Semipräsidentialismus in Lateinamerika? Eine theoretische Betrachtung am Beispiel Argentiniens


Hausarbeit, 2001

29 Seiten, Note: 2,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Präsidentialismus und Parlamentarismus
2.1. Unterscheidungskriterien
2.2. Präsidentialismus in Lateinamerika
2.3. Präsidentialismuskritik
2.3.1. Theoretische Präsidentialismuskritik

3. Semipräsidentialismus
3.1. Die Konzeption semipräsidentieller Systeme
3.2. Merkmale semipräsidentieller Systeme

4. Zwischenbetrachtung: Weshalb semipräsidentielle Strukturen für Lateinamerika?

5. Das politische System Argentiniens
5.1. Die Verfassungsreform von 1994/95
5.2. Auswirkungen der Verfassungsreform auf das politische System Argentiniens

6. Schlussfolgerungen

Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Lateinamerika1 gilt weltweit als die Region präsidentieller Systeme. Allerdings haben die noch jungen lateinamerikanischen Demokratien, die zwar oftmals schon seit Mitte des 19. Jahrhunderts bestehen, aber immer wieder durch Re- volutionen und Militärputsche in autoritäre Strukturen gezwängt wurden, den Ruf Systeme verhältnismäßig hoher Instabilität zu sein. Mitte der 70er Jahre waren autoritäre Militärregime in fast allen Staaten Lateinamerikas an der Macht. Mit dem Übergang zur Demokratie mittels der dritten Demokratiewelle während der 80er Jahre ist auch ein Prozess des politischen Systemwandels in Gang gekommen, dessen zentraler Angelpunkt der Versuch der Institutionali- sierung von Demokratie ist. Mit diesem Systemwandel wurde ebenfalls die De- batte über die politischen Strukturen der lateinamerikanischen Regierungssys- teme neu belebt. Im Mittelpunkt der Diskussion stand und steht noch immer dabei die Frage nach der geeignetsten Regierungsform zur Sicherung der Stabi- lität und Konsolidierung der zurückgewonnenen Demokratie. Die lateinamerika- nischen Präsidialdemokratien wurden mit Systemen parlamentarischer Prägung verglichen und die Frage gestellt, ob die vorherrschenden präsidentiellen Regie- rungssysteme die Chancen der Demokratiekonsolidierung negativ beeinflussen (Krumwiede 1997a: 86). Der institutionelle Vergleich fand jedoch in der Öffent- lichkeit wenig Gehör, so dass es auch nicht verwunderlich ist, dass es bislang in keinem Land der Region zu einem Systemwechsel von einem Präsidialsystem zu einem parlamentarischen System gekommen ist. Es scheint vielmehr so, dass eine Tendenz zur Stärkung der Exekutivmacht des Präsidenten erkennbar ist, während die Parlamente eher negativ bewertet werden (Nolte 1997: 76).

Welche politische System ist aber das geeignetste zur Konsolidierung und zum Erhalt der Demokratie in Lateinamerika? Manche Politikwissenschaftler wie et- wa Juan Linz üben Kritik an präsidentiellen Strukturen an sich, denen sie insbe- sondere hinsichtlich der lateinamerikanischen Region wesentliche Struktur- nachteile unterstellen (Linz 1994). Sie halten parlamentarische Strukturen für zweckmäßig, um den noch vorherrschenden Strukturproblemen in den Ländern Lateinamerikas entgegenzuwirken. Weiterhin wird häufig argumentiert, dass parlamentarische Systeme den gewaltsamen und dramatischen Zusammen- bruch der demokratischen Strukturen verhindert hätte (Nohlen 1992: 86). Je- doch wurde auch des öfteren die Überlegung geäußert, semipräsidentielle Strukturen nach französischem Vorbild in den politischen Systemen zu installie- ren. Solchen Strukturen werden aufgrund ihrer größeren Flexibilität von ihren Befürwortern am ehesten die Möglichkeit zugesprochen, den lateinamerikani- schen Gegebenheiten gerecht zu werden. Wie zutreffend ist jedoch diese Be- hauptung?

Da bereits einige Staaten Lateinamerikas zumindest verfassungsrechtlich über semipräsidentielle Strukturen verfügen - es handelt sich hierbei um Argentinien und Peru (Krumwiede/Nolte 2000: 49) - lässt sich anhand dieser politischen Systeme untersuchen, ob sich eben diese semipräsidentiellen Systeme bewährt und die ihnen zugesprochene Auswirkungen nach sich gezogen haben. Dabei sind vor allem die Folgen auf die institutionellen Strukturen, die sich aus der Einführung semipräsidentieller Strukturen ergeben haben, von größtem Inte- resse.

So geht es im Folgenden darum, die Grundzüge der Forderungen nach se- mipräsidentiellen Strukturen in Lateinamerika darzustellen und anhand des ar- gentinischen Beispiels auf ihre Anwendbarkeit zu untersuchen. Zunächst sollen dabei die Systemtypen Parlamentarismus und Präsidentialismus voneinander unterschieden werden, um anschließend die Argumentationslinien der theoreti- schen Präsidentialismuskritik nachzuvollziehen. Anhand der Beschreibung des lateinamerikanischen Präsidentialismus soll der erste Teil der Arbeit mit einem Ausblick über die mögliche Anwendung semipräsidentieller Systeme in Latein- amerika abgeschlossen werden. Im zweiten Teil soll mittels der Betrachtung des semipräsidentiellen System Argentiniens die politische Ausrichtung und Entwicklung der Verfassungsreform von 1994/95 hinsichtlich ihrer Auswirkun- gen auf das politische System untersucht werden. Im Mittelpunkt steht hierbei die Frage, ob sich tatsächlich ein semipräsidentielles System herausgebildet hat, und welche Rückschlüsse sich daraus für den lateinamerikanischen Präsidentialismus ergeben.

2. Präsidentialismus und Parlamentarismus

Der institutionell orientierte Vergleich demokratischer Regierungssysteme ist generell geprägt von der Dichotomie zwischen parlamentarischen und präsiden- tiellen Systemen. Lange Zeit dienten dabei der amerikanische Präsidentialismus und der Parlamentarismus Großbritanniens als Idealtypen. Mit der Differenzie- rung der kontinental-europäischen Varianten vom Westminstermodell etablier- ten sich weitere Formen parlamentarischer Regierungssysteme, mit der Folge dass die dichotome Einordnung nicht aufgehoben, sondern erweitert wurde. Inzwischen werden unterschiedliche Systemtypen als eigenständige Modelle angesehen, wie beispielsweise die Schweizer Ratsform. Shugart/Carey (1992) haben in ihrer ausführlichen vergleichenden Studie präsidentieller Systeme auf mehrere Differenzierungen aufmerksam gemacht und zu weiterführenden Stu- dien zur Klassifikation Regierungssystemen - abgerückt von der Dichotomie zwischen Präsidentialismus und Parlamentarismus - angeregt.

2.1. Unterscheidungskriterien

Die allgemeinen Merkmalsbestimmungen präsidentieller Systeme beruhen durchweg auf einer Kontrastierung dieses Systemtyps mit dem des Parlamenta- rismus und umgekehrt. In der Literatur finden sich viele unterschiedliche An- sätze zur Unterscheidung mit einer stark voneinander abweichenden Anzahl von Merkmalen, die zur Kennzeichnung der jeweiligen Systemtypen herangezo- gen werden.2

Generell unterscheiden sich präsidentielle und parlamentarische Regierungssys- teme hinsichtlich ihrer institutionellen Zuordnung von Staatsoberhaupt, Regie- rung und Parlament. Präsidialsysteme zeichnen sich hierbei durch eine relativ starke Trennung von Parlament und Regierung aus. Dieses zentrale Merkmal präsidentieller Systeme zeigt sich insbesondere durch die Identität von Staats- und Regierungsführung, die sich in der Personalunion des Präsidenten als Staats- und Regierungschef als „one-person-executive“ (Lijphart 1994: 92) manifestiert. Im Gegensatz dazu ist in parlamentarischen Regierungssystemen das Verhältnis von Regierung und Parlament durch eine enge Verbindung ge- kennzeichnet. Institutionell unterliegen beide politischen Organe allerdings ei- ner strikten Trennung. Die Positionen von Staats- und Regierungschef werden von zwei Personen wahrgenommen. Die Exekutive stellt sich, im Gegensatz zur unipersonalen Variante in präsidentiellen Regierungssystemen, als eine kollekti- ve Einheit bestehend aus Regierungschef und Kabinett dar.

