1. Einleitung
2. Theoretische Grundlagen:
2.1 Das romantische Kindheitsbild
2.1.1 Herder und Rousseau
2.1.2 Die Frühromantik
2.1.3 Die Spätromantik
2.2 Die Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm
2.3 Wesensmerkmale des europäischen Volksmärchens
3. Das Märchen „Brüderchen und Schwesterchen“
3.1 Textgeschichte
3.2 Handlungsverlauf
3.3 Deutungsversuch Fehler! Textmarke nicht definiert
4. Schlußbemerkung
5. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
„‘Brüderchen und Schwesterchen‘- ein Märchen?“ - eine solche Frage kann freilich nicht eindeutig beantwortet werden. Diese Arbeit versteht sich deshalb auch als Hin- führung zu einem sehr umfassenden Thema, nämlich inwieweit sich die theoreti- schen Grundlagen auf das einzelne Werk übertragen lassen. Es wird damit zum einen die Theorie selbst in Frage gestellt, zum anderen wird die Frage aufgeworfen, inwie- fern die Abweichung von den Gattungsgesetzen auf den Autor zurückgeführt werden kann.
Gerade bei den Märchen ist dieses Thema sehr interessant, da sie nicht von einzelnen Autoren verfaßt wurden, sondern kollektiv über mehrere Jahrzehnte entstanden sind und viele ihrer Motive aus noch früheren Zeiten stammen.
2. Theoretische Grundlagen:
2.1 Das romantische Kindheitsbild
In der Romantik entsteht eine (neue) mystische Auffassung vom Kind als einem „heiligen“ Wesen, das mit dem Göttlichen noch unmittelbar verbunden ist. Diese Auffassung ist so neu nicht, denn sie basiert im Grunde auf der neuplatonisch - mys- tischen Kindheitsidee aus dem 2. bis 3. Jahrhundert n. Chr. Es ist auch offensichtlich, daß dieser Kindheitsgedanke auf den jungen Johann Gottfried Herder eingewirkt hat, der zusammen mit Jean-Jaques Rousseau zu den Wegbereitern der romantischen Sicht vom Kinde zählt. Dennoch ist die Entstehung der romantischen Kindheitsauf- fassung im 18. Jahrhundert nicht als bloßes Wiederaufleben des neuplatonisch - mys- tischen Gedankenguts zu verstehen. Ihre spezifische Entwicklung soll im Folgenden gezeigt werden.
2.1.1 Herder und Rousseau
Sowohl Herder als auch Rousseau gehen davon aus, daß die Anfänge der Mensch- heitsgeschichte identisch sind mit dem Lebensanfang des Individuums, und setzen somit eine Parallelisierung von Onto- und Phylogenese voraus. Sie gelangen so von ihrer neuen Sicht von den Wilden, den primitiven Völkern, gleichzeitig auch zu einer veränderten Sicht vom Kind und der Kindheit. Die Vorstellungen vom Wesen der Wilden bzw. vom Kind gehen bei Herder und Rousseau aber weit auseinander. Zwar gehen beide davon aus, daß das Kind schon von Anbeginn ein ganzer Mensch ist1, doch schreibt Rousseau dem Kind nur sehr wenige Fähigkeiten und Kräfte zu, und zwar „eine scharfe Beobachtungsgabe [...] und wenige Elementargefühle wie Selbstliebe und Mitleid“2. Einbildungskraft, Phan- tasie und abstraktes Denken fehlten dem wahren Kind vollkommen. Es mangele ihm außerdem an Autoritätssinn; es sei im Gegenteil absolut unabhängig und zutiefst einzelgängerisch. In diesem beschriebenen Naturzustand erkennt Rousseau die Be- dingung für das kindliche Glück, welches mit zunehmender Vergesellschaftung des Kindes zerstört wird. Es gilt also, diesen Zustand „[d]urch Isolation von den Men- schen und der Gesellschaft“3 möglichst lange zu erhalten.
Herder dagegen betont, daß das Kind „im Kleinen“ schon voll entfaltet ist: „Und ist nicht im Keime schon der ganze Baum enthalten?“4 Allerdings seien die Kräfte noch nicht isoliert und eigenständig, sondern bilden eine verworrene Einheit. So kann das Kind auch noch nicht unterscheiden, was der äußeren und was der inneren Welt, sei- ner Einbildung, zuzuordnen ist. Seine Phantasie und Einbildungskraft gehören für Herder zu den wichtigsten Wesenszügen des Kindes. In seiner „Abhandlung über den Ursprung der Sprache“ (1772) betont er die Rolle der Sprache für die Sozialisa- tion. Das Kind lerne die Sprache von seinen Eltern und „mit deren Sprache teilt sich ihm zugleich der Eltern Seele, Denkart und Gefühlswelt mit“, die es für immer prä- gen5. Herder geht hierbei von der Prämisse aus, daß auch das Kind schon ein überaus soziales Wesen mit ausgeprägten Autoritätssinn ist. Ebenso wie der Wilde der Horde Hatte sich die Aufklärung eine Verbesserung der vorherrschenden Zustände durch eine vernunftgeleitete Erziehung versprochen, versetzt Rousseau, der ja streng ‚antipädagogisch‘ eingestellt ist, dieser These einen ersten Stoß. Dennoch gab es Übereinstimmungen wie z.B. die Vorstellung von der Unabhängigkeit des Kindes. Erst Herder verwirft das aufklärerische Gedankengut gänzlich und entwickelt aus dieser Abgrenzung heraus ein „präromantisches“ Kindheitsbild.
