Das Varieté als Theaterform

Am Beispiel der Sophiengala


Hausarbeit, 2002

34 Seiten


Leseprobe


Einleitung

Im Rahmen der Studiobühne Mitte findet nun seit vier Jahren die von Studenten organisierte und inszenierte Sophiengala zwei bis drei mal pro Semester statt. Im Rückblick auf die mittlerweile zahlreichen Aufführungen und die konzeptionelle Umgestaltung, möchte ich an dieser Stelle eine Bestandsaufnahme in Form einer zweifach gegliederten Dokumentation dieser praktischen Arbeit vornehmen.

Zum einen soll hier die Ursprungsgattung der Sophiengala, das Varieté, in seinen unterschiedlichen Erscheinungen in Form eines Überblicks aufgearbeitet und erläutert werden.

Zum anderen soll dieser Aufriß die konzeptionelle Zusammensetzung der Sophiengala aus Einzelelementen der unterschiedlichen Varietéformen verdeutlichen und vorhandene Parallelen aufzeigen.

Im Namen der Sophiengala ist schon ein Grundproblem verborgen, das bei dem Begriff des Varietés noch viel auffälliger werden wird. Die Rede ist von dem Wort „Gala“. Schlägt man im Duden nach, so stößt man auf die folgende Definition:

Gala1

1. Für einen besonderen Anlaß vorgeschriebene festliche Kleidung; großer Gesellschaftsanzug
2. Hoftracht
3. In festlichem Rahmen stattfindende Theater-, Opernaufführung oder ähnliche Galavorstellung

Im Etymologischen Wörterbuch ist ähnliches über die Herkunft des Wortes zu lesen:

Gala2

Festkleidung, das um 1700 über den Wiener Hof ins deutsche gelangt, ist eine unmittelbare Entlehnung vom spanischen gala „Staatskleidung, Putz, Zierde, vollendetes Benehmen, Hoffestlichkeit“. Kurz zuvor (Ende des 17 Jh.) läßt sich bereits die Zusammensetzung Galakleid (wohl nach dem spanischen vestido de gala) nachweisen. Das spanische gala geht wahrscheinlich zurück auf afrz. mfrz. gale „Lustbarkeit, Vergnügen“ zurück, das zum Verb afrz. mfrz. galer „sich vergnügen, ein lustiges Leben führen“ gehört, dessen Herkunft nicht sicher geklärt ist.

An diesen beiden Definitionen lassen sich zwei Probleme erkennen:

Das Wort Gala hat nicht nur eine sprachliche Bedeutung. Bezieht man sich auf den Duden, steht es im Zusammenhang mit Theater, Festlichkeit, Kleidung und Hof. Andererseits bezeichnet es im etymologischen Sinne zwar ebenfalls das Aristokratische, enthält aber noch eine emotionale Komponente, nämlich „Lustbarkeit, Vergnügen“, bzw. „sich vergnügen, ein lustiges Leben führen. Im alltäglichen Sprachgebrauch läßt dieses Wort also individuelle Deutungen zu. Die gemeinhin gängige Vorstellung von Gala wird wohl mit einem Dîner, einer Wohltätigkeitsveranstaltung oder ähnlichen gesellschaftlichen Veranstaltungen in Verbindung gebracht.

Im Sinne der Sophiengala ist es richtig, von „Lustbarkeit“ und einem „Vergnügen“ zu sprechen, die in diesem Falle allerdings für das Publikum gelten sollen. Bei dem Festlichen bezieht es sich aber eher auf den Begriff Varieté, womit ich auf das oben bereits angedeutete Problem der Wortbedeutung und Deutung zurückkomme. Denn wie man dem Etymologischen Wörterbuch über Gala entnehmen kann, „…dessen Herkunft nicht sicher geklärt ist.“, so finden sich zu dem Begriff Varieté im sprachlichen Gebrauch eine Vielzahl von Deutungen. Zu dem hat es eine Vielzahl von Variationen dieses Genres im Wandel der Zeit und in den unterschiedlichen Nationen gegeben.