Die Direktwahl des Präsidenten, die in der Regel unabhängig von der Wahl der Legislative durchgeführt wird, ist charakteristisch für Präsidialsysteme (Mainwaring 1990: 158 vgl. auch Sartori 1994 106). Normalerweise wird das Staatsoberhaupt direkt vom Volk gewählt, allerdings existieren Ausnahmen: So wird beispielsweise der Präsident der Vereinigten Staaten indirekt durch vom Volk gewählte Wahlmänner gewählt, während in Bolivien der Kongreß den Präsidenten bestimmt, wenn keiner der Kandidaten in den vorangegangenen Wahlen die erforderliche Mehrheit auf sich vereinigen konnte.

Im Gegensatz zu Systemen parlamentarischer Ordnung wird der Präsident im Präsidialsystem in der Regel für einen festgelegten Zeitraum gewählt, und ist nicht vorzeitig abwählbar. Er ist somit auch von den parlamentarischen Mehr- heitsverhältnissen unabhängig und kann nur über Möglichkeit eines Amtsent- hebungsverfahrens, für das allerdings schwerwiegende Vergehen vorliegen müssen, vorzeitig aus seinem Amt entfernt werden. Diese Variante kommt auf- grund ihrer schlechten Erfolgsaussichten sehr selten zum tragen.3

Anders stellt sich die Situation in parlamentarischen Regierungssystemen dar. Aufgrund der Tatsache, daß das Parlament die Regierung stellt und kontrolliert, ist diese und somit auch ihre Amtsdauer vom Vertrauen des Parlaments abhän- gig. Verfügt ein Regierungschef über keine Parlamentsmehrheit, kann er in der Regel nicht weiter regieren. Steffani (1995: 630f.) stellt die Existenz bzw. die Nicht-Existenz von verfassungsrechtlichen Möglichkeiten zur Abberufung der Regierung durch das Parlament in den Mittelpunkt seiner Betrachtung und sieht dieses Merkmal als einziges systematisch-funktionelles Unterscheidungskriteri- um zur Festsetzung einer Grundtypologie von Regierungssystemen an. Besteht die Möglichkeit der Abberufung der Regierung handelt es sich demnach um parlamentarische Systeme, fehlt sie, handelt es sich um präsidentielle Regie- rungssysteme. Steffanis Überlegungen, die er erstmals Mitte der 70er Jahre aufstellte, sind mittlerweile ein wichtiger Bestandteil der neueren Debatten um die Klassifikation von Regierungssystemen.

Stepan/Skach (1993: 120) unterscheiden Parlamentarismus und Präsidentialis- mus anhand institutioneller Abhängigkeiten bzw. Unabhängigkeiten. Demnach sind parlamentarische Demokratien Systeme gegenseitiger Abhängigkeit, da die Exekutive einerseits abhängig vom Vertrauen des Parlaments ist, während an- dererseits die Exekutivmacht die Möglichkeit zur Parlamentsauflösung besitzt. Im Gegensatz dazu stellen präsidentielle Demokratien aufgrund der durch je- weils unabhängigen Wahlen vorhandenen doppelten Legitimation von Legislati- ve und Exekutive Systeme gegenseitiger Unabhängigkeit dar. Hinsichtlich der Auswirkungen beider Systemtypen auf die Parteienlandschaft und ihre Struktur ist festzustellen, daß präsidentielle Systeme tendentiell Zweiparteiensysteme begünstigen, während in parlamentarischen Regierungssystemen eher Mehr- parteiensysteme vorzufinden sind (Lijphart 1994: 98).4

Präsidentielle und parlamentarische Systeme haben viele Gesichter, die unter anderem durch regionale Beziehungen unterschiedliche Ausprägungen hervorgebracht haben. Im folgenden sollen die Besonderheiten des lateinamerikanischen Präsidentialismus beschrieben werden.

2.2. Präsidentialismus in Lateinamerika

Lateinamerika gilt weltweit als die Region präsidentieller Regierungssysteme. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt sind alle lateinamerikanischen Systeme der Ka- tegorie der Präsidialsystem zuzuordnen (Krumwiede/Nolte 2000: 27). Viele Staaten dieser Region verfügen bereits seit ihrer Gründung im 19. Jahrhundert über präsidentielle Strukturen, die damals zum Großteil in Anlehnung an das nordamerikanische Vorbild eingerichtet wurden. Mit der Überwindung der auto- ritären Systeme während der letzten Demokratisierungswelle wurde erneut auf diese politischen Strukturen zurückgegriffen. Obgleich ursprünglich am US- Vorbild orientiert, haben viele der Regierungssysteme Lateinamerikas eine ei- gene Ausformung des Präsidentialismus herausgebildet, die oftmals mehr par- lamentarischen Systemen europäischer Prägung ähneln als dem der Vereinig- ten Staaten (Schultz 1999: 31). Dieses Phänomen ist vermutlich auf die größe- re Ähnlichkeit zwischen vielen lateinamerikanischen und europäischen Staaten hinsichtlich ihrer juristischen Tradition, politischen Praxis und sozioökonomi- schen Aufspaltung zurückzuführen (Valenzuela 1998: 31).

In den politischen Systemen Lateinamerikas stellt der Präsident in seiner Funk- tion als Staats- und Regierungschef die mächtigste politische Instanz dar. Er verfügt über weitreichende Vollmachten und steht so der Macht des Amtsinha- bers im US-Präsidentialismus nur wenig nach. Diese Exekutivdominanz wird durch die geringen politischen Gestaltungsmöglichkeiten der Parlamente geför- dert und verstärkt. Es gilt in Lateinamerika als völlig normal, daß die Exekutive federführend in der Gesetzesinitiative ist und das Parlament lediglich die Zustimmmungsfähigkeit der Gesetze festzustellen hat (Krumwiede 1997b: 7). So ist auch das in den meisten lateinamerikanischen Verfassungen vorgesehe- ne System von checks and balances zwischen den politischen Gewalten durch die starke Unterordnung des Parlaments zugunsten des Präsidenten selten ge- geben (Mainwaring 1990: 160). Zudem ist der Präsidentialismus traditionell in der Bevölkerung verankert; Die Menschen haben sich nicht nur mit einer domi- nanten politischen Persönlichkeit abgefunden, sondern sind starke Befürworter eines solchen Staatsoberhauptes.

Die meisten Länder der Region sind politisch stark zentralisiert. Bedingt durch das the winner takes all Prinzip der Präsidentschaftswahlen ist für die Legisla- turperioden das politische Gewicht im Land vorgegeben: Während der Gewin- ner über die politische Gestaltungsmacht in Form des Präsidentenamtes ver- fügt, kommt dem Verlierer der Wahl selten ein politisches Amt wie beispiels- weise das des Oppositionsführers zu.5 Die Parteien haben ebenfalls nur gerin- gen Einfluss auf die politischen Gestaltungsmöglichkeiten: Der Entschei- dungsprozeß wird häufig vom Präsidenten und den wenigen weiteren Spitzen- politikern dominiert.

