Familienberatung. Das Kriseninterventionsprogramm: FamilienAktivierungsManagement (FAM)


Examensarbeit, 2001

84 Seiten, Note: sehr gut


Leseprobe


Inhalt

Vorwort

1. Familienberatung
1.1. Zum Begriff „Beratung”
1.1.2. Ausbildung der Berater
1.1.3. Aufgaben und Ziele der Beratung
1.1.4. Beratungsende

2. Familienberatung und Familientherapie
2.1. Abgrenzung von Beratung und Therapie
2.2. Familienberatung
2.2.1. Aufgaben und Ziele der Familienberatung
2.3. Familientherapie
2.3.1. Anfänge der Familientherapie
2.3.2. Die Entwicklung der Familientherapie

3. Der Ansatz der Systemischen Beratung
3.1. Was ist ein „System”
3.2. Das System Familie
3.3. Was ist ein „Symptom”?
3.4. Die Rolle des Beraters
3.5. Grundannahmen der systemischen Theorie

4. Die drei Richtungen und ihre Modelle
4.1. Die traditionellen Modelle
4.1.1. Das Ursache-Wirkungsdenken (lineares Denken)
4.1.2. Das psychodynamische Modell
4.2. Systemtherapeutische Modelle im Überblick
4.2. Klassische Modelle
4.2.1. Strukturelle Familientherapie
4.2.2. Das Mehrgenerationen-Modell
4.2.3. Erlebnisorientierte Familientherapie
4.2.4. Systemisch-kybernetische Familientherapie
4.3. „Kybernetik 2. Ordnung”
4.3.1. Begriffsklärung
4.3.2. Gegenüberstellung lineare Konzepte - kybernetische Konzepte
4.3.3. Reflecting Team
4.4. Narrative Ansätze
4.4.1. Die lösungsorientierte Kurztherapie

5. Amerikanische Programme der intensiven Familienerhaltung
5.1. Die Entstehung der Programme
5.1.1. Das „homebuilders-program”
5.1.2. Das „families first program”
5.2. Weiterentwicklung der Programme
5.3. Konzepte
5.3.1. Wertvorstellungen
5.3.2. Handlungsrahmen

6. „Families first” in Europa

7. Der Weg von „families first” zum Modellprojekt FAM
7.1. Förderung und wissenschaftliche Begleitung des Modellprojekts FAM

8. Der Ansatz von FAM- FamilienAktivierungsManagement
8.1. Beschreibung von FAM
8.2. Theoretische Grundsätze
8.3. Das Konzept
8.4. Voraussetzungen
8.5. Ziele
8.6. Zielgruppe
8.6.1. Die Familie
8.6.2. Die Krise
8.6.3. Die Schwierigkeiten
8.6.4. Ausschlußkriterien

9. Rahmenbedingungen
9.1. Die Arbeit findet im Haushalt oder Umfeld der Familie statt
9.2. Ein FAM-Arbeiter arbeitet mit maximal zwei Familien
9.3. Die Fachkraft ist rund um die Uhr erreichbar
9.4. Das Programm dauert maximal sechs Wochen
9.5. Wöchentliche FAM-Gruppenberatung
9.6. Weitere Standards

10. Zusammenarbeit mit dem Allgemeinen Sozialen Dienst (ASD)

11. Übernahme einer Familie
11.1. Engaging
11.1.1. Engaging-Arbeitstechniken
11.1.2. Ich-Botschaften

12. Methoden und Techniken im FAM
12.1. Systemische Diagnostik
12.1.1. Genogramm
12.1.2. Familienchronologie
12.2. Zielkatalog erstellen
12.3. Verhaltensplan
12.4. Feedback - Loben - Ermutigen
12.4.1. Aktives Zuhören
12.5. Casemanagement
12.6. Positive Konnotation / positive Symptombewertung
12.6.1. Reframing
12.7. Zirkuläre Fragen
12.8. Systemische Fragen
12.8.1. Fragen zur Wirklichkeitskonstruktion
12.8.2. Fragen zur Möglichkeitskonstruktion
12.9. Symptomverschreibungen

13. Bausteine
13.1. Aufstellungsarbeit
13.1.1. Familienskulptur
13.1.2. Familienbrett
13.3 Krisenthermometer
13.4. Wunschkarten
13.5. Videokonsultation
13.6. Metaphern, Witze
13.6.1. Analoge Geschichten
13.7. Ressourcencheck

14. Abschluß
14.1. Evaluation

15. Ausbildung
15.1. Ausbildung zum FAM-Arbeiter
15.2. Ausbildung zum FAM-Berater

16. Kosten der Ausbildung

17. FAM und seine Möglichkeiten

18. Folgemaßnahmen

19. Rechtliche Grundlagen

20. Fallberichte
20.1. Familie Hering
20.2. Familie Medusa

Eigene Einschätzung

Literatur:

Vorwort

Das Brisante an der Pädagogik ist, daß man nicht mit Gegenständen umgeht, sondern mit Menschen!

In der heutigen Zeit der verstärkten Emanzipation des Einzelnen in der Gesellschaft und dem Wunsch nach Verwirklichung und Individualisierung wird gleichzeitig die Forderung nach mehr Toleranz und Kooperation immer lauter. Dem allgegenwärtigen Egozentrismus und dem - besonders durch die Medien propagierten - steigenden Gewaltpotential steht in meinen Augen ein immer größer werdendes Bedürfnis nach Verständnis, Harmonie und Familie gegenüber. Diese Offenheit unserer Gesellschaft für individuelle Lebens- und Wertvorstellungen läßt die Menschen unsicher werden. Tradierte Normen und Verhaltensmuster verlieren an Geltungskraft. Auch die Erziehungsvorstellungen haben sich teilweise verändert.

Erziehung in dem Sinne, jemanden zu er-ziehen, also heranzuziehen und für ein selbständiges Leben vorzubereiten, scheint nahezu eine Doktrin zu sein. Denn wer maßt sich an, wirklich die Bedürfnisse eines anderen zu kennen? Hilfebedürftige Familien werden noch immer erzogen, indem ihnen veraltete pädagogische Modelle übergestülpt werden, bei denen nur die Symptome statt die Ursachen behandelt werden. Trotz neuer Perspektiven scheint sich die Pädagogik noch nicht von den traditionellen linearen Sichtweisen trennen zu wollen.