Ob man unter Varieté nun eine Form der Unterhaltungskunst versteht, die an eine bestimmte Gebäudeform gebunden ist, ob es als eine Ansammlung intellektuell anspruchsloser Ablenkungen oder als lockere Nummernfolge artistischer, tänzerischer und kabarettistischer Darbietungen gemeint ist, die Vielzahl der Deutungen dieses Wortes kommt dem eigentlichen Wesen des Varietés wohl am nächsten.

Zu Beginn eines der ältesten Sachbücher zum Thema beschreibt dessen Autor Arthur Moeller-Brucks dieses Problem bereits 1902 sehr treffend:

„ Wenn man ganz allgemein und in die Breite der Menschheit hineinfragte, was das denn nun eigentlich sei, Variet é und Variet é moment, so würde eine bunte Equente herauskommen; ein richtiges Variet é der Meinungen würde man erhalten. “ 3

Varieté als eigenständige Theaterform

Das Varieté ist in seiner Genealogie mit dem Theater und dem Zirkus verwandt, ohne mit einem von beiden identisch zu sein. Im Gegensatz zum Theater bedarf es keiner organisierten dramatischen Handlung und außer der Bühne haben die beiden Formen wenig miteinander gemein. Es liegt mit dem Grundprinzip „Einheit der Vielfalt“ dem Zirkus näher. Dieser fügt gleichfalls Darbietungen, die sich in Form, Inhalt und Charakter unterscheiden zu einem sinnvollen Ganzen zusammen. Diese beiden Formen unterscheidet neben der Spielfläche auch der Charakter der ausgewählten Einzeldarbietungen, die im Zirkus zunächst primär mit dem Pferd in Verbindung standen, beim Varieté jedoch auf Unterhaltung und Geselligkeit ausgelegt waren.

Des weiteren unterscheidet es sich klar von Theater und Zirkus durch die Verbindung mit der Gastronomie, die Jahrzehntelang bestimmend war. In ihr ist einer der Ursprünge des Varietés zu suchen und auch heute noch in der kleineren Form des Tanzkabaretts und von Nachtklubs zu finden.

Das Varieté ist also nicht die Einfalt der Vielheit, wie böse Zungen behaupten, sondern die Grundform bühnengebundener Unterhaltungskunst in Verbindung mit gastronomischer Konsumtion und kann als eigene Gattung bestehen. Dem Varieté als performativer Form sind wiederum andere Genres der Unterhaltungskunst entsprungen. Mit dem Kabarett, dem Tanzkabarett, dem Nachtclub und der Revue sind hier nur einige der Unterformen genannt. Um das Varietéprogramm als eigenständig zu kategorisieren, verweise ich hier auf ein Zitat von Günther Latsch:

„ Ein Variet é programm besteht aus einer kleineren oder gr öß eren Anzahl von Darbietungen, die für die gemeinsame Veranstaltung gewissermaßen mosaikartig zusammengesetzt werden, wobei jede für sich eine künstlerisch geschlossene Einheit mit Anfang und Ende bildet. “ 4

Um nun dieses „Varieté der Meinungen“ besser zu verstehen und die Parallelen zur Sophiengala zu verdeutlichen, möchte ich im Folgenden die Entwicklung dieser theatralen Form in England, Frankreich und Amerika nachzeichnen. Das deutsche Varieté bleibt hier vorerst ausgespart, da dieses Thema in einer separaten Arbeit eingehender untersucht werden soll.

Bei den Ausführungen beziehe ich mich, falls nicht anders angegeben, im wesentlichen auf das Buch „Die Geschichte des Varietés“ von Ernst Günther, erschienen im Henschelverlag Berlin 1981.

