Sucht und Familie


Facharbeit (Schule), 2002

16 Seiten, Note: 15 Punkte


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Allgemeines zur Sucht
1.1 Definition: Sucht - Missbrauch und Abhängigkeit
1.2 Legale, illegale Suchtmittel und süchtiges Verhalten
1.2.1 Legale Suchtmittel
1.2.2 Illegale Suchtmittel
1.2.3 Süchtiges Verhalten
1.3 Schädigung durch Suchtmittel
1.4 Wichtige Einflußfaktoren auf die Suchtentwicklung
1.4.1 Einfluß der Gesamtgesellschaft
1.4.2 Einfluß der ‘Peers’
1.4.3 Einfluß der Familie

2 Familie - Sucht
2.1 Stellung der Familie für den Suchtkranken
2.2 Kinder von Suchtkranken
2.3 Wenn die Kinder zu Drogen greifen
2.3.1 Ursachen für Sucht bei Kindern
2.3.2 Elternängste
2.3.3 Suchtvorbeugung als Elternaufgabe
2.4 Das Mobile - Sucht ist nie ein Einzelschicksal
2.5 Co- Abhängigkeit
2.5.1 Begriff der Co-Abhängigkeit
2.5.2 Die Drei Phasen der Co-Abhängigkeit

3 Suchtspezifische Therapiemöglichkeiten
3.1 Was tun bei Suchtgefährdung?
3.2 Beratung und Hilfe
3.3 Behandlungsmöglichkeiten

4 Zusammenfassung

Anhang

Literaturverzeichnis

1 Allgemeines zur Sucht

1.1 Definition: Sucht - Missbrauch und Abhängigkeit

Missbrauch ist im Allgemeinen der Gebrauch einer Sache in einer Weise, die in quantitativer sowie qualitativer Hinsicht von ihrem üblichen Gebrauch oder Zweck abweicht. Man versteht darunter im Wesentlichen eine Fehleinnahme (z. B. Alkoholmissbrauch) oder aber auch ein Fehlverhalten (z. B. sexueller Missbrauch). Der Gebrauch von psychotropen Substanzen wird dann als Missbrauch bezeichnet, wenn er ohne medizinische Indikation erfolgt. Unter stoffgebundenem Missbrauch versteht man einen Konsum, der zu psychischen, körperlichen und sozialen Schäden führt, aber auch der stoffungebundene Missbrauch (Spielsucht, Eßstörungen etc.) kann teilweise dazu führen.

Der Missbrauch ist immer der Einstieg in die Abhängigkeit: sei es nun von einem Stoff oder von einem Verhalten, welcher bzw. welches ein Abhängigkeitspotential aufweist. Generell wird zwischen körperlicher und psychischer Abhängigkeit unterschieden.

Die körperliche Abhängigkeit richtet sich nach dem jeweiligen Suchtmittel. Entzugssymtome treten stets dann auf, wenn das Suchtmittel abgesetzt wird. Bei den meisten Suchtmitteln können sie relativ schnell überwunden werden: so wie sich der Körper an den Stoff gewöhnt, kann er auch wieder entwöhnt werden. Mehr Probleme macht die dem Suchtverhalten zugrunde liegende psychische Abhängigkeit. Sie liegt vor, wenn ein unbezwingbares Verlangen danach besteht, einen Stoff ständig bzw. wiederholt einzunehmen: sei es als Ersatzbefriedigung für unerfüllte Bedürfnisse, sei es als Ausgleich für mangelndes Selbstvertrauen oder um sich unangenehmen Situationen und Gefühlen zu entziehen. Psychische Abhängigkeit ist bei allen Formen von Suchtverhalten gegeben.

1.2 Legale, illegale Suchtmittel und süchtige Verhalten

1.2.1 Legale Suchtmittel

Zu den legalen Suchtmitteln gehören Alkohol, Nikotin und Medikamente (Schlaf-, Beruhigungs-, Schmerz-, Aufputschmittel und Stimulansien). Alkohol und Nikotin sind dabei die beiden in unserer Gesellschaft am weitest verbreiteten Suchtgifte. Sie werden als „Genußmittel“ bezeichnet, obwohl längst erwiesen ist, dass die Bilanz ihres Konsums negativ ist. Es gibt weit mehr Todesfälle infolge unmäßigen Alkoholkonsums und infolge des Rauchens als durch die sogenannten „Drogen“. Die Zahl der Alkoholtoten in Deutschland liegt bei 40.000 jährlich. Ebenso ist nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation das Rauchen weltweit für den vorzeitigen Tod von ca. 3 Millionen Menschen im Jahr verantwortlich.1 Kaffee bzw. Koffein, Anabolika und Schnüffelstoffe sind auch legal erhältliche Suchtmittel, welche aber nur einen sehr kleinen Raum in den unterschiedlichen Suchtformen einnehmen.

1.2.2 Illegale Suchtmittel

Illegale Suchtmittel sind Aufputschmittel (Kokain, Amphetamine), Hallozinogene (Cannabis, LSD) und Opiate (Opium, Methadon, Heroin, Morphium): Besitz, Gebrauch, Anbau und Handel dieser Drogen sind strafbar (außer von den Drogen, die unter gesetzlichen Auflagen als Arzneimittel eingesetzt werden, jedoch rezeptpflichtig sind). Nach dem Betäubungsmittelgesetz (BtMG) muss jemand, der gegen diese Bestimmungen verstößt, mit beträchtlichen Geldstrafen und in schweren Fällen mit einer Freiheitsstrafe rechnen.

Von illegalen Suchtmitteln werden Opium, Morphium und Heroin als “harte“, Haschisch, Marihuana, LSD und Kokain als “weiche“ Suchtgifte bezeichnet. Die “harten“ Drogen führen zu schnellerer psychischer und körperlicher Abhängigkeit.

Von 1986 bis 1997 hat sich die Zahl der erstauffälligen Konsumenten “harter“ Drogen verfünffacht.2 Die meisten Rauschgifte sind teuer. Durch den steigenden Gebrauch sind bald die eigenen Geldquellen aufgebraucht und es müssen Neue ”erschlossen“ werden: Die Konsumenten leihen sich Geld, verkaufen ihre Wertsachen oder bestehlen ihre Familie, Freunde, Arbeitskollegen. Der oft folgende Bruch mit dem Elternhaus, dem Freundeskreis oder der Verlust des Arbeitsplatzes kann das Abgleiten in die Kriminalität (Diebstahl, Einbrüche, Prostitution...) beschleunigen.