2.1.2 Die Frühromantik
Gegen Ende des 18. Jahrhunderts kommt es zu einer Verschmelzung der Herder- schen Kindheitsauffassung mit den neuplatonisch - mystischen Denkansätzen. Das Innere, von dem der Mensch so beherrscht wird, wird nicht mehr rein anthropolo- gisch erklärt, wie Herder es getan hatte, sondern vielmehr als ein göttlicher Kern gedeutet. Dabei ist es die kindliche Phantasie, durch die dieser zum Ausdruck kommt. Den Romantikern war klar, daß Kinder die Welt nicht sehen, wie sie ist. Doch könne erst durch die Verklärung, Idealisierung und Verkehrung der Welt die ganze Wahrheit offenbar werden. Daraus folgt, daß in Wirklichkeit die Kinder eine höhere, eine vollkommenere Weltsicht haben. Daher können die Erwachsenen zum kindlichen Menschen auch nur aufsehen. Die Frage nach der Erziehung erübrigt sich an dieser Stelle, denn „[w]ie könnte er [der Erwachsene] sich da eine eingreifende Erziehung anmaßen?“6 Im Gegenteil, hier versteht sich der Erwachsene als der Emp- fangende, dient ihm das Kind doch als Mittler zum Unendlichen.
Bei aller Verehrung der Kindheit geht es dennoch nie um das reale Kind an sich, sondern um eine Annäherung an eine „Zweite Kindheit“ als höchste Daseinsform. In diesem endgültigen Stadium der Menschheitsgeschichte soll auch der Erwachsene wieder unmittelbar mit dem Unendlichen verbunden sein.
2.1.3 Die Spätromantik
Anfang des 19. Jahrhunderts hatte sich der frühromantische Utopismus angesichts der politischen wie sozialen Mißstände weitgehend verloren. Doch trotz des Verlus- tes der Hoffnungen auf eine bessere Welt kann von Resignation nicht die Rede sein; nur die Zielsetzung ist eine andere: „Rückbesinnung auf die Anfänge wie [...] Ret- tung und Festigung all der Elemente, die [...] von ihnen zeugen.“7 Die Aufmerksam- keit richtet sich nun wieder auf die Erste Kindheit: Man erkennt in der Kindheit ein (von der Verstandeskultur der Aufklärung) bedrohtes Gut, das es zu schützen gilt.
Ebenso gefährdet sah man die Volkspoesie. Sie galt den Romantikern als höchste Dichtung, da sie noch ursprünglich und kindlich sei. Allerdings wurden die Märchen, Sagen und Abenteuergeschichten zum einen von den Aufklärern stark zurückgedrängt und gerieten zum anderen, da sie ausschließlich mündlich weitergegeben wurden, zunehmend in Vergessenheit.
2.2 Die Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm
Aus den oben beschriebenen Veränderungen / Umständen erklärt sich auch die Mo- tivation der Brüder Wilhelm und Jakob Grimm, die Volksmärchen zu sammeln und schriftlich zu fixieren. „Es war vielleicht gerade Zeit, diese Märchen festzuhalten, da diejenigen, die sie bewahren sollten, immer seltener werden“, heißt es in der Vorrede von 1812 zu denKinder- und Hausmärchen(KHM).Ziel der Grimms war es, der „Geschichte der Poesie und der Mythologie einen Dienst [zu] erweisen.“8 Es ging ihnen, vor allem aber dem älteren Bruder Jakob, darum, die „poetischen ‘Denkmäler’ der mythologischen Vorzeit“, zu denen auch die Märchen zählen, „möglichst rein zu konservieren.“9 Die kollektiv entstandenen Märchen sollten nicht von modernen, individuellen Zusätzen und Umformungen „verunreinigt“ werden. Bei einem Ver- gleich der ersten Ausgabe von 1812 mit den Oelenberger Handschriften10, muß man jedoch feststellen, daß schon ganz am Anfang zumindest stilistische Änderungen vorgenommen wurden. Zum einen suchte man durch Entfernung einzelner Märchen einen einheitlichen Märchenstil, zum anderen aber auch aus verschiedenen Überlie- ferungen eines Märchens die verlorengegangene ‘Urfassung’ zu rekonstruieren. Trotz dieser anfänglichen Überarbeitung wurden die Erstausgaben derKHM1812 (1.Band) bzw. 1815 (2.Band) seitens der Kunstpoetiker (besonders Brentano und von Arnim) heftig kritisiert. Diese waren generell der Auffassung, daß die Volkspoesie in der überlieferten Weise wenig attraktiv sei und einer freien dichterischen Überarbei- tung bedürfe. Brentano nennt dieKHMbeispielsweise „aus Treue äußerst liederlich und versudelt.“ Andere Kritiker sind empört über angebliche Obszönitäten (z.B. in „Rapunzel“) und Grausamkeiten („Wie Kinder Schlachtens miteinander gespielt ha- ben“), zumal das Buch auch von Kindern gelesen wurde.
Wilhelm Grimm, der seit dem Erscheinen des 1. Bandes vollständig die Redaktion übernommen hatte, ließ sich von der Kritik stark beeinflussen. In den Vorarbeiten zur 2. Auflage ließ er einzelne Märchen ganz weg, in anderen strich er nur die zweideutigen Passagen. Es wurden auch vermehrt biedermeierliche und christliche Elemente eingefügt. Die wissenschaftlichen Anmerkungen zu den Märchen wurden in einem eigenen, dritten Band abgedruckt.