Varieté in England

Nach der Meinung von Ernst Günther hat das Varieté seinen Ursprung in der zweiten Hälfte des 18. Jh. in England. Er bezieht sich dabei auf M. Kusnezow, der bei seinen Forschungen zum Zirkus auf das Varieté gestoßen ist. Seiner Meinung nach brachte das aufstrebende Bürgertum sowohl den Zirkus als auch das Varieté hervor.

Der Grund für diese Annahme liegt darin, daß in England zwischen 1730 und 1800 die ersten Erfindungen gemacht wurden, mit denen die industrielle Revolution und auch die Verstädterung in Gang kam. Mit technischen Errungenschaften wie der Dampfmaschine (1769) und dem mechanischen Webstuhl (1787) vollzog sich der Übergang von der Manufaktur zur Großproduktion. Das sich ausbreitende Kolonialreich tat sein Übriges dazu und die wachsende Selbständigkeit der Bourgeoisie konnte nicht länger auf Wirtschaft und Politik beschränkt bleiben. Kultur und Kunst mußten an die Interessen eines bürgerlichen Publikums angepaßt werden. Zu Beginn blieben traditionelle Formen der Unterhaltung wie Theater, Tanz und bestimmte Formen der Geselligkeit dem Adel und dem Militär vorbehalten, aber durch die industrielle Revolution wurde der Differenzierungsprozess zwischen Groß- Mittel- und Kleinbürgertum beschleunigt und die breite Masse wollte einen Ort finden, wo sie ihr Bedürfnis nach Unterhaltung befriedigen konnte. Eine Lokalität, in der sich das Angenehme mit dem Nützlichen verband war (und ist) für die Engländer der Pub. Mit den „Tavern-Concert-Rooms“, die schon mit Podium oder bescheidener Bühne ausgestatteten „Konzerträume“ der Kneipen begann es. Aus ihnen entstanden die Pub- und die Saloon-Theatres.

Diese Periode, die am Anfang der Entwicklung steht, läßt sich wohl am besten als die der Kneipen-Varietés bezeichnen. (ca. 1750-1850) Ihr Hauptcharakteristikum war die Verbindung aus geselliger Unterhaltung gemeinsamem Konsum. Diese Lokale nannten sich Pub-Theatre, Saloon-Theatre Song-and-Supper-Room, Tavern-Concert-Room, Tea Garden (Sommerbühne), um nur einige zu nennen. Ihre Programme waren recht bunt zusammengewürfelt und auf dem gleichem Niveau, egal ob es sich um eine Vorstadtkneipe oder ein First-Class-Hotel handelte. Der Lokalität entsprechend wurde vom Publikum weder Stillschweigen, noch Aufmerksamkeit verlangt. Wer diese als Künstler haben wollte, mußte sie sich selber lautstark verschaffen, denn vorrangig war immer noch der Umsatz des Wirtes und die Kommunikation der Gäste untereinander. Gleichzeitig konnte das laufende Programm, das in seiner Nummernfolge sehr lose war, jederzeit für wichtige Geschäftsnachrichten unterbrochen werden. In den Pubs wurden oft die besten Geschäfte gemacht denn sie waren Zentren der Kommunikation. Die Wirte kümmerten sich aus diesem Grund auch kaum um die Künstler und um das Programm, denn sie waren freie Unternehmer, deren Haupteinnahmequelle die Gastronomie und nicht die Kunst war. Das Publikum zahlte keinen Eintritt und das Programm war entsprechend bunt: vom Akrobaten über die Balletteuse bis zum Taschenspieler und zur Animierdame war jeder Vertreten, der auf das Podium wollte.

Doch da dem Publikum am ehesten nach Lachen zu Mute war, hatten Komik und Humor den absoluten Vorrang vor allem anderen. Diese Gewichtung sollte ein Hauptaspekt des englischen Varietés werden und bis heute bleiben. So ist wohl eine der Wurzeln des gegenwärtig im Fernsehen so populären Stand-Up- Comedians in der frühen, englischen Varietégeschichte zu finden.