1.2.3 Süchtiges Verhalten

Von süchtigem Verhalten spricht man, wenn Menschen triebhaft immer dieselbe Verhaltensweise wiederholen, weil sie ihre einmal erlebte „Befriedigung“ erneut erleben möchten. Dabei ist es gleichgültig, ob es sich bei der gesuchten „Befriedung“ um die Wirkung einer Droge oder um andere Erlebnisse handelt. In diesem Sinne können auch bestimmte nicht-stoffgebundene Verhaltensweisen „süchtig entarten“. Sicher ist, dass es bei einen großen Teil der Personen, die an Spielsucht oder an einer Eßstörung (Bulimie, Fettsucht oder Magersucht) leiden, zu einem süchtigen Verhalten kommt.

Kaum exakt beschrieben sind Verhalten wie Arbeitssucht, Managersucht, Machtsucht, Sexsucht, Fernsehsucht, Computerspielsucht oder auch Sportsucht. Bei diesen wird treffender von zwanghaftem Verhalten gesprochen.

Nicht mehr anders zu können (Wiederholungszwang) und nicht mehr aufhören zu können (Kontrollverlust), Interessenverlust, Leugnen oder Bagatellisieren dieses Zustandes und zugleich der Wunsch, ihn zu überwinden, sind ebenso die zentralen Merkmale der nicht-stoffgebundenen Abhängigkeit wie auch der stoffgebundenen Abhängigkeit.

1.3 Schädigung durch Suchtmittel

Die jeweilige Schädigung durch ein Suchtmittel hängt von verschiedenen Faktoren ab: Die Art der Substanz, die Einnahmemethode, die Dauer und die Menge sind von entscheidender Bedeutung. Einen Einfluß haben auch die persönlichen Voraussetzungen des Süchtigen und sein soziales Umfeld. Jede Sucht bringt Wesensveränderungen mit sich, insbesondere der Emotionsverlust zeigt dies auf. Unter Einwirkung von “harten” Drogen kommt es oft zu Halluzinationen, Wahnvorstellungen und sogenannten Horrortrips, wobei sich die Süchtigen im Wahn jedoch auch selbst umbringen können. Die Suizidgefährung besteht auch bei allen anderen Süchten. Die Aggressionsschwelle wird bei vielen Suchtmitteln, vor allem aber bei Alkohol, herabgesetzt. Bei Drogen kann es oft (extreme) Stimmungsschwankungen geben, wobei der Wechsel von Euphorie in Depression vorrangig zu beobachten ist.

Wie die persönlichen sind auch die körperlichen Schädigungen suchtmittelspezifisch. Beim Fixen kann es zum einen zu einer Venenthrombose kommen. Zum anderen ist die Gefahr, sich (z.B. durch bereits von anderen genutztem Besteck) mit dem HiV-Virus oder Hepatitis zu infizieren, sehr hoch.

Alkohol greift primär die Leber und die Bauchspeicheldrüse an. Alle Suchtmittel wirken auf das zentrale Nervensystem und können Herz-Kreislauf-Störungen verursachen.

Soziale Schäden entstehen durch den Bruch mit der Familie, Freunden oder Arbeitskollegen, weil diese z. B. wiederholt seitens des Süchtigen bestohlen oder belogen wurden. Bei den Drogenabhängigen kann man hierbei oft das sogenannte broken-home-Situation beobachten. Der Verlust des Arbeitsplatzes verdeutlicht einen weiteren Schritt in den sozialen Abstieg. Durch wachsende Verarmung kommt es immer mehr zum Rückzug und zur Isolation des Süchtigen.

1.4 Wichtige Einflußfaktoren auf die Suchtentwicklung

1.4.1 Einfluss der Gesamtgesellschaft

Die Frage, ob ein Suchtmittel in der jeweiligen Gesellschaft integriert ist oder nicht, d.h. ob es legal oder illegal ist, spielt bereits für die „Wahl“ des Suchtmittels eine große Rolle. Dies wird besonders an dem folgenden Beispiel deutlich: Unter männlichen Jugendlichen steigt das Sozialprestige geradezu mit der Alkoholtoleranz. „Der Zwiespalt, die Schizoidie unserer Gesellschaft zeigt sich unmittelbar, wenn ein [Fussball-]Spiel von einem Bierproduzenten gesponsert wird, dessen Werbung an der Bande abwechselt mit dem »Keine-Macht-den-Drogen«-Logo - und die Kameras schwenken immer wieder auf Plakate origineller Fans mit der Aufschrift »Weizen(bier)killer Bolheim« oder »Kampftrinker Karlsruhe« ...“3

Für die Herausbildung von abweichenden psychischen Verhaltensweisen ist auch die Schichtzugehörigkeit von Bedeutung. Die Situation sozialer Ausweglosigkeit, in der sich oft Angehörige der Unterschicht befinden, ist seltener bei denen der Ober- und Mittelschicht anzutreffen. Diesbezüglich wird vermutet, dass auch das “Abrutschrisiko” bei den Angehörigen der Ober- und Mittelschicht geringer sei. „Diese Selbstkontrolle [welche sich durch die stärker ausgeprägten mittelständischen Wertvorstellungen und Moralbegriffe definiert] bezieht sich jedoch speziell auf den süchtigen Konsum von Heroin, ob die ‘stärkere Selbstkontrolle’ in dieser Schicht auch vor anderen süchtigen Verhaltensweisen schützt, bleibt zumindest fraglich.“4

Die Sozialisation eines Individuums und der Gruppe, der es angehört, stellt sich unter die Einflußnahme der Gesellschaft. Doch es besteht die Möglichkeit einer fehlerhaften Sozialisation, welche das Individuum bzw. die Gruppe auf den Weg in die Sucht leiten kann.

1.4.2 Einfluss der ‘Peers’

Die Gruppe der Gleichaltrigen - die “peer-group” - stellt für das eigene Verhalten einen weiteren Bezugsrahmen dar. Gerade der Konsum von illegalen Suchtmitteln (Drogen) erfolgt in diesen Gruppen und selten isoliert. D. h. aber auch, dass solche Handlungen u. U. von diesem Kollektiv anders bewertet werden als von anderen Gruppen, z.B. von der Familie. Da speziell Jugendliche mit Nikotin- und Alkoholkonsum Erwachsensein demonstrieren wollen, ist erkennbar, dass der Beginn des Konsums von Suchtmitteln, vor allem von Drogen, weitaus eher den gruppenspezifischen und gruppennormativen Verpflichtungen unterliegt, als anderen Optionen. Der Kontakt zu anderen Drogenbenutzern ist als eine wesentliche Verstärkung für den Einstieg in den Drogenkonsum zu betrachten. „Jugendliche, die stark in ein drogenkonsumierendes Netzwerk Gleichaltriger eingebunden sind und die ihre Unterstützung vor allem von dort erfahren, weil sie weniger elterliche Unterstützung haben, gelten als drogengefährdet.“5

1.4.3 Einfluss der Familie

In der Familie wirken verschiedene Faktoren auf die Kinder ein: Erziehungsstil(e), sozioökonomischer Status der Familie, Verhältnis zwischen den Geschwistern etc.. Dabei ist besonderes das „Lernen am Modell“ wichtig, da das gelebte Modell viel effektiver ist, als die Vorgabe irgendwelcher Erziehungsziele.