Aber auch diese Veränderungen brachten keinen großen Verkaufserfolg mit sich. Erst die Auswahlausgabe mit 50 der beliebtesten und kindertümlichen Märchen führte dazu, daß sich - nicht zuletzt auch aufgrund veränderter sozialer Umstände und Lesegewohnheiten- auch dieGroße Ausgabeimmer größerer Beliebtheit erfreute, vor allem als (Vor-)Lesestoff für Kinder.
Allerdings geht dieser Erfolg völlig an der ursprünglichen Intention der Grimms (sie- he S. 5) vorbei, zumal „ihr eigentlicher Forschungsertrag, nämlich der dritte KHM - Band mit den Anmerkungen, so gut wie gar nicht gekauft wurde.“11
2.3 Wesensmerkmale des europäischen Volksmärchens
In seinem Werk „Das europäische Volksmärchen“ hat Max Lüthi die Wesensmerk- male der Märchen sehr ausführlich aufgezeigt und erläutert. Davon sollen einige Beg- riffe im folgenden zusammengefaßt wiedergegeben werden: Eindimensionalität, Flä- chenhaftigkeit, Isolierung und abstrakter Stil. Dabei soll auch ein Kapitel von Volker Klotz über „Formschema und Weltbild des Volksmärchens“ berücksichtigt werden. Mit „Eindimensionalität“ meint Lüthi, daß das Wunderbare nicht einer anderen Di- mension zugeschrieben wird. Mit den jenseitigen Wesen geht der Märchenheld um, als wären sie seinesgleichen. Er hat „weder Zeit noch Anlage, sich über Seltsames zu verwundern“.12 Für ihn sind nur die praktischen Auswirkungen wichtig, das heißt, ob die wunderbaren Wesen ihm als Helfer oder als Gegner entgegentreten. Anders als beispielsweise in der Sage sind die Jenseitigen dem Helden auf der geistigen Ebene also sehr nah, dafür ist aber auf der „örtlichen“ ein großer Abstand zu bemerken. Nie begegnet er den wundersamen Wesen im heimischen Umfeld. „Um Außergewöhnli- ches zu erleben, muß sich der Held von zu Hause entfernen“.
Den Handlungsaufbau des Märchens bezeichnet Volker Klotz als „einfach, einsträn- gig, geradlinig“13. Das Märchen läßt nichts anderes gelten als den Helden und seine Handlungen, es geht nicht auf seine Umwelt ein. So wird das, was in der Realität höchst komplexe Zusammenhänge darstellt, im Märchen auf eine einzige Fläche pro- jiziert, in der alles nebeneinander besteht. Dies ist es, was Lüthi unter Flächenhaftig- keit versteht. Sie zeigt sich vor allem in den Märchenfiguren, denen jegliche „körper- liche und seelische Tiefe“ abgeht.14 Körperlich insofern, als Selbstverstümmlungen und auch die unmenschlich anmaßenden Strafen der Bösewichte „ohne die geringste Andeutung einer körperlichen oder seelischen Qual“15 erzählt werden. Die Märchen- gestalten gleichen mehr Papierfiguren, denn Menschen aus Fleisch und Blut. Auch Gefühle und Eigenschaften der Figuren werden nie um ihrer selbst willen behandelt. Wenn sie überhaupt ausgedrückt werden, dann auf der Handlungsebene, das heißt, sie werden sichtbar. Klotz umschreibt diesen Sachverhalt sehr treffend mit dem Begriff „Naive Ästhetik“. „Nur was den Sinnesorganen standhält, besteht.“16 Gefühle, Ge- danken und Charakterzüge werden so auf dieselbe Fläche des Handlungsverlaufs ge- stellt. Beziehungen zwischen einzelnen Figuren, sofern es überhaupt welche gibt, verkörpern sich in Dinggaben. Es versteht sich von selbst, daß den Märchenfiguren ambivalente Gefühle völlig fremd sind. Niemand ist gut und böse zugleich. Solch gegensätzliche Charaktereigenschaften sind stets auf äußerlich ebenso gegensätzliche Personen (Held und Unheld) verteilt. Im Märchen geht die Gleichung „gut = schön“ immer auf. Genau darauf stützt Klotz auch sein Argument, daß man es im Märchen weniger mit einer „naiven Moral“ zu tun hat („Die Guten werden belohnt, die Bösen werden bestraft“), sondern vielmehr mit einer „naiven Ästhetik“
Zusammenfassend läßt sich sagen, daß die Figuren im Märchen „ohne Körperlichkeit, ohne Innenwelt, ohne Umwelt“ sind.17
Den letzten Aspekt, den der Umweltlosigkeit, sieht Lüthi als weiteres Wesensmerk- mal, welches er mit dem Begriff „Isolation“ umschreibt.18 Der Held ist „immer und in jeder Hinsicht ein Einzelner“.19 Beziehungen werden nicht um ihrer selbst willen ein- gegangen, sondern nur um die Handlung voranzutreiben. Eltern und Geschwister tre- ten lediglich als Kontrastfiguren auf. Selbst die Eheschließung am Ende vieler Mär- chen deutet nicht etwa auf eine lebendige Beziehung hin; sie ist, so Lüthi, „in Wahr- heit nicht das ersehnte Ziel, sondern nur Schlußpunkt der abenteuerlichen Handlungs- linie“.20 Auch die verschiedenen Handlungsepisoden setzt das Märchen nicht in Be- ziehung. Aus den Erfahrungen in der Vergangenheit oder denen seiner Vorgänger ziehen die Märchenfiguren keine Konsequenzen. Daß der Held stets zur richtigen Zeit am richtigen Ort ist und überhaupt immer genau so handelt, daß es für ihn zum Bes- ten ausfällt, liegt nicht etwa an seinem außerordentlichen Scharfsinn, sondern allein an seiner Prädestiniertheit als Held. Eine weitere Ursache für sein erstaunliches Glück liegt aber gerade auch in seiner Isolation, denn dadurch, daß er so ungebunden ist, ist der Held erst fähig, genau diejenigen Kontakte zu knüpfen, die ihn geradewegs zum Ziel führen.
