Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Perspektive
2.1 Theory of Mind
2.2 Perspektivenübernahmekompetenz
2.3 Kompetenzstufenmodell der Perspektivenübernahme nach Rietz
3 Analyse
3.1 Stufe I: Perspektivenkoordinierung
3.1.1 Perspektive des Irgendwie Anders
3.1.2 Perspektive der anderen
3.1.3 Perspektive des Etwas
3.2 Stufe II: Perspektivenkonstruktion
3.2.1 Gelungene Perspektivübernahmen
3.2.2 Nicht gelungene Perspektivübernahmen
4 Fazit
5 Literaturverzeichnis
1 Einleitung
Die Perspektivübernahme ist eine der Kompetenzen, die es dem Leser ermöglicht eine Geschichte aus der Sicht der Protagonisten zu sehen. Sie arrangiert ein Verständnis der Sichtweisen und trägt maßgeblich zur Konstruktion der Figuren bei. Perspektive kann sowohl durch narrative als auch durch illustrative Mittel geschaffen werden. So können Bilderbücher durch Illustrationen dem jungen Leser eine weitere Ebene zur Perspektivübernahme bieten.
Das Bilderbuch „Irgendwie Anders“ bietet dabei durch seine problemorientierte Thematik, die sich dem Thema Ausgrenzung widmet, und Kombination von Bild- und Textebene eine interessante Perspektivenkonstruktion. Die Aussagen „Du bist nicht wie wir, du bist irgendwie anders!“ (Cave, Riddell 1994, S.9) und „ Du bist irgendwie anders. Du gehörst nicht dazu.“ (ebd., S.11) fassen die Kernaussagen des Buches zusammen. Chris Riddell und Kathryn Cave versuchen sich mit diesem Werk dem Thema Fremdheit und Anderssein zu nähern. 1995 wurde das Bilderbuch zum Buch des Monats der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendliteratur gekürt. 1997 erhielt es den UNESCO-Preis für „Children's and Young People's Literature in the Service of Tolereance“ (vgl. Büker, Kammler 2003, S.30).
Das Bilderbuch beinhaltet 24 nicht nummerierte Seiten, die flächendenkend mit Illustrationen gefüllt sind. Dabei sind die Illustrationen sowohl seitenübergreifend als auch einseitig. Jede Seite beziehungsweise Doppelseite enthält eine Kombination aus einem oder mehreren Illustrationen sowie einem Textteil. Die Illustrationen sind zum Teil sehr detaillierte Zeichnungen, die in überwiegend blauen, gelben und orangenen Pastelltönen gehalten sind. Nicht relevante Bildelemente werden dagegen oftmals nur angedeutet oder ausgespart.
Im Folgenden wird das Bilderbuch „Irgendwie Anders“ hinsichtlich der Perspektivenübernahme analysiert. Dafür wird sich zunächst dem Begriff der Perspektive genähert, indem zuerst die Theory of Mind erläutert wird, die das Fundament der Perspektivenübernahmefähigkeit bildet. Im Anschluss daran wird der Terminus der Perspektivenübernahmekompetenz definiert und daraufhin das literaturdidaktische Stufenmodell der Perspektivübernahme nach Rietz dargestellt, welches das Grundgerüst für die daran anschließende Analyse des Bilderbuches bildet.
2 Perspektive
2.1 Theory of Mind
Die „Theory of Mind“ wird im Allgemeinen als „Psychologie des gesunden Menschenverstandes“ (Bischoff-Köhler 2011, S.327) wie auch als eine „naive Theorie über die Ursache des Verhaltens“ (Sodian/Thoermer 2006) beschrieben. Es bezeichnet die Fähigkeit, sich in die Situation einer anderen Person hineindenken sowie eine Problemlösung entwickeln zu können obwohl man sich selbst nicht in dessen Position befindet (Rietz 2017, S.72).
Man unterscheidet bei dieser Theorie zwischen der affektiven und kognitiven Theory of Mind. Die kognitive Theory of Mind bezeichnet die Fähigkeit, Emotionen anderer erkennen und verstehen zu können. Dem gegenüber steht die kognitive Theorie, die die Befähigung zur Schlussfolgerung auf Absichten anderer beschreibt (Comer Kidd / Castano 2013, S.377-380).