Es gibt seit Jahren ein neues pädagogisches und psychologisches Modell, das seine Wurzeln in der traditionellen Familientherapie, welche vor 40 Jahren entstand, hat und welches sich seitdem weiterentwickelte: die systemische Theorie! Als lösungs- und ressourcenorientierte Therapie/Beratung sieht sie „Probleme” als hilfreich und nützlich an. Mit ihrer Hilfe wird der Familie eine Chance gegeben, sich wieder neu zu orientieren, indem gemeinsam nach Lösungen gesucht wird. Die Familie wird nicht vom Boden aufgehoben, sondern es wird ihr die Kraft gegeben, selber aufzustehen. Problemlösungen werden von der Familie selbst erarbeitet und zwar im Rahmen dessen, was jede einzelne Person in der Familie leisten kann, um wieder eine gemeinsame Grundlage des Zusammenlebens zu finden. Dabei ist diese Form der Beratung als Hilfe zur Selbsthilfe zu sehen. Ihre Methoden sind nachweislich erfolgreich. Das Arbeitskonzept FAM (Familienaktivierungsmanagement)1 basiert auf dem systemischen Ansatz, bedient sich aber auch anderer Denkrichtungen wie z.B. der Verhaltenstherapie. Es ist ein Kriseninterventionsprogramm und dient der ressourcen- und lebensweltorientierten Jugendhilfeplanung. Im Rahmen eines Modellprojekts, das die Bundesregierung für drei Jahre förderte, wurde es von 1996 bis ’99 durch die Stiftung St.

Wendel2 im ganzen Saarland angewandt. In der Zwischenzeit wird FAM in den meisten Ländern der BRD angeboten, wobei die Fallzahlen mit ihren Erfolgen für sich sprechen.

Ich selbst wurde vor vier Jahren auf das Programm aufmerksam und verfolge seitdem seine Entwicklung. Literatur hierzu gibt es wenig. Die Methoden und Ideen von FAM setzen sich aus den verschiedenen Lehrbüchern der systemischen Therapie zusammen und liegen dem amerikanischen Originalmodell „families first” zugrunde. Stark vertreten ist FAM im Internet3, und auch aus Aufsätzen für Sozialzeitschriften und -magazine habe ich meine Informationen bezogen. Die Fallbeispiele, die ich anbringe, stammen aus der FAM-Stelle des Deutschen Roten Kreuzes4 (DRK) in Langen bei Bremerhaven, welches den Kreisverband Wesermünde im Landkreis Cuxhaven betreut.

Als Studentin der Sonderpädagogik auf Lehramt gilt mein Interesse FAM, da ich als Lehrerin definitiv mit sogenannten „Problemkindern” in Kontakt bin, besonders da meine erste Fachrichtung „Pädagogik bei Verhaltensstörungen” ist. Realistisch gesehen ist der Lehrer oft mehr Bezugsperson für die Kinder als deren eigene Eltern. Ich werde Kontakt mit dem Jugendamt haben, und FAM wird über das Jugendamt vermittelt. Ich halte es daher für sinnvoll, mich über verschiedene Lösungsansätze, die ich in meiner späteren Arbeit einsetzen kann, zu informieren.

Die systemische Therapie/Beratung, auf der FAM basiert, ist nicht nur in Schule und Sozialer Arbeit anwendbar. Weitere Anwendungsbereiche der Systemtheorie sind auch Supervision, Familienmedizin, Psychiatrie, Management, Industrie und Politik. Auch in Krisensituationen des Alltags und im Privatleben können ihre Methoden und Techniken umgesetzt werden.

1. Familienberatung

1.1. Zum Begriff „Beratung”

Ursachen für die Beratungsbedürftigkeit sind lebenspraktische, soziale, seelische, körperliche und/oder wirtschaftliche Schwierigkeiten (Belardi, 1996, S. 32). Ein Ratsuchender5 sieht sich vor Probleme gestellt, die er durch eigenes Handeln nicht lösen

kann. Von Beratung wird dann gesprochen, wenn ein Experte dem Ratsuchenden Auskunft über mögliche und den Umständen angemessen erscheinende Entscheidungen gibt.

Beratung kann sich auf alle Bereiche des täglichen Lebens beziehen. Beratung soll in der Hilfe zur Selbsthilfe bestehen und nicht in der Delegation der Problembewältigung an den Berater. Sie ist auf Verselbständigung und Unabhängigkeit der Ratsuchenden ausgerichtet. Außerdem beinhaltet Beratung Freiwilligkeit des Klienten und läßt ihm seine Eigenverantwortlichkeit bzw. befähigt ihn dazu (Flügge, 1991, S. 18).

1.1.2. Ausbildung der Berater

Es gibt Beratungen im weiteren Sinne, die vom hilfreichen Gespräch mit dem Nachbarn oder Kollegen bis zur Wegweisung durch selbsternannte Experten für Lebensfragen aller Art reichen. Eine Professionalisierung des Experten hat sich vor allem dort ausgebildet, wo das Befolgen seiner Ratschläge rechtsrelevante Folgen hat bzw. haben kann. In den entsprechenden Bereichen hat der Experte dann eine öffentlich-rechtlich anerkannte Ausbildung absolviert. Die Träger von Einrichtungen der Jugend-, Ehe-, Familien- und Lebensberatung definieren in ihren Ordnungen sehr genau, welche Ausbildung und welche Art von Berufserfahrung Berater nachzuweisen haben, da im Rahmen psychosozialer Hilfsangebote der Begriff der Beratung enger gefaßt wird als in der Umgangssprache (BMFuS, 1993, S. 7).

1.1.3. Aufgaben und Ziele der Beratung

Die Aufgabe von Beratung besteht darin, die Ratsuchenden bei der Lösung von Problemen in der Lebensführung zu unterstützen, ohne ihnen eine bestimmte Lösung aufzudrängen.

Das Ziel ist erreicht, wenn der Ratsuchende in der Beratung fachkundige Unterstützung erfährt, die zu selbständig erarbeiteten Lösungen führt. Das Ziel der Beratung ist nicht so sehr ein Ratschlag, den der Betroffene befolgt, sondern Unterstützung beim Finden eines Lösungswegs, den der Ratsuchende als eigene Entscheidung akzeptiert und an dem er sein weiteres Handeln orientiert (BMFuS, 1993, S. 8).

1.1.4. Beratungsende

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

sondern dient der Vereinfachung des Lesens und Schreibens. Im gesamten Dokument werde ich die maskuline Form und das verallgemeinernde „man” verwenden. Beides schließt ebenso den weiblichen Part ein. Auf abweichende spezielle Formen werde ich entsprechend hinweisen.

Manche Ratsuchende möchten unbegrenzt Beratung haben6. Das ist zum einen nicht möglich, da evtl. die Warteliste der institutionalen Beratungsstelle voll ist. Und zum anderen würde das erreichte Ziel der Unabhängigkeit des Betroffenen zunichte gemacht und in eine Abhängigkeit (vom Berater) umkehren.