Die Flächenhaftigkeit und die Isolation verleihen dem Märchen nun eine ganz eigene Art, die Wirklichkeit darzustellen. „Was in Wirklichkeit ein nicht durchschaubares Ganzes bildet oder in langsamen, verborgenen Werden sich entfaltet, vollzieht sich im Märchen in scharf getrennten Stationen“, heißt es bei Max Lüthi.21 Er schreibt daher dem Märchen einen „abstrakten Stil“ zu; es entfernt sich absichtlich von der Realität.
Diese Abstraktion dient dazu, eine vollkommene Übersicht zu gewährleisten. So wer- den beispielsweise die einzelnen Dinge nie geschildert, sondern lediglich benannt, und zwar auch nur dann, wenn es für die Handlung wichtig ist. „Was man der Hand- lung gibt, nimmt man den Charakteren“ - nach diesem Grundsatz verzichten die Mär- chen konsequent auf jegliche Beschreibung, denn die Individualisierung einer Person oder Sache würde sie in ihrer unüberschaubaren Tiefe zeigen. “Die bloße Nennung dagegen läßt die Dinge automatisch zu kleinen Bildchen erstarren“.22
Des weiteren tragen die scharfen Umrißlinien der Dinge, die klaren, reinen Farben sowie die Linearität der Handlung dazu bei, daß die Welt des Märchens völlig über- sichtlich bleibt.
Es scheint mir wichtig, in diesem Zusammenhang auch die im Märchen kreierte Welt- ordnung kurz darzustellen. Nach Klotz ist es das Thema der Märchen überhaupt, daß diese Ordnung zeitweilig gestört wird und vom Helden „neu ins Lot gebracht“ werden muß. Um dieses Ziel zu erreichen, muß der Held meist mehrere Hürden neh- men: oft müssen Rätselfragen beantwortet oder schwere Aufgaben gelöst werden, oder es muß ein langjähriges Schweigegebot eingehalten werden - eine Vielfalt an Bedingungen wäre hier zu nenne.
„Die Unordnung ist [jedoch] nur eingeführt, um sie zu beseitigen“23. Es geht im Mär- chen nicht darum die Schlechtigkeit der Welt aufzuzeigen, sondern im Gegenteil die harmonische Ordnung, die erst durch den „dynamischen Akt des Ordnens“24 in Er- scheinung tritt.
3. Das Märchen „Brüderchen und Schwesterchen“
3.1 Textgeschichte
In der Oelenberger Handschrift von 1810 findet sich das Märchen von dem Ge- schwisterpaar nur fragmentarisch mit der Überschrift „Goldener Hirsch“. Wie schon der Titel verrät, wird das Brüderchen nicht in ein Reh, sondern in einen Hirsch ver- wandelt. Es fehlt außerdem die Eingangsszene mit der Stiefmutter, und auch am Schluß ist nicht sie es, die dem Schwesterchen nach dem Leben trachtet, sondern die Schwiegermutter.
In der ersten Ausgabe (1812) werden zwei einander ergänzende Überlieferungen abgedruckt, wobei die Fassung, die inhaltlich sehr starke Ähnlichkeit mit der Oelenberger Handschrift hat, im Anhang erscheint. Während nach Bolte und Polívka beide Erzählungen „von der Marie aus dem Wildschen Hause“25 stammen, ist Rölleke der Ansicht, daß sie sehr viel wahrscheinlicher von Marie Hasselpflug überliefert wurden. Die Herkunft ist also bis heute ungeklärt.
Die im Hauptteil abgedruckte Fassung gleicht schon sehr stark der uns bekannten in der Ausgabe letzter Hand (1857). Vor allem, daß das Brüderchen in ein Reh verwan- delt wird, und daß die Gegenspielerin sowohl anfangs als auch am Ende die Stiefmut- ter ist, ist beiden Fassungen gemein und unterscheidet sie damit von der handschrift- lichen Urfassung.
Auf die inhaltlichen sowie stilistischen Veränderungen nach der Erstausgabe werde ich im folgenden Kapitel noch etwas näher eingehen.
3.2 Handlungsverlauf
Die Geschichte vom Brüderchen und Schwesterchen gliedert sich in drei Episoden, die kaum in einem anderen Märchen so in sich verkapselt sind, wie in diesem. Die erste Episode beginnt mit der Flucht aus dem Elternhaus aufgrund der Mißhand- lungen seitens der Stiefmutter. Nachdem sie dann die Quellen im Wald verwünscht, wodurch das Brüderchen letztendlich in ein Reh verwandelt wird, ist klar, wer in die- sem Märchen die Rolle der bösartigen Gegenspielerin übernimmt. Die beiden Geschwister sind also in „die weite Welt gezogen“, wie es für den Mär- chenhelden ja obligatorisch ist, um Außergewöhnliches zu erleben. Außergewöhnlich ist die Situation nun reichlich, wenn nicht gar lebensbedrohlich: ein kleines Mädchen und ein Reh, die den wilden Tieren bzw. den Jägern schutzlos ausgeliefert sind. Einen solchen Schutz finden sie nun in einem unbewohnten Haus mitten im Wald. Hier kommt ganz besonders stark die Isolierung des Heldenpaars zutage, das ja von seiner Umwelt völlig abgeschnitten ist.
