüglich haben. Dabei sind ihm, als Ehrenmann, Gedanken wie dauerhafte Beziehung oder gar Heiratsabsichten in diesem Moment gänzlich fremd. Das erste Ziel gilt seiner sexuellen Befriedigung. Auffallend ist, dass die soziale Kluft, der Bildungs- und Altersunterschied Faust scheinbar noch mehr reizen. So wie Faust an Mephisto hängt, weil dieser scheinbar etwas hat, was Faust nicht hat, nämlich Macht, so ist er bei Grete dieses Mal in der Position des „Machthöheren“, gemessen an der Intelligenz, am Stand und Alter, welche ihm das Gefühl der Überlegenheit geben. Man kann es auch als eine sexuelle Spielart sehen, dass Faust sich ein erniedrigtes Sexualobjekt auswählt, welches ihm in allen Belangen unterlegen ist und ihn somit nicht beurteilen kann. Fausts Libido richtet sich somit auf das kindliche Geschöpf, vor dem seine Potenz keine Hemmungen erfährt, sondern sich voll zu entfalten scheint.

So kann man dann vielleicht erklären, dass neben dem Trieb das Gefühl der Überlegenheit Faust dazu bringen Grete in der Straßenszene, zur damaligen Zeit überaus frech, anzusprechen. Faust erkennt sofort welcher Gesellschaftsschicht er Grete zuordnen muss und seine direkte Anrede „mein schönes Fräulein“14 gilt dann nicht ihrem gesellschaftlichen Stand, sondern ist in diesem Fall als Kompliment zu sehen, mit welchem er ihr schmeicheln will. Auffallend ist auch der Versuch des sexuellen Zugriffs und die direkte und schamlose Äußerung des Wunsches mit Grete schlafen zu wollen. Grete, beinahe noch ein Kind, ignoriert den Balzversuch des Faust. Doch dieser lässt sich von einer „vorübergehenden“ Abfuhr nicht entmutigen, sondern erbittet sich Mephistos Hilfe für die Verführung Gretchens. Er habe „Appetit“15 und er will „sie haben“16. Genauso zielstrebig er in seinem bisherigen Leben agiert hat, genauso unbeirrt verfolgt er jetzt dieses Ziel. Selbst Mephisto, eigentlich der Stellvertreter des Bösen, erhebt Einwände und verweist auf die übliche, gesellschaftliche Moral: ein Mädchen auf offener Straße derart anzusprechen, welches auch gerade von der Beichte kommt, ist nicht erfolgversprechend. Er versucht ihm das Warten schmackhaft zu machen, indem er ihm versichert, dass das Warten die Lust nur vergrößert und die Leidenschaft erhöht.1718

9. Faust und Grete

Wie oben bereits erwähnt, war Fausts erste Kontaktaufnahme mit Grete zur damaligen Zeit sehr unüblich und schamlos. Die Anrede als Person gleichen oder gar höheren Standes, welchem Grete nicht angehört, hängt damit zusammen, dass er durch seine Verliebtheit Grete als Objekt der Begierde überschätzt. Trotz der nur kurzen Begegnung mit Grete macht sich Faust ein ausführliches Charakterbild von ihr. Das kann ein Hinweis darauf sein, dass er sich nicht in Grete verliebt hat, weil er ihren Charakter so liebenswert findet oder eine andere Eigenschaft ihn so an ihr fasziniert. Die Vermutung liegt sehr nahe, dass es auch ein anderes Mädchen hätte sein können, die gerade zufällig seinen Weg kreuzt. Angetrieben durch die Erscheinung Helenas und des Liebestrunks haben die projizierende Phantasie den größten Anteil an seinem Gretchenbild.

Einerseits empfindet er das Gefühl des Verliebtheit verbunden mit zärtlichen Gedanken, andererseits dazu der Gegensatz mit dem Wunsch sein triebhaftes Begehren schnell zu befriedigen. Er preist Grete als sittsam und tugendreich und ihre sauberes, ordentliches Zimmer sind ihm ein Heiligtum. Grete zeigt sich auch dieses Mal als das Wunschbild Fausts, das er gerne hätte: Die äußerlich sichtbare „Aufgeräumtheit“ im Benehmen und Haushalt als Gegensatz zu seiner inneren „Unordnung“.

Dieses Empfinden von Zärtlichkeit steht im Konflikt mit seiner sexuellen Lust.19

10. Fausts Konflikt: Trieb oder Moral?

Wie bereits erwähnt, entsteht dieser handlungstragende Konflikt schon bei der ersten Begegnung auf der Straße mit Gretchen. Schon dort prallen die Sittsamkeit und Unschuld Gretes auf die Begierde des sexuell erregten Faust. In der Szene „Abend“ wird ihm dieser Konflikt bewusst: Sein sexuelles Verlangen scheint ihm angesichts seiner zärtlichen Empfindungen nicht mehr angemessen. Sein Herz wird ihm schwer bei dieser Erkenntnis und sein Trieb erscheint ihm als Frevel. Beide Empfindungen sind gegensätzlich und beiden entspricht ein differentes Bild Gretes. Eine Lösung des sexuellen und sinnlichen Konflikts kann da nur erfolgen, wenn sie in ein und demselben Sexualobjekt zusammenkommen.