Je nach Dauer - ob die Anzahl der Beratungsstunden vorgegeben oder frei ist - und Intensität der Beziehung ist entsprechend früh auf den Beratungsabschluß vorzubereiten. Vor allem, wenn die Ratsuchenden positive Veränderungen erfahren haben, muß auf das Beratungsende vorbereitet werden (Belardi, 1996, S. 85).

2. Familienberatung und Familientherapie

2.1. Abgrenzung von Beratung und Therapie

Aufgabe der Beratung ist, eine Orientierungsgrundlage zu schaffen (BMFuS, 1993, S. 8). Die Beratung kann Wege zur Hilfe, gelegentlich zur Schadensbegrenzung, aufzeigen, muß es aber dem Ratsuchenden selbst überlassen, ob er diesen Weg gehen will.

Eine Therapie erfordert eine sorgfältige Diagnose und dient der Behebung bzw. Linderung der behandlungsbedürftigen Störungen. Allerdings gibt es fließende Übergänge zwischen Beratung und Therapie. Häufig erleben Ratsuchende durch das Beratungsgespräch schon eine Entlastung vom Leidensdruck. Sie fühlen sich erleichtert und können die Problemsituation und alternative Lösungen aus einer gewissen Distanz heraus sehen. Dies ist allerdings nicht das Ergebnis einer Therapie, denn die objektiven Probleme bestehen noch immer (BMFuS, 1993, S. 12 f.).

Des weiteren unterscheiden sich Beratung und Therapie in ihrer Dauer: Beratung als kurzfristige Intervention7; Therapie als längerfristige Intervention (Belardi, 1996, S. 41).

2.2. Familienberatung

2.2.1. Aufgaben und Ziele der Familienberatung

Familienberatung ist (nach dem Wissenschaftlichen Beirat für Familienfragen) die Gesamtheit der Beratungshilfen für Männer und Frauen wie für Eltern und Kinder (BMFuS, 1993, S. 3). „Familienberatung soll Familienverhältnisse bessern.” (Oswald/Müllensiefen, 1986, S. 89)

Sie soll die Familie bei der Bewältigung ihrer Aufgaben unterstützen oder einzelnen Mitgliedern helfen, innerhalb der Familie - oft auch in stärkerer Unabhängigkeit von ihr - einen eigenen Weg zu finden.

Familienberatung versucht „durch Einsatz ihrer fachlichen Kompetenzen ein möglichst hohes Maß an seelischer Gesundheit von Kindern, Jugendlichen und ihren Familien zu erreichen, indem sie dazu beiträgt, daß sich junge Menschen ihren Fähigkeiten entsprechend entfalten und aktiv mit den Anforderungen der Umwelt auseinandersetzen können.” (Flügge, 1991, S. 14)

2.3. Familientherapie

Ebenso wie die Familienberatung hat die Familientherapie das Ziel, die Konfliktregelung in der Familie wieder herzustellen. Sie hat den Anspruch, familiäre Probleme grundsätzlich durch eine Umstrukturierung der Beziehung lösen zu können (Oswald/Müllensiefen, 1986, S. 7).

„Familientherapie gibt dem identifizierten Patienten seine Fähigkeit zur Selbstbestimmung innerhalb eines veränderten familialen Kontextes zurück. Wenn die latenten Möglichkeiten der Familie zur Selbstheilung wieder entdeckt und aktiviert wurden, dann gilt das Fehlverhalten des einzelnen nicht länger als Stigma, sondern als ein Signal und als die Chance, innerhalb einer Gruppe, die ihre eigene Geschichte besitzt, zu wachsen und sich zu entfalten. In einem solcherart veränderten Umfeld fällt es allen Familienmitgliedern leichter, sich stärker am Leben der Gemeinschaft zu beteiligen.” (Andolfi, 1988, S. 11)

2.3.1. Anfänge der Familientherapie

Erste Ansätze familienorientierter Arbeit finden sich bereits in der Sozialarbeit des letzten Jahrhunderts. Bereits 1890 kritisierte die amerikanische Sozialarbeiterin Zilpa Smith ihre Kollegen: „Die meisten von euch behandeln arme oder kranke Einzelpersonen, ohne ihre Familienbeziehungen zu sehen. Wir behandeln die Familie als Ganzes, meist mit dem Ziel, sie zu erhalten, manchmal aber auch, um bei der Auflösung zu helfen.”8. Die frühen Familienstudien ab den 40er Jahren suchten nach Ursachen bzw. der einen Ursache psychischer Störungen, und die Therapeuten behandelten ausschließlich Einzelpatienten. Zur Klärung symptomatischen Verhaltens bediente man sich des linearen Denkens (Kap. 4.1.1.).

Erst in den 50er Jahren begannen an verschiedenen Orten der Welt Psychotherapeuten mit Familien statt nur mit Einzelpatienten zu arbeiten (systhema, 1995, S. 6). Die - heute bekannten - Einwegspiegel wurden eingesetzt, um Familieninterviews live mitzuerleben. Man stellte fest, daß jedes Familienmitglied in das Netzwerksystem der Familie eingebunden ist und daß bestimmte Verhaltensmuster in bestimmten Situationen erlernt und somit vorherzusagen sind.

2.3.2. Die Entwicklung der Familientherapie

In den 60er Jahren wurden u.a. in Palo Alto, Kalifornien, interessante Beobachtungen in der Arbeit mit schizophrenen9 Persönlichkeiten gemacht, was zu einer neuen Sichtweise von Problemen und Krankheiten führte. Schizophrenie, die bis dahin als Geisteskrankheit des Individuums verstanden worden war, konnte nicht mehr unter Ausschluß des wechselwirkenden Familienverhaltens betrachtet werden. Man begann zu zweifeln, ob Schizophrenie im medizinischen Sinne überhaupt eine Krankheit war. Vielleicht nicht mal eine Störung, sondern eine normale Äußerung, die im Familienkontext Bedeutung hat und somit eher als Problemlösungsstrategie anzusehen ist. „Probleme” und psychische Störungen sind nicht „Eigenschaften” einzelner Personen, sondern Bestandteil sozialer Systemstrukturen (Hoffman, 1987, S. 2). Das war der Beginn der systemischen Familientherapie oder der systemischen Praxis. Die oben genannten Untersuchungen am

„Mental Research Institute” (MRI) in Palo Alto, in dem auch Paul Watzlawick tätig war, hatten großen Einfluß auf die ersten systemischen Modelle, die sich in den 60er und 70er Jahren etablierten.

Seitdem entwickelte sich die Familientherapie in verschiedene Richtungen. Drei dominierende Strömungen lassen sich ausmachen (systhema, 1995, S. 7 ff.):

I. Klassische Modelle
II. „Kybernetik 2. Ordnung”
III. Narrative Ansätze

Jede dieser Strömungen beinhaltet systemische Modelle, von denen ich einige im Kapitel 4 kurz vorstellen werde. Ebenso werde ich dort die Kerngedanken der drei großen Richtungen erläutern.