Bemerkenswert ist auch hier schon die Isoliertheit der einzelnen Handlungsstränge, leben die Beiden doch immer noch in demselben Wald, indem die Stiefmutter zuvor „alle Brunnen“ verwünscht hatte. Seit der Verwandlung des Brüderchens aber sind weder die ungenießbaren Quellen noch die Stiefmutter, die ja weitere Anschläge pla- nen könnte, relevant. An dieser Stelle könnte das Märchen zu Ende sein, denn sie leben glücklich und zufrieden in ihrem kleinen Haus. „Und hätte das Brüderchen nur seine menschliche Gestalt gehabt, es wäre ein herrliches Leben gewesen“. Das ist der Grund, warum das Märchen weiter geht, doch zeigt sich, daß hier eine neue Episode beginnen muß, in der sich dem Paar neue Möglichkeiten bieten.
In dem Mittelteil kommt nun eine dritte Person ins Spiel: der König des Landes, der eine Jagd veranstaltet. Es fällt auf, daß das Reh gerade vor den Jägern keine Angst zeigt, sondern im Gegenteil „es nicht länger mehr aushalten“ kann und das Schwes- terchen überredet, es in die Jagd hinauszulassen. Am dritten Tag droht es sogar „vor Betrübnis“ zu sterben, obwohl es am Vortag von den Jägern leicht verletzt wurde.
Die Tatsache, daß das Rehchen im Grunde sein Leben riskiert, verdeutlicht, daß es eine ganz bestimmte Funktion zu erfüllen hat, und zwar als Mittler zwischen seiner Schwester und dem König. Von den Folgen dieses mutigen Einsatzes profitiert demnach auch lediglich die Schwester: sie heiratet den König.
Am Ende der zweiten Episode wird wiederum eine sehr harmonische Situation ge- zeigt, die einzig durch das Problem der verwandelten Gestalt des Brüderchen gestört wird. Und wieder bedarf es einer außenstehenden Person, die die Handlung voran- treibt. Diesmal ist es die Stiefmutter, die Urheberin des ganzen Übels. In diesem letz- ten Teil wird noch einmal sehr deutlich, wie hilflos die beiden Helden den Anschlä- gen der „bösen Hexe“ ausgeliefert sind. Der Bruder, der traditionell „der natürliche Beschützer seiner Schwester“26 sein sollte, ist durch seine Tiergestalt selber zur Un- tätigkeit verdammt und viel mehr noch des Schutzes bedürftig. Und auch der König ist nicht zur Stelle, als seine Frau ihn dringend braucht. So wie schon vorher keine Möglichkeit zur Erlösung des Brüderchens bestand, gibt es auch jetzt kein Entrinnen vor der Stiefmutter.
Aktiv tritt das Schwesterchen - für ihre eigene Erlösung zumindest - erst nach seinem Tod ein, und selbst da nicht von Anfang an, sondern erst, als ihm nur noch zwei wei- tere Nächte bleiben, in denen es erlöst werden kann. Wie in allen Märchen wird die Frist, die über Leben und Tod entscheidet, bis zum letzten Augenblick ausgenutzt: erst in der dritten Nacht spricht der König den Geist an, der daraufhin wieder leben- dig wird. Durch den Tod der Stiefmutter stellt sich am Ende die endgültige harmoni- sche Ordnung ein: das Brüderchen bekommt seine menschliche Gestalt wieder, und sie (die beiden Geschwister wohlgemerkt) „leb[t]en glücklich zusammen bis an ihr Ende“.
3.3 Deutungsversuch
Nun ist also die „zeitweilig gestörte Ordnung [wieder] ins Lot gebracht“27, doch stellt sich die Frage, von wem eigentlich. Nach Klotz müßte es ja der Held sein, der mit seinem Tatendrang und mit Hilfe jenseitiger Wesen alles aus den Fugen geratene zusammenführt. In der Tat gibt es auch mehrere Geschwistermärchen, in denen dieses Schema angewendet wird. Gretel z.B. (KHM 15) wird sogar handgreiflich, um sich und ihren Bruder Hänsel von der Hexe zu befreien. Im Märchen „Die zwölf Schwäne“ kann die Schwester ihre verwandelten Brüder dadurch erlösen, daß sie sieben Jahre lang stumm bleibt. Brüderchen und Schwesterchen jedoch zeichnen sich dagegen eher durch ihre Passivität aus. Statt daß sie die Welt aus ihren chaotischen Mißständen erlösen, sind sie es, die der Erlösung bedürfen.
Was in diesem Zusammenhang auch auffällt, ist, daß das Brüderchen seine Verzaube- rung selbst verschuldet hat, da es seinen Trieb (den Durst) nicht mehr unter Kontrolle hatte. Lutz Röhrich schreibt hierzu, daß eine solche Verbindung von Verzauberung und Schuld im europäischen Märchen eher untypisch ist und nur vereinzelt in der neuzeitlichen Märchenform noch vorkommt (wie eben in KHM Nr. 11). Das Märchen stelle seinen Helden gerne als schuldlos dar und suche ihn „schon vorbeugend von allen Vorwürfen frei zu machen: Held ist darum immer der Erlöser, nie der Erlöste“.28 Können Brüderchen und Schwesterchen dann überhaupt als Märchenhelden gelten? Sicher, sie sind wohl die Ausgestoßenen und Isolierten, die Guten und Schönen, doch ihre (von außen erzwungene?) Passivität und ihre absolute Ohnmacht passen meines Erachtens in keines der Konzepte eines echten Märchenhelden, weder bei Röhrich noch bei Klotz oder Lüthi.