Diese erste Periode der englischen Varietés, die sich in beinahe hundert Jahren urwüchsig, volkstümlich und zum Teil sehr progressiv entwickelt hatte (ca. 1750- 1850), ging mit Charles Morton (1819-1904) zu Ende. Er kultivierte und perfektionierte das Varieté um es dann in seine nächste Form, die Music-Halls, zu überführen. Morton selbst sagte dazu:

„ Ich war von der Idee geradezu besessen, den Tausenden Londonern, die sich den Besuch eines Theaters oder eines Konzertsaals nicht leisten konnten, eine vergnügliche Abwechslung zu verschaffen. “ 5

Die zweite Periode (ca. 1850-1913) begann mit Mortons Eröffnung der Canterbury Hall (London), die noch heute von vielen als die erste Music-Hall angesehen wird. Doch damit ist er nicht der Vater der Music-Halls, denn die ersten Music-Halls im Sinne eines Theaters, daß sich über die Pubs erhob und die einstige Nebensache zur Hauptsache machte, entstanden früher, im industriellen Norden Englands: 1832 in Bolton die Star Music-Hall, 1837 in Sheffield das Adelphi, 1840 in Birmingham die Rodney Music-Hall und 1842 in Huddersfield die Britannia.6

Was Mortons Vorgehensweise von den anderen Music-Halls unterschied, war die Tatsache, daß er mehr als ein halbes Dutzend Music-Halls für die unterschiedlichsten Bevölkerungsschichten eröffnete. Da sie alle in seiner Hand lagen konnte er, zumindest für die Hauptstadt, den Stil festlegen und prägte die Entwicklung entscheidend.

Er organisierte die Vorstellungen, verbannte das Vulgäre und Primitive und disziplinierte das Publikum hinsichtlich der Kleidung, Noblesse und Aufmerksamkeit. Mit ihm wurde das englische Varieté nobel, büßte dabei jedoch seine Volkstümlichkeit ein.

Außerdem lösten sich in dieser Periode, die durch das rapide Anwachsen der Anzahl der Music-Halls gekennzeichnet war, die immer prunkvolleren Varietépaläste von der Gastronomie, denn der Konsum während einer Vorstellung beschränkte sich nur noch auf Rauchen und Trinken. Der Schaubühnencharakter wurde ausgebaut. Durch ausländische Künstler und artfremde Genres wurden die Programme angereichert. Es war die Periode der Kommerzialisierung und Kapitalisierung des Varietés, was sich nicht zuletzt in den ehemals unüblichen Eintrittspreise ausdrückte. Eines der extravagantesten Theater Londons war die Alhambra-Palace-Music-Hall, die 1860 eröffnete. Ihre Innendekoration wurde in den 50 Jahren ihrer Existenz sieben mal erneuert, um sie der jeweils herrschenden Mode anzupassen.7

Inhaltlich brachte diese zweite Periode, die als die Glanzzeit des englischen Varietés bezeichnet wird, eine zahlreiche Reihe von Stars hervor, die immer noch aus dem Bereich der Komik kamen und ebenfalls immer noch als Alleinunterhalter das Publikum erfreuten. (Auch hier ist wieder eine Parallele zu aktuellen TV-Shows zu finden, z. B. TV-Total von Stefan Raab oder die Harald- Schmidt-Show. B.B.)

Neben der Komik waren Gesang und Tanz die beiden anderen Hauptsäulen des englischen Varietés und mit der Differenzierung zur Jahrhundertwende hin nehmen die erotischen Moment an Bedeutung zu. Was in den Pubs noch schamlos-derb war, wurde nun im Glanz der Paläste als verfeinerter Sinnesreiz zelebriert und kündigte die oppulenten Ausstattungsrevuen an. Doch nicht nur die Erotik allein zählte, sondern vor allen Dingen die mit der Technikbegeisterung einhergