Leseprobe
Inhaltsverzeichnis:
1. Einleitung
2. Theorie
2.1 kultureller Wandel im Schulsystem- eine neue Lernkultur?
2.2 Der schulische Leistungsbegriff - eine Definition
2.3 Reformaufgaben der Schulen - Schaffung eines Lerndialogs
2.4 Das Problem der Ziffernnote
3. Praxistransfer
3.1 Ansätze zu einer notenunabhängigen Leistungserfassung und -beurteilung
3.1.1 alternative Leitungserfassung
3.1.2 alternative Leistungsbeurteilung
4. Reflexion
5. Schlussbetrachtung
6. Literaturverzeichnis
1.Einleitung
In aktuellen pädagogischen Diskursen wird immer mehr deutlich, dass deutsche Schulen im internationalen Vergleich nicht sonderlich gut dastehen und das deutsche Schulsysteme immer wieder „Schwächen und fehlerhafte Orientierungen [.]“ aufweisen.1 Dadurch, dass unser derzeitiges Gesellschaftsmodell auch immer neue und veränderte Anforderungen an den Menschen stellen, stehen deutsche Schulen schon seit längerem vor einigen Herausforderungen. Gerade Themen wie Individualisierung von Bildung und Lernen und die funktionale Integration der Schülerinnen und Schüler in die Berufswelt, sowie in ein demokratisches System, wirft die Frage auf ob mit Schülerleistungen heutzutage anders umgegangen werden muss und was geeignete Maßnahmen sein könnten.
Im Rahmen dieser Hausarbeit soll sich mit der Frage auseinandergesetzt werden, ob mit Schülerleistungen anders umgegangen werden muss und wie Ansätze zur Bewältigung dieser Herausforderung aussehen könnten. Zu Beginn soll aufgezeigt werden, was sich aus lernkultureller Perspektive in den letzten Jahrzehnten verändert hat. Danach wird sich mit der Frage beschäftigt, was heutzutage aus pädagogischer Sicht unter schulischer Leistung verstanden wird. Danach werden Ansätze eines neuen Umgangs mit Schülerleistungen in ihren Grundzügen skizziert und auf dieser Basis das herkömmliche Notengebungssystem kritisch beleuchtet. Abschließend werden auf der Grundlage der vorangegangenen Kapitel alternative Formen von Leistungsbeurteilung und -erfassung vorgestellt. Da es bei dieser Ausarbeitung eher um eine verallgemeinerte Darstellung des Umgangs mit Schülerleistung geht, werden konkrete Schulkonzepte hier nicht thematisiert.
2. Theorie
2.1 Kultureller Wandel im Schulsystem - eine neue Lernkultur?
Um zu verstehen, warum die Schulen heutzutage vor neuen Reformaufgaben stehen, muss man sich zunächst den Werdegang und die Veränderung des Zusammenspiels von Lehrenden und Lernenden in den letzten Jahren anschauen. In den letzten Jahren hat aufgrund dieser Wandlungen der Gebrauch des Ausdrucks „Neue Lernkultur“ stark zugenommen. Jedoch sei dieses noch offene Konzept noch nicht abgeschlossen und somit lasse sich es auch nicht genau definieren.2 Man kann jedoch festhalten, dass diese neue Form der Lernkultur im Rahmen einer Suche nach neuen Lehr- und Lernformen für das Schulwesen entstanden ist. Ziel dabei sei das Lehren und Lernen in einer neuen Kausalität mit größerem Fokus auf das Lernen neu aufzurollen. Dieser gesamte Prozess sei somit auch immer an eine institutionelle und gesellschaftliche Sichtweise gebunden und stünde deshalb auch immer in Verbindung mit der Schulentwicklung an sich. Und aus gesellschaftlicher Perspektive kann festgehalten werden, dass sich die Anforderungen an das Individuum in Bezug auf Wissensproduktion und Wissensspeicherung sehr stark verändert haben.3 Genau aus diesem Grund versucht sich die neue Lernkultur auch von traditionellen Leistungsbewertungen und Lehrerzentriertem Unterricht zu distanzieren, um durch das entstehende Spannungsverhältnis der „alten“ und „neuen“ Lernkultur Reformaufgaben für die Zukunft der Schulen ableiten zu können. Das Ziel dabei, also die Schaffung eines „demokratischen, humanen, kinder- bzw. jugendfreundlichen und gleichwohl leistungsfähigen Schulwesens“4 stellt sich jedoch als sehr komplex und langwierig dar. Trotzdem findet man elementare Merkmale dieser neuen Lernkultur, die in einem engen Zusammenhang mit den neuen Reformaufgaben der Schulen stehen. Diese Merkmale sollen nun in ihren Grundzügen skizziert werden. Auf die konkreten Umsetzungen beziehungsweise die entstehenden Reformaufgaben wird in den weiteren Kapiteln genauer eingegangen werden.
