Zu Beginn der vorliegenden Arbeit wird das Störungsbild von ADHS ausführlich erklärt und über die Diagnosestellung dieses Syndroms diskutiert. Der Hauptteil der Darlegungen widmet sich den Ursachen der Verhaltensauffälligkeiten und diskutiert diese kritisch. Es wird versucht, die Perspektive des Kindes in Bezug auf den Kontext ADHS zu erschließen, um somit die eigentlich Betroffenen besser zu verstehen. Sie und ihre Erziehungsberechtigten werden immer häufiger und früher mit dem Angebot von bestimmten Fördermaßnahmen oder – beispielsweise medikamentösen – Therapieverfahren konfrontiert. Ob diese allesamt zweifelsfrei notwendig sind, wird in dieser Arbeit hinterfragt, zumal diese Thematik, insbesondere die Gabe von Stimulanzien, in der Gesellschaft schon seit mehreren Jahren kontrovers diskutiert wird. Zuletzt werden mögliche pädagogische Interventionsmöglichkeiten beschrieben.
Die Methodik dieser Arbeit basiert auf einer intensiven Literatur- sowie Internetrecherche. Da Vollständigkeit den Rahmen sprengen würde, werden lediglich bestimmte Aspekte herausgegriffen, die als Brennpunkte dieses Kontextes gelten. Deshalb wird der Fokus auf die Kinder gelegt, da betroffene Erwachsene andere Symptome zeigen, die wiederum andere Probleme mit sich bringen.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Begriffsdefinition und Beschreibung des ADHS
3. Symptome
4. Die Diagnose - eine Begriffserklärung
4.1 Diagnose bei ADHS
4.2 Kritik an der Diagnose
4.3 Die Verteilung falsch-positiver ADHS-Diagnosen und ihre Auswirkungen
5. Ursachen
5.1 Medizinisch-biologische Hintergründe
5.1.1 Kritischer Diskurs um die medizinisch-biologische Perspektive
5.2 Zur Rolle psychosozialer Bedingungen als ADHS-Ursache
6. Psychodynamische Erklärung - die Perspektive des Kindes
6.1 Bindung und ADHS
6.2 Die Position der Familie
6.3 Die institutionelle Beschaffenheit der Schule
6.4 Der heutige Lebensstil - die „Schnellfeuerkultur“
7. Medikation
7.1 Wirkungsweise
7.2 Die Gabe von Stimulanzien - eine kritische Auseinandersetzung
8. Die Gefahr der Stigmatisierung
9. Interventionsvorschläge
9.1 Umgangsmöglichkeiten in der Schule
9.2 Die Arbeit mit den Eltern
9.3 Pädagogische Interventionsmöglichkeiten
9.3.1 Präventive Maßnahmen
9.3.2 Systemisches Verstehen
9.3.3 Psychoanalytische Kinderpsychotherapie
10. Fazit
11. Quellen
11.1 Printquellen
11.2 Digitale Quellen (Internet)
1. Einleitung
Die soziale Adaptation und die Entwicklung von AufmerksamkeitsdefizitHyperaktivitätsstörung in der heutigen Gesellschaft ist ein Thema, das mit der Zeit immer mehr an Bedeutung gewonnen hat. Die gesellschaftlichen Normvorstellungen üben gewaltigen Druck auf die Kinder aus: Das funktionieren' wird als die Basis soll eine Entwicklung ohne Komplikationen sichern.
Es ist unstrittig, dass es Kinder gibt, die aktiv, unruhig, impulsiv und unkonzentriert sind. Doch leiden diese kleinen Menschen grundsätzlich an einer diagnostizierten Krankheit namens „ADHS“? Können diese Verhaltensauffälligkeiten keine anderen Hintergründe haben?
Die Relevanz psychosozialer Faktoren sollte in diesem Kontext nicht unterschätzt werden, da sie sich positiv wie negativ auf Entwicklungsverläufe auswirken können. Die Mehrheit der ADHS - Betroffenen leben in einem labilen psychosozialen Umfeld. Dadurch gelingt es ihnen schwer, sich sowohl emotional als auch sozial zu entfalten, was zu markanten Beeinträchtigungen und Erschwerung führen kann.
Bei näherer Betrachtung der institutionellen Beschaffenheit der Schule wird ersichtlich, dass sie sich über einen verhältnismäßig langen Zeitraum strukturell wenig verändert und kaum an den sozialen Wandel angepasst hat. Die Entscheidungsträger im Bildungsbereich scheinen anzunehmen, dass alle Kinder mit dem vollendeten sechsten Lebensjahr auf demselben Entwicklungsniveau stehen und vergleichbare Entwicklungsfortschritte zeigen müssen. Was aber ist mit solchen Kindern, die der gesellschaftlich gewünschten Normierung nicht gerecht werden und zum Zeitpunkt des Schuleintritts den Entwicklungszustand eines vierjährigen Kindes zeigen? Und was ist mit Kindern, die Schwierigkeiten haben, der geforderten Rolle gerecht zu werden und unter dieser Situation leiden? Es ist möglich, dass sich ihr Leiden in Verhaltensauffälligkeiten widerspiegeln, die nicht selten als ADHS diagnostiziert werden.