Als auffälliges Merkmal der lateinamerikanischen Systeme gilt sicherlich die sel- tene Bildung stabiler Koalitionen, weshalb auch die Einsetzung von Minderheits- regierungen ein häufig anzutreffendes Phänomen ist. Das Fehlen der präsiden- tiellen Wiederwahlmöglichkeiten führt beispielweise des öfteren zu wechseln- den Absprachen zwischen den Parteien und zur Bildung diverser politischer Bündnisse. Dieses Verhalten wird auch durchaus von der Präsidentenpartei an den Tag gelegt. Durch den Umstand äußerst willkürlicher Koalitionsbildungen wird es auch Kandidaten von Minderheitsparteien ermöglicht, bei Präsident- schaftswahlen eine Mehrheit zu erringen. Zerbrechen diese Ad-hoc-Bündnisse, steht ein Präsident ohne parlamentarische Mehrheit an der Spitze des Landes. Dies ist gewiss ein Zustand, der dem politischen System zusätzliche Instabilität verleiht. Da die Stabilität einer Regierung in Präsidialdemokratien nicht von ei- ner disziplinierten parlamentarischen Mehrheit abhängt, zeichnen sich die Par- teien in den Mehrparteiensystemen Lateinamerikas durch eine geringe Partei- disziplin aus (Lijphart 1994: 98). Im Zusammenspiel dieser Faktoren stellt sich ein Bild relativ schwacher Parteien in den politischen Systemen Lateinamerikas dar, dass durch die präsidentielle Dominanz bedingt ist und weiter verstärkt wird.

Eine Besonderheit der lateinamerikanischen Präsidialdemokratien ist das weitverbreitete Merkmal der no reeleccíon, dem Verbot der zumindest unmittelbaren Wiederwahl des Präsidenten. Mit Ausnahmen einer handvoll Staaten6 kann kein Präsident für eine weitere Amtszeit gewählt werden.

Hinsichtlich der verfassungsrechtlich festgeschriebenen Kompetenzaufteilungen zwischen Regierung und Parlament gibt es in Lateinamerika eine weite Spann- breite, die von relativ parlamentarisch hin zu relativ präsidentiell reicht (Krum- wiede 1997b: 9). Entscheidend scheint allerdings die gelebte Verfassung, die oftmals dieses Verhältnis in Richtung der Exekutive, speziell zum Präsidenten rückt. Mittlerweile haben die Demokratien Lateinamerikas den Transitionspro- zess von der Ablösung vorausgegangener autoritärer Systeme zur Herausbil- dung relativ beständiger demokratischer Konfigurationen weitgehend abge- schlossen. Der Prozess der Demokratiekonsolidierung kann allerdings erst dann als beendet betrachtet werden, wenn die zentralen politischen Institutionen als einzig legitimer Rahmen politischer Auseinandersetzung unter demokratischen Gesichtspunkten angesehen wird.

2.3. Präsidentialismuskritik

Die Kritik am Modell der präsidentiellen Regierungssysteme ist eng mit dem Namen Juan Linz verbunden. Mit seinem Mitte der 80er Jahre entstandenem Diskussionspapier7 ebnete Linz den Weg für eine breite wissenschaftliche Dis- kussion über Vor- und Nachteile präsidentieller und parlamentarischer Regie- rungssysteme (Linz 1994). Grundsätzlich zieht er dabei aus den institutionellen Merkmalen der lateinamerikanischen Präsidialsystemen Rückschlüsse auf die Dynamik politischer Prozesse. Ausgangspunkt seiner Analyse ist dabei die An- nahme, dass die in Lateinamerika vorherrschenden präsidentiellen Systeme mit für die Schwäche und den häufigen Zusammenbruch der dortigen demokrati- schen Systeme verantwortlich sind.

Aus dieser Überlegung resultiert seine Frage, ob der Präsidentialismus möglicherweise die Konsolidierung der Demokratie in Lateinamerika gefährde. Er plädiert für die Ablösung der präsidentiellen Systeme, da er parlamentarische Regierungssysteme generell für geeigneter hält, zur Demokratiekonsolidierung beizutragen (Linz 1994: 59).

2.3.1. Theoretische Präsidentialismuskritik

Linz konstatiert der präsidentiellen Demokratien grundsätzlich zwei Haupt- schwächen: Erstens sieht er in der dualen Legitimation der jeweils durch direk- te Wahlen berufenen Institutionen Parlament und Präsident prinzipiell das Problem möglicher Konflikte zwischen beiden Organen (Linz 1994: 7f.). Zwei- tens kritisiert er die Wahl des Präsidenten für eine fixe Amtszeit und die fehlen- de Möglichkeit der vorzeitigen Abwahl durch das Parlament. Er stellt diese bei- den Argumente in den Mittelpunkt seiner Kritik und charakterisiert aus der Kon- sequenz dieser Merkmale präsidentielle Systeme mit dem Begriff „Rigidität“, währenddessen er dem Parlamentarismus mehr Flexibilität zuspricht (Linz 1994: 8ff; vgl. auch Sartori 1994: 108).

Sowohl Linz als auch Mainwaring kritisieren das Fehlen institutioneller Mecha- nismen, um Konflikte zwischen Regierung und parlamentarischer Opposition beilegen zu können. Im gewaltenteiligem System des Präsidentialismus ist stets die Möglichkeit unterschiedlicher Mehrheitsverhältnisse in Exekutive und Legis- lative gegeben. Allerdings ist in den meisten Verfassungen für den Fall eines Konflikts zwischen den beiden Gewalten in der Regel kein Entscheidungsme- chanismus demokratischer Natur vorgesehen, da weder das Parlament den Präsidenten mittels Misstrauensvotum absetzen, noch der Präsident das Parla- ment auflösen kann. Diese Tatsache führt unter Umständen zu einer Konfronta- tion zwischen den politischen Organen, die durch die fixen Amtszeiten und feh- lenden Abwahlmöglichkeiten zu einer regelrechten Paralyse des politischen Ent- scheidungsprozesses führen können (Linz 1994: 8ff.; Sartori 1994: 108). Dar- aus ergibt sich zweifelsohne eine Destabilisierung des politischen Systems, die mit einer akteursbezogenen Verhinderung effektiver Problemlösungen einher- geht, weshalb in diesem Sinne dem lateinamerikanischen Präsidentialismus eine Mitverantwortung an der Instabilität der politischen Systeme zugesprochen werden kann. In präsidentiellen Systemen besteht zudem im Falle fehlender Mehrheiten für den Präsidenten - sowohl im Volk als auch im Parlament - die Möglichkeit einer Unflexibilität gegenüber Krisensituation ist, da für diesen Fall demokratisch notwendige Konsensbeschlüsse nur erschwert möglich sind Mainwaring (1990: 165).8

Neben diesen Hauptpunkten der Linzschen Präsidentialismuskritik sind noch weitere Strukturprobleme hervorzuheben. Durch das the winner takes all Prin- zip der Präsidentschaftswahlen entsteht eine inhärente Polarisierungstendenz, die durch den Umstand, dass nach der Wahl eine unveränderliche Festlegung von Gewinner und Verlierer vorgenommen wird, letztendlich in einem „Null- summenspiel“ endet (Linz 1994: 19): Die Rolle von Gewinnern und Verlierern bleibt für die gesamte Legislaturperiode festgelegt, ohne Aussicht auf einen vorzeitigen Wechsel.

Der stark personalisierte Charakter der Wahlen in präsidentiellen Systemen er- möglicht es außerdem charismatischen politischen „Outsidern“ an die Macht zu kommen, die zum einen keine Parteizugehörigkeit besitzen, und daher auch kaum auf Unterstützung seitens einer Partei oder des Parlaments hoffen kön- nen, und zum anderen oftmals wenig politische Erfahrung vorweisen können (Linz 1994: 26).9 Dieses Phänomen lässt sich auf die Schwäche der politischen Parteien zurückführen, die wiederum aus dem politischen System resultieren. So wirkt sich die Tatsache der fehlenden politischen Elitenrekrutierung, wie sie in parlamentarischen Demokratien durch das Parlament vollzogen wird, negativ auf die Entwicklung politischer Spitzenkräfte aus (Linz 1994: 28).