Es gibt einen weiteren, sehr wichtigen Aspekt, der die Geschichte vom Brüderchen und Schwesterchen zumindest aus der Sicht Lüthis nicht gerade sehr märchenhaft erscheinen läßt: die Beziehung zwischen den beiden Geschwistern. Sie wird einerseits symbolisch dargestellt durch das goldene Strumpfband und das Binsenseil, an dem das Schwesterchen sein Reh mit sich führt. Andererseits sieht man an ihren Handlungen immer wieder, wie innig sie miteinander verbunden sind. Gleich im ersten Satz heißt es: „Brüderchen nahm sein Schwesterchen an der Hand“. Am nächsten Tag, als sie einen Brunnen suchen, noch einmal dieselbe Geste. Die Reakti- on auf die Verwandlung des Brüderchens spricht im Grunde für sich: „nun weinte das Schwesterchen über das arme, verwünschte Brüderchen, und das Rechen weinte auch und saß so traurig neben ihm. Da sprach das Mädchen endlich ‘Sei still liebes Reh- chen, ich will dich ja nimmermehr verlassen.’“. Diese Zusage hält sie später auch ein, als der König ihr einen Heiratsantrag macht, dem sie nur unter der Bedingung einwil- ligt, daß das Reh mitkommen darf. Auffällig ist hier die Antwort des Königs: „Es soll bei dir bleiben solange du lebst...“, denn das Brüderchen bleibt in der Tat bei ihr, selbst als es seine menschliche Gestalt wiedererhalten und ihren Schutz nicht mehr nötig hat. Im Schlußsatz heißt es: „Schwesterchen und Brüderchen aber lebten glück- lich zusammen bis an ihr Ende. „ Mit keinem Wort wird das weitere Schicksal des Königs erwähnt. War nicht er es gewesen, der sie aus der Einsamkeit des Waldes be- freit hatte? Hatte nicht er das Schwesterchen durch seine Liebe zum Leben erweckt? Dadurch war auch der Tot der Stiefmutter und damit die Lösung des ganzen Problems erst möglich geworden. Und nun wird er überhaupt nicht mehr beachtet. Während andere Geschwistermärchen oft einen Weg von der Zweiheit zum Quaternio be- schreiben, beläßt dieses Märchen das Paar in seiner Zweisamkeit und die Heirat mit dem König ist nur für die weitere Handlung von Bedeutung, nicht aber für die Ge- schwisterbeziehung.
In dem Sinne spiegelt das Märchen auch das hohe Ansehen der Geschwisterbezie- hung wider. Im Wörterbuch des Deutschen Aberglaubens heißt es: „Das Verhältnis zwischen Geschwistern, besonders zwischen Bruder und Schwester gilt als sehr en- ges, die gegenseitige Liebe als inniger als die zwischen Mann und Frau.“29 Abschließend möchte ich noch kurz auf die Frage eingehen, inwieweit die Überarbei- tung Wilhelm Grimms dazu beigetragen hat, die Geschwisterbeziehung als sehr innig erscheinen zu lassen. Es soll hierbei die Fassung von 1812 mit der Ausgabe letzter Hand verglichen werden.
Die erste wesentliche Texterweiterung ist in der Szene der verwünschten Quellen zu finden:
1812
Brüderchen kam bald mit Schwesterchen zu dem Brünnlein, und als er es so glitzerig über die Steine springen sah, ward seine Lust im- mer größer, und er wollte davon trinken. Aber dem Schwesterchen war angst; es meinte, das Brünnlein spräche im Rauschen und sagte: „Wer mich trinkt, wird zum Rehkälbchen; wer mich trinkt, wird zum Rehkälbchen“. Da bat es das Brüderchen, nicht von dem Wasser zu trinken. „Ich höre nichts“, sagte das Brüder- chen, „als wie das Wasser so lieblich rauscht. Laß mich nur gehen!“ Damit legte es sich nieder, beugte sich herab und trank, und wie erste Tropfen auf seine Lippen gekommen war, da lag ein Rehkälbchen an dem Brünn- lein.
1857
Als sie nun ein Brünnlein fanden, das so glit- zerig über die Steine sprang, wollte das Brü- derchen daraus trinken; aber das Schwester- chen hörte, wie es im Rauschen sprach: „Wer aus mir trinkt, wird ein Tiger; wer aus mir trinkt, wird ein Tiger.“ Da rief das Schwester- chen: „Ich bitte dich, Brüderchen, trink nicht, sonst wirst du ein wildes Tier und zerreißest mich.“ Das Brüderchen trank nicht, ob es gleich so großen Durst hatte, und sprach: „Ich will warten bis zur nächsten Quelle.“ Als sie zum zweiten Brünnlein kamen, hörte das Schwesterchen wie dieses sprach: „Wer aus mir trinkt, wird ein Wolf ; wer aus mir trinkt, wird ein Wolf .“ Da rief das Schwesterchen: „Ich bitte dich, Brüderchen, trink nicht, sonst wirst du ein Wolf und frissest mich.“ Das Brüderchen trank nicht und sprach: „Ich will warten bis wir zur nächsten Quelle kommen, aber dann muß ich trinken, du magst sagen, was du willst: mein Durst ist gar zu groß.“ Und als sie zum dritten Brünnlein kamen, hörte das Schwesterchen, wie es im Rauschen sprach: „ Wer aus mir trinkt, wird ein Reh; wer aus mir trinkt, wird ein Reh.“ Das Schwester- chen sprach: „ Ach Brüderchen, ich bitte dich, trink nicht, sonst wirst du ein Reh und läufst mir davon.“ Aber das Brüderchen hatte sich gleich beim Brünnlein niedergeknieet, hinab- gebeugt und von dem Wasser getrunken, und wie die ersten Tropfen auf seine Lippen ge- kommen waren, lag es da als ein Rehkälbchen.