Zu Beginn der vorliegenden Arbeit wird das Störungsbild von ADHS ausführlich erklärt und über die Diagnosestellung dieses Syndroms diskutiert. Der Hauptteil der Darlegungen widmet sich den Ursachen der Verhaltensauffälligkeiten und diskutiert diese kritisch. Es wird versucht, die Perspektive des Kindes in Bezug auf den Kontext ADHS zu erschließen, um somit die eigentlich Betroffenen besser zu verstehen. Sie und ihre Erziehungsberechtigten werden immer häufiger und früher mit dem Angebot von bestimmten Fördermaßnahmen oder - beispielsweise medikamentösen - Therapieverfahren konfrontiert. Ob diese allesamt zweifelsfrei notwendig sind, wird in dieser Arbeit hinterfragt, zumal diese Thematik, insbesondere die Gabe von Stimulanzien, in der Gesellschaft schon seit mehreren Jahren kontrovers diskutiert wird. Zuletzt werden mögliche pädagogische Interventionsmöglichkeiten beschrieben. Die Methodik dieser Arbeit basiert auf einer intensiven Literatur- sowie Internetrecherche. Da Vollständigkeit den Rahmen sprengen würde, werden lediglich bestimmte Aspekte herausgegriffen, die als Brennpunkte dieses Kontextes gelten. Deshalb wird der Fokus auf die Kinder gelegt, da betroffene Erwachsene andere Symptome zeigen, die wiederum andere Probleme mit sich bringen.
2. Begriffsdefinition und Beschreibung von ADHS
ADHS, das Kürzel für Aufmerksamkeit-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung, wird seit der Vorstellung des DSM-V (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders) im Jahre 2013 nicht mehr als Beeinträchtigung des Sozialverhaltens beschrieben, stattdessen unter „Neurodevelopmental Disorders“ zusammengefasst (vgl. Troyer 2016).
Bei ADHS - Kindern sind Verhaltensauffälligkeiten zu erkennen, die von hoher Ablenkbarkeit, Hyperaktivität sowie Impulsivität bedingt sind (vgl. Raschendorfer Nicole, 2003: 7). Außerdem sind die auffälligen Erscheinungen im Elternhaus, in der Schule, im Kindergarten oder während der Untersuchung auffindbar (vgl. Döpfner et al. 2013:1). Besteht keine Hyperaktivität, so spricht man von ADS.
Laut Wenke (2006: 10) ist ADHS ein konsensueller Oberbegriff für unterschiedliches, meist an Jungen beobachtetes, auffälliges Verhalten. Theunissen (2016: 54) stellt dar, dass es nicht leicht ist, ein Verhalten oder Empfinden als ,auffällig‘ zu deklarieren, da diese Einschätzung bzw. Definition in starkem Maße normabhängig ist; sie bemisst sich an dem, was ein BeobachterIn als normabweichend oder sozial unerwünscht wahrnimmt, erlebt und einstuft. Das Etikett der Auffälligkeit' wird meistens von Menschen gewählt, die aus der Außenperspektive urteilen; dazu zählen die Eltern, Lehrerin oder Mitarbeiterin in pädagogischen Einrichtungen. Diese ,Beobachter' beklagen das abweichende Verhalten, wenn es ihre Norm- oder Wertvorstellungen nicht erfüllt. Demzufolge stellen Verhaltensauffälligkeiten keine objektiven Sachverhalte dar; es sind eher relative Phänomene, die stets von der Situation abhängen, in der bestimmte Normen gelten oder toleriert werden (vgl. Theunissen 2016: 54).
Weltweit ist ADHS mittlerweile die am häufigsten gestellte kinderpsychiatrische Diagnose geworden. Kramer und Pollnow veröffentlichten erstmals im Jahre 1932 das klinische Bild als „hyperkinetische Erkrankung im Kindesalter“, und Ende der Dreißigerjahre wurde eine „effektive“ Behandlung möglich. Später wurde es von Hans Asperger (1952) als Teilaspekt der „Neuropathie“ oder „Neurasthenie“ beschrieben (Wenke 2006: 65). Einige Fachleute jedoch sind skeptisch und bezweifeln, dass ADHS eine Krankheit an sich darstellt. Die Lehre, ADHS sei eine spezifische neuropsychologische Krankheit, hält einer genaueren wissenschaftlichen Überprüfung nicht stand (Schmidt 2010: 28).
Das Kriterium für die Erstmanifestation der Kernsymptome, in diesem Falle die Aufmerksamkeitsstörung, Impulsivität und Hyperaktivität, wurde, wie bereits erwähnt, mit der Einführung des DSM-V im Jahre 2013 vom siebten Altersjahr auf das zwölfte angehoben und die Anzahl der erforderlichen Symptome wurde ab dem siebzehnten Altersjahr reduziert (vgl. Troyer 2016).
ADHS-Kinder zeigen in der Öffentlichkeit nicht normgerechte Verhaltensweisen und werden daher von der Umgebung als störende Kinder betrachtet. Auch wenn solche Auffälligkeiten’ heutzutage immer öfter im Kindergarten sowie in der Grundschule von PädagogInnen beobachtet werden, gab es schon immer unruhige, impulsive oder unaufmerksame Kinder. Eine frühe Darstellung von ADHS stammt von dem Frankfurter Arzt Heinrich Hoffmann. Im Jahre 1845 stellte er in seinem „Struwwelpeter“ ein unruhiges Kind dar, das er „Zappelphilipp“ nannte. Laut Seidler (2004: 45) lässt sich die Geschichte vom Zappelphilipp aber auch anders auslegen, nämlich als Beispiel für eine - infolge autoritärer Erziehung - gestörte Familiendynamik. Die verschiedenen Lesarten von Hoffmanns Zappelphilipp stehen damit beispielhaft für die gesamte Kontroverse um ADHS: medizinische Krankheit oder einfühlbares psychoreaktives Verhalten (vgl. Schmidt 2010: 25)?