Die spezielle Ausformung des lateinamerikanischen Präsidentialismus, die no reeleccíon, hat negative Auswirkungen auf eine stabile Koalitionsbildung. So distanzieren sich die Parteien oft schon sehr früh vom bald ausscheidenden Präsidenten und suchen die Nähe zu seinem potentiellen Nachfolger. Übrig bleibt ein Präsident ohne ausreichende Unterstützung, eine lame duck. Aber auch die Präsidenten zeigen am Ende ihrer Amtszeit ein anderes Politikver- ständnis als am Tag der Amtsübernahme. Wissend, dass ihre Amtsdauer nicht vom Vertrauen des Parlaments abhängt, neigen sie dazu, eine „ungeduldig- kompromißlose Politik“ des „vouloir concluir“ (Thibaut 1992: 117), eine unbe- dingte Durchsetzung der Regierungsprogramme, an den Tag zu legen. Mittels ihrer Befugnisse werden so eigenmächtig ohne Konsensfindung oder Unterstüt- zung durch das Parlament Verordnungen auf undemokratische Weise durchge- setzt. Durch das Wiederwahlverbot wird zudem die Problematik verstärkt, dass aus dem politischen System in relativ kurzen Zeitabständen zwangsweise im- mer wieder neue Führungsfiguren hervorgebracht werden müssen. Aufgrund der Schwäche der politischen Parteien mit ihrem geringen Zusammenhalt und des vorhandenen zersplitterten Parteiensystems, das die Repräsentation poli- tisch äußerst heterogener Kräfte begünstigt (Martinez Ocamica 1996: 446), erweist sich eine solche Rekrutierung politischen Spitzenpersonals in der Regel als sehr schwierig. Als Resultat steigen auf diese Weise die Wahlchancen politi- scher Außenseiter (s.o.). In diesem Zusammenhang ist eine erhöhte Instabilität des politischen Systems als Folge der vorhandenen Parteienlandschaft nicht von der Hand zu weisen.

Für Linz ergibt sich aus diesen Überlegungen die Schlussfolgerung, dass die für präsidentielle Systeme typischen Negativeffekte die Dynamik und Struktur der politischen Prozesse, das Zusammenspiel der politischen Akteure, die Effektivi- tät der Regierungsarbeit und, sich aus ihnen ergebend, die Demokratiekonsoli- dierung in Lateinamerika negativ beeinflussen. Parlamentarische Strukturen hält er hingegen für geeigneter, um die politischen Strukturprobleme in den lateinamerikanischen Staaten zu lösen. So stellt er fest: „presidentialism seems to involve greater risk for stable democratic politics than contemporary parlia- mentarism. (…) the accumulated evidence of the past in presidential systems, particularly in Latin America and Asia, and the success of contemporary parlia- mentary democracies in Western Europe show odds that seem to favor parlia- mentary institutions.” (Linz, 1994: 70).

3. Semipräsidentialismus

10 Viele Autoren wie Martinez Ocamica (1996), Sartori (1994) und Linz sehen in semipräsidentiellen Strukturen eine Möglichkeit zur Lösung der sich aus den Negativeffekten des Präsidentialismus - basierend auf der Linzschen Präsiden- tialismuskritik - ergebenden Strukturprobleme Lateinamerikas. Für Linz stellen demokratische Systeme semipräsidentieller Struktur insofern einen Lösungsansatz dar, als das sie sich für eine Übergangs- bzw. Anpassungsphase von präsidentiellen hin zu parlamentarischen Regierungssystemen eignen. Aufgrund des traditionell starken Präsidentialismus in den lateinamerikanischen Ländern stellt die Einführung semipräsidentieller Strukturen so einen indirekten Weg in Richtung Parlamentarismus dar. Im folgenden sollen kurz die Merkmale und Strukturen semipräsidentieller Systeme skizziert werden.

3.1. Die Konzeption semipräsidentieller Systeme

Der Begriff „Semipräsidentialismus“ geht auf den französischen Verfassungs- rechtler Maurice Duverger zurück (Duverger 1980). Nach seinen Beobachtun- gen und Deutungen der Regierungspraxis der V. französischen Republik unter De Gaulle und seinen unmittelbaren Nachfolgern, spricht er semipräsidentiellen Systemen den Rang eines eigenständigen Regierungssystems neben präsiden- tiellen und parlamentarischen Systemen zu. Obgleich der Begriff „Semipräsi- dentialismus“ semantisch gesehen suggeriert, dass ein solches System seiner Struktur und Funktion nach eher den präsidentiellen Regierungssystemen zuzu- schreiben ist, legt Steffanis Argumentation der Einordnung politischer Systeme anhand der Vertrauensabhängigkeit der Regierung vom Parlament (s.o.) eine Zuordnung zu den parlamentarischen Regierungssystemen nahe.11 Die wissen- schaftliche Diskussion über eine Klassifikation von Regierungssystemen ent- sprechender Ausprägung ist sicherlich noch lange nicht abgeschlossen.

Die Zahl der in der Fachliteratur erwähnten empirischen Referenzfälle für die- sen Systemtyp ist nach wie vor äußerst begrenzt; Als Prototyp wird im Allge- meinen die Verfassung der V. Republik in Frankreich angesehen. Des weiteren werden die Weimarer Republik, Portugal (von 1975-1982), Finnland, Island, Österreich und Irland diesem Systemtyp zugeordnet (Steffani 1997: 102); In Lateinamerika gelten ihrer Verfassung nach Argentinien und Peru als Vertreter semipräsidentieller Systeme.

3.2. Merkmale semipräsidentieller Systeme

Semipräsidentielle Systeme stellen insofern eine Mischform aus parlamentari- schen und präsidentiellen Systemen dar, als dass sie Strukturen beider mitein- ander verbinden. Das zentrale Erkennungsmerkmal ist die Existenz einer bipola- ren Exekutive, bestehend aus Präsidenten und Regierungschef (Linz 1994: 48). Der Präsident wird üblicherweise per Direktwahl in sein Amt gewählt und ver- bleibt dort, wie in präsidentiellen Systemen üblich, für eine fixe Zeitspanne. Ihm steht ein Premierminister gegenüber, der vom Vertrauen des Parlaments abhängig ist. Er wird in der Regel vom Präsidenten ernannt, muss allerdings vom Parlament bei Amtsantritt gewählt werden, so dass die eigentlich freie Wahl des Regierungschefs durch den Präsidenten auf diese Art und Weise ein- geschränkt wird. Die dem Regierungschef unterstehenden Minister des Kabi- netts können ebenso nur so lange im Amt bleiben, solange ihnen die Parla- mentsmehrheit das Vertrauen nicht entzieht.

Der Präsident eines semipräsidentiellen Regierungssystems verfügt, anders als sein Pendant in parlamentarischen Systemen, über weitreichende, verfassungs- rechtlich zugesicherte Kompetenzen, mit denen er die Regierungsarbeit beein- flussen kann. Ihm steht dabei der ebenfalls mit weitreichende Vollmachten ausgestattete Regierungschef gegenüber, dem der Verfassung nach die Regie- rungsverantwortung zukommt und somit nicht als reines Ausführungsorgan des Präsidenten einzuordnen ist (Krumwiede/Nolte 2000: 46). Der Präsident ist in seinen Befugnissen und seiner Amtsführung weitgehend unabhängig vom Par- lament, hat allerdings auch nicht die Möglichkeit, alleine die Regierungsgewalt auszuüben. Im Unterschied zu parlamentarischen und präsidentiellen Systemen ist es in semipräsidentiellen Systemen weder der Exekutive noch der Legislative möglich, unabhängig voneinander Regierungstätigkeiten auszuüben (Bah- ro/Veser 1995: 481f.). Beide beeinflussen sich vielmehr gegenseitig.

Als Besonderheit und vielleicht auch anschaulichstes Charakteristikum semiprä- sidentieller Systeme ist der Zustand, in dem sich der Präsident einer feindlichen Parlamentsmehrheit gegenüber sieht, der sogenannten cohabitation. Da er nicht mehr auf eine Mehrheit im Parlament zählen kann, ist es dem Präsiden- ten in der Regel auch nicht möglich, einen Regierungschef nach seinen Wün- schen einzusetzen, so daß er mit einem Premierminister unterschiedlicher Par- teizugehörigkeit zusammenarbeiten muß. In parlamentarischen Regierungssys- temen ist eine solche Konstellation aufgrund der Vertrauensabhängigkeit der Regierung vom Parlament ausgeschlossen, während in Systemen präsidentieller Prägung der Präsident den Regierungsapparats unabhängig von den parlamen- tarischen Mehrheitsverhältnissen kontrolliert (Bahro/Veser 1995: 481).