Die Theory of Mind entwickelt sich erst im Verlaufe der Kindheit, ist also nicht von Anfang an vorhanden. Sie ist erst dann entwickelt, wenn ein Kind versteht, dass eine andere Person eine eigene Meinung aufweist und diese von der eigenen unterschieden werden muss. Dies ist meist ab dem vierten bis fünften Lebensjahr entwickelt (Resch 1999, S.199). Somit ist eine Perspektivenübernahme möglich, bei der „Rücksicht auf den Informationsstand eines Zuhörers“ (vgl. ebd., S. 200) genommen werden kann. Die Entwicklung einer Theory of Mind ist im 1. Lebensjahr daran erkennbar, dass das Kind auf soziale Signale sachgemäß reagieren kann. Im 2. Lebensjahr wird dann eine Empathiefähigkeit erkennbar. Im 3. Lebensjahr können Kinder dann bereits auf die Verfassung anderer reagieren, jedoch ihren eigenen Wissensstand nicht mit fremden abgleichen (ebd., S.199).
2.2 Perspektivenübernahmekompetenz
Die Perspektivenübernahmekompetenz betitelt Spinner im Kontext des Deutschunterrichts als eine Fähigkeit „Perspektiven literarischer Figuren nachvollziehen“ (2006, S.100) zu können. Der Text führt den Leser dabei zu einem Verständnis der Positionen, Gefühle und Wahrnehmungen der Protagonisten. Dabei ist eine Identifikation genauso möglich wie die Feststellung, dass man das Verhalten, die Gedanken oder die Handlungen der Figuren nicht vertreten kann. Somit zählen neben der Identifikation und der Fremdwahrnehmung auch das „Befremden und [die] Rätselhaftigkeit“ (vgl. ebd., S.100) als feste Bestandteile der Perspektivenübernahme. Auch zielt die Perspektivenübernahme auf die Antizipation und die Berücksichtigung anderer Perspektiven (vgl. Nückles 2001), bezüglich der Kognitions- und Leseforschung sowie der Literaturdidaktik auf die Aufnahme der Perspektive der Protagonisten eines Buches sowie dem Verständnis der Erzählperspektive (vgl. Genette 1998; Köster 2002; Pompe 2014, S.123). Man unterscheidet dabei meist zwischen drei unterschiedlichen Perspektivenübernahmen: emotionale, visuelle und sozial-kognitive Perspektivübernahme (vgl. Steins/ Wicklund 1993). Bei der emotionalen Perspektivübernahme ist es der Person möglich sich in eine andere ein- und mitzufühlen, das heißt eine emotionale Verbindung zu dieser aufzubauen. Die kognitive Perspektivübernahme bezeichnet die Fähigkeit die Gedanken und Motive sowie dessen Perspektive zu verstehen. Außerdem kann dessen Verhalten und Reaktionen vorausgesagt werden. Die Kompetenz der Perspektivenübernahme entwickelt sich vom Kindes- bis zum Erwachsenenalter (Pompe 2014, S.123). Die Bildungsstandards der KMK für den Grundschulbereich betiteln ihre Kompetenzerwartung als „bei der Beschäftigung mit literarischen Texten Sensibilität und Verständnis für Gedanken und Gefühle und zwischenmenschliche Beziehungen zeigen“. Herausfordernd wird die Perspektivenübernahme dann, wenn mehrere Perspektiven eingenommen werden müssen. Dies fällt gerade Grundschulkindern schwer. Weiterhin sind interaktive Perspektiven möglich, bei denen durch den Leser aufgeschlüsselt werden muss, wie sich Figuren gegenseitig sehen und wie sich diese Sichtweisen aufeinander auswirken (Spinner 2006, S.101).
2.3 Kompetenzstufenmodell der Perspektivenübernahme nach Rietz
Florian Rietz hat sich in seiner Dissertation dem Begriff der Perspektivenübernahme gewidmet. Dabei hat er ein literaturdidaktisches Kompetenzstufenmodell entwickelt, dass in drei Stufen die Entwicklung der Perspektivenübernahmekompetenz transparent macht.
Die erste Stufe der Perspektivenübernahme betitelt Rietz als Perspektivenkoordinierung. In dieser Stufe ist es der Person möglich seine eigenen Gedanken von denen anderer abzugrenzen. Dadurch ist es ihr möglich verschiedene Perspektiven voneinander zu unterscheiden und diese als individuelle Sichtweisen zu sehen. Der Person ist es in dieser Stufe möglich die Perspektiven der einzelnen Figuren von der des Erzählers zu unterscheiden, zu koordinieren und daraus „ein Wissen für sich zu konstruieren“ (vgl. Rietz 2017, S.85). Dem Rezipienten ist es demnach also möglich festzustellen, dass jede Fi- gur einen individuellen Wissensstand aufweist (ebd., S.86). Beispielsweise hat Protagonist A ein Geheimnis, von dem er niemanden etwas erzählt hat. So weiß Protagonist B nicht, was Protagonist A ihm verheimlicht.