Es liegt auf der Hand, daß die Geschwister in der überarbeiteten Ausgabe sehr viel fürsorglicher und einsichtiger geschildert werden. Könnte man das Bitten der Schwester bei den ersten beiden Quellen noch darauf zurückführen, daß sie sich nur selbst schützen will, wird ihr Motiv an der dritten Quelle ganz klar: sie will ihr Brüderchen nicht verlieren.
In der Erstausgabe wirkt das Brüderchen noch etwas überheblich. Seine Antwort: „ich höre nichts [...] als wie das Wasser so lieblich rauscht“ läßt zumindest vermuten, daß er ihr nicht traut. Er verläßt sich lieber auf seine eigene Wahrnehmung. Die Fassung von 1857 betont dagegen, daß gegenseitiges sich Vertrauen auszahlt, denn mit jedem Mal, da er seinen Durst dem Schwesterchen zuliebe zurückstellt, wird die Strafe ge- ringer.
Durch die dreimalige Wiederholung desselben Motivs wird zudem die Spannung ge- steigert, wodurch das endgültige Resultat, die Verwandlung, um so tragischer er- scheint. Das erklärt auch, warum auch die anschließende Szene emotionsgeladener gestaltet wurde.
1812
Das Schwesterchen weinte und weinte, die Hexe aber war böse, daß sie es nicht auch zum Trinken hatte verführen können. Nachdem es drei Tage geweint hatte, stand es auf und sammelte die Binsen in dem Wald und flocht ein weiches Seil daraus.
1857
Nun weinte das Schwesterchen über das arme, verwünschte Brüderchen, und auch das Reh- chen weinte und saß so traurig neben ihm. Da sprach das Mädchen endlich. „Sei still, liebes Rehchen, ich will dich ja nimmermehr verlas- sen.“ Dann band es sein goldenes Strumpfband ab und tat es dem Rehchen um den Hals, und rupfte Binsen und flocht ein weiches Seil dar- aus.
Die ältere Fassung hat hier meines Erachtens den Märchenstil sehr genau getroffen. Zwar zeigt das Schwesterchen auch seine Gefühle, doch kommen sie allein auf der Handlungsebene zutage. Zudem wird der Blick sofort von dem weinenden Schwes- terchen abgewendet und auf die böse Hexe gelenkt - die Zeit der Trauer und diejeni- ge, in der man sich wieder den Sorgen des Alltags zuwendet, gehen nicht allmählich ineinander über, sondern stehen scharf voneinander getrennt nebeneinander.
Die Ausführung in der Ausgabe letzter Hand ist der Wirklichkeit des Lesers sehr viel näher. Um Schmerzhaftes zu verarbeiten, ist es nötig, daß die Trauer zugelassen wird, und alles andere zunächst zweitrangig ist. Zwar kann dies auch in der ersten Fassung durchaus der Fall sein (schließlich weint das Schwesterchen drei Tage lang), doch erweckt die bloße Benennung beim Leser nicht diesen Eindruck. Auch wenn in der letzten Ausgabe die Zeitangabe fehlt, scheint hier die Traurigkeit größer zu sein. Auch das Reh weint und ist traurig.30 Dergestalt sind Brüderchen und Schwesterchen in derselben ausweglosen Situation, die hier wie auch in der Wirklichkeit sehr verbindend wirkt. Das drückt sich sehr deutlich in dem Trostausspruch des Schwesterchens aus: „Sei still, liebes Rehchen, ich will dich ja nimmermehr verlassen.“ Die Traurigkeit über die Verwandlung wird auf diese Weise realer, aber auch gewichtiger, so daß die fürsorgliche Beziehung besser zur Geltung kommt.
In der letzten Gegenüberstellung soll die Rolle des Königs untersucht werden.
1812
Da konnte sich der König nicht länger halten, sprang auf und umarmte sie; und wie er sie anrührte, ward sie wieder lebendig, frisch und rot.
1857
Da konnte sich der König nicht mehr zurück- halten, sprang zu ihr und sprach: „Du kannst niemand anders sein als meine liebe Frau.“ Da antwortete sie: „ Ja, ich bin deine liebe Frau“, und hatte in dem Augenblick durch Gottes Gnade das Leben wiedererhalten.
Es ist ein weitverbreitetes Motiv, daß verzauberte und frühzeitig verstorbene Men- schen durch die Liebe eines anderen erlöst werden (am bekanntesten ist wohl das Märchen „Die Schöne und das Biest“). Die Liebe des Königs äußert sich in beiden Fassung unterschiedlich: einmal in einer sehr ausdrucksstarken Geste, das andere Mal lediglich in der Ansprache („meine liebe Frau“). In der Fassung von 1857 ist sie jedoch nicht der Auslöser für die Erlösung; an Stelle dieses Motivs kommt hier die christliche Auffassung zum Tragen, daß Gott das Leben ist und nur er allein Leben schenken kann. Dadurch aber, daß dem König die Rolle des Erlösers abgeschrieben 30 Es behält somit einige menschliche Züge, die sich später auch darin äußern, daß es sprechen kann.
wird, verliert er noch mehr an Bedeutung. Auf diese Weise wird das Gewicht des Märchens auf die Zweiheit des Geschwisterpaars (s.o.) verlagert.