Die Herausbildung von Sucht- und Missbrauchsverhalten kann durch drei unterschiedliche Erziehungsstile begünstigt werden:

Der autoritäre Stil ist gekennzeichnet durch die Fixierung auf starre Rollenverteilungen, was zur Folge hat, dass das Individuum unfähig ist zur Modifikation von verschiedene Rollenerwartungen. Geringste Abweichungen werden bestraft. So greift das Kind zu einem Betäubungsmittel, meist Alkohol, weil dieser sozial am stärksten gebilligt wird. Das Mittel gibt ihm vorübergehend die Fiktion über verschiedene Verhaltensmöglichkeiten innerhalb seiner Rolle und es stärkt sein Selbstwertgefühl zeitweise bis die Wirkung nachlässt.

Bei einem überfürsorglichen Erziehungsstil ist der Sozialisierte oft nicht in der Lage, sich gegen Einflüsse von außen zu wehren und ist aufgrund des mangelhaft entwickelten Selbstbewußtseins leicht beeinflußbar. Dieser Stil steht nur scheinbar im Gegensatz zur autoritär-strengen Erziehung, denn beide bewirken Charakterdeformierungen des Individuums.

Der Stil der Verwahrlosung bzw. Vernachlässigung wird oft mit dem der Verwöhnung verknüpft. Die entstandene Luxusverwahrlosung ist die Erziehung, die vielbeschäftigte Eltern anwenden, um ihre Kinder von ihrem Fehlen abzulenken. Dies geschieht oft durch die Befriedigung möglichst aller Wünsche des Kindes und dem ermöglichten klagefreien Leben.

In Bezug auf die Erziehungsstile ist zu sagen, dass tendenziell bei älteren Patienten in ihrer Vorgeschichte häufiger der autoritär-unterdrückende Stil, bei Jüngeren oft die sogenannte Luxusverwahrlosung zu beobachten ist.

Die Vorbildstellung der Eltern ist, wie man sieht, hierbei von entscheidender Wirkung.

2 Familie - Sucht

2.1 Stellung der Familie für den Suchtkranken

Die Familie hat für den Suchtkranken einen großen Stellenwert. Sie ist Bezugspunkt, um seine Gefühlshochs und -tiefs aufzufangen. Dabei schränkt der Süchtige die Flexibilität seines Bezugssystems ein. Dies geht oft einher mit der Co-Abhängigkeit einzelner Familienmitglieder.

2.2 Kinder von Suchtkranken

Die Suchtkrankheit eines Menschen betrifft und prägt auch die Angehörigen. Bei dieser Prägung sind die Kinder von Suchtkranken immer noch die „stillen Leidtragenden“. Das Bewußtsein über die Problematik der Mit-Betroffenheit ihrer Kinder fehlt weitgehend bei den suchtkranken Eltern. Bestimmte Symptome und Merkmale in der Persönlichkeit charakterisieren jene Betroffenheit dadurch, dass die Kinder vor allem in emotionalen und sozialen Bereichen Schwierigkeiten haben. Der Wechsel zwischen Zuneigung und Angst, Misstrauen und Vertrauen, Zweifel und Abhängigkeit zeichnet hierbei die Eltern-Kind-Beziehung aus.

Die primäre Sozialisation ist wichtig und entscheidend für die Persönlichkeitsentwicklung der Kinder. Darauf wird immer wieder von sämtlichen Bereichen der Medizin und Pädagogik hingewiesen, denn gerade die Kinder von Suchtkranken werden in ein bereits gestörtes Familiensystem hineingeboren bzw. sie wachsen dort auf und bekommen während ihrer Sozialisation die Realität der Abhängigkeitserkrankung von Vater, Mutter oder beiden mit. Dieses Familiensystem nennt man auch „Broken-home-Milieu“. Kinder sind der familiären Situation hilflos ausgeliefert. So können Kinder in den verschiedensten Persönlichkeits- und Entwicklungsbereichen in sehr unterschiedlichem Ausmaß geschädigt werden/sein.

Die Sucht muss ein Familiengeheimnis bleiben -- koste es, was es wolle! In der Schule heißt das für die Kinder, dass sie die Familiensituation vertuschen müssen und das spontane Mitbringen von Schulkameraden ist verboten. Geheimhaltung ist das oberste Gebot, durch welches ihr Schamgefühl verstärkt wird, das sie immer mehr in ihre soziale Isolation führt. Unterdessen leben sie in Dauerspannung, da sie nie wissen, was sie zu Hause erwartet.

Diesen Kindern fehlt somit eine Kompensationsmöglichkeit für die Belastung zu Hause, Erfahrungsaustausch mit Gleichaltrigen, Erwerb sozialer Kompetenz, Selbstachtung durch den Kontakt mit anderen, Entlastung durch „Ausheulen“ und Orientierung an Modellen/Personen, die weniger defizitär sind als ihre Eltern.

Je jünger ein Kind in der Zeit der akuten Suchtphase ist, desto gravierender werden die Entwicklungsstörungen sein. Bei den (heute) erwachsenen Kindern sind die Folgen der Erlebnisse und Erfahrungen, die sie in ihrer Kindheit machen mussten, sicht- und spürbar. Die Suizidrate ist extrem hoch in solchen Familien. 80% der Teenagermorde finden hier statt. Viele Phobiker oder Suchtkranke kommen aus diesen Familien. Die meisten Menschen mit Anorexie (Magersucht) und Bulimie (Eß- und Brechsucht) sind Kinder oder Enkel von Suchtkranken.6

Doch ein ausreichendes Hilfsangebot für diese Kinder ist längst noch nicht vorhanden. Diese Tatsache ist erschreckend, wenn man bedenkt, dass es sich immerhin um eine Größenordnung von 3 bis 4 Millionen (1993)7 betroffener Kinder und Jugendlicher handelt, die heute noch weitgehend allein gelassen werden mit ihren Erlebnissen und Erfahrungen.

2.3 Wenn die Kinder zu Drogen greifen

2.3.1 Ursachen für Sucht bei Kindern

Der Entwicklung einer Sucht geht ein komplexes Geflecht von Ursachen voraus. Diese können in der Persönlichkeit des Betroffenen, seinem sozialen Umfeld und/oder der Anziehungskraft/Verfügbarkeit des Suchtmittels liegen. Das Zusammenwirken dieser Faktoren wird im sogenannten Suchtdreieck (Anhang I, II) deutlich.