Selbstständigkeit, beziehungsweise die Erhöhung der Selbstständigkeit der Lernenden zeigt sich als zentraler Aspekt der neuen Lernkultur. Um eine angemessene Vorbereitung auf das heutige Leben in einer offenen und vielfältigen (Medien-)Gesellschaft zu schaffen, sei die Erziehung zur Selbstständigkeit von zentraler Bedeutung. Nicht zuletzt deswegen, um auch die operatorische Seite der Selbstständigkeit zu fördern - also konkret das eigenständige Handeln gegenüber Lerngegenständen („das Lernen des Lernens“).5 Dadurch, dass das selbstständige Arbeiten auch im Optimalfall eine Individualisierung des Unterrichts vorantreiben sollte, rücken eigene Entscheidungs- und Urteilsprozesse der Schülerinnen und Schüler auch immer mehr in den Vordergrund. Die Aufgabe der neuen Lernkultur ist es dann für die Schülerschaft „[...] ein aktives Verhältnis zur Frage der Kontrolle und Bewertung von Leistungen [...]6 zu etablieren und somit mehr Partizipation zu gewährleisten.
Ein weiteres Merkmal der neuen Lernkultur ist die verstärkte Prozessorientierung der Schülerinnen und Schüler beim Lernen. Im Zuge dieser stärkeren Zuwendung zu den Lernprozessen, wird das Lernen somit mehr und mehr reflexiv und metakognitive Kompetenzen7 rücken in den Vordergrund. Diese Prozessorientierung kann jedoch nur dann erfolgreich ablaufen, wenn auch die bisherige Struktur des Unterrichts hinterfragt und entsprechend umorganisiert wird, damit neben reinem Fachwissen auch das Verfahren des Lernens geschult werden kann. Kurz gesagt, die Prozessorientierung der Schülerinnen und Schüler müsste selbst zu einem Gegenstand des Unterrichts werden.8 Man muss jedoch unbedingt beachten, dass durch diesen zusätzlichen Aspekt neben den bestehenden Unterrichtsinhalten auch eine weitere Form der Leistungsbewertung (eine prozessbezogene Leistungsbewertung) zwangsläufig hinzugefügt wird. Eine neue Herausforderung der neuen Lernkultur, die bewältigt werden muss, grade im Zusammenhang mit der klassischen Bewertung durch Noten, die in der Regel auf das Endresultat der erbrachten Leistung hinzielen und nicht auf die dazugehörigen Prozesse. Durch diesen lernkulturellen Wandel würde also eine Diskrepanz zwischen neuen und alten Leistungsbeurteilungskriterien entstehen.
Im Zuge der neuen Lernkultur zeigt sich das Lernen in komplexen Situationen als ein weiteres elementares Merkmal. Man kann sich diesen Aspekt vollgendermaßen vorstellen: Es wird versucht, dass sich die Schule gegenüber ihrer Umwelt mehr öffnet und somit den traditionellen Pfad der Bereitstellung von aufbereitetem und verallgemeinerten Wissen durch den Lehrer teilweise oder ganz verlässt. Mit dieser Umstellung soll der Umgebung der Schule und dem dazugehörigen Erfahrungs- und Lebensraum eine neue Rolle zugeschrieben werden. Durch das Arbeiten in interaktiven Lehr-Lern-Umgebungen sollen Kompetenzen entwickelt werden, die zu einer effektiveren Vorbereitung auf das spätere Berufsleben und das Lernen in unterschiedlich organisierten Handlungsfeldern führen können. Das Ziel vom Lernen in komplexen Situationen ist also kurz gesagt das Lernen in Situation, die einen direkten Erfahrungsbezug haben.9 Hier steht die neue Lernkultur auch vor der Herausforderung diese neuen Lernprozesse auch entsprechend zu bewerten, da hier auch die traditionelle Leistungsbewertung, die auf Endresultat und Schulfach beschränkt ist, wohl nicht mehr angemessen erscheint.
Als letztes wesentliches Merkmal der neuen Lernkultur kann hier noch die Demokratisierung der Lernorganisation genannt werden. Allgemein geht es bei diesem Aspekt darum „[...] das Lernen und Zusammenarbeiten an Schulen unter dem Gesichtspunkt gelebter Demokratie zu gestalten.“10 Konkret würde das für die neue Lernkultur bedeuten, zu versuchen eine gleichberechtigte Partizipation innerhalb des Unterrichts zu gewährleisten. Schülerinnen und Schüler sollen in altersentsprechenden Formen jederzeit auf alle Phasen des Unterrichts Einfluss auf dessen Verlauf nehmen können. Somit soll der soziale Charakter unseres Schulwesens betont werden und die gemeinsame Kommunikation innerhalb des Lernens intensiviert wer- den.11 Man muss sich nämlich vor Augen führen, dass mehr selbstständiges Arbeiten und Lernen in der Schule auch automatisch mit persönlicher Verfügungsgewalt einhergehen. Dieser soziale Prozess der Demokratisierung sollte sich zusätzlich auch positiv auf die Zunahme von Verantwortung der Schülerinnen und Schüler im Unterricht auswirken und damit auch die eigene und gemeinsame Bereitschaft der Schülerschaft im Unterrichtsgeschehen erhöhen. Mit diesem Kernelement der neuen Lernkultur soll erreicht werden, dass Leistungsbewertung und Zieldefinition des Unterrichts zwischen allen Beteiligten ausgehandelt werden kann.
An den vorangegangenen Abschnitten wird deutlich erkennbar, dass die traditionelle Leistungsbeurteilung der letzten Jahrzehnte in sehr vielen Bereichen nicht mehr ganz zeitgemäß wirkt und somit in einem Spannungsverhältnis zu den Eigenschaften und Merkmalen der neuen Lernkultur steht. Außerdem ist es unschwer zu erkennen, dass durch die bereits beschriebenen Wandlungen auch die Ansprüche an die Leistungsbewertung an sich steigen.
2.2 Der schulische Leistungsbegriff - eine Definition
Daher im vorherigen Abschnitt immer wieder der Begriff der Leistungsbewertung aufgegriffen wurde, soll in diesem Kapitel Leistung im Kontext der Schule genauer definiert werden. Es soll also die Frage „Was ist schulische Leistung?“ beantwortet werden.
In der Bildungs- und Erziehungswissenschaftlichen Forschung tauchen immer wieder Definitionsversuche von schulischer Leistung auf. Als schulnahes Beispiel kann hier der „pädagogische Leistungsbegriff“ des deutschen Erziehungswissenschaftlers Thorsten Bohl von 2003 aufgeführt werden. Der pädagogische Aspekt dieses Leistungsbegriffs setzt unter anderem eine vertrauensvolle Beziehungsstruktur unter allen Beteiligten Akteuren voraus, um somit den Lernprozess gesondert betrachten zu können. Des Weiteren beschreibt Bohl Leistung auch immer als ein Konstrukt, welches institutionelle und systematische Unterstützung benötigt. Schulische Leistung sei auch immer und notgedrungen ein individueller Prozess, welcher ein multiples Anregungspotenzial innerhalb der Schule benötige. Leistung vollzieht sich zusätzlich auch dauerhaft in kooperativen und einvernehmlichen Ausführungen und zeigt sich nicht zuletzt deshalb auch in vielfältigen Formen ([...] Prozess-, Produkt-, Präsentationsleis- tungen,[...] Reproduktions-, Reorganisations-, Transfer- und Problemlösungsleistungen und [.] kreativ[e], sozial[e], kognitiv[e], produktiv[e], handlungsorientiert[e] Leistungen.)12 Leistung charakterisiert sich nach Bohl zudem auch als ein Konstrukt, welches niemals frei von Wertung sein kann und somit auf regelmäßige Verständigung und Reflexion angewiesen ist.
Die etwas aktuelle Begriffsanalyse des Schulpädagogen Christian Nerowski von 2018 versucht Leistung mit zwei Elementen (Handlung und Bewertung) zu definieren. Der Begriff Handlung umfasst im schulischen Kontext zielgerichtete Aktivitäten und Tätigkeiten von Schülerinnen und Schülern mit individueller und zurechenbarer Absicht. Sowohl eine Hausaufgabenüberprüfung oder eine Klassenarbeit als auch ein Praktikum kann demnach als Handlung bezeichnet werden. In diesem Zusammenhang spricht Nerowski jedoch zusätzlich auch von sogenannten Nicht-Handlungen, also auch von nicht vollständigen oder auch völligen Verweigerungen von Leistungen.13 Außerdem sollte in diesem Zusammenhang und grade bei einem dynamischeren Verständnis auch immer zwischen reaktiver und nicht-reaktiver Leistung unterschieden werden, da es immer einen großen Unterschied ausmachen kann, wenn Schülerinnen und Schüler sich der Feststellung einer Leistungsbewertung im Vorfeld bewusst sind (reaktiv) und sich dementsprechend darauf einstellen, oder die Handlungen nebenher wahrgenommen oder beobachtet werden (nicht-reaktiv).14
Wenn diese Handlung jetzt noch eine Bewertung erfährt, dann spricht Nerowski von Leistung. Schulische Leistung könnte somit als bewertete Handlung bezeichnet werden.