3. Symptome
Verhaltensauffälligkeiten können divergent in Erscheinung kommen. Laut Gerspach (2004: 88) existieren Kinder, die ruhig und verträumt sind und gleichzeitig durch unzureichende Schulleistungen negativ bemerkbar werden; während sich andere hyperaktiv und unruhig bewegen. Zu den Symptomen, die das Verhaltensproblem ADHS beschreiben, zählen nach Hüther & Bonney (2002: 76) die Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität sowie Impulsivität.
Die erwähnten Anzeichen werden oft in vorrangige und zweitrangige Anzeichen unterteilt. Die primäre Symptomatik ist erkennbar durch:
- exzessives Bewegungsbedürfnis,
- inkonsequente Bewegungsaktivität,
- generelle Unruhe,
- Hyperaktivität,
- Ablenkbarkeit,
- mangelhafte Konzentrationsfähigkeit,
- Aufmerksamkeitsdefizit.
Zu den zweitrangigen Symptomen gibt es eine Reihe von Störverhalten, d. h. situativ unangepasstes Verhalten mit überaktiven gefühlsmäßigen Impulsen, Stimmungslabilität und Aggressivität (Internationale Frostig Gesellschaft 1991: 40). Die Impulsivität angesichts mentaler Steuerungsdefizite wird sowohl zu der primären Symptomatik, teilweise aber auch zu der Sekundärsymptomatik gezählt.
Kramer und Pollnow definierten das ADHS-Syndrom im Jahre 1932 folgendermaßen: In den ersten Lebensjahren werde das Kind von Außenstehenden eher als ruhig dargestellt. Nach fieberhaften Infektionen oder auch nach einem epileptischen Anfall würden die Kinder unruhiger und ihr Zustand habe regelmäßig Verschlechterungen gezeigt. Im Allgemeinen fingen die Unruhezustände mit drei oder vier Jahren an und befänden sich im sechsten Jahr auf dem Höhepunkt. In der Pubertät bilde sich die Hyperaktivität schließlich wieder zurück (Nissen 2005: 475). Statt der motorischen Unruhe werden in der Pubertätsphase Aufmerksamkeitsstörungen beobachtet. Es wird behauptet, dass sich erste Anzeichen hierfür bereits im Säuglingsalter zeigen und vermehrt dann im Schulalter, konkret in Umständen, in denen eine viel Aufmerksamkeit verlangt wird, wie es während des Unterrichts und zuhause bei den Hausaufgaben der Fall ist (Brandau & Kaschnitz 2008: 25). Hyperaktive Kinder stören den Unterricht, indem sie reinrufen oder nicht aufmerksam zuhören, wenn mit ihnen gesprochen wird. Darüber hinaus ist ein erhöhtes Maß an Klassenwiederholungen, Ausschluss vom Unterricht, Schulverweisen sowie Schulabbrüchen zu sehen (Döpfner et al. 2000: 18). Bereits im Kindergarten und Vorschulalter sind die auffallendsten Eigenschaften betroffener Kinder der Bewegungsdrang, das Aufmerksamkeitsdefizit, steigende Aggressionen und ein erhöhter Anteil an Eltern-Kind-Verhältnissen, die als ,negativ kontrollierend' eingestuft werden können. Im Schulalter kommen dann immer mehr Probleme hinzu, wie zum Beispiel eine sich zunehmend verschlechternde Beziehung zur Peer-Gruppe, beginnende gemeinschaftsschädigende Verhaltensweisen wie Lügen oder Wutausbrüche, Leistungsschwächen sowie verminderte Selbstwertgefühle (Heinemann & Hopf 2006: 13).
Jedoch sind die genannten Symptome nicht typisch für ADHS. Weitere so genannte komorbide psychiatrische Diagnosen wie Depressionen überschneiden sich in der Symptomatik zu ungefähr 60 Prozent mit ADHS (Schmidt 2010:28).
Ein Textausschnitt des amerikanischen Psychologen Armstrong, der sich mit dem Thema auseinandergesetzt hat, zeigt eine weitere Sichtweise:
Es gibt deutliche Hinweise dafür, dass sog. ADHS-Kinder je nach Alltagskontext keine störungstypischen Symptome zeigen. Zunächst einmal wirken 80 % von ihnen nicht als ADHSler, wenn sie in der Arztpraxis sind. Auch scheinen sie sich in anderen nichtfamiliären Zusammenhängen, in denen es einen direkten Kontakt zu einem Erwachsenen gibt (und dies trifft besonders dann zu, wenn dieser Erwachsene zufällig ihr Vater ist), ganz normal zu verhalten. Weiterhin sind sie in Schulklassen von den sog. normalen Kindern nicht zu unterscheiden, wenn sie ihre Lernaktivitäten selbst wählen und steuern dürfen. Zum dritten scheinen sie ganz normal zu funktionieren, wenn sie für besondere Handlungen, die dazu dienen sollen, Aufmerksamkeit zu zeigen, belohnt werden. Viertens, und das ist besonders wichtig, verhalten sich sog. ADHS-Kinder ganz normal, wenn sie mit Dingen beschäftigt sind, die sie interessieren, die in gewisser Weise neu für sie sind und die einen gewissen Anreiz auf sie ausüben. Und schließlich werden etwa 70 % dieser Kinder erwachsen und stellen dann fest, dass ADHS augenscheinlich einfach verschwunden ist. (vgl. Schmidt 2010: 46)
Im Gegensatz zum naturwissenschaftlich inspirierten medizinischen Paradigma ist aus einer anthropologisch sinnerschließenden Perspektive das zunächst unverstandene „Andere der Normalität“ vorerst kein pathologisches Symptom und damit kein Beleg für eine spezifische Krankheit, sondern, so lange das Gegenteil noch nicht bewiesen ist, ein individuelles Bedeutungsphänomen, das unter Umständen auf die Lebensgeschichte betroffener Personen verweist (Mattner, 1997:90ff).