4. Schlußbemerkung
Es ist freilich nicht angebracht, schlichtweg zu behaupten, Wilhelm Grimm habe mit seiner Überarbeitung eine Hervorhebung der Geschwisterbeziehung angestrebt. Änderungen, die das Märchen „entstellt“, waren gewiß nicht in seinem Sinne. Die Frage ist, ob die oben gezeigten Veränderungen auf späteren Überlieferungen basieren oder ob sie nur rein zufälliger Natur sind, d.h. daß sie durch die Veränderungen zugunsten der Kindertümlichkeit und Eindeutigkeit (vgl. S.6) bedingt sind.
5. Literaturverzeichnis
Primärliteratur:
- Brüder Grimm: Kinder- und Hausmärchen. Ausgabe letzter Hand. Hg. v. Heinz Rölleke. Stuttgart 1997
Sekundärliteratur:
- Baader, Meike Sophia: Die romantische Idee vom Kind und der Kindheit. Auf
der Suche nach der verlorenen Unschuld. Neuwied; Kriftel; Berlin: Luchterhand 1992
- Beit, Hedwig von: Gegensatz und Erneuerung im Märchen. Bern: Francke 1956
- Beit, Hedwig von: Symbolik des Märchens. 2., verb. Aufl. Bern: Francke 1952
- Birkhäuser-Oeri, Sibylle: Die Mutter im Märchen.
- Bolte, Johannes u. Georg Polívka: Anmerkung zu den Kinder- und Hausmärchen
der Brüder Grimm. 5 Bde. Leipzig 1913 - 1932
- Die älteste Märchensammlung der Brüder Grimm. Synopse der handschriftlichen
Urfassung von 1810 und der Erstdrucke von 1812. Hg. v. Heinz Rölleke. München 1983 / Bonn 1992
- Enzyklopädie des Märchens. Hg. v. Kurt Ranke, neuerlich v. Wilhelm Brednich
u.a., 1975
- Ewers, Hans-Heino: Romantik. Vorgeschichte und Voraussetzungen. In: Ge-
schichte der Kinder und Jugendliteratur. Hg. v. Reiner Wild. Stuttgart 1990, S. 99-115
- Handbuch zur Kinder- und Jugendlichenliteratur. Von 1800 bis 1850. Hg. v. Otto
Brunken, Bettina Hurrelmann u. Klaus - Ulrich Pech. Stuttgart / Weimar: Metzler 1998, Sp. 10-40
- Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens. Hg. v. Hanns Bächtold - Stäubli.
10 Bde. Berlin: de Gryter 1927 - 1942
- Kotz, Volker: Das europäische Kunstmärchen. Fünfundzwanzig Kapitel seiner
Geschichte von der Renaissance bis zur Moderne. Stuttgart: Metzler 1985, S. 10- 28
- Lüthi, Max: Das europäische Volksmärchen. Form und Wesen. 8. Aufl. Tübin-
gen: Francke 1985
- Röhrich, Lutz: Märchen und Wirklichkeit. 4., unveränd. Aufl. Wiesbaden: Stei-
ner 1974
- Rölleke, Heinz: Jakob und Wilhelm Grimm, Kinder- und Hausmärchen. In:
Handbuch zur Kinder- und Jugendlichenliteratur. Von 1800 bis 1850. Hg. v. Otto
Brunken, Bettina Hurrelmann u. Klaus - Ulrich Pech. Stuttgart / Weimar: Metzler
1998, Sp. 849-875
- Rötzer, Hans Gerd: Märchen. Bamberg: Buchner 1981
- Spörk, Ingrid: Studien zu ausgewählten Märchen der Brüder Grimm. 2. Aufl.
Königstein/Ts.: Hain 1986
[...]
1 Damit befanden sie sich im Widerspruch zur aufklärerischen Vorstellung vom Kind als einer tabula rasa.
2 H.-H. Ewers (1990), S. 100
3 M. S. Baader (1996), S. 41
4 Herder (1772), S.29
5 Handbuch zur Kinder- und Jugendliteratur. Von 1800 bis 1850. (1998), Sp. 15 bedarf, in deren soziales Gefüge er sich willig einfüge, bedarf auch das Kind der Fa- milie.
6 Ewers (1990), S.104
7 Ewers (1990), S.107
8 Vorrede. In: Kinder- und Hausmärchen (1997) S. 16
9 Ewers (1990), S. 108
10 Daß diese Handschrift als einzige erhalten ist, beruht auf den Umstand, daß sie 1810 an Brentano zugeschickt worden waren; alle anderen wurden von den Grimms nach Druckle- gung vernichtet.
11 Handbuch zur Kinder- und Jugendliteratur (1998), Sp. 867
12 Lüthi (1985), S.10
13 Klotz (1985), S. 12
14 Lüthi (1985), S.13
15 Lüthi (1985), S.15
16 Klotz (1985), S. 17
17 Lüthi (1985), S.13
18 Hier sieht man deutlich, daß sich die verschiedenen Aspekte oft auch überschneiden.
19 Klotz (1985) S.12
20 Lüthi ( 1985) S.53, vgl. auch S.14
21 Lüthi (1985) S.29
22 Lüthi (1985) S.15
23 Klotz (1985) S.15
24 Klotz (1985) S.15
25 Bolte u. Polívka (1818) Bd. S.79
26 Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, Bd. , Sp. 1668
27 Klotz (1985) S.15
28 Röhrich (1974) S.101
29 Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens. Bd. Sp. 758
- Arbeit zitieren
- Micaela Dück (Autor:in), 1999, Grimm, Gebrüder - Brüderchen und Schwesterchen - ein Märchen?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/105728