Ursachen auf der Persönlichkeitsseite sind z.B., dass Kinder nicht gelernt haben, mit Konflikten umzugehen, diese „durchzustehen“ und Enttäuschungen zu ertragen. Auswirkungen können auch ein geringes Selbstwertgefühl, die Furcht zu versagen oder die Angst, in der Gruppe nicht akzeptiert zu werden, haben. Aber ebenso können die Ursachen bei Kindern Langeweile, Wut, Angst, Einsamkeit etc. sein.

Liebe und Zuwendung sind ebenso (über)lebenswichtige Grundbedürfnisse für Kinder wie Essen und Trinken. Bleiben diese Bedürfnisse unbefriedigt, versucht das Kind, sich auf andere Weise Ersatz zu verschaffen. Typische Beispiele für solche „Ersatzhandlungen“ sind Nägelkauen, Daumenlutschen, im Übermaß essen. Es versucht sich selbst Wohlbefinden zu schaffen oder es ist der Weg, die fehlende Aufmerksamkeit anderer für sich zu erzwingen. Diese Ersatzbefriedigungen sind sozusagen der Ausgleich für Verständnis und Zuwendung, aber dennoch kein Ersatz.

In dem vielschichtigen Ursachenbündel sind Teile, z. B. das Umfeld, in dem Kinder leben, nicht oder nur in geringem Maße von den Eltern beeinflußbar: ungünstige Wohnbedingungen in kinderfeindlichen Wohngebieten, langfristige Arbeitslosigkeit der Eltern oder andere nachteilige Bedingungen. Kinder spüren den Druck, der auf den Eltern lastet, können ihn aber nicht einordnen und werden unsicher.

Einschneidende Ereignisse und Situationen stellen Kinder manchmal unerwartet vor große Probleme, z. B. der Verlust eines Elternteils durch einen Unfall, eine schwere Krankheit oder Tod eines Geschwisterteils. Bei Kindern besteht die Gefahr, dass sie das Geschehen nicht oder nur unzureichend verarbeiten. Die wirkliche Tragweite dieser Belastung macht sich oft erst sehr viel später bemerkbar. Genauso schwer wird die Scheidung der Eltern verkraftet. Für die betroffenen Kinder bricht eine Welt zusammen, es gehen Ideale verloren und Hoffnungen in die Brüche. Manchmal werden die Kinder zu „Kampfgenossen“ oder „Schiedsrichtern“ gemacht oder es entsteht bei ihnen sogar das Gefühl, die Schuld an dem Zerwürfnis zu tragen.

Kinder lernen, indem sie ihre „großen Vorbilder“ beobachten und nachahmen - man muss sich Schwierigkeiten nicht unbedingt stellen. Zu solchen Verhaltensweisen gehören z. B. das Einnehmen einer Pille, eines Saftes oder eines Zäpfchens sobald etwas schmerzt, das Einschalten des Fernsehers, um abzuschalten, der „Genuß“ von Nikotin (Zigaretten...) und Alkohol (Bier...) zum Streßabbau.

Mit zunehmendem Alter des Kindes wachsen die Einflüsse von außen, aus der Clique, dem Freundeskreis, der Schulklasse oder durch die Medien, wie Zeitschriften, Fernsehen, Internet etc., Idole und andere Vorbilder und sie orientieren sich an diesen. Der Gruppendruck spielt hierbei eine ausschlaggebende Rolle, schließlich denkt der Großteil von Kindern und Jugendlichen: „Alle tun es, warum soll ich mich ausschließen...?!“.

2.3.2 Elternängste

Die Befürchtungen der Eltern fokusieren sich insbesondere darauf, dass ihre Kinder mit illegalen Suchtmitteln (Drogen) in Kontakt kommen, jemand sie dazu verführen oder gar zwingen könnte. Gerade die Eltern von Jugendlichen im Alter von 14 und 18 Jahren haben diese Angst, welche auch verständlich ist, da Jugendliche dem Schutz und der Kontrolle des Elternhauses mehr und mehr entwachsen bzw. entfliehen. Doch die Eltern müssen nun akzeptieren, dass Jugendliche Ziele und Vorstellungen entwickeln, die zunehmend von anderen - z. B. dem Freundeskreis - geprägt werden. Diese Phase schafft viele Probleme für Eltern und Kinder.

Eltern bringen Sucht oft nur mit dem Gebrauch illegaler Suchtmittel wie Haschisch, Heroin oder Kokain in Verbindung. Aber auch andere Suchtmittel wie Alkohol, Medikamente, Schnüffelstoffe oder Tabak/Nikotin können Menschen ebenfalls schwer schädigen. In diesem Zusammenhang ist erwähnenswert, dass dem ersten Konsum illegaler Suchtmittel in der Regel ein Gebrauch von „Alltagsdrogen“ vorausgeht. Hierbei sollte die Tatsache, dass 1991 40.000 Menschen an den Folgen von Alkoholkonsum und 90.000 an den Folgen des Rauchens gestorben sind8, nachdenklich machen. Statistisch gesehen ist die Gefahr, dass ihr Kind einmal Alkoholiker wird, um ein Vielfaches höher, als dass es von Drogen abhängig wird.

Die Entwicklung der vergangenen Jahre ist eindeutig: Jugendliche sehen Suchtmittel, ob legal oder illegal, kritischer. Statistisch belegt ist, dass die Zahl derer, die regelmäßig mindestens einmal pro Woche Alkohol trinken, gesunken ist. Auch die Menge derer, welche noch nie geraucht haben, d. h. probiert ja, aber nicht richtig angefangen, liegt bei fast einem Drittel aller Jugendlichen. Erfreulich in diesem Zusammenhang ist die konstant gebliebene Zahl dieser Personen.9

2.3.3 Suchtvorbeugung als Elternaufgabe

Suchtvorbeugung bedeutet für Eltern vor allem, ihrem heranwachsenden Kind beizubringen, mit Problemen und Schwierigkeiten umgehen zu lernen. Dadurch braucht es keine scheinbar besseren Erlebnisse, wie z.B. durch Suchtmittel. Gerade in der Zeit, wo aus den „lieben Kleinen“ plötzlich ganz und gar nicht pflegeleichte Sprößlinge werden, die zudem auch noch oft verschlossen, schwierig und widerspenstig sind, erwarten „die anderen“ in der Familie, der Schule, der Clique, im Ausbildungsbetrieb von ihnen alles Mögliche und Unmögliche, oft Unterschiedliches, manchmal auch Gegensätzliches.

Man sollte seinem Kind immer zeigen, dass man als Eltern in allen Lebenssituationen zu ihm steht und es so akzeptiert, wie es ist. Kinder und Jugendliche wollen sich der Liebe und Zuwendung ihrer Eltern und der ihnen nahestehenden Erwachsenen sicher sein.

Kinder brauchen Anerkennung und Bestätigung, d. h. Erwachsene sollten nicht nur die Leistungen loben. Die Grunderfahrung, dass viel von ihnen gehalten, ihnen etwas zugetraut wird und dass sie ohne irgendwelche Vorbehalte anerkannt werden, ist wichtig.