Durch diese Definition entsteht ein offener und aktiver Leistungsbegriff, welcher sich auch den Prinzipien der neuen Lernkultur annähert, da hier bestimmte Formen von Leistungen nicht als mehr oder weniger wichtig festgelegt werden. Eine Fachleistung muss also nicht zwangsläufig hochwertiger als beispielsweise eine Leistung im Sozialen Sektor angesehen werden.15 Nerowskis Begriffsbestimmung sieht eine Bewertun g von Handlungen vor, um von einer schulischen Leistung sprechen zu können. Wer jedoch die Handlung bewertet wird in diesem Kontext bewusst nicht auf die Lehrperson festgelegt. Auch hier lassen sich Parallelen zur neuen Lernkultur erkennen, da diese wie bereits zuvor beschrieben auch versucht ein aktives Verhältnis zu Leistungsbewertung und -kontrolle zu schaffen, um somit mehr Teilhabe für die Schülerinnen und Schüler zu gewährleisten. Bei all diesen sozusagen neueren Gedanken zum Leistungsbegriff darf jedoch nicht vernachlässigt werden, dass sich die Bewertung grundsätzlich auf das beziehen muss, was die Akteure mit ihrer Handlung beabsichtigt haben. Somit sei eine kommunikative Validierung und Transparenz von Bewertungen und Handlungen unerlässlich.16
Man kann und muss sich also die Frage stellen, ob durch den lernkulturellen Wandel im schulischen Kontext und im Zusammenhang mit dem aktuellen Leistungsbegriff, das derzeitige Leistungsprinzip und die traditionelle Notengebung noch zeitgemäß sind und in unserer heutigen Gesellschaft Bildungsgerechtigkeit überhaupt noch ermöglichen können?
2.3 Reformaufgaben der Schulen - Schaffung eines Lerndialogs
Wenn man sich nun einmal konkret anschaut, was die Schulen beziehungsweise die Behörden verändern müssen, muss zwischen zwei elementaren Prozessen unterschieden werden: Zum einen wäre das die Reform der Leistungsbeurteilung und -erfassung in Bezug auf das traditionelle Notensystem (auf welches im weiteren Verlauf noch gesondert eingegangen werden wird) und zum anderen die Frage wann und wie Leistung überprüft werden sollte, denn eine lerndienliche Leistungsbeurteilung, die im Zuge der neuen Lernkultur mehr in den Vordergrund rücken soll, bezieht sich folglich auf die Lern- und Arbeitsprozesse innerhalb und während des alltäglichen Unterrichts und nicht nur auf das Ende des Lernprozesses.17 Kurz gesagt: Eine Integration der Leistungsbeurteilung in den Lernprozess - auch Lerndialog genannt.
[...]
1 Winter, Felix: Leistungsbewertung. Eine neue Lernkultur braucht einen anderen Umgang mit den Schülerleistungen. Grundlagen der Schulpädagogik (Bd.49) 2008, S.1.
2 Winter, Felix: Schülerleistungen, S.4.
3 Ebd. S.5.
4 Beutel, Silvia-Iris: Lernen und Leistungsbeurteilung - ein grundlegender Zusammenhang. In: Lernen ohne Noten. Alternative Konzepte der Leistungsbeurteilung. Silvia-Iris Beutel, Hans Anand Pant (Hrsg.) Stuttgart, 2020, S.94-96.
5 Weinert, Franz E.: Vergleichende Leistungsmessungen in Schulen - eine umstrittene Selbstverständlichkeit. In: Leistungsmessung in Schulen. Frank Weinert (Hrsg.) Weinheim, 2001, S.17-31. In: Winter, Felix: Schülerleistungen, S.7.
6 Winter, Felix: Schülerleistungen, S.10.
7 Sammelbegriff für Phänomene, Aktivitäten und Erfahrungen, die mit der Bewusstheit, dem Wissen über und der Kontrolle, Steuerung und Regulation eigener kognitiver Funktionen zu tun haben.
8 Winter, S.12.
9 Ebd., S.18.
10 Ebd. S.21.
11 Ebd., S.21.
12 Beutel, Silvia-Iris: Lernen ohne Noten, S.27.
13 Ebd., S.28.
14 Sacher, Werner: Erweiterter Leistungsbegriff. In: Jenseits von PISA. Wege einer neuen Prüfungskultur. Jörg Petersen, Gerd-Bodo Reinert von Carlsburg (Hrsg.) Donauwörth, 2005, S.11-13.
15 Beutel, Silvia-Iris: Lernen ohne Noten, S.29.
16 Ebd., S.30.
17 Winter, Felix: Reformaufgaben schulischer Leistungsbeurteilung - eine persönliche Standortbestimmung. In: Lerndialog statt Noten. Neue Formen der Leistungsbeurteilung. Basel, 2015, S.12.