4. Die Diagnose - eine Begriffserklärung
Die Wörter ,Diagnose' und ,Diagnostik' gehen zurück auf das griechische Verb ,diagignoskein‘, das unterschiedliche Aspekte eines kognitiven Vorgangs bezeichnet, vom Erkennen bis zum Beschließen; das Verb bedeutet ,gründlich kennenlernen', Entscheiden' und beschließen' (Fisseni 1990: 1). ,Diagnose‘ beschreibt das Bewerten von Informationen über eine Tatsache und das Zuordnen von Phänomenen und Merkmalen zu einer Kategorie eines Klassifikationssystems (vgl. Wikipedia 2020). Die Erhebung verschiedener Faktoren ist in dieser Hinsicht von großer Bedeutung; hierfür werden evidente Prozesse sowie eine klare Struktur benötigt. In allen Gebieten, wie zum Beispiel der Medizin oder Psychologie, bedeutet die Diagnose eine Art Weichenstellung für das Handeln. Grundsätzlich wird unter dem Begriff die Feststellung einer Krankheit verstanden.
4.1 Diagnose bei ADHS
Die Diagnose ADHS bezeichnet Kinder, die sich schwer konzentrieren können, motorisch unruhig und impulsiv sind (Neraal-Wildermuth 2008: 19). ADHS wird heutzutage mittels anerkannter diagnostischer Klassifikationssysteme erhoben. Es handelt sich dabei um international gültige Kriterienkataloge, die die europäischen Fachleute verwenden, um Symptome einzuordnen. Das Modell der International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems, kurz ICD-10, ist das wichtigste weltweit anerkannte Klassifikationssystem für medizinische Diagnosen und wird von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) publiziert (Gawrilow 2012: 23). In diesem Kriterienkatalog werden hyperkinetischer Beeinträchtigungen beschrieben, die durch einen frühen Beginn und überaktives, wenig moduliertes Verhalten mit deutlicher Unaufmerksamkeit und Mangel an Ausdauer bei Aufgabenstellungen, bemerkbar machen (vgl. Dilling 1993: 293ff). Das Verhalten des Kindes wird als situationsbedingt und zeitstabil definiert.
Das zweite Konzept, das sich Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders nennt, kurz: DSM, wird von der US-amerikanischen Psychiatrischen Vereinigung herausgegeben. Die erste Auflage erschien im Jahr 1952 - mittlerweile gibt es auch entsprechende Publikationen in anderen Sprachen weltweit (Gawrilow 2012: 23). Die ADHS setzt sich nach dem DSM-IV aus den drei Punkten Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität und Impulsivität zusammen (vgl. Heinemann & Hopf 2006: 11).
Beide Klassifikationssysteme bestätigen, dass die Hyperaktivität, Aufmerksamkeit und Impulskontrolle über einen Zeitraum von mindestens sechs Monaten in einem dem Entwicklungsstand des Kindes unangemessenen Ausmaß bestehen und in unterschiedlichen Bereichen erscheinen müssen (Brandau & Kaschnitz, 2008: 24). Weiterhin müsse ersichtlich sein, dass auch Beeinträchtigungen im sozialen und intellektuellen Bereich vorliegen (Hüther 2002: 104f).
Wender (2000: 15) erklärt, dass die Diagnose durch eine Erhebung der Vorgeschichte in Form einer Konversation mit dem Kind und mittels Fragebögen erfolgt. Spezifische diagnostische Testverfahren existieren für die Diagnosestellung einer ADHS nicht (ebd.) Die Diagnose nimmt meistens mehrere Stunden in Anspruch. Sie wird von einem/einer Arzt/Ärztin durchgeführt und in der Regel auch von diesem dem betroffenen Kind mitgeteilt. Der weitere Ablauf ist in der Regel therapeutisch oder es folgt eine medikamentöse Behandlung.
Trotz der Kombinierbarkeit der Konstrukte ist eine eindeutige Diagnose nicht möglich, was zur Kritik an den Systemen geführt hat. So wird bestritten, dass es die Diagnose ADHS überhaupt gibt (Brandl et al. 2006: 15). Da das gesamte Spektrum genetischer, hirnorganischer, neurobiologischer, kultureller, psychosozialer und psychodynamischer Determinanten überdacht wird, werfen Fachleute die Frage auf, ob es überhaupt sinnvoll ist, die „Einheits-Diagnose ADHS“ zu verwenden, wie es die beiden Klassifikationssysteme ICD-10 und DSM-IV nahelegen (ebd.).