Ein Schritt in Richtung Konfliktlösung ist das Charakterbild Gretchens, welches Faust von ihr hat.

Das eine Bild erscheint als Ersatz für sein Ich-Ideal: Er liebt Grete als Ideal von dem, was er selbst nicht ist. Faust verkörpert den Rastlosen, den Unbehausten, den Zerrissenen, den Unzufriedenen. Fausts Phantasiebild von Grete dagegen ist das genaue Gegenteil. Grete lebt in geordneten Verhältnisse im Schoß ihrer Familie, in der Zufriedenheit, Ordnung und Glauben vorherrschen. Nach Freud wählt Faust seine Frau nach narzisstischen Kriterien aus, indem er das wählt, was er selbst gerne wäre.

Das andere Bild, das er in Grete projiziert, ist die Mutter. Faust sieht in ihr mütterliche Eigenschaften, da sie sehr häuslich ist und mitunter ihre kleine Schwester großzieht. Besonders deutlich wird dieser Aspekt in der Szene „Garten“, als Grete Faust von ihrem Alltag daheim erzählt. Zusammenfassend kann man sagen, dass sich Faust in den Typ der sorgenden und versorgenden Frau verliebt.

Im Laufe des Dramas entwickelt Faust Hemmungen den Geschlechtsverkehr mit Grete zu vollziehen. Sein anfänglicher Trieb, wie bereits erwähnt, wird bereits in der Szene „Abend“ gebremst. Der Versuch seine Lust mit seinen zärtlichen Gefühlen zu verbinden scheitern. Verstärkt werden seine Hemmungen durch die Szenen „Garten“ und „Marthens Garten“, in denen er Gretes Lebensgeschichte und ihre Persönlichkeit immer besser kennenlernt. Das hat zur Folge, dass sich die aufrichtigen Gefühle immer mehr verstärken und das nur lustgesteuerte Interesse schwindet. Der Höhepunkt der Hemmungen stellt Fausts Bekenntnis in der Szene „Wald und Höhle“ dar. Er wirft Mephisto vor ihn zur sexuellen Gier verführt zu haben. Dieser versucht ihm durch seine Ausführungen die Skrupel zu nehmen und ihm den körperlichen Akt noch schmackhafter zu machen:

„Ein überirdisches Vergnügen! In Nacht und Tau auf Gebirgen liegen und Erd und Himmel wonniglich umfassen, zu einer Gottheit sich aufschwellen lassen [...]“20

Die Anziehungskraft des sexuellen Begehrens ist letztlich zu groß und er muss erkennen, dass sie nie gestillt werden kann, weil jede Befriedigung die Begierde noch weiter verstärken würde.

„So tauml ich von Begierde zu Genuß, und im Genuß verschmacht ich nach Begierde.“21

Obwohl Faust sich dessen bewusst ist, dass der Geschlechtsverkehr Grete großen Schaden zuführen kann, entschließt er sich, nicht zuletzt durch Mephistos Zuspruch, seiner Begierde nachzugeben und womöglich sie und auch sich selbst damit zugrunde zu richten.

Die Vorahnung bestätigt sich: Die Liebesnacht hat verheerende Konsequenzen. Gretchens Mutter stirbt durch den Schlaftrunk, den man ihr verabreicht hat, damit sie sich ungestört sehen können und den Geschlechtsverkehr vollziehen können. Ihr Bruder Valentin wird bei dem Versuch, die Ehre seiner Schwester zu verteidigen, von Faust erstochen. Faust verlässt Grete, weil sich das Verbot sie lieben zu dürfen, erneut durchsetzt. Grete tötet in geistig verwirrtem Zustand ihr gemeinsames Kind und landet im Kerker, wo sie letztendlich hingerichtet wird.

10. Schlussbemerkung

Bisher hat es weder Faust selbst, noch Mephisto oder eine Frau geschafft ihm das Gefühl der Befriedigung oder Sättigung zu verschaffen. Sein Streben in dem Gebiet der Naturwissenschaften konnte Faust nicht zu einem ihm befriedigendem Ergebnis bringen. Selbst Mephistos Versuch ihm in der körperlichen Liebe diese Befriedigung zu verschaffen schlugen bis dahin fehl. Es gibt nichts und niemanden was ihn sättigt oder ihm Glück bereitet. Sein unbremsbares Streben ist durch nichts aufzuhalten oder gar zu befriedigen. Man könnte sagen, dass diese ausgeprägte Eigenschaft ein Zeichen von starkem Charakter ist, vielmehr wird Faust aber dadurch zur gescheiterten Persönlichkeit. Seine andauernde Sehnsucht lässt es nicht zu, ein zufriedenes, ausgeglichenes Leben zu führen.