Duverger beobachtete länderspezifische Unterschiede in der tatsächlichen Machtausübung des Präsidenten.12 Er erklärt diese damit, dass die Rolle des Präsidenten und dessen Ausgestaltung des Amtes zum einen abhängig von der jeweiligen Parlamentsmehrheit (s.o.), dem Verhältnis des Präsidenten ihr ge- genüber sowie schließlich der nationalen Tradition ist. Zum anderen sind per- sönliche Ambitionen und das Charisma der jeweiligen Amtsinhaber für die Stel- lung des Präsidenten im politischen System verantwortlich, die Schultz (1999: 22) als „absoluten Monarchen“, „Schiedsrichter“ oder „Symbol“ charakterisiert.

4. Zwischenbetrachtung: Weshalb semipräsidentielle Strukturen für Lateinamerika?

Die Einführung semipräsidentieller Systeme in den Staaten Lateinamerikas hat mittlerweile eine größere Anzahl von Befürwortern gefunden. Ihnen wird zuget- raut, die aus präsidentiellen Strukturen resultierenden Probleme (s.o.) lösen zu können und zur weiteren Demokratiekonsolidierung beizutragen. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass die Präsidialdemokratien Lateinamerikas durch ein hohes Maß an Unbeständigkeit gekennzeichnet sind. Die politische Ge- schichte vieler Länder ist von Revolutionen und Systemwechseln, die autoritäre Regime nach sich zogen, geprägt. Insbesondere das Militär ergriff in Situatio- nen wirtschaftlicher und politischer Instabilität die Macht. Dadurch wurde auch das Politikverständnis nachhaltig geprägt. So haben die Militärs in den latein- amerikanischen Republiken zum Teil immer noch eine Machtposition inne, die oft mehr als nur die eines stillen Beobachters darstellt.

Obgleich die heutigen präsidentiellen Systeme auf den ersten Blick nicht instabil erscheinen, bleibt fraglich, ob dieser Status im Falle länger anhaltender Prob- leme - wie beispielsweise dauerhafte wirtschaftliche Probleme - bestehen bleibt oder es zu einem Rückfall in alte Zeiten kommt. Ein Versuch, mittels par- lamentarischer Strukturen die Gefahr einer Systemschwächung zu begegnen, scheint daher sinnvoll. Linz sieht in diesem Zusammenhang semipräsidentielle Systeme als eine Möglichkeit, indirekt parlamentarische Grundzüge in das dor- tige politische System einzubringen, die so als Übergangssystem für den Parla- mentarismus dienen können (Linz 1994:59). Er berücksichtigt bei seinen Über- legungen die starke lateinamerikanische Tradition präsidentieller Systeme und die daraus resultierende Unsicherheit eines radikalen Systemwechsels, und hält daher eine versteckte Einführung parlamentarischer Strukturen für die geeig- netste Methode.

Eine Stärkung der demokratischen Strukturen würde eine stärkere Begrenzung der präsidentiellen Machtbefugnisse durch die Machtteilung von Präsident und Regierungschef mit sich bringen (Sartori 1994:109f). Die Position der Parla- mente würde so verstärkt, woraufhin sie ihre Funktion der Einschränkung und Kontrolle der Macht der Exekutive effektiv wahrnehmen könnten. Die aufgrund eines Machtvakuums zwischen den politischen Gewalten begünstigte Möglich- keit eines verfassungswidrigen Aktionismus wird die Etablierung neuer Kompe- tenzen für den Präsidenten, den Regierungschef und des Parlaments einge- schränkt (Martínez Ocamica 1996: 457f). Für den Fall einer oppositionellen Par- lamentsmehrheit würde ein Blockaderisiko deutlich dadurch verringert, daß es letztendlich immer zu einer Regierungsbildung kommt, da der Präsident zur Einsetzung einer Regierung verpflichtet ist (Bahro/Veser 1995: 480). Die politi- schen Parteien müssten mehr Profil zeigen, und müssten auch in der Rolle als Mitgestalter des politischen Systems engagierter zu Werke gehen als bisher. Durch eine Aufwertung des Parlaments würden sie stärker in die politische Ver- antwortung genommen und mehr am politischen Prozess beteiligt sein. Da- durch könnten sich Strukturdefizite der Parteien und die daraus resultierende politische Schwäche verringern. Zudem würden sich stabilere Koalitionen als bisher bilden, zumal die Arbeit der Parteien in relativer Unabhängigkeit zur Amtsdauer des Präsidenten steht. Auf diese Weise könnte sich das Parteiensys- tem positiv verändern und somit Vorteile für das politische System mit sich bringen (Martínez Ocamica 1996: 456).

Allerdings muß auch beachtet werden, dass die Einführung semipräsidentieller Strukturen in die Demokratien Lateinamerikas auch mit Risiken behaftet ist. Generell besteht in Systemen mit einer bipolaren Exekutive die Möglichkeit konstitutioneller Konfrontationen, was sich an der politischen Praxis in Frank- reich mehr als nur erahnen lässt. Die Situation der cohabitation könnte zudem eine höchst instabile Situation nach sich ziehen, die durch die nur vage vorhan- dene Trennung der Gewalten noch verstärkt werden (Schultz 1999: 29f.). Die Reaktion der mit parlamentarischen Strukturen recht unerfahrenen Demokra- tien Lateinamerikas auf eine solchen Situation ist sicherlich mit Skepsis zu be- gegnen. Das größte Problem in der Einführung parlamentarischer Strukturen stellt sicherlich die in den politischen Wurzeln traditionell tief verankerte Zu- stimmung der Bevölkerung zum Präsidentialismus, und dem Wunsch des Volkes nach einem dominanten Präsidenten dar. Das Plebiszit in Brasilien, bei dem Änderungen des präsidentiellen Systems mit mehr parlamentarischen Zügen, von der Mehrheit der Bevölkerung abgelehnt wurde, scheint diese These zu bestätigen.

5. Das politische System Argentiniens

Die politische Geschichte Argentiniens ist durch vielfache Wechsel des politi- schen Systems geprägt. So erlebte das Land seit Mitte der 30er Jahren des 20. Jahrhunderts immer wieder Zyklen militärischer Interventionen in die Politik, die in einem steten Wechsel von autoritären und demokratischen Systemen mündete. 1989 gab es erstmals einen demokratisch legitimen, konstitutionellen Machtwechsel von Regierung und Opposition (Nolte 1996a: 15). Es scheint, als habe Argentinien mittlerweile die Tradition autoritärer Regime abgelegt und befindet sich auf dem Weg zu einer dauerhaften Demokratie.

Die argentinische Verfassung von 1853, die heute immer noch Gültigkeit be- sitzt, orientiert sich hinsichtlich des Prinzips der Gewaltenteilung an Montes- quieuschen Ansätzen. So ist der Präsident ein Vertreter der Exekutivgewalt, während das Abgeordnetenhaus und der Senat die legislative Gewalt repräsen- tieren. Zudem existieren unabhängige Gerichte als judikative Gewalten. Die Verfassung wurde in den Jahren 1860,1862,1898 und 1957 reformiert und ist auch durch die zahlreichen Militärregierungen seit 1930 niemals formal außer Kraft gesetzt worden. So wurde auch nach der Überwindung der letzten autori- tären Herrschaft von 1976 bis 1983 im Zuge der Redemokratisierung die ur- sprüngliche Verfassung „restaurativ“ wieder eingesetzt (Thibaut 1997: 138f.). Im Unterschied zu anderen lateinamerikanischen Ländern ging dem Übergang zur Demokratie in Argentinien keine institutionelle Debatte voraus. Man be- gnügte sich mit der Wiedereinsetzung der alten Verfassung, genauso wie das Aufgreifen des Wahlsystems in leicht veränderter Form und der Parteiengesetze in der Fassung von 1976 (Jackisch 1996: 125).