4.2 Kritik an der Diagnose
ADHS ist inzwischen zur häufigsten psychologischen Diagnose bei Kindern avanciert; deshalb kann man auch ohne Übertreibung sagen: „Eine Generation wird krankgeschrieben“ (Wenke 2006: 64). Eine präzise Diagnose ist jedoch für eine professionelle und differenzielle Indikation nötig. Ihre Erstellung kann nur durch Fachleute erfolgen, in diesem Fall durch Kinderärzte, PsychologInnen und Kinder- sowie JugendpsychiaterInnen. Erst wenn sich am Ende einer Serie von Befunden, die sich durch die Kooperation des/r behandelnden Facharztes/-ärztin, eventuell des/r Kinderpsychologen/in, der Eltern, des/r Erziehers/in bzw. Lehrers/in und des betroffenen Kindes ergeben, alle möglichen anderen Störungen und Krankheiten ausschließen lassen, kann die Diagnose getroffen werden (Metzinger 2005: 97). Für eine abschließende Beurteilung ist eine Reihe von Untersuchungen, Tests sowie Beobachtungen von großer Bedeutung, da sie sich erst durch das Zusammenwirken mehrerer Faktoren ergibt und nie an einer einzigen Untersuchungsmethode festgemacht werden kann (ebd.).
ADHS gilt in der Medizin als ,Krankheit‘ und trotzdem existiert, wie bereits erwähnt, kein medizinischer Test zum eindeutigen Nachweis (Raschendorfer 2003: 17). Da Phänomene und nicht Ursachen festgestellt werden (können), kommt es zu inkonsistenten Diagnosen. Die motorische Unruhe ist eine unspezifische Reaktion. Was die WissenschaftlerInnen heutzutage als ADHS diagnostizieren, ist ein Sammelbefund zu Störungsbildern mit verschiedenen Auslösern. Diese reichen von prä- und perinatalen Schädigungen über Traumata, auch transgenerationalen, zu frühen Störungen von Objektbeziehungen sowie Bindungsstörungen bis hin zu Entwicklungsstörungen durch Erziehung (Heinemann & Hopf 2006: 18).
Die ,massenhafte Produktion' der Diagnose ,ADHS‘ könne darum, so Wenke in einer Studie von 2006, strukturell als ,diskursive Bewältigungsstrategie' einer ,Biologisierung und Individualisierung der Folgen sozialen Wandelns' betrachtet werden - als eine ,Form struktureller Gewalt' (Wenke 2006: 102).
Zur Frage, wie wir dazu beitragen könnten, ADHS vorzubeugen, ließe sich zugespitzt formulieren: Dadurch, dass man es erst gar nicht diagnostiziert. Denn die Diagnose ist die häufigste Krankheit. Einem hyperaktiven Kind emotionale Mängel zu unterstellen, vor denen es geschützt werden müsse, ist gesellschaftlich bedingt, was mit der populären ADHS-Diagnostik eine adäquate Behandlung ausklammert (Ahrbeck 2008: 693).
4.3 Die Verteilung falsch-positiver ADHS-Diagnosen und ihre Auswirkungen
Sind wirklich so viele Kinder psychisch krank, oder geht es hierbei um betriebswirtschaftliche Gründe der Ärzte, Psychologen und der Pharmaindustrie? Schaffen sie sich selber, so lässt sich kritisch fragen, eine neue generation ADHS‘? Wir leben in einer leistungsorientierten Gesellschaft, die möglicherweise mit unseren hyperaktiven und unangepassten Kindern überfordert ist. Doch es lässt sich mit guten Argumenten der Standpunkt vertreten, dass diese kleinen Menschen nicht immer so funktionieren müssen, wie es den gesellschaftlichen Normen entspricht, und es vielleicht ein Anzeichen für Gesundheit und Vitalität ist, sich nicht den vorgegebenen Mustern und Schemata anzupassen.
Manchen Stimmen zufolge passiert es mittlerweile oft, dass Ärzte und Psychologen die Symptomatik falsch diagnostizieren, wobei es dann auch vorschnell zu einer Stimulanzientherapie kommt. Ulrike Lehmkuhl geht von 90 % irrtümlich gestellter AD(H)S-Diagnosen aus, so die Direktorin der Kinderklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Berliner Charité in der Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 12. Februar 2012. Sich häufende falsche Diagnosen - und die damit einhergehender unbegründeter Zuwachs der Verschreibungszahlen von Medikamenten - tragen durch diese „Mode- oder Lifestyle-Diagnose“ zu einem gesellschaftlichen Bild der Störung bei (vgl. Winkler 2015). Dabei gibt es andere Erklärungsvorschläge: Eine Studie der Universität Michigan von 2010 zeigt, dass die meisten Kinder etwas mehr Zeit für ihre Entwicklungen benötigen als ihre PeerGroups; durch Hyperaktivität und Aggressivität reagieren betroffene Kinder auf die von ihnen gefühlte Diskrepanz zwischen subjektivem Können und dem, was das Gegenüber fordert, um mithalten zu können.
Schmidt (2010: 33) ist der Ansicht, dass bisher kein zuverlässiger neuropsychologischer Test für ADHS besteht. Und die in Berlin praktizierende Pädagogin und Familienberaterin Katharina Saalfrank vertritt die Meinung, dass für eine ADHS-Diagnose ein vielschichtigeres Verfahren als das bisher praktizierte notwendig sei und es einer langfristigeren Diagnostikphase bedürfe (vgl. Clemens 2014). Eine so folgenschwere Diagnose dürfe nicht nach einer komprimierten Beurteilung entstehen.