3. Der Ansatz der Systemischen Beratung

Die systemische Beratung bildet einen eigenständigen Denk- und Handlungsansatz, der sich

- wie bereits beschrieben - aus der Familientherapie unter Einbeziehung moderner System- und Kommunikationswissenschaften entwickelte. Der systemische Ansatz bietet Konzepte und Instrumentarien, um die Komplexität und Vernetzung der Wirklichkeit als dynamischen Prozeß zu erkennen und zu verändern (Bötel, 2001). Die oben genannten verschiedenen systemischen Richtungen basieren auf einigen wesentlichen gemeinsamen Grundeinsichten, die ich hier kurz erwähnen möchte.

3.1. Was ist ein „System”

Ein System kann mehrere Vorstellungen beinhalten, je nachdem, von welchem Standpunkt aus man es betrachtet. Es ist sowohl ein Gefüge, ein einheitliches Ganzes als auch ein aus grundlegenden Einzelerkenntnissen zusammengestelltes Ganzes (DUDEN). Es ist ein Unterschied, ob man ein Heizungssystem, einen Ameisenhaufen, einen Menschen, eine Familie oder eine Gesellschaft als System betrachtet.

In der systemischen Beratung werden alle sozialen Strukturen in eigenständige Systeme unterteilt. Der Begriff System bezeichnet in der Systemtheorie eine Gruppe von Menschen, die als Ganzes interagieren und deren Beziehungen untereinander intensiver und produktiver sind als ihre Beziehungen zu anderen Elementen (Willke, 1993 in Schlippe von/Schweitzer, 1998, S. 55). Jeder Mensch ist Teil eines Systems, das wiederum Teil eines größeren komplexen Systems ist. „Ein System wird immer erst dann als solches erkennbar, wenn es von einer Umwelt unterschieden werden kann, das heißt, es geht offenbar gar nicht ohne den Beobachter, der die Entscheidung darüber trifft, was er oder sie als „System”, was als Umwelt betrachtet” (Schlippe von/Schweitzer, 1998, S. 54).

3.2. Das System Familie

Die Familie bildet das primäre und kleinste System. Geschwisterpaare, Ehepartner, weibliche und/oder männliche Familienmitglieder werden bereits wieder in Subsysteme unterteilt, wobei die Konstellationen variabel sind. Die Familie an sich ist das einflußreichste System, dem ein Mensch im Laufe seines Lebens angehört (McGoldrick/Gerson, 1990). Nahezu alle Menschen sind in Familiensystemen organisiert.

Das Interesse der systemischen Beratung liegt auf dem persönlichen Umfeld, den sozialen Bezugssystemen, dem Beziehungsgefüge und dem „Spiel” der Interaktionen in den Systemen (Bötel, 2001). Die interfamiliären Beziehungen sind von Mustern geprägt, die sich

tendenziös wiederholen (McGoldrick/Gerson, 1990). Das körperliche, emotionale und soziale Wohl jedes Mitglieds steht in einer wechselseitigen Beziehung zu dem Familiensystem. Veränderungen in einem Teil des Systems nehmen Einfluß auf andere Teile. Die Position, die der Einzelne in der Familienstruktur einnimmt, kann sein funktionales bzw. dysfunktionales Verhalten und die von ihm bevorzugten Beziehungsmuster nachhaltig beeinflussen. Dies schlägt sich sogar auf den in der nächsten Generation gegründeten Familientypus nieder.

3.3. Was ist ein „Symptom”?

Symptome sind ein unerwünschter Zustand, der von jemandem als Problem und als veränderungsbedürftig angesehen wird, was impliziert, daß sie prinzipiell veränderbar sind (Schlippe von/Schweitzer, 1998, S. 103). Das führt zu einer weiteren Kernfrage der systemischen Theorie: der Sichtweise von Symptomen oder Störungen.

Diese werden daraufhin untersucht, welchen Sinn sie innerhalb eines bestimmten Beziehungskontextes haben. Menschen erwerben im Laufe ihres Lebens bestimmte Grundüberzeugungen, nach denen das Leben ausrichtet wird. Symptome stellen oftmals Lösungsversuche in schwierigen Lebenssituationen dar, in denen der Betroffene nicht mehr in der Lage ist, seine Vorsätze flexibel zu handhaben.

Symptome werden nicht einem Einzelnen zugeordnet, sondern als Beziehungsphänomene gesehen. Eine als streitsüchtig beschriebene Person ist nicht an sich streitsüchtig, sondern zeigt dieses Verhalten in spezifischen Situationen in der Beziehung zu ganz bestimmten Menschen, z.B. dem Ehepartner gegenüber. Anderen gegenüber zeigt sie sich vielleicht eher kompromißbereit und kooperativ (Bötel, 2001).

3.4. Die Rolle des Beraters

Wie in Kapitel 3.1. erwähnt, spielt der Beobachter in der systemischen Theorie eine wesentliche Rolle, da er das System als solches erkennt. In der systemischen Beratung fällt die Aufgabe des Beobachtens der Beratungsperson zu. Jedoch ist der Berater während seiner Beratungstätigkeit ähnlich wie die Familienmitglieder in die Struktur und Beziehungsregeln der Familie eingebunden. Er ist also Teil des familiären Systems (Oswald/Müllensiefen, 1986, S. 68). Trotzdem darf er sich nicht so involvieren lassen, daß er seine außenstehende Position als Beobachter aufgibt.

Um dieser verantwortungsvollen Position gerecht zu werden, ist es unabdingbar, sich einiger Leitlinien der Systemtheorie zu bedienen.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Der Berater muß sich der Subjektivität seiner Wirklichkeitsbetrachtung bewußt sein. Aufgrund dieser Bewußtheit kann er sich selbst steuern. Während der Beratung/Therapie ist er verantwortlich für den Prozeß eines gemeinsamen Verstehens. Er sorgt für Perspektiven- und Rollenvielfalt. Die Arbeit in der systemischen Beratung ist lösungs- und ressourcenorientiert und nicht an Problem- und Defizitbeschreibungen ausgerichtet. Der Berater geht also davon aus, daß alle Fähigkeiten (Ressourcen), ein Problem zu lösen oder ein Symptom aufzugeben, in der Regel in jedem Einzelnen vorhanden sind und ihm in Krisensituationen nur oft nicht zur Verfügung stehen.

Prozeßleitend ist hier die Zielbestimmung und Eigenverantwortung des Klienten. Für diesen Prozeß steht dem Berater ein spezielles systemisches Handwerkszeug zur Verfügung wie vor allem das zirkuläre Fragen (Kap. 12.7.) und die Aufstellungsarbeit (Kap. 13.1.).