Die politischen Parteien Argentiniens sind stark personalistisch strukturiert und haben als wichtigste Funktion die Rekrutierung politischen Personals. Es hat sich gezeigt, dass für die Parteien zentrale Führungspersönlichkeiten wichtiger als Parteiprogramme sind (Klot-Heydenfeld 1999: 61). Die Parteigeschlossen- heit ist nur schwach ausgeprägt, mit der Folge der Unfähigkeit, interne Problem integrativ zu lösen. Parteiabspaltungen treten daher sehr häufig auf. Es zeigt sich zudem eine starke ideologische Ambivalenz zwischen Parteispitze und Par- teibasis, die mit einem gering ausgeprägten parteipolitischen Engagement ein- her geht.

Zu Beginn der 90er Jahre hatte sich in Argentinien ein politischer Führungsstil herausgebildet, der dem politischen System die Einstufung als hyperpräsidentielles System einbrachte (Nolte 1996b: 111). Geprägt war das politische System demnach durch die machtvolle Position des Präsidenten, der als der zentrale Machtpunkt die Politik des Landes dominierte.

Insbesondere der präsidentielle Umgang mit Notverordnungen und Vetorech- ten, die sowohl von Alfonsín und in besonderer Form von seinem Nachfolger Menem zum Erhalt und Ausbau der präsidentiellen Machtposition Anwendung fanden oder eingesetzt wurden, war dieser Entwicklung förderlich. Speziell un- ter Menem konnte eine starke Tendenz der Konzentration der Entscheidungs- macht in der Exekutive festgestellt werden (Nolte 1996a: 19). Zwischen Juli 1989 und Dezember 1993 wurden insgesamt 308 Notstands- und Dringlich- keitsdekrete erlassen, etwa zehnmal so viele, wie von allen konstitutionellen Regierungen Argentiniens zwischen 1853 und 1989 zusammen. Obgleich diese Dekrete der nachträglichen Billigung des Kongresses bedurften, machte Menem in einer großen Zahl von Fällen dem Parlament nicht einmal eine offizielle Mit- teilung.

Es muss jedoch erwähnt werden, dass die angewandte Entscheidungsmachtkonzentration in den Händen des Präsidenten der Notwendigkeit entsprach, angesichts der schwierigen wirtschaftlichen und politischen Situation der Jahre 1989-91 sowohl die Handlungsfähigkeit der Regierung zu beweisen, als auch eine Stärkung der politischen Legitimation des politischen Systems an sich herbeizuführen (Nolte 1997: 84). Diese Struktur wurde allerdings auch nach der Überwindung der Ausnahmesituation beibehalten und führte so zur Ausbildung des argentinischen Hyperpräsidentialismus.

5.1. Die Verfassungsreform von 1994/95

Kurz nach der demokratischen Machtübernahme 1983 wurde eine von der Öf- fentlichkeit weitgehend ignorierte Initiative über eine Verfassungsreform ins Leben gerufen. 1985 berief Präsident Raúl Alfonsín eine Kommission (Consejo para la Consolidacíon de la Democracia - CCD) zur Ausarbeitung von Vorschlä- gen für institutionelle Reformen im Sinne der Konsolidierung der Demokratie. In den Jahren 1986 und 1987 legte die Kommission zwei Zwischenberichte vor, in denen sie empfahl, das politische System Argentiniens weitgehend am Mo- dell der V. französischen Republik zu orientieren (CCD 1986: 49ff, 97ff.)13. So sollte die Leitung der Regierungsgeschäfte einem Premierminister übertragen werden, der dem Parlament verantwortlich, gleichzeitig jedoch vom Präsiden- ten frei ein- und abgesetzt werden sollte. Die Amtszeit des Präsidenten sollte auf vier Jahre begrenzt, und die Möglichkeit zur einmaligen Wiederwahl ebenso wie dessen direkte Wahl in die Verfassung aufgenommen werden. Die Unión Civica Radical schloss sich dieser Empfehlung an und forderte aufgrund der Defizite des argentinischen Präsidialsystems ein Mischsystem mit Elementen einer parlamentarischen Demokratie einzurichten (Jackisch 1996: 125). Die Umsetzung dieser Modelle scheiterte jedoch an der durch eine Wirtschaftskrise hervorgerufenen politischen Schwäche Alfonsíns, der schließlich aufgrund fehlender politischer Unterstützung in den Kammern fünf Monate vor seiner Wahl von seinem Amt zurücktrat.

Fünf Jahre später schlossen Alfonsín und sein Nachfolger Menem nach langen Diskussionen im November 1994 eine Vereinbarung, den sogenannten Pacto de Olivos, über die Grundlinien einer Verfassungsreform. Das Interesse Menems an einer solchen Reform war eng mit seinem Wunsch nach einer zweiten Amts- zeit geknüpft. Der Aspekt der Wiederwahl wurde so in den Mittelpunkt der Re- formbestrebungen gerückt.

Die schließlich am 24. August 1995 in Kraft getretenen Verfassungsänderungen führte zu einer Veränderung der Beziehungen zwischen den drei politischen Gewalten, zumindest auf dem Papier. So bleibt der Präsident als alleiniger Chef der Exekutive im Zentrum des Regierungssystems. Als sicherlich wichtigste Än- derungen der neuen Verfassung wurde der Wahlturnus des Präsidenten von sieben auf vier Jahre reduziert (Verfassung von 1994: Art.90), einhergehend mit der Möglichkeit einer einmaligen unmittelbaren Wiederwahl (Verfassung Art.91). Die zuvor indirekte Wahl durch Wahlmänner wurde durch die Direkt- wahl des Präsidenten abgelöst, mit der Möglichkeit eines zweiten Wahlganges (Verfassung Art.94 und 98). Durch diese Änderungen sollte die politische Legi- timation des Präsidenten erhöht und seine direkt Verantwortung dem Volk ge- genüber verdeutlicht werden. So weiß der Präsident durch seine Wahl die Un- terstützung einer bedeutenden Mehrheit der Wähler hinter sich, was seine Legi- timationsbasis, insbesondere gegenüber dem Parlament erhöht.

Mit der Neuschaffung des Amtes des Kabinettschefs im Rang eines Ministers wurde das Ziel verfolgt, die Funktion im Inneren der Exekutive zu zentralisieren und Kontrolle über die Amtshandlungen des Präsidenten zu erlangen. Auf diese Art und Weise sollte der Präsidentialismus in seiner Form abgeschwächt wer- den (Nolte1996a: 68). Der Kabinettschef wird vom Präsidenten ernannt, kann jedoch - im Gegensatz zu den anderen Ministern - durch ein Misstrauensvotum mit absoluter Mehrheit in beiden argentinischen Kammern abgesetzt werden (Verfassung Art. 100 und 101). Dem Präsidenten steht es zudem frei, ihn je- derzeit zu entlassen. Die Regierungsführung bleibt explizit in den Händen des Präsidenten (Verfassung Art. 99), während die Aufgaben und Kompetenzen des Kabinettschefs fast ausschließlich von seiner Bereitschaft zum Delegieren von Regierungsfunktionen abhängen (Thibaut 1997: 140).

Waren Dekrete und Notverordnungen in der alten Verfassung nicht vorgese- hen, kann der Präsidenten seit dem Inkrafttreten der Verfassungsänderungen auf legitime Weise quasi im Handstreich regieren. Er muss allerdings die Zu- stimmung des Kongresses innerhalb von 20 Tagen einholen.