Es ist problematisch, die Verhaltensauffälligkeiten zu pathologisieren, da dies zu Stigmatisierung führt. Die Situation ist deshalb so kritisch, weil die Auswirkungen der Fehldiagnosen gravierend und ernst sein können, wenn die Therapieplanung an den tatsächlich zugrundeliegenden Indikationen vorbeizielt und die irrtümliche Einschätzung so eine passende und effektive Beratung oder Behandlung verhindert. Konkret: Wenn durch die „ADHS“-Diagnose bedingt eine (medikamentöse) Behandlung erfolgt, unterbleiben womöglich andere wichtige Behandlungsformen, die ebenso zur Klärung der eigentlichen Problemauslöser dienen könnten. Beispielsweise könnte die eigentliche Ursache der fehldiagnostizierten Symptome Kindesmisshandlung sein.
Im schlimmsten Fall erleidet der/die PatientIn durch die Fehlbehandlung, welche auf Fehldiagnose zurückgeht, weitere Schäden (vgl. Adhspedia 2020). Konkret: Die bei ADHS eingesetzten Medikamente haben erhebliche Auswirkungen auf den Appetit, das Wachstum und den Schlaf der Kinder. Ritalin ist das richtige Medikament in fünf Prozent der Fälle, wenn ein/eine PatientIn hyperaktiv ist, aber es ist grundfalsch und höchst gefährlich, die psychoaktive Substanz Patienten zu verschreiben, die beispielsweise an Depressionen leiden (vgl. Schubert 2015)
Bekanntlich verhält sich auch das Umfeld gegenüber den betroffenen Kindern anders. Somit wird das stigmatisierte Kind zusätzlich psychisch belastet - mit der Folge, das Selbstbewusstsein zu schwächen. Zusammenfassend lässt sich unterstreichen, dass eine professionelle und korrekte Diagnose dringend erforderlich ist, damit es zur eigentlichen Aufklärung und Behandlung kommt. Die ADHS-Diagnose benötigt viel Erfahrung und die Zusammenführung divergenter Informationsquellen.
5. Ursachen
Heute werden Kinder, die in der Schule oder zu Hause nicht funktionieren', sehr schnell mit der Diagnose ,ADHS' als krank dargestellt. Bei den ,Auffälligkeiten‘ kann es sich jedoch um eine normale kindliche Entwicklung handeln. Auch können sie unter Umständen auf Probleme zurückführbar sein, die innerhalb des ersten Lebensjahres entstanden sind. Eine auffällige Verhaltensweise, die man als Beziehungsstörung zwischen Individuum und Umwelt auffassen kann, ist möglicherweise auch von mehreren Bedingungen bestimmt.
Es ist festzuhalten: Spricht man von ADHS, handelt es sich nicht um ein homogenes Störungsbild, sondern um eine Verhaltensdefinition, die unterschiedliche Ursachen haben kann (Amft 2002: 52). Unstrittig ist, dass das Erscheinungsbild durch diverse Entstehungszusammenhänge hervorgerufen werden kann (Leuzinger 2006: 15).
Für die Analyse der Ursachen kann man sich auf den multifaktoriellen Ansatz stützen, der biologische, psychosoziale und soziokulturelle Einflüsse berücksichtigt. Hierbei werden auch derzeitige Lebensverhältnisse sowie Konstellationen der aktuellen Situation in Betracht gezogen. Je mehr sich das soziale Umfeld ausbreitet, desto problematischer ist es, einzelne Faktoren für das Auftreten einer Verhaltensauffälligkeit verantwortlich zu machen. In der Praxis finden sich fast immer Verhaltensstörungen, die multikausal bedingt sind, d.h., es ist die Verknüpfung mehrerer Störvariablen, die zur Entstehung einer Verhaltensstörung führt oder beiträgt (Metzinger 2005: 18). Die Dopaminmangel-Theorie ist heute die bekannteste unter den möglichen Erklärungen, jedoch wurde ihre Gültigkeit nirgends nachgewiesen. Da es bisher keine wissenschaftlich belegte eindeutige Ursache gibt (z. B. hirnorganische Fehlentwicklung oder funktionale Schwächen von neuronalen Überträgersubstanzen), schafft die Bezeichnung dieser Symptomatik als „Syndrom“ Abhilfe aus der „diagnostischen Notlage“ (Mattner 2002: 17). Diese Bezeichnung ermöglicht es, sobald sich die Verhaltensmerkmale einem Abweichungskatalog erlaubt , ungewiss von einer geistigen Ursache auszugehen, die zu einer Behandlung mit Medikamenten führt. Die Sehnsucht, allgemeingültige biologische Auslöser für schwieriges soziales Denken, Handeln und Fühlen zu finden, die einheitlich für alle Körper gelten, scheint nach wie vor eine große Anziehung auszuüben (Leuzinger 2006:17).
5.1 Medizinisch-biologische Faktoren
Die medizinische Sicht befasst sich mit verschiedenen Anschauungen über die Ursachen, die zur Entstehung von ADHS beitragen. Die im folgenden Punkt beschriebenen möglichen Gründe sind (teilweise) noch nicht wissenschaftlich bewiesen. Somit wird auch hier die enorme Diskrepanz zwischen den unterschiedlichen Hypothesen zu dieser Problematik deutlich.
Mediziner vertreten die Meinung, dass die Entstehung von ADHS neurobiologische Auslöser hat. Das Gehirn bietet sich für eine organische Erklärung an, da es Ausgangspunkt für die Verarbeitung aller Reize ist, die über die Sinnesorgane aufgenommen werden. Die Neurotransmitter haben dabei die entscheidende Funktion, die Reize weiterzuleiten; über sie erfolgt die Informationsübergabe zwischen den Nerven. Es geht hierbei um chemische Botenstoffe, die für die Aufmerksamkeit, Impulskontrolle sowie Motorik zuständig sind.
Die genetische Position hält eine Vielzahl von beschädigten Gene für die Veränderungen im Stoffwechsel des Gehirns für verantwortlich.
Laut der genetischen Position sind eine Vielzahl von beschädigten Genen für die Stoffwechselveränderungen entscheidend. Diese Ansicht wurde durch Familien-, Adoptions- und Zwillingsstudien nahegelegt. Das häufige Auftreten von ADHS bei mehreren Kindern innerhalb einer Familie sowie bei Zwillingen scheint dafür zu sprechen, dass ADHS vererbt wird (von Lüpke 2002: 43). Doch das Auftreten von ADHS bei Geschwisterkindern kann auch mit den gleichen Sozialisationsbedingungen, in welchen die Kinder aufwachsen, in Verbindung stehen. Auch biochemische Prozesse werden verantwortlich gemacht: Demzufolge wird ein Ungleichgewicht bzw. eine Störung der Neurotransmitter als wichtiger Faktor für die ADHS-Entstehung geltend gemacht (vgl. Brandau & Kaschnitz 2008: 34). Wenn die Informationsübertragung durch die Botenstoffe gehemmt, der Nachrichtenfluss also blockiert ist, entstehen Probleme in der Erhaltung von Aufmerksamkeit, Impulskontrolle sowie der Motorik. Weitere Schwierigkeiten wären die Ablenkbarkeit, die durch den Neurotransmittermangel entsteht, sowie Irritation und aggressives Verhalten. Diese angeblichen Ursachen lassen sich laut Brandau und Kaschnitz (2008) durch viele neurobiologische Untersuchungen nachweisen. Auch der positive Effekt von Stimulanzien, die die Störungen im Neurotransmitterungleichgewicht verbessern, sollen den Forschungen von Brandau und Kaschnitz (ebd.) zufolge ein Zeichen für einen neurobiologischen Ursachenfaktor bei der Entstehung von ADHS sein.
Im Zusammenhang mit ADHS ist häufig von den Neurotransmittern Dopamin und Noradrenalin die Rede (Raschendorfer 2003: 12) und das Symptombild wird mit Dopaminmangel begründet. Heinemann und Hopf (2006: 13) geben dazu an, dass die Dopaminmangel-Hypothese als Fundament für eine Behandlung mit Medikamenten dient: Die Stimulanzientherapie durch Dopamingaben normalisiert das gestörte neurochemische Gleichgewicht (Wender 2000: 37). Auch Krause und Krause (2009: 97) verzeichnen, dass aufgrund der von Bradley 1937 beschriebenen Wirksamkeit von Stimulanzien bei Symptomen von ADHS diese Verhaltensauffälligkeit auf eine Störung der biogenen Amine, Dopamin und Noradrenalin, zurückzuführen sei.
Es liegen mehrere wissenschaftliche Studien vor, die anhand von bildgebenden Verfahren den Zusammenhang zwischen neurobiologischen Faktoren und ADHS aufzeigen (Brandau & Kaschnitz 2008: 39).
Es ist jedoch fragwürdig, ob eine medikamentöse Therapie überhaupt von einer neurobiologischen Störung ausgehen und darauf ansetzen kann (Gerspach 2002: 152). Es kann angenommen werden, dass durch die Stumulanzientherapie zentrale Kompensationsmechanismen aktiviert werden, die Symptome im Verhalten mindern (ebd.).
Letztendlich gelten die Ursachen für ADHS aus medizinischer Sicht als unveränderlich. Eine wirkliche Heilung der „Krankheit“ ist nach diesem Erklärungsmodell nicht möglich (Raschendorfer 2003: 13).
5.1.1 Kritischer Diskurs zur medizinisch-biologischen Perspektive
Eine biologische Konzeption von Verhaltensauffälligkeiten steht schließlich in Konflikt mit pädagogischen und erst recht mit phänomenologischen Ansätzen, es ist bei entsprechender Auslegung sogar geradezu antipädagogisch (Wenke 2006: 15). Es ist heutzutage zur Normalität und Selbstverständlichkeit geworden, dass Kinder medikamentös behandelt werden. Dieses Verständnis beruht auf der Annahme biologischer Ursachen der ADHS sowie auf dem angeblich vorherrschenden Dopaminmangel.