3.5. Grundannahmen der systemischen Theorie

Dieses Kapitel dient sowohl der Zusammenfassung des oben Genannten als auch der Weiterführung zum nächsten Teil. Ich stelle in Stichpunkten die Grundthesen der systemischen Theorie dar, wobei ich mich an Steve DeShazer orientiere.

1) Systeme sind dynamische Ganzheiten.
2) Alle Teile eines Systems sind miteinander verknüpft und wirken aufeinander ein.
3) Das Verhalten eines Systems entsteht aus dem Zusammenwirken seiner Teile.
4) Wenn ein Teil eines Systems sich verändert, müssen sich die anderen Teile verändern, um die Änderung zu verarbeiten -> Kleine Änderungen führen zu größeren Änderungen.
5) Große Probleme benötigen nicht notwendigerweise große Lösungen.
6) Komplizierte Probleme benötigen nicht notwendigerweise ebenso komplexe Lösungen.
7) Zu wissen, was man vermeiden muß, ist genauso wichtig wie zu wissen, was man tun muß.
8) Ein Erfolg darf nicht fixiert, sondern ausgebaut werden.
9) „Viele Wege führen nach Rom.” -> Es gibt nicht nur einen Lösungsweg.
10) Der Therapeut muß mit Bedacht vorgehen und darf den Klienten nicht hetzen. Zu schnelle Bewegungen bewirken Schwierigkeiten.
11) Klienten erzählen dem Therapeuten bereits, wie er mit ihnen kooperieren kann, wenn er genügend zuhört.
12) Lineare Ursache-Wirkungs-Ketten (in menschlichen Beziehungen) bilden kein passendes Modell zum Verständnis dynamischer Ganzheiten.
13) Veränderung entsteht kontinuierlich und unausweichlich, daher ist es wichtig zu wissen, was die Klienten beibehalten wollen.
14) Jedes Leidensmuster enthält irgendeine Art von Ausnahme zu der Regel, die als Hinweis für die Lösung dienen kann.
15) Die Kenntnis der Regelungsmechanismen ist Voraussetzung für ein rationales Beeinflussen des Systemverhaltens.
16) Die Beeinflussung komplexer Systeme erfolgt durch Änderung der Regeln zur Erzeugung gewollter Verhaltensmuster.
17) Muster erscheinen in Zeit und Raum. Die Veränderung von Zeit (wann) und Raum (wo) sind häufig Wege, um schnelle und prompte Lösungen zu entwickeln.

4. Die drei Richtungen und ihre Modelle

Dieses Kapitel scheint vom eigentlichen Thema „Beratung in der Familie mithilfe des Kriseninterventionsprogramms FAM” abzulenken. Dem ist nicht so. FAM basiert auf den Denkansätzen der systemischen Theorie und bedient sich der Methoden unterschiedlicher systemischer Modelle. Daher ist es notwendig, dem Leser einen kurzen Einblick in die Originalkonzepte zu gewähren, um bei der späteren Betrachtung von FAM auf Parallelen hinweisen zu können. Einige Ansätze sind bei FAM stärker vertreten als andere Modelle (z.B. die Kybernetik 2. Ordnung). Ihnen lasse ich mehr Beachtung zukommen als den Modellen, die eine weniger große Bedeutung für FAM haben. Um nicht den Rahmen der Arbeit zu sprengen, verzichte ich vollkommen auf die Darstellung einiger systemischer Modelle. Auf ausführliche Literatur verweise ich am Ende dieser Arbeit10.

4.1. Die traditionellen Modelle

Wie schon in Kap. 2.3.2. erwähnt, dachte man über Geisteskrankheiten traditionsgemäß in linearen Begriffen mit historischen und kausalen Erklärungen. Diese Erklärungen basierten meistens auf einem medizinischen oder einem psychodynamischen Modell.

Ich stelle beide Modelle im Präteritum vor, gehe aber davon aus - und der Leser wird mir (evtl. erfahrungsgemäß) zustimmen - daß sie noch immer häufig angewandt werden.

4.1.1. Das Ursache-Wirkungsdenken (lineares Denken)

Beruhten die kausalen Erklärungen auf einem medizinischen Modell, wurden emotionales oder geistiges Unglück mit einer Krankheit oder einer biologischen Störung gleichgesetzt. Somit waren die Behandelnden Ärzte und die Umgebung meist ein Krankenhaus. Die Behandlung bestand darin, „eine ‘Aetiologie’ (Ursachenforschung) der sogenannten

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Krankheit zu betreiben - ein typisch lineares Gebilde - und dann eine Behandlung einzuleiten, wie zum Beispiel Drogen verabreichen oder andere Mittel zu erfinden, mit denen diese körperlichen Vorgänge verändert oder blockiert werden können, die man für den Zustand des Patienten verantwortlich” (Hoffman, 1987, S. 3) machte.

4.1.2. Das psychodynamische Modell

Entdeckungen des 19. Jahrhunderts über Formen der Energie wie Elektrizität und Dampf beeinflußten dieses Modell. „Die physikalische Welt des Newton geht vom Modell des Billardspiels aus, bei dem die Kausalität linear ist und die Kräfte in einer Richtung auf die Dinge einwirken.” (Hoffman, 1987, S. 4)

Anhänger des psychodynamischen Modells gingen davon aus, daß den Symptomen ein verdrängtes11 Trauma oder ein verdrängter nicht verarbeiteter Konflikt in der Vergangenheit des Patienten zugrundeliegt. Die Behandlung bestand darin, dem Patienten zu helfen, die Erinnerung an dieses Ereignis zurückzugewinnen, die Emotionen neu zu erleben und im Rahmen der therapeutischen Beziehung zu verarbeiten. Somit würde dem Patienten das Erlebnis bewußt gemacht, und er würde das Symptom vermutlich nicht länger brauchen (Hoffman, 1987, S. 4).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten12 13 14

4.2. Klassische Modelle

4.2.1. Strukturelle Familientherapie

In den 70er und 80er Jahren war das Konzept der strukturellen Familientherapie aus Philadelphia sehr beliebt. Sein Begründer ist Salvador Minuchin, der anfangs mit unterprivilegierten Familien und schließlich mit psychosomatischen - vor allem magersüchtigen - Patienten arbeitete.