Die Realität begreifen und Erfolgserlebnisse zu sammeln gelingt Heranwachsenden nur in Freiräumen. Die Anwendung der eigenen Kräfte und Fähigkeiten stärkt das Selbstvertrauen, neue Aufgaben selbstständig anzugehen. Gelegentliche Misserfolge werden somit weniger als Entmutigung, sondern als Ansporn erlebt, es noch mal und vielleicht anders zu versuchen. Jugendliche müssen das allerdings „üben“ - wie sie als Kinder laufen gelernt haben. Auf diese Weise werden sie nicht von Aufgaben überfordert, die ihnen abverlangt werden.

Eltern können hierzu beitragen. Dies beginnt bei ganz alltäglichen Dingen. Ein 16-jähriges Mädchen kann selbst zum Einwohnermeldeamt gehen und einen Personalausweis beantragen. Der Vater muss ihm das nicht abnehmen, weil „...das Kind sich doch bei Behörden so wenig auskennt...“ und er „...ohnehin in die Stadt wollte...“. Jugendliche, deren Aufgaben die Eltern für sie erledigt haben und denen alle Schwierigkeiten aus dem Weg geräumt wurden, sind auffällig häufig unter Drogenabhängigen vertreten. Sie empfinden Aufgaben und Belastungen oft als Zumutung, mit denen sie eigentlich gar nichts zu tun haben wollen. Sie haben nicht gelernt, eigenständig zu handeln.

Ebenso muss das Verhältnis zwischen Belastung und Entlastung stimmen. Die großen Belohnungen (der Gesellenbrief, das Abitur...), für die Jugendliche tagtäglich Anstrengungen auf sich nehmen, liegen oft in weiter Ferne. Für viele Belastungen sind zudem noch nicht einmal „Belohnungen“ in Sicht oder zu erwarten. Damit der lange Weg nicht in eine einzige Plage ausartet, braucht jeder, nicht nur Jugendliche, Entlastungen.

Wer sich selbst nicht auch mal etwas Gutes gönnt oder von anderen einmal „verwöhnt“ wird - auch ohne dass er dafür etwas leisten musste -, sieht das ganze Leben leicht als eine Aneinanderreihung von Stress und Langeweile. Suchtmittel stellen dann eine verführerische, aber trügerische Form der Entlastungen dar. Zur Fähigkeit, Belastungen zu meistern, gehört daher auch, sich Entlastungen verschaffen zu können - ohne die Flucht in die Scheinwelten von Suchtmitteln: Ein ausgiebiges Bad bei Kerzenschein, ein Spaziergang zum Abschalten, eine durchtanzte Nacht zum Abreagieren - und auch mal ein „Frustkauf“ ist kein Weltuntergang - und alle anderen Sachen, bei denen man sich entspannen, abreagieren und so richtig fallen lassen kann. Eine Entlastung kann auch in einer Bestätigung durch andere bestehen. Etwa dadurch, dass immer wieder kleine oder auch mal größere „Belohnungen“ und Entlastungen den langen Weg unterbrechen oder sogar scheinbar erleichtern: ein Lob für die Klassenarbeit, die diesmal gut oder besser als die Letzte ausfiel, das Lieblingsessen, die Erlaubnis zur Fahrt mit der Clique...

Hingegen der Entlastungen müssen die Belastungen auch Sinn machen, d. h. aber auch, man darf das Kind nicht über-, aber auch nicht unterfordern. Sinnvolle Aktivitäten, die ohne Leistungsdruck unmittelbare Bestätigung bringen und direkt vom Kind ausgehen, können diese vor einer Suchtentwicklung schützen.

Genauso wichtig für die Persönlichkeitsentwicklung von Kindern und Jugendlichen sind Vorbilder. Eltern nehmen hierbei häufig eine prägende Rolle ein. Auch sie sind keine „Engel“ und Kinder dürfen das ruhig merken. Kinder unterscheiden früh, was Eltern sagen und wie sie sich in Wirklichkeit verhalten. Ehrlichkeit ist hierbei von besonderer Bedeutung.

Konflikte sind eine wichtige Form des Umgangs miteinander. Kinder erfahren hier die eigenen Grenzen und die der anderen. Gegensätzliche Interessen und Bedürfnisse werden ausgehandelt. Zu einer gelungenen Konfliktlösung gehört, dass die von anderen gesetzten Grenzen sinnvoll und nachvollziehbar sind. Grenzen setzen darf deshalb keine reine Machtdemonstration der Eltern sein. Kinder müssen lernen, Konflikte auszudiskutieren. Für dieses Ziel ist es wichtig, dass Kinder sich nicht von vornherein chancenlos fühlen, vor allem, wenn ihre Ansprüche einfach ignoriert werden, indem die angedrohten Konsequenzen auch bei nichtigen Anlässen so schlimm sind und ein Verstoß nicht zu verkraften wäre, oder weil von Konfliktthemen abgelenkt wird, so dass diese erst gar nicht durchdringen.

Die auch heute noch beliebte, wenn auch seltener ausgesprochene Ansicht: „Solange du deine Füße unter meinem Tisch stellst...“ läßt nur die Wahl, sich zu fügen oder die Familie zu verlassen und verbaut damit eine Lösung, in der sich Eltern wie Kinder noch wiederfinden. Wenn nur Ausstoßung oder Unterwerfung die Alternativen sind, liegt es nahe, dass Kinder oder Jugendliche Konflikten lieber ausweichen, als nach den Wegen zu suchen, um sie in ihrem Sinne zu lösen. Das Ausweichen kann mit Hilfe von Suchtmitteln geschehen oder durch Versuche, den Konflikt gewalttätig „zu lösen“. Der Konflikt muss somit für den Jugendlichen auch „verkraftbar“ sein.

Zu merken, dass man als Kind respektiert wird, verstärkt die Wertschätzung der eigenen Person. Kinder, die das spüren, verkraften auch einen ordentlichen Krach ohne „bleibenden Schaden“ - selbst wenn sie dann eine Zeit lang „sauer und bockig“ sein mögen.

Eltern können zur Entfaltung einer gepflegten „Streitkultur“ beitragen. Verbale Auseinandersetzungen sollten offen und fair geführt und nicht als verletzendes Mittel eingesetzt werden. Konfliktfähigkeit ist eine gesunde Form des Umgangs miteinander, um unterschiedliche Interessen und Standpunkte zu „verhandeln“. Konflikte und Konflikbewältigung sind notwendig, da sie mehr Klarheit schaffen, zu Entscheidungen führen und zu einem besseren Verständnis des andern verhelfen.

2.4 Das Mobile - Sucht ist nie ein Einzelschicksal

10 Ein ausgezeichnetes Bild für die Abhängigkeit ist das Mobile, welches früher in der Kunst und in Kinderzimmern sehr beliebt war. Zunächst werden wir in das Mobile unserer Ursprungsfamilie hineingeboren. Wir können dabei nicht beeinflussen, ob es eine intakte Familie ist, ob wir erwünscht sind, welchen Platz wir in der Geschwisterreihenfolge einnehmen...

Eines Tages bilden wir ein eigenes Mobile in Beziehung und Familie, wobei wir das Alte verlassen müssen und zusätzlich in Weitere eintreten, in denen wir unseren Platz suchen und finden müssen: im Beruf, im Verein, im Freundeskreis usw.

Die Vorgänge im Mobile spiegeln sich bis in die sprachlichen Wendungen hinein: Alle Mitglieder des Mobile hängen zusammen, hängen voneinander ab. Und es gibt verschiedene Ebenen, welche vielleicht unterschiedliche Ränge zeigen.

Durch seine ständige Bewegung gibt es immer wieder Veränderungen, mal Kleinere, mal ganz Große, Einschneidende. Wenn eine Person des Mobile sich bewegt oder verändert, müssen sich die anderen in irgendeiner Form mitbewegen. Durch die definierten Gewichte und Abstände herrscht das Prinzip des Gleichgewichts. Es gibt ein inneres bzw. äußeres Gleichgewicht, welches wir als ein tief liegendes biologisches Prinzip im gesellschaftlichen und persönlichen Rahmen bis hinein in das Mobile unserer Gefühle verwirklichen, so dass dort Gleichgewicht herrscht.

Am Beispiel der Alkoholabhängigkeit vermittelt: Ein Familienvater hat vermehrt Probleme mit sich, seinem Beruf, seiner Frau, seiner Lebenssituation insgesamt und trinkt verstärkt Alkohol. Er „schluckt seinen Frust ‘runter und spült kräftig mit dem Alkohol nach“. Ein Maßkrug veranschaulicht seinen Alkoholmissbrauch und wird als ein beträchtliches Gewicht dem Vater angehangen. Ihn „zieht es ’runter“, die Ehefrau wird nach oben geschleudert. Es existiert Aufregung und Durcheinander. Durch das gekippte Gleichgewicht muss sich ein Neues einstellen. Hierzu gibt es sehr verschiedene Möglichkeiten. Die erste Lösung, die Ehefrau trinkt mit. An „Gewicht“ zunehmen kann sie aber auch, wenn sie zu viel ißt, so schafft sie ein Ausgleich für das „Übergewicht“ des Mannes. Vielleicht übernimmt sie auch die Verantwortung des Mannes, da dieser zunehmend ausfällt. Aber auch die Isolierung des Suchtkranken kann den Ausgleich herstellen, d.h. die Restfamilie rückt näher zusammen. Die Kinder können durch übermäßiges Essen oder durch Probleme anderer Weise, wie Schulschwierigkeiten, Essstörung, vielleicht sogar Drogen- oder Alkoholmissbrauch, ebenfalls „zunehmen“. Die Familie fokusiert sich auf diese Schwierigkeiten und würde vom Problem Vater abgelenkt.

Eine Haschischzigarette eines Kindes löst oft mehr Aktion(ismus!) aus als jahrelanger Alkoholismus eines Erwachsenen.

Faktoren, die zur dramatischsten Veränderung, d. h. der Aufsprengung des Mobile, führen könnten, wären z.B. die Trennung der Partner und somit das Auseinanderbrechen der Familie oder der Tod eines Familienmitglieds. Weitere Kinder oder Außenbeziehungen der Partner greifen mehr oder minder in das Gleichgewicht des Mobiles ein.

Man versteht den sarkastischen Kinderspruch: „Drei Tage war mein Vater krank - jetzt säuft er wieder, Gott sei Dank!“ vielleicht besser, wenn man sich die Verhältnisse vorstellt, sobald man dem Vater buchstäblich den Maßkrug, den Alkohol, wegnimmt.

2.5 Co-Abhängigkeit

2.5.1 Begriff der Co-Abhängigkeit

Abhängigkeit hat nicht nur Schäden für die Süchtigen selbst zur Folge: Kinder, Lebenspartner/innen, Geschwister und Eltern werden psychisch und oft auch physisch stark belastet, gekränkt und in vielen Fällen auch krank. Diese Mit-Betroffenheit der Angehörigen durch die Sucht wurde in den vierziger Jahren in den USA von Frauen zum Ausdruck gebracht, deren Männer in der Selbsthilfegruppe der „Anonymen Alkoholiker“ einen Weg zur Abstinenz gefunden hatten: Sie hatten festgestellt, dass sie selbst auch ein Genesungsprogramm brauchten, und gründeten die ersten Al-Anon-Gruppen für Angehörige von Suchtkranken.

Der Begriff „Co-Abhängigkeit“ wurde erstmalig von Betroffenen wieder in den USA in den siebziger Jahren geprägt, ohne dass man den Urheber - vermutlich war es eine Frau - benennen könnte. Dieser Begriff ist wichtig, weil er das Phänomen „griffiger“ macht und das Undefinierte auf den Punkt bringt. Die Co-Abhängigen waren froh, dass ihr komplexes Leiden endlich einen Namen hatte, der sie gleichzeitig mit Millionen anderen Familienmitgliedern in aller Welt verband. Sie waren also keine „Verrückten“ mehr - so fühlten sie sich oft - , sondern Menschen, deren Leben auf „magische“ Weise von anderen und deren Suchtmittelmissbrauch bestimmt wurde.

2.5.2 Die drei Phasen der Co- Abhängigkeit

Anfangs versucht man Erklärungen und Entschuldigungen für das krankhafte Verhalten des Süchtigen zu finden. Deshalb wird diese Phase auch mit Beschützen und Erklären betitelt. Das Abschirmen, Verantwortung übernehmen und das Bewahren des Kranken vor den Konsequenzen seines Verhaltens sind Handlungsweisen, die typisch sind für diese Phase. Die Co-Abhängigen verstoßen hierbei gegen ihre eigenen Regeln, ihre eigene Ethik. Die Komplexhandlungen sind genauso wie die des Süchtigen, sein eigenes Suchtverhalten zu verbergen und/oder zu rechtfertigen. Die soziale Flexibilität nimmt unterdessen ab, d. h. die Regeln werden starrer. Charakteristisch hierfür ist der Verschluß nach außen, Meiden des Kontaktes mit dem Nachbar oder mit anderen Abteilungen am Arbeitsplatz. In dieser Phase fühlen sich alle irgendwie unwohl mit dem Geheimnis der Sucht im Background.