Die Legislative Argentiniens setzt sich aus den beiden Kammern, dem Senat und dem Abgeordnetenhaus zusammen. Es handelt sich um ein „starkes Zwei- kammersystem“ (Thibaut 1997: 140), da beide Kammern gleichberechtigt sind. Beide unterscheiden sich lediglich in ihrer Zusammensetzung: Über die Stimm- verteilung im Abgeordnetenhaus wird per Verhältniswahl entschieden, wobei die bevölkerungsreichen, urbanen Gebiete diese Kammern dominieren; Im Se- nat sind hingegen die Provinzen nach dem föderalen Prinzip gleichstark vertre- ten. Durch die Erhöhung der Zahl der Senatoren pro Provinz, die Verkürzung ihrer Amtszeit von vier auf acht Jahre und ihre Direktwahl wurde mit der Ver- fassungsreform versucht, den Einfluss und die Autonomie der Provinzen ge- genüber der Staatsgewalt zu erhöhen (Klot-Heydenfeldt 1999: 40). Allerdings bleibt die bundesstaatliche Gewalt die dominierende Kraft und die Provinzen befinden sich vielmehr in einer politischen und wirtschaftlichen Abhängigkeit. Die Wahlperioden der politischen Gewalten sind auf eine getrennte Konstituie- rung der unterschiedlichen Staatsorgane angelegt. Durch die unterschiedlichen Wahlperioden kommt es allerdings zu Überschneidungen. So werden alle zwei Jahre die Hälfte der Abgeordneten und ein Drittel der Senatoren neu gewählt. Der Präsident muß sich daher stets auf Veränderungen der parlamentarischen Mehrheitsverhältnisse einrichten.

Die Verfassungsreform hatte außerdem die Zielsetzung, den Einfluss der Präsi- denten auf das Verfahren der Ernennung von Richtern der Verfassungsgericht- barkeit zu verringern. Bislang war die direkte - wenn auch verfassungswidrige - Einflussnahme des Präsidenten auf die Zusammensetzung der Verfassungsrichter gängiger politischer Stil, nach dem sich auch nach der Verfassungsreform nichts änderte.

In der reformierten Verfassung wird erstmals die Rolle der politischen Parteien im argentinischen System festgelegt, und lässt ihnen durch den neu eingefügten Artikel 38 eine wichtige Rolle im demokratischen Prozess zukommen. Um diese Aufgabe zu erfüllen, werden sie vom Staat finanziell unterstützt.

5.2. Auswirkungen der Verfassungsreform auf das politische System Argentiniens

Die Grundstruktur des politischen Systems wurde durch die Verfassungsänderungen nicht verändert, sondern es wurde vielmehr eine Verfestigung einer auf die Position des Präsidenten zugeschnittenen Regierungsform erreicht. Der Präsident bleibt weiterhin das mit Abstand machtvollste Organ des politischen Systems. Obgleich die Kompetenzen des Parlamentes und der Einfluss der Parteien gestärkt wurden, nehmen sich deren Gestaltungsmöglichkeiten im direkten Vergleich zum Präsidenten als äußerst O bgleich mit der Einführung eines Kabinettschefs in Absicht der Schaffung ei- ner Kontrollinstanz in die Verfassung aufgenommen worden ist, bleibt dieses neu geschaffene politische Organ nur ein blasses Abbild dessen, was dieses Amt in Frankreich darstellt und den Vorstellungen des CCD mit ihren Empfeh- lungen intendierten. Die hierarchische Beziehung zwischen Präsidenten und Regierungschef verdeutlichen den weiterhin vorhandenen unipolaren Charakter des politischen Systems. Letzte Verfassungskommentare sehen in dem Regie- rungschef lediglich einen weiteren Minister, der, unabhängig vom Umfang sei- ner Kompetenzen, in absoluter Abhängigkeit vom Willen des Präsidenten steht (Nolte 1996a: 69).

Hinsichtlich des immer wieder beklagten Dekretrechts, mit dessen Hilfe der Präsident am Kongress vorbei regieren kann, wurde durch die Verfassungsreform eine Verbesserung der Situation erreicht, obgleich die Verhältnisse bei weitem nicht als ideal zu bezeichnen sind. Ähnlich wie seine Vorgänger greift Präsident de la Rúa aufgrund der fehlenden parlamentarischen Unterstützung auf das Instrument der Notverordnungen zurück.

Auch nach der Verfassungsreform hat in Argentinien die Form der Alleinregie- rung dominiert, in der die Partei des Präsidenten keinen signifikanten Einfluss auf die Regierungsbildung und -führung genommen hat (Thibaut 1997: 148). Speziell Menem hat es verstanden, mit einer hegemonialen Partei im Schlepp- tau sowohl Exekutive also auch die Legislative sowie viele Gouverneure und Richter zu dominieren und als ein argentinischer „Mini-Machiavelli“ aufzutreten (Hübener 1994: 162). Er unterminierte häufig die Mechanismen der Verant- wortlichkeit. Institutionen, die laut Verfassung der Gewaltenteilung und - kontrolle dienen sollten, entwickelten sich zu „unterwürfigen Ablegern“ der per- sönlichen Macht des Präsidenten (Nolte 1997: 19). Insbesondere der Einfluss auf die Judikative unter Menem war enorm: So wurde 1990 auf Regierungsini- tiative die Zahl der Richter erhöht und mit regierungsnahen Richtern besetzt. Durch präsidentielle Dekrete wurden außerdem Mitglieder des Rechnungshofes und der Generalstaatsanwalt für Verwaltungsvergehen ebenfalls abgesetzt. Oftmals reichte die bloße Freundschaft zu Menem aus, um für ein wichtiges Amt ernannt zu werden (Nolte 1997: 20).

Trotz massiver Kritik de la Rúas an der Amtsführung im Stil des Hyperpräsiden- tialismus seines Vorgängers Menem hat es an der politischen Kultur des Landes seit dem Präsidentenwechsel kaum spürbare Veränderungen gegeben. Ein Kampf gegen die Korruption der Menem-Ära fand nur zaghaft statt und wurde von einem neuen Bestechungsskandal überschattet. Hinsichtlich der Ausübung des Präsidentenamtes greift de la Rúa auf die bewährte Methode des Vorgän- gers zurück. So hat er allein in seinem ersten Amtsjahr 38 Notverordnungen erlassen, die zwar gegenüber den 64 Menems im gleichen Zeitraum als be- scheiden erscheinen, jedoch verdeutlichen, mit welchen Mitteln der Präsident dem Fehlen einer parlamentarischen Mehrheit im Senat entgegenzutreten ge- denkt (Kern/Nolte 2001: 34).

Hinsichtlich der Demokratiekonsolidierung in Argentinien sollte zwischen der Stabilität der Demokratie in der politischen Kultur und der Funktionen der poli- tischen Institutionen unterschieden werden. Während die Demokratie des poli- tischen Systems bislang fest verwurzelt scheint14, bleibt die Qualität allerdings fraglich. So wurde zum Beispiel die Presse- und Redefreiheit während der Amtszeit Menems nicht immer voll respektiert und geschützt. Menem übte zu- dem einen nicht unwesentlichen Einfluss auf die Justiz und den Justizapparat aus und war von Korruptionsvorwürfen begleitet. Durch die Verfassungsreform konnten diese Defizite kurzfristig allerdings auch nicht beseitigt werden. Allen- falls durch die Regierungsübernahme de la Rúas haben sich diese Extreme zu- rückgebildet, da dieser nicht über die Machtfülle Menems verfügt; Weder in der Partei, noch im Parlament.