Minuchins Modell liegt die Annahme zugrunde, daß jede Familie eine eigene Kultur hat, der eine jeweils spezifische Struktur unterliegt (Minuchin/Fishman, 1988, S. 27 ff.). Der Therapeut geht vom Veränderungswunsch der Familie aus. Er muß Zugang zu der Kultur der Familie bekommen, um dann nach Wegen, die die Strukturen und damit die Kultur verändern, zu suchen. Minuchins Arbeit ist vor allem aufgebaut auf dem Konzept der Grenzen und der Hierarchie. Wie sind die Grenzen zwischen Eltern und Kindern (Generationsgrenzen)? Wie sind die Subsysteme organisiert (Subsystemgrenzen)? Familien funktionieren gut, wenn die Grenzen weder zu schwach noch zu starr sind. Der Therapeut kann eine Menge Techniken gebrauchen, um die Grenzen herauszufordern15. Er kann z.B. seine Fragen sehr direkt stellen: „Wie haben sie es nur geschafft, sich solche Monster großzuziehen?” oder seine Beobachtungen der Familie kundtun: „Ah, ich sehe, du brauchst gar keine Stimme, du hast ja deine Mutter, die deine Stimme darstellt.”

4.2.2. Das Mehrgenerationen-Modell

Anfang der 80er Jahre wurde in Deutschland das Heidelberger Modell oder auch das Mehrgenerationen-Modell entwickelt, das sich aus den psychoanalytischen Denkweisen ableitet und erst spät systemische Vorstellungen integrierte. Als Vorantreiber dieses Konzeptes gelten Ivan Boszormenyi-Nagy und seine Co-Autorin Geraldine Sparks.

Bei diesem Modell muß der Therapeut einen Blick in die Vergangenheit der Familie werfen, um zu sehen, „wie Verhalten, Erleben oder auch Symptome Sinn ergeben, wenn man Vermächtnisse aus früheren Generationen berücksichtigt und die Frage stellt, inwieweit diese erfüllt wurden beziehungsweise erfüllbar waren.” (Schlippe von/Schweitzer, 1998, S. 25). Die Führung der „Konten” von Familienvermächtnissen wird als Kernfrage dafür angesehen, ob jemand aus einem System ausgeschlossen wird oder nicht (systhema, 1995, S. 8). Ungeliebte Verhaltensmuster sieht Nagy nicht unbedingt als negativ an, sondern spricht ihnen eine Erhaltungsfunktion der Familie zu16.

4.2.3. Erlebnisorientierte Familientherapie

In den 90er Jahren schließlich wurde vom Begründungsmitglied des MRI in Palo Alto Virginia Satir der erlebnisorientierte Ansatz konzipiert. Er orientiert sich an der Humanistischen Psychologie17.

„In ihrem Ansatz ist der Selbstwert einer Person der Schlüssel aller Phänomene unseres geistigen und sozialen Lebens.” (systhema, 1995, S. 9) Satir vertritt die Ansicht, daß der Selbstwert einer Person für eine stimmige Kommunikation unerläßlich ist und daß somit eine vertrauensvolle therapeutische Beziehung einen wesentlichen Bestandteil des Veränderungsprozesses darstellt. In der Therapie soll ein stabiler Selbstwert entwickelt werden, um dem Patienten zu ermöglichen zu sagen, was er wirklich denkt, anstatt das zu sagen, was man von ihm erwartet18.

4.2.4. Systemisch-kybernetische Familientherapie

Mitte der 70er Jahre kamen weiterführende Denkanstöße von vier Therapeuten aus Mailand, die als systemisch-kybernetische Familientherapie oder als das Mailänder Modell bekannt wurden. Ähnlich wie bei Palo Alto basieren die in der Entwicklung der Familientherapie nachfolgenden Konzepte auf diesem Ansatz, und somit ist das Mailänder Modell „für praktisch alle Konzepte systemischer Therapie von unschätzbarer Bedeutung” (Schlippe von/Schweitzer, 1998, S. 21).

Obwohl die vier Begründer ausgebildete Psychoanalytiker waren, wollten sie dennoch das Bezugssystem der Analyse verlassen und arbeiteten familientherapeutisch mit Familien mit magersüchtigen und schizophrenen Mitgliedern.

„Familie” wird gesehen als regelgeleitetes System. Wie in jeder anderen Gruppe auch entwickeln sich in der Familie Regeln, die die Verhaltensspielräume der einzelnen Mitglieder beschreiben und begrenzen. Bei Familien mit „Problemen” ist in diesem Prozeß ein System entstanden, das sich über Transaktionen reguliert, die genau auf die Symptomatik zugeschnitten sind, die beklagt wird. Die Spielregeln, die die Familie erhalten, zerstören sie zugleich. Und das ist die Paradoxie: Die Familie will sich ändern, ohne sich zu ändern. Das systemisch-kybernetische Modell reagiert mit einem Gegenparadoxon: Eine Änderung ist nur unter der Bedingung möglich, daß sich die Familie nicht ändert! Besondere Techniken (z.B. Verschreibungen, die in sich paradox sind, Kap. 12.9.) machen es der Familie unmöglich, sich weiterhin nach den bisher gültigen Regeln zu verhalten. Die Prinzipien des Hypothetisierens, der Zirkularität und der Neutralität, stellen die Leitlinien dieses Modells dar. Sie werden in dieser Arbeit nur ansatzweise erwähnt.

Die Therapie/Beratung einer Familie kann Monate oder sogar Jahre dauern, aber die Zahl der Interviews bleibt gering (ca. 10 Sitzungen). Eine Sitzung dauert 85-185 Min. und ist in fünf Phasen geteilt, auf die ich nicht näher eingehen werde19. Sie wird von zwei Therapeuten/Beratern geleitet, während zwei weitere das Interview durch die Einwegscheibe beobachten. Die Sitzung wird schnell beendet, und eine Diskussion ist nicht gestattet. Es besteht nur die Absicht, neue Informationen in das System einzugeben. Für den Therapeuten/Berater ist es notwendig, sich aus dem „Spiel” der Familie herauszuhalten und unabhängig zu bleiben (Schlippe von/Schweitzer, 1998, S. 26 ff.).