Wie schon im Abschnitt über Helena bemerkt, kann eine Sehnsucht nach der absoluten Schönheit den Suchenden ins Verderben führen. Das hat sich dann auch bei Grete bewahrheitet: Diese Liebe hat einen hohen Preis.

Das unersättliche Begehren findet seine Fortsetzung im Faust II. Wird dort die durstige Seele endlich die lang ersehnte Erfüllung finden? Und wenn ja, mit welchen Konsequenzen? Faust II wird unsere Neugierde befriedigen!

[...]


1 Vgl. Scholz, Rüdiger: „Die beschädigte Seele des großen Mannes - Goethes Faust und die bürgerliche Gesellschaft“, Rheinfelden 1982, S. 13

2 Vgl. ebenda, S.14

3 Vgl. ebenda, S.20 ff

4 Goethe, Johann Wolfgang : „Faust - Der Tragödie erster Teil“, Ditzingen 1982, V.2202

5 Vgl. Schönberger, Otto: „Kolluthos - Raub der Helena“, Könighausen & Neumann, Würzburg 1993

6 Vgl. Scholz, Rüdiger: „Die beschädigte Seele des großen Mannes - Goethes Faust und die bürgerliche Gesellschaft, Rheinfelden 1982, S.118 ff

7 ebenda, S.119

8 Goethe, Johann Wolfgang: „Faust - Der Tragödie erster Teil“, Ditzingen 1982, V.4434

9 Vgl. Scholz, Rüdiger: „Die beschädigte Seele des großen Mannes - Goethes Faust und die bürgerliche Gesellschaft, Rheinfelden 1982 ebenda, S.119

10 Goethe, Johann Wolfgang: „Faust - Der Tragödie erster Teil“, Ditzingen 1982, V.1699

11 Goethe, Johann Wolfgang: „Faust - Der Tragödie erster Teil“, Ditzingen 1982, V.2431

12 ebenda, V.2604

13 Vgl. „Der Dichter und das Phantasieren“ (1908) aus „Bildende Kunst und Literatur“, Frankfurt/Main 1969, S169ff

14 Goethe, Johann Wolfgang: „Faust - Der Tragödie erster Teil“, Ditzingen 1982, V.2605

15 ebenda, V.2653

16 ebenda, V.2667

17 Vgl. Scholz, Rüdiger : „Die beschädigte Seele des großen Mannes - Goethes Faust und die bürgerliche Gesellschaft“, Rheinfelden 1982, S.149

18 Vgl. ebenda S.150

19 ebenda, S.150/151

20 Goethe, Johann Wolfgang: „Faust - Der Tragödie erster Teil“, Ditzingen 1982, V.3282f

21 Goethe, Johann Wolfgang: „Faust - Der Tragödie erster Teil“, Ditzingen 1982, V.3249

Ende der Leseprobe aus 18 Seiten

Details

Titel
Faust - der ewig Suchende
Hochschule
Eberhard-Karls-Universität Tübingen
Veranstaltung
Liebe, Lust und Laster - Sexualität in der Goethezeit
Autor
Jahr
2001
Seiten
18
Katalognummer
V105641
ISBN (eBook)
9783640039272
Dateigröße
433 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Faust, Suchende, Liebe, Lust, Laster, Sexualität, Goethezeit, Thema Faust
Arbeit zitieren
Anita Pezo (Autor:in), 2001, Faust - der ewig Suchende, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/105641

Kommentare

  • Gast am 8.12.2003

    vielen dank!deine ausführliche arbeit hat mir geholfen einige textstellen besser zu verstehen.

  • Gast am 28.2.2002

    Bewertung der Interpretation.

    Echt Klasse was du da machst schade das das wenige auch so sehen

  • Gast am 9.2.2002

    Mehr aus dem Original Text entwickeln.

    Die Ergebnisse, die du in der Arbeit präsentiert sind gut, aber die Herleitung fehlt.
    Wie kommst du z. B. darauf, Mephisto vertrete die Homosexualität? Ich meine nicht, dass es eine falsche These ist, aber sie liegt nicht unbedingt auf der Hand, wenn man nur vom Originaltext ausgeht.
    Es ist nur ein gutgemeinter Tip:
    Wenn du eine These aus der Sekundärliteratur gut findest, dann überprüf sie am Text und stell dem dein eigenes Verständnis gegenüber. Dann kannst du Thesen in deiner Hausarbeit gut argumentieren.

    Viele Grüße

    Inga

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Titel: Faust - der ewig Suchende



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