Die Kontrollphase stellt das zweite „Stadium“ dar. Im Umfeld kommt es zur Umschaltung auf Kontrolle, da man erkannt hat, dass das Beschützen und Erklären keine Hilfen sind, sondern im Gegenteil die Sucht zusätzlich fördern. Beim Alkoholiker werden z. B. Flaschen gesucht, bei Gefundenen wird der Inhalt ausgekippt, Bierverschlüsse gezählt, Schnaps- und Weinflaschen werden mit Strichen markiert. Diese Phase könnte man mit dem Märchen vom Hasen und Igel charakterisieren, denn der Süchtige findet immer wieder einen Trick, um an sein Suchtmittel heranzukommen und es zu deponieren. Für das soziale Umfeld trägt dieses „Spiel“ schlimme Züge in sich, die Angst, Ärger, Scham, Trauer und Wut hervorrufen. Infolgedessen wird der Süchtige unter Druck gesetzt oder ihm wird gedroht, und er reagiert natürlich dementsprechend darauf. Er merkt, wann die leeren Drohungen in Ernsthafte übergehen. Diesbezüglich demonstriert er, dass die Sache mit dem Suchtmittel „überhaupt kein Problem“ sei. Doch der Rückfall ist vorprogrammiert. Das Spiel geht eine ganze Weile so hin und her, vor allem beim Alkohol kann der Zeitraum mehrere Jahre betragen.

In der dritten Phase liegt der Schwerpunkt in der Anklage. Alle Bemühungen haben nichts genützt. Die Co-Abhängigen sind ausgelaugt und zunehmend aggressiv, vielleicht selbst inzwischen erkrankt. Zu recht muss man sich eingestehen, dass die Bilanz der falsch verstandenen Hilfe katastrophale Auswirkungen hat. Also kommt es zur Anklage: „Wir haben alles versucht, jetzt ist Schluß!“

3 Suchtspezifische Therapiemöglichkeiten

3.1 Was tun bei Suchtgefährdung?

Eindeutige Symptome für eine Suchtgefährdung gibt es leider nicht. Man sieht es dem Menschen nicht „an der Nasenspitze“ an. Es gibt allerdings Anzeichen, die Anlaß zu besonderer Aufmerksamkeit sein sollten, da sie auf tiefgreifende Probleme hindeuten. Passivität und Unselbstständigkeit, mangelndes Selbstvertrauen, fehlende Bereitschaft, Konflikte „durchzustehen“, eine geringe Fähigkeit, Probleme zu bewältigen, überzogene Leistungsanforderungen an sich selbst und Schwierigkeiten, Kontakt zu finden, sind derartige Signale. Diese Signale können aber auch auf andere problematische Entwicklungen hinweisen.

Bei einem sich festigenden Verdacht heißt die erste Regel: keine Panik! Panisch unbedachte Reaktionen können Möglichkeiten verschließen, um an den eventuell Betroffenen heranzukommen. Es ist wichtig, den Kontakt zu pflegen und sein Vertrauen zu gewinnen. In solch einer Situation die Ruhe zu bewahren ist sicherlich nicht leicht. Es hilft mitunter, wenn man mit anderen Bezugspersonen spricht. Dann erscheint oft vieles in einem anderen Licht, die Situation kann genauer und weniger emotional eingeschätzt werden. Eine andere Möglichkeit ist, das direkte Gespräch mit dem potentiell Betroffenen zu suchen. Dabei ist es sinnvoll, dieses nicht erzwingen zu wollen. Es reicht schon, wenn man eine Gesprächsbereitschaft zu verstehen gibt. Vielleicht kann auch ein Dritter (Verwandter, Freund, Lehrer, Chef, Arbeitscollege o. a.), der zur Zeit einen besseren „Draht“ zum Gefährdeten hat, ein Gespräch mit ihm führen.

In dieser Zeit sind Offenheit und Ehrlichkeit besonders wichtig. Man sollte seine Sorgen und seine Angst signalisieren und dabei nicht verschweigen, wenn man bereits mit anderen über das Problem gesprochen hat. Der normale Umgang mit dieser Problematik ist schwierig, aber es zu verharmlosen oder zu „dramatisieren“ macht es auch nicht besser, sondern meistens nur schlimmer, wenn auch auf zwei unterschiedlichen Wegen. Vor einem Gespräch sollte man über das Thema genauer informiert sein. Insbesondere Informationen über Sucht, Suchtmittel, aber auch über Hilfs- und Beratungsmöglichkeiten können von großer Hilfe sein.

Bei aller Sorge um den Betroffenen darf man nicht seine eigenen Interessen und Grenzen aus den Augen verlieren. Nur wer auf sich selbst achtet, kann die Kraft aufbringen, seinen Mitmenschen zu helfen.

3.2 Beratung und Hilfe

Süchtige brauchen qualifizierte Hilfe. Wer den Verdacht hegt, dass einer seiner Bekannten Suchtmittel nimmt bzw. süchtig ist, sollte sich an eine Beratungsstelle wenden. Auf diese Weise kann man herausfinden, ob der Verdacht begründet ist. Bei einer Bestätigung ist es nicht ratsam, demjenigen eigenmächtig das Suchtmittel „abgewöhnen“ zu wollen. Solche Versuche scheitern fast immer.

Es müssen Brücken gebaut werden, die dem Süchtigen Wege zeigen, wie die ersten Schritte aus der Abhängigkeit getan werden können. Das Leugnen der Sucht durch den Abhängigen stellt dabei eine große Hürde dar. Durch diese Abwehr ist die Chance auf eine erfolgreiche Behandlung erst gar nicht gegeben. Es bleibt dem Helfenden deshalb nur die Möglichkeit, seine Hilfe weiter anzubieten, aber nicht dem Betroffenen das Leid und die Schwierigkeiten, die mit dieser Lebensweise verbunden sind, abzunehmen. Bedingungslose Liebe und Zuwendung sind hierbei unpassend, denn statt „Ich bin immer für dich da“, muss es jetzt heißen: „Ich bin für dich da, wenn du dich von deiner Sucht befreien willst.“ Doch dies erfordert viel Kraft von allen Beteiligten, da der Abhängige dieses Angebot nicht immer sofort annehmen wird. Aus diesem Grund sollten sich die Angehörigen selbst emotionale Unterstützung und fachliche Beratung bei Helfern oder betroffenen Eltern holen, welche Erfahrungen mit Suchtkranken haben. Suchtberatungsstellen, Selbsthilfegruppen und Gesprächskreise sind ebenfalls kompetente Ansprechpartner (Anhang III).

Fast jede Stadt verfügt über solch eine oder mehrere professionelle Beratungsstellen für Menschen mit Suchtproblemen. Dort arbeiten ausgebildete und erfahrene Beraterinnen und Berater: Psychologen, Sozialarbeiter, Ärzte. Sie helfen dem Ratsuchenden dabei, sich über seine Situation klar zu werden. Durch den Schritt zu einer Beratung hat der Suchtkranke gute Chancen zu lernen, ohne Suchtmittel zu leben. Dabei muss ausdrücklich gesagt werden, dass nach jahrelanger Gewöhnung an das Suchtmittel und die dadurch entwickelten Verhaltensmuster sich diese nicht von heute auf morgen beseitigen lassen.