4.3. „Kybernetik 2. Ordnung”

4.3.1. Begriffsklärung

In der Familientherapie wurden die Konzepte der Kybernetik20 schon früh aufgenommen - allerdings unkritisch, wie man heute sehen kann. Vielen dieser Konzepte unterliegt die Vorstellung, Aussagen darüber machen zu können, wie ein System „wirklich” ist. Dieses Denken mit Begriffen wie Kontrolle, Steuerung und Regelung wird als „Kybernetik 1. Ordnung” bezeichnet. Sie bezieht sich also auf Theorien über beobachtete Systeme (Schlippe von/Schweitzer, 1998, S. 57 ff.). Ich beschränke mich im folgenden Text auf die

„Kybernetik 2. Ordnung”, die Theorien über Beobachter, die ein System beobachten, beinhaltet. Hierbei werden die kybernetischen Prinzipien auf die Kybernetik selbst bezogen. Es geht um die Frage, wie menschliche Erkenntnis kybernetisch organisiert ist. Es wird bezweifelt, daß es objektiv vom Therapeuten/Berater erkennbare Systeme gibt. „Vielmehr müssen der Beobachter und seine Erkenntnismöglichkeiten als Teil des Kontextes, den er beobachtet, mitkonzeptualisiert werden. Zwangsläufig ergibt sich daraus eine Abgrenzung zu Modellen, die Hierarchie und Kontrolle implizieren.” (Schlippe von/Schweitzer, 1998, S. 53)

Normative Modelle (wie z.B. von Minuchin) wurden dahingehend kritisiert, daß sie zu wenig die Rolle des Beobachters berücksichtigten. Er nimmt eine „objektive” Position ein, und ihm wird das Recht eingeräumt, die Familie aktiv und bewußt, zum Teil strategisch, zu verändern. Der Therapeut/Berater ist im Besitz von Macht und muß auch mit dieser arbeiten. In der Kybernetik wird diese Aussage nicht völlig negiert, sondern als Teilaspekt umfassender Muster gesehen. Die einseitige Verwendung von Macht wird als gefährlich angesehen, da sie sich nur auf Teile des Systems Familie beschränken kann. Die Kybernetik erkennt daher Macht in zwischenmenschlichen Beziehungen nicht an. Sie stützt sich auf das Wissen, daß der Beobachter immer Teil des Systems ist. Der Therapeut/Berater als „Teil in” oder „Teil von” dem System ist etwas Anderes als der außenstehende Beobachter, Manipulator oder Machthaber. Er unterliegt so ebenfalls all den Einschränkungen und Notwendigkeiten der Beziehung. Die Kybernetik läßt sich in ihren Vorstellungen nicht von Macht inspirieren, sondern von Neugier in Bezug auf die Welt, von der wir ein Teil sind. Der Kybernetiker ist voller Interesse für die Wirklichkeit seiner Klienten. Neugierde ist das unmittelbarste Werkzeug, ihre erstarrten Annahmen und Werte in Frage zu stellen und aufzulockern. Nur wenn der Therapeut/Berater nichts selbstverständlich versteht, erklärt und erläutert, wenn er neugierig bleibt, trotz Versuchungen und Aufforderungen, sein Wissen als Fachmann einzusetzen, eröffnet er seinen Partnern allein durch diese Haltung eine Welt voller neuer Möglichkeiten (ebd., S. 54 ff.).

4.3.2. Gegenüberstellung lineare Konzepte - kybernetische Konzepte

Zur Auflockerung und zum besseren Verständnis möchte ich hier stichwortartig die wichtigsten Grundannahmen des Ursache-Wirkungs- denkens denen der „Kybernetik 2. Ordnung” gegenüberstellen.

Lineare Konzepte Kybernetische Konzepte

Beobachter draußen: Beobachter drinnen:

Realität „Objektivität”

kausale Erklärungen rekursive, nützliche Erklärungen

System erschafft Probleme Probleme erschaffen Systeme

Therapie als Behandlung Therapie als Konversation

Symptom negativ attribuiert logische, sinnvolle Konstruktion Therapeut hat privilegierte Information Information wird geteilt hierarchische Struktur horizontale Struktur

Kontrolle Zusammenarbeit

4.3.3. Reflecting Team

Tom Andersen, ein norwegischer Therapeut, sah in Teamdiskussionen, die unter Ausschluß der betroffenen Familie stattfanden (z.B. hinter dem Einwegspiegel), wenig Kooperationsgemeinschaft und bemerkte, daß die Familien sie als erniedrigend erlebten. So begann Andersen der Familie zu ermöglichen, der Diskussion des Teams zuzuhören, indem die Mikrophone umgestellt wurden, so daß die Familie im Nebenraum die Gespräche verfolgen konnte. Allein dies hatte bereits große Effekte (Schlußinterventionen oder paradoxe Kommentare erübrigten sich). Es entstand das Reflecting Team (RT). Dieses Modell sieht Therapie eher als einen Kontext von Kooperation als von Macht. Es wird ein Weg gesucht, wie Therapeut, Team und Familie eng zusammenarbeiten können, um Lösungen für aktuelle Probleme zu finden (systhema, 1995, S. 13).21

4.4. Narrative Ansätze

Die narrativen22 Ansätze entstanden aus der Diskussion heraus, ob Systemtheorie überhaupt nötig und angemessen sei, um menschliche, vor allem soziale Systeme, zu verstehen und zu modellieren. Einige Therapeuten begannen, auf die Art und Weise der Erzählungen („Narrationen”), die soziale Systeme einsetzen, zu achten statt auf Systemkonflikte, Grenzen und Hierarchien (Schlippe von/Schweitzer, 1998, S. 39). Das Interesse am Verhalten verebbte und wurde zum Interesse an Ideen, und zwar an kollektiven Ideen. Nicht nur die Sprache allein, sondern die Bedeutungsmuster, die durch diese Sprache vermittelt würden - und das sind in sozialen Systemen eben Geschichten - bauen Realitäten in Systemen auf. Wirklichkeit besteht aus nichts anderem als Geschichten, denn darüber sprechen die Familien miteinander. Über Sprache vermittelt eine Familie ihren Mitgliedern die Bedeutung von Verhalten von Dingen. Jeder Mensch baut seine Geschichte durch eine besondere Erzählform auf.

Die Rolle des Therapeuten/Beraters ist dabei, mit grenzenloser Neugier und aus einer Position des Nicht-Wissens die Bedeutung der Ereignisse und Geschichten für den Klienten kennenzulernen, sie zu verstehen und so für eigene und gemeinsame Erzähltraditionen zu sensibilisieren (Schlippe von/Schweitzer, 1998, S. 41).

Die narrativen Ansätze bedienen sich also einiger Techniken, die wir bereits bei der

„Kybernetik 2. Ordnung” gesehen haben. „Der rasche Wandel der jeweils systemtheoretischen Konzepte muß [also] nicht bedeuten, daß sie nun „verfallen” und unbrauchbar werden.” (Schlippe von/Schweitzer, 1998, S. 53) Altes wird in Neues integriert, und somit können frühere Versuche auch in der Gegenwart hilfreich sein.

4.4.1. Die lösungsorientierte Kurztherapie

Das Modell der lösungsorientierten Kurztherapie wurde von dem Therapeuten Steve DeShazer aus Milwaukee, USA, und seiner Frau Insoo Kim Berg ab Mitte der 70er Jahre entwickelt. Das Konzept grenzt sich zur üblichen Form der systemischen Therapie ab, denn es beinhaltet die Vorstellung, daß zwischen Problem und Lösung kein Zusammenhang besteht (Schlippe von/Schweitzer, 1998, S. 35). Ein weiterer Unterschied liegt in der Auffassung von Änderung (Systemische Studien: Berg, 1998, S. 26).