Zusammenfassend wird in der Perspektivenkoordinierung die erzählte Welt „durch das Prisma des Erzählers entworfen“ (vgl. ebd., S.87). Der Erzähler legt dabei die Innen- und Außenperspektive der Protagonisten dar, aus denen sich der Informationsstand der einzelnen Figuren ergibt. Dem Rezipienten ist es möglich die durch den Erzähler mitgeteilten selektiven Informationen den einzelnen Figuren zuzuordnen, voneinander abzugrenzen, zu koordinieren „sowie für sich selbst als Ganzes“ (vgl. ebd., S.87) wahrzunehmen. Die zweite Stufe ist die Perspektivkonstruktion. Hierzu zählen alle in Stufe I aufgezählten Prozesse, jedoch werden diese entwicklungspsychologisch wie auch narratologisch komplexer (Rietz 2017, S.87). Die Perspektivkonstruktion beinhaltet drei verschiedene Facetten der Konstruktion. Zum einen die Vorstellung von Perspektiven, zum anderen die Abgleichung von Perspektiven und weitergehend die Bewertung von Perspektiven. Diese drei Kategorien lehnen sich stark an das Modell der Theory of Mind an (ebd., S. 90). Der Leser entwickelt eigene Vorstellungen, wenn diese vom Erzähler oder der Figur nicht vorgegeben werden. Dabei greift er auf sein Welt- und Kontextwissen zurück. Außerdem gleicht er die verschiedenen Perspektiven miteinander ab und bewertet diese „als zutreffend oder als nichtzutreffend“ (ebd., S.87). So füllt der Leser durch den Erzähler nicht gefüllte Lücken selbstständig auf. Hierbei kann die Perspektive der Figuren zum gegebenen Sachverhalt komplexer sein als die des Lesers. Die drei oben genannten Facetten der zweiten Stufen lassen sich auf literarische Texte anwenden, gewinnen in narratologischen Texten jedoch deutlich an Komplexität. Daher wird der Kompetenzbegriff der Perspektivenübernahme in der zweiten Stufe durch den ideologischen Aspekt erweitert. Die Perspektiven des Erzählers und der Figuren zählen hier als „ideologisch“, weil sie je nach „Wissen, Denkweise, [...], Wertungshaltung [...] [und] den geistigen Horizont“ (ebd., S.88), den Protagonisten ein unterschiedliches „Geschehen im Kontext der Erzählung fokussieren“ (ebd., S.90).
Die dritte Stufe der Perspektivenübernahmen betitelt Rietz als Perspektivenrelativierung. Diese Stufe stellt die anspruchsvollste der drei dar. Hier wird die eigene Perspektive des Lesers im Hinblick auf die Perspektiven der literarischen Figuren und des Erzählers relativiert (Bischoff-Köhler 2011). Diese Phase beginnt erst in der Reifezeit des Menschen, also in der Adoleszenz. Im Vordergrund steht hier keine strukturalistische Textanalyse, sondern eine inhaltlich-semantische (Rietz 2017, S. 91). Die durch den Erzähler konstruierten Wert- und Normvorstellungen der literarischen Figuren prägen die in der erzählten Welt dargestellten Sachverhalte. Die konstruierten Vorstellungen stehen dabei im Kontrast zu denen des Lesers. Diese Unterschiedlichkeit kann auf kultureller oder historischer Ebene vorhanden sein und ist ebenfalls abhängig von der entwicklungspsychologischen Position des Lesers. „Die entworfenen Kultur- und Wertvorstellungen der erzählten Welt können sich stark von den lebensweltlichen Bezügen des Rezipierten unterscheiden.“ (vgl. ebd., S.91). Der Leser soll die Perspektiven der Protagonisten vergegenwärtigen und mit seinen eigenen vergleichen/ zusammenführen. Weiterhin soll er seine eigenen Perspektiven mittels der möglichen Norm- und Wertvorstellungen der konstruierten literarischen Realität relativieren (Rietz 2017, S.91). Ob und wie diese Stufe im Kontext des Bilderbuches überhaupt aufgegriffen werden muss, hängt vor allem von der Altersgruppe ab, auf das das Buch abzielt. Daher ist die Perspektivenrelativierung für die weitere Analyse weniger interessant, da sich das Buch nicht an Jugendliche und Erwachsene, sondern an Kinder im Kindergarten- und Grundschulalter richtet. Sie wird im Verlaufe der Analyse daher nicht näher untersucht.