3.3 Behandlungsmöglichkeiten

Eine stationäre Behandlung besteht aus einer Entgiftungsphase, oft mit medikamentöser Unterstützung, die durchschnittlich 10 bis 12 Tage, in Einzelfällen auch länger dauert. Bei vorhandener Motivation kann eine Entzugbehandlung angeschlossen werden, die in der Regel 3 bis 6 Wochen Therapiezeit beansprucht. Eine gegebenenfalls weiterführende Entwöhnungsbehandlung beträgt etwa 3 Monate.

In der Entgiftung werden dem Patienten alle Suchtmittel entzogen. Es setzen mehr oder weniger heftige Entzugserscheinungen ein, die mit starken körperlichen und seelischen Schmerzen verbunden sind. Diese Phase ist beendet, sobald der Körper sich darauf eingestellt hat, ohne Suchtmittel zu „funktionieren“.

Falls noch eine gute soziale Einbindung vorhanden ist, gibt es auch die Möglichkeit einer ambulanten Entgiftung bzw. Therapie. D. h. zum Beispiel für einen Heroin-Abhängigen, dass er früh sein Methadon erhält und dann auf Arbeit gehen kann.

Die Krankenkassen zahlen die Entgiftungsbehandlung. Die Rentenversicherungsträger, also die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) oder die entsprechenden Landesversicherungsanstalten (LVA), zahlen die Entwöhnung. Berechnungen zeigen, dass sich allein die reinen Entgiftungskosten in Deutschland auf etwa 1,4 Milliarden DM pro Jahr belaufen11. Die Entwöhnung erfolgt in der Regel in einer Fachklinik oder ambulant mit Hilfe von therapeutischen Gruppen- und Einzelbehandlungen. Diese Gesprächstherapien werden bereits in der Entzugsphase begonnen. In dieser Zeit versucht man den Betroffenen so gut wie nur möglich auf seine Rückkehr in den Lebensalltag mit seinen vielen Verpflichtungen und Problemen vorzubereiten.

4 Zusammenfassung

Beim Verfassen meiner Facharbeit wurde mir deutlich, wie komplex die Thematik Sucht, nicht nur in Bezug auf das Element Familie, ist. Ich bin bewußt nicht intensiver auf bestimmte Gebiete, wie Rollenfächer oder Strukturen in Suchtfamilien etc. eingegangen, da dies den Rahmen meiner Arbeit überschritten hätte.

Die Textausführungen veranschaulichen, wie ein Mensch einer Sucht verfallen und dabei andere mit ins Unglück ziehen kann. Oft bemerkt der Süchtige dies gar nicht, z. B. aufgrund seiner Wesensveränderung bzw. suchtmittelspezifischen Folgeschädigungen.

Besonders beeindruckend und neu für mich war das Beispiel am Mobile, welches diese Zusammenhänge eindrucksvoll darlegt. Die Familie als kleinste zusammengehörige Gruppe birgt dabei ein großes Potential an Faktoren für die Persönlichkeitsentwicklung in sich.

Bei der Anfertigung dieser Facharbeit ist mir zudem bewußt geworden, welche negativen Auswirkungen die Sucht und daraus hervorgehende Krankheiten nicht nur für den Betroffen selbst und sein unmittelbares Umfeld, sondern auch für unsere Gesellschaft hinsichtlich Wirtschaft und Soziales zur Folge haben können (siehe unter Punkt 3.3. Behandlungsmöglichkeiten). Gerade bezüglich der Suchtthematik zeigt sich die große Bedeutung der Prävention, die intensiver greifen müsste. Ein positiveres Medienvorbild (Werbung, Film, Fernsehen, Rundfunk etc.) könnte hierbei schon viel bewirken. (Anhänge V - VIII )

Abhängigkeit bleibt ein Leben lang! Anhand dieser Tatsache und der jährlich steigenden Zahl der Suchtkranken in Deutschland (zur Zeit etwa 4 Millionen, dies entspricht ungefähr 5% aller Bundesbürger12 ) zeigt sich, wie wichtig der Umgang der Menschen mit der Vorbeugung gegen die Suchtgefahren ist. Die Sensibilisierung hierzu beginnt bereits in der Familie!

[...]


1 Deutsche Hauptstelle gegen die Suchtgefahr e.V.(Hrsg.). Broschüre „Ein Angebot an alle,...“. 1998. S.14

2 Barmer aktiv & gesund. Broschüre „Drogen - Risiken kennen“. 1998. S.16

3 Kolitzus, Helmut. Die Liebe und der Suff 1997 München. S.31

4 Feuerlein, Wilhelm. Alkoholismus. Missbrauch und Abhängigkeit. Entstehung, Folgen, Therapie, 4. Stuttgart/ New York 1989. Überarbeitete Aufl. In: Bohlen, Insa. Sucht und Suchtentwicklung. 1998. S.78

5 Ladewig, Dieter. Sucht und Suchtkrankheiten. Ursachen, Symptome, Therapien. München 1996. S.68.

6 Deutsche Hauptstelle gegen die Suchtgefahr e.V.(Hrsg.). Sucht und Familie. 1993. S.268

7 Deutsche Hauptstelle gegen die Suchtgefahr e.V.(Hrsg.). Sucht und Familie. 1993. S.265

8 Deutsche Hauptstelle gegen die Suchtgefahr e.V.(Hrsg.). Broschüre „Ein Angebot an alle,...“. 1998. S.14

9 Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (Hrsg.). Broschüre „Ich will mein Kind vor Drogen schützen“.1999. S.2

10 Kolitzus, Helmut. Die Liebe und der Suff 1997 München. S.44

11 Kolitzus, Helmut. „Ich befreie mich von deiner Sucht“. 2000. S. 73

12 Bohlen, Insa. Sucht und Suchtentwicklung. Münster 1998. S. 5

Ende der Leseprobe aus 16 Seiten

Details

Titel
Sucht und Familie
Note
15 Punkte
Autor
Jahr
2002
Seiten
16
Katalognummer
V106092
ISBN (eBook)
9783640043712
Dateigröße
447 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Sucht, Familie
Arbeit zitieren
Katja Kretzschmar (Autor:in), 2002, Sucht und Familie, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/106092

Kommentare

  • Noch keine Kommentare.
Blick ins Buch
Titel: Sucht und Familie



Ihre Arbeit hochladen

Ihre Hausarbeit / Abschlussarbeit:

- Publikation als eBook und Buch
- Hohes Honorar auf die Verkäufe
- Für Sie komplett kostenlos – mit ISBN
- Es dauert nur 5 Minuten
- Jede Arbeit findet Leser

Kostenlos Autor werden