Die lösungsorientierte Kurztherapie zielt von der ersten Frage an auf die Lösung und nicht auf das Problem ab. Der zentrale Satz ist: „Problem talk creates problems, solution talk creates solutions!” (systhema, 1995, S. 14) Problemgespräche erzeugen Probleme, Lösungsgespräche erzeugen Lösungen! Ressourcen werden als vorhanden vorausgesetzt. Da

die gesamte Therapie auf eine schnelle Beendigung angelegt ist, müssen anfangs Aspekte genannt werden, an denen erkennbar ist, daß das Problem gelöst wurde. Ein bekannter Ansatz ist die Technik der „Wunderfrage”, die nach Ausnahmen fragt, die evtl. noch gar nicht passiert sind: „Wenn das Problem durch ein Wunder plötzlich weg wäre: Was würden sie am Morgen danach als erstes anders machen? - und dann? Was würden ihr Mann/ihre Frau/ihr Kind/ihr Chef anders machen, woran würden sie es erkennen? Wie werden diese Menschen auf ihr verändertes Verhalten verändert reagieren? Wer wäre davon am meisten überrascht? Und wenn dann nach dem Wunder zwei Monate / ein halbes Jahr / fünf Jahre vergangen sind, wie würden ihre Beziehungen sich dann verändert haben?” (Schlippe von/Schweitzer, 1998, S. 36) Die Wunderfrage ist eine gute Orientierungshilfe für den Klienten, um herauszufinden, was er erreichen möchte und tun muß, damit jenes gelingt (Systemische Studien: Berg, 1998, S. 29). Diese Technik ist zum einen unverbindlich, denn man phantasiert ja nur über die Veränderungen und braucht sich somit nicht für deren Herstellung verantwortlich fühlen. Zum anderen bewirkt sie, daß man erkennt, daß das, was man nach dem Wunder tut, durchaus greifbar und machbar ist. Der Therapeut kann dann

z.B. dem Klienten vorschlagen, sich für 15 Min. am Tag so zu verhalten wie nach dem Wunder (systhema, 1995, S. 15). Desweiteren wird in der lösungsorientierten Kurztherapie auch die Technik der „Hausaufgaben” verwendet. Zur Verdeutlichung bediene ich mich einiger Beispiele von DeShazer und Molnar:

- „In der Zeit von jetzt bis zu unserem nächsten Treffen möchte ich, daß sie genau beobachten, was in ihrem Leben so bleiben soll wie bisher.”
- „Machen sie etwas ganz anderes!”
- „Werfen sie beim nächsten Mal, wenn sie sich nicht entscheiden können, ob sie das oder das tun sollen, eine Münze!”
- „Viele Leute hätten in ihrer Situation...gemacht!”

Diese Aufgaben wirken der Hoffnungslosigkeit des Klienten und seiner Annahme, er hätte bereits alle Lösungsstrategien erfolglos verwendet, entgegen (Schlippe von/Schweitzer, 1998, S. 37).

[...]


1 Im Folgenden werde ich der Einfachheit halber bei der Abkürzung FAM bleiben.

2 Kinder-, Jugend und Altenhilfe

3 Die entsprechenden Adressen sind im Literaturverzeichnis aufgeführt.

4 Auch hier werde ich der Einfachheit halber die Abkürzung DRK verwenden.

5 Ich bin mir klar darüber, daß auch weibliche Personen hilfesuchend sein können. Die Beschränkung auf männliche Personen hat keinesfalls diskriminierenden Charakter,

6Das hängt u.a. mit den unrealistischen Erwartungen der Betroffenen zusammen. Ausführlich nachzulesen bei Belardi, 1996

7„Vermittlung” nach DUDEN; ich finde „Eingreifen” passender

8 vgl. Broderick,C., Schrader, S.: „The History of Professional Marriage and Family Therapy”, 1981 in Schlippe von/Schweitzer, 1998, S. 18

9 bewußtseinsgespalten, widersprüchlich

10 Besonders empfehlen kann ich in diesem Zusammenhang Hoffmann, Lynn, 1987.

11 ins Unterbewußtsein verdrängt

12„Wissenschaftstheorie, die von einer synchronen Betrachtungsweise ausgeht u. die allem zugrundeliegenden, unwandelbaren Grundstrukturen erforschen will.” nach DUDEN

13 Beschäftigt sich mit der Frage, wie menschliche Erfahrung zustande kommt und wie das entsteht, was wir gewohnheitsgemäß Realität bezeichnen.

14 Realität ist nicht das, was sie zu sein scheint, sondern eine soziale Konstruktion sozialer Akteure

15 ausführlich nachzulesen bei Minuchin, Salvador/Fishman, H. Charles: „Praxis der strukturellen Familientherapie”, 1988 Minuchin wurde nicht zuletzt durch seinen provozierenden Stil bekannt (systhema, 1995, S. 8).

16 Fallbeispiele hierzu nachzulesen bei Hoffman, Lynn, 1987, S. 256 ff.

17 Optimistisches Modell: der Mensch sei von Grund auf gut und in der Lage, mit den Schwierigkeiten des Lebens fertigzuwerden in einer Weise, die auf Respekt und Liebe basiert, wenn der Betreffende die Möglichkeit hat, sich frei zu entscheiden.

18 Fallbeispiel hierzu nachzulesen bei Hoffman, Lynn, 1987, S. 226 ff.

19 nachzulesen bei Schlippe, Arist von/Schweitzer, Jochen, 1998, S. 29

20„Forschungsrichtung, die vergleichende Betrachtungen über Gesetzmäßigkeiten im Ablauf von Steuerungs- und Regelvorgängen[...]anstellt.”s. DUDEN

21 Ausführlich nachzulesen bei systemische Studien ~ Band 5: Andersen, Tom, 1990

22„erzählend, in erzählender Form darstellend (Sprachw.)” nach DUDEN

Ende der Leseprobe aus 84 Seiten

Details

Titel
Familienberatung. Das Kriseninterventionsprogramm: FamilienAktivierungsManagement (FAM)
Hochschule
Gottfried Wilhelm Leibniz Universität Hannover
Note
sehr gut
Autor
Jahr
2001
Seiten
84
Katalognummer
V106008
ISBN (eBook)
9783640042876
ISBN (Buch)
9783640326617
Dateigröße
856 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Kommunikation, Alternative zur Heimerziehung, Systemische Beratung
Schlagworte
Familienberatung, Kriseninterventionsprogramms, FamilienAktivierungsManagement
Arbeit zitieren
Svenja Nemetz (Autor:in), 2001, Familienberatung. Das Kriseninterventionsprogramm: FamilienAktivierungsManagement (FAM), München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/106008

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