6. Schlussfolgerungen

Der wesentlich Anstoß der Debatte über die ideale Regierungsformen in Latein- amerika entspringt der Zielsetzung der Konsolidierung der wiedererworbenen Demokratie. Dabei scheint jedoch die akademische Debatte über die politisch- institutionellen Faktoren, die diesem Ziel dienlich zu sein scheinen, der tatsäch- lichen Notwendigkeit übergeordnet zu sein. In der Tat scheint die Demokratie in den meisten Staaten Lateinamerikas mittlerweile sehr verfestigte Strukturen eingenommen zu haben, was sich durch die Vielzahl durchgeführter Wahlen und Regierungswechsel zu bestätigen scheint. Dieser Argumentation folgend scheint die auf der Linzschen Präsidentialismuskritik aufbauenden Debatte über einen Systemwechsel von präsidentiellen hinzu parlamentarischen Systemen nicht angebracht. Es sollte jedoch nicht die relativ unbegründete Sorge um die Demokratiekonsolidierung im Vordergrund der Debatte um einen Systemwech- sel in Lateinamerika stehen. Vielmehr sollte das Augenmerk auf die Qualität der Demokratie in den dortigen politischen Systemen gelegt werden. Am Beispiel Argentiniens sollte deutlich geworden sein, dass die vorherrschenden Struktu- ren der gelebten Verfassung zum Teil nicht den Demokratievorstellungen der westlichen Welt entspricht. Aufgrund der traditionell stark ausgeprägten Machtposition der Exekutive resultieren Schwächen des politischen Systems, die sich besonders in der Gestalt der Parteien manifestiert. Bezogen auf diese Schwäche scheint daher eine Kritik an den lateinamerikanischen Präsidialdemo- kratien angebracht. Parlamentarische Strukturen würden eine solche Bünde- lung von Macht sicherlich entgegenstehen, zumal auch die Parteien über einen größeren Stellenwert verfügen würden. Zudem ist eine stärkere Parlamentarisierung der lateinamerikanischen Systeme - zumindest eine Ausweitung der parlamentarischen Einflussmöglichkeiten - unter besonderer Berücksichtigung der Partizipation der Bevölkerung sicherlich erstrebenswert, da das aus dem Wahlsystem der Präsidentschaftswahlen resultierende winner-takes-all Prinzip einem Großteil der Bevölkerung ihre politische Stimme entzieht.

Ob als eine Art Zwischenstadium zu parlamentarischen Strukturen semipräsi- dentielle Komponenten hilfreich sein können, die Qualität der neuerworbenen Demokratien zu verbessern, ist allerdings zu bezweifeln. Das argentinische Bei- spiel hat gezeigt, dass neue politische Strukturen - die verfassungsrechtlich durchaus semipräsidentielle Grundzüge tragen - eine Reformierung der politi- schen Kultur nicht nach sich gezogen haben. Weiterhin findet sich im politi- schen System Argentiniens eine ausgeprägte Machkonzentration in der Spitze der Exekutive. In der augenblicklichen politischen Konjunktur ist das politische System Argentiniens sicherlich nur vom Papier her als semipräsidentielles Sys- tem einzustufen. In der politischen Realität bliebt es jedoch weiterhin ein präsi- dentielles System mit Exekutivdominanz. Es bleiben allerdings politische Kons- tellationen vorstellbar, in der ein schwacher Präsident mit einer oppositionellen Mehrheit im Parlament konfrontiert ist. Dann könnten eventuell die semipräsi- dentiellen Elemente greifen und kritische Situationen im politischen System er- leichtern.

Die theoretische Debatte über die Vorzüge eines Systemtyps für die Staaten Lateinamerikas, sei es Präsidentialismus oder Parlamentarismus, wird vermut- lich in naher Zukunft nicht abgeschlossen werden. Es ist zu bemängeln, dass im Mittelpunkt der Diskussion die Kritik am regionalen Erscheinungsbild des Präsi- dentialismus steht (Nohlen 1992: 94). Die Linzsche Präsidentialismuskritik ver- sucht zwar, allgemeine Kritikpunkte zu benennen, als Grundlage dient jedoch auch Linz der lateinamerikanische Präsidentialismus. Da die lateinamerikani- schen Erfahrungen mit dem Parlamentarismus nicht sehr profund sind, kann mit Sicherheit auch nicht gesagt werden, ob mit einem Systemwechsel auch alle negativen Auswirkungen auf die Qualität der Demokratie verschwinden würden. Der traditionelle Unterschied der gelebten von der geschriebenen Ver- fassung lässt allerdings die Vermutung zu, dass auch auf absehbare Zeit mit einer verstärkten Parlamentarisierung der lateinamerikanischen Demokratien nicht zu rechnen ist. Ob die bereits vorhandenen semipräsidentiellen Strukturen, die bislang nur auf dem Papier existieren, in den Vordergrund treten werden, ist ebenso zu bezweifeln. Vielleicht kommt daher der brasilianischen Ablehnung präsidentieller Elemente vorausblickend eine Symbolkraft über die zukünftige Struktur der Regierungssysteme in Lateinamerika zu.

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[...]


1 Unter Lateinamerika wird hier Ibero-Amerika verstanden, also die 18 spanischsprachigen Länder und das portugiesisch sprechende Brasilien. Staaten wie das englischsprachige Jamaika, das niederländischsprachige Surinam oder das französischsprachige Haiti werden nicht Lateinamerika zugerechnet (Krumwiede 1997b: 11).

2 So stellt Douglas Vernell jeweils elf charakteristische Merkmale parlamentarischer und präsidentieller Regierungssysteme auf, während für Klaus von Beyme fünf Kriterien maßgeblich sind (vgl. auch Thibaut 1996: 50).

3 So wurde in den USA bislang kein Impeachmentverfahren gegen einen Präsidenten erfolgreich bis zu dessen Entlassung durchgeführt.

4 Laut Stepan/Skach (1993; 121) sind in keiner präsidentiellen Demokratie mehr als 2,6 Partei- en vorhanden, während in parlamentarischen Demokratien zwischen 4 und 5 politische Parteien auftreten.

5 Diese Aufspaltung wird zudem durch die Tatsache, daß Präsidentschaftskandidaten in der Regel nicht dem Parlament angehören, verstärkt.

6 Es handelt sich um Argentinien, Brasilien, die Dominikanische Republik und Peru.

7 Linz entwarf den ersten Entwurf bereits 1984; 1990 wurde dieses Papier zum ersten Mal vollständig veröffentlicht.

8 Mainwaring zu Folge bleibt so in einigen Fällen ein Staatsstreich die einzige Möglichkeit zur Ablösung eines inkompetenten oder unpopulären Präsidenten.

9 Als Beispiel sei hier die Wahl des bis kurz vor dem ersten Wahlgang nahezu unbekannten Alberto Fujimori genannt, der schließlich mit deutlichem Abstand zum Präsidenten Perus ge- wählt wurde.

10 Trotz zahlreicher alternativer Vorschläge zur Benennung dieses Systemtyps - an dieser Stelle sei auf Steffani´s „parlamentarisches Regierungssystem mit Präsidialdominanz“ oder Shugart/Carey´s „president-parlamentary“ hingewiesen - wird hier dennoch der Begriff „Semipräsidentialismus“ verwendet, da er sich - aller konzeptionellen Schwächen zum Trotz - in der wissenschaftlichen Debatte etabliert hat.

11 Vgl. Steffani 1995: 630f.; ders. 1997: 113f.

12 So verfügt der Präsident in Island verfassungsrechtlich über weitreichende Kompetenzen, seine tatsächliche Machtausübung erweist sich demgegenüber als relativ unbedeutend. In Frankreich ist dies genau umgekehrt (vgl. Duverger 1980: 167ff.)

13 Zu Informationen über den CCD vgl. Klot-Heydenfeldt.

14 Die konstitutionellen Machtwechsel der Präsidentschaftswahlen von 1989 und 1999 scheinen diesen Standpunkt zu bestätigen. Zudem zeigen Meinungsumfragen eine tiefe Verwurzelung demokratischer Werte in der argentinischen Bevölkerung; So teilten 1995 76% der Argentinier die Meinung, dass die Demokratie jeglicher anderen Regierungsform vorzuziehen sei (Nolte 1997: 22).

Ende der Leseprobe aus 29 Seiten

Details

Titel
Semipräsidentialismus in Lateinamerika? Eine theoretische Betrachtung am Beispiel Argentiniens
Hochschule
Freie Universität Berlin
Note
2,0
Autor
Jahr
2001
Seiten
29
Katalognummer
V106109
ISBN (eBook)
9783640043880
Dateigröße
481 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Ich bin sehr an Kommentaren und Anregungen jeglicher Art interessiert. Viel Spass bei Lesen!
Schlagworte
Semipräsidentialismus, Lateinamerika, Eine, Betrachtung, Beispiel, Argentiniens
Arbeit zitieren
Ulf-Manuel Schubert (Autor:in), 2001, Semipräsidentialismus in Lateinamerika? Eine theoretische Betrachtung am Beispiel Argentiniens, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/106109

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