Da die Kernsymptome von ADHS als eine Hirnstoffwechselstörung im Sinne des medizinisch-biologischen Ansatzes erklärt werden, liegt die Indikation von Psychostimulanzien nahe. Damit ergibt sich folgendes System: Biologisierung der Verhaltensweise, das für krank erklärte Kind und Berechtigung eines auf die Veränderung der angeblich gestörten Organfunktion abzielenden therapeutischen Vorgehens (Amft 2006: 71). Durch diese Perspektive wird im Kind nicht viel mehr gesehen als die Hyperaktivitätsstörung. Alternative Theorien zur Entwicklung des Kindes werden damit, wenn überhaupt, nur marginal berücksichtigt, und die übliche Vorgehensweise bei der Diagnosestellung übersieht wichtige Teile der psychischen, mentalen und körperlichen Existenz des Kindes (Streeck-Fischer 2006: 80)
Haubl (2007: 64) ist der Ansicht, dass hier eine ,Medizinalisierung‘ und ,Medikalisierung‘ sozialer und gesellschaftlicher Probleme besteht. Weiterhin sieht Amft (2006: 73) im biologischen Ansatz einen wissenschaftlichen Anstoß der veränderten Praxis im Verhältnis zum unerwünschten Verhalten des Kindes. Somit bestehe die Auffassung, dass der „Normalzustand“ eines hyperaktiven Kindes mit Hilfe von Psychopharmaka hergestellt werden könne. Das bedeute, dass der Verzicht auf Stimulanzien den Kindern die Normalität verweigere. Damit werde als Normalzustand dieser Kinder der Zustand unter Drogeneinfluss beschrieben, während der natürliche Zustand - ohne Psychodroge - als unnormal angesehen würde (a.a.O.).
Das biomedizinische Modell berücksichtigt keine Kontextfaktoren wie den Einfluss von sozialer Benachteiligung, Bildungssystemen, traumatischen Erfahrungen oder der Eltern-Kind-Beziehung. Psychosoziale Einflussfaktoren haben kaum einen Stellenwert in dieser Thematik. Die neurobiologische Sichtweise supprimiert die oft als problematischen dargestellten psychosozialen Lebenshintergründe der Kinder; hierbei geht es um eine diagnostische Blickreduzierung (Mattner 2006: 55). Konsequenterweise kommt somit die Präventionsmöglichkeit nicht in Frage. Berufsfelder aus dem Bereich der Pädagogik bleiben außerhalb des Blickwinkels, obwohl Verhaltensprobleme sehr oft in pädagogischen Institutionen beobachtet werden (Becker 2007: 187).
Abschließend sei durch ein Resümee des französischen Forschers Frangois Gonon (2009) die Thematik nochmal kritisch zusammengefasst:
Psychostimulanzien erhöhen das extrazelluläre Dopamin, wobei zahlreiche Überblicksstudien behaupten, sie würden dadurch einen genetisch bedingten Dopaminmangel ausgleichen. Diese sog. Dopaminmangel-Theorie basiert aber auf einer zu stark vereinfachenden Dopamin-Belohnungstheorie. Ich stelle die Richtigkeit dieser Theorie für ADHS in Frage und betone die Schwäche der bisherigen neurochemischen, genetischen, neuropharmakologischen und bildgebenden Befunde, die diese Theorie belegen sollen. Als Resultat stelle ich heraus, dass man diese Theorie nicht mehr in den Vordergrund einer Behandlungsbegründung von ADHS mit Psychostimulanzien rücken sollte (Gonon 2009, zit. nach Schmidt 2010: 48).
Ebenso bestehen keine biologischen Marker für ADHS; dies bringt auch die Unsicherheit mit sich, was die Diagnosestellung bestimmt.
5.2 Zur Rolle psychosozialer Bedingungen als ADHS-Ursache
Unter ungünstigen psychosozialen Bedingungen werden in diesem Kontext negative äußere Einflüsse aus dem nahen sozialen Umfeld verstanden. Als psychosoziale Risikofaktoren kommen insbesondere frühkindliche Vernachlässigung (Deprivation) und Verwahrlosung innerhalb einer institutionellen Erziehungseinrichtung oder Missverhältnisse in der Familie in Frage, wie auch Armut oder widrige Wohnumstände (Sauerbrey & Winkler 2011: 113).
Die Bindungstheorie spielt eine bedeutende Rolle. Fonagy (2009: 39) akzentuiert gemäß dieser Theorie den prägenden Einfluss von Beziehungen auf die psychische Strukturbildung in der frühen Kindheit, die als Effekt der Bindung an eine bestimmte Person zentral für die Sozialisierung seien. Dies stützt sich auch psychoanalytisch auf die Objektbeziehungstheorie, die sich mit der Entwicklungsaufgabe befasst. Diese Theorie bezieht sich auf die multidimensionale Beziehung zwischen Trennung und Objektsuche bei Mutter und Säugling. (Auf die Wichtigkeit der Bindungstheorie wird in diesem Kontext in Punkt 6.1 detaillierter eingegangen.)
Zusätzlich könnten bei der Entstehung der ADHS „unvollständige Familien, d. h. Aufwachsen mit einem alleinerziehenden Elternteil oder ohne Eltern“, psychische Störungen der Eltern, insbesondere eine „antisoziale Persönlichkeitsstörung des Vaters“, familiärer Streit oder die Scheidung der Eltern, Gewaltanwendungen oder Missbrauch und damit einhergehende (traumatische) Belastungen des Kindes, ein inkonsistentes Erziehungsverhalten, häufige Bestrafungen, dafür aber kaum Belohnungen, ungeordnete Tagesabläufe, eine verminderte Intelligenz des Kindes oder spezielle Persönlichkeits- und Temperamentseigenschaften von Bedeutung sein, wenngleich konkrete Studien zu diesen Sachverhalten in der Fachliteratur nur selten direkt genannt werden (Sauerbrey & Winkler 2011: 113).
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