Da Bilderbücher bekanntlich sowohl auf narratologischer als auch auf visueller Ebene Informationen zur konstruierten literarischen Welt übermitteln, müssen im Folgenden auch beide Ebenen näher untersucht werden. Dies geht aus dem Analysemodell von Rietz nicht hervor und muss im Folgenden daher strukturiert angepasst werden.
3 Analyse
3.1 Stufe I: Perspektivenkoordinierung
Bei der Perspektivenkoordinierung liegt der Fokus auf der Wahrnehmung der einzelnen konstruierten Perspektiven. Diese müssen voneinander differenziert werden und es muss erkannt werden, dass jede Figur einen individuellen Wissensstand besitzt.
Die Perspektivenkoordinierung im Bilderbuch „Irgendwie Anders“ begrenzt sich auf die Figuren „Irgendwie Anders“, das Etwas und die „anderen“. Dabei werden die „anderen“ Figuren als ein Gesamtes gesehen, die dieselben Wert- und Normvorstellungen vertreten. Einen wirklichen Namen scheint keines der Figuren zugeordnet zu haben. So wird Irgendwie Anders zwar benannt, erhält seinen Namen aber nur anhand seiner Eigenschaft anders als die anderen zu sein. Trotzdem erhält der Leser dadurch im Gegensatz zu den anderen Figuren eine nähere Verbindung zum Hauptprotagonisten, weil dieser nicht wie die anderen anonymisiert dargestellt wird. Hingegen wird die Gemeinschaft, der Irgendwie Anders angehören möchte, nur im Gesamten als „die anderen“ (vgl. Cave, Riddell 1994, S.5) betitelt. Damit wird keine tiefere Charakterisierung vorgenommen. Im Folgenden wird diese Figurengruppe zur Vereinfachung des Verständnisses als „die anderen“ bezeichnet.
„Er wusste, dass er irgendwie anders war, denn alle fanden das.“ (vgl. ebd., S.3)
Die Geschichte selbst wird durch einen personalen Erzähler konstruiert, der die Gedanken und Gefühle des Hauptprotagonisten Irgendwie Anders kennt. Dabei wird durch den Erzähler auf die Gefühle und Meinungen der anderen Figuren lediglich durch ihr Verhalten und ihre Aussagen gedeutet. Der Erzähler erzählt die Geschichte sehr neutral und gibt selbst keine Wertungen ab. Diese überlässt er dem Leser, bietet ihm jedoch durch wörtliche Rede Hilfestellungen zur Perspektivübernahme an. Diese sind in Form von Beschreibungen und wörtlicher Rede realisiert.
Da bei einem Bilderbuch Text- und Bild fest miteinander verknüpft sind, werden diese im Folgenden nacheinander an ausgewählten Szenen analysiert. Zuerst wird die textliche Ebene untersucht, im Anschluss daran folgt direkt der Einbezug der illustrativen Ebene, in der dann Text und Bild in Bezug zueinander gesetzt werden sollen.
3.1.1 Perspektive des Irgendwie Anders
Textliche Ebene
„Auf einem hohen Berg, wo der Wind pfiff, lebte ganz allein und ohne einen einzigen Freund Irgendwie Anders.“ (Cave, Riddell 1994, S.1)
Irgendwie Anders wird direkt im ersten Satz von dem Erzähler eingeleitet. Er charakterisiert ihn als eine einsame Figur, die allein, abgeschieden auf einem Berg lebt. Dadurch bekommt der Leser ein erstes Gefühl dafür, um was für eine Persönlichkeit es sich handelt.
„Er wusste, dass er irgendwie anders war [...]. (ebd., S.2).
Auf der darauffolgenden Seite wird dem Leser die Perspektive der Eigenwahrnehmung des Hauptprotagonisten verdeutlich. Irgendwie Anders unterscheidet sich in einigen Eigenschaften von den anderen Figuren der Geschichte. Die Perspektivübernahme ist in diesem Fall eine emotionale.
[...]
- Arbeit zitieren
- Marlon Roth (Autor:in), 2019, Perspektivenübernahme im Bilderbuch. Inwiefern ermöglicht das Bilderbuch "Irgendwie Anders" von Kathryn Cave und Chris Ridell die Perspektivenübernahme der Protagonisten durch kindliche Leser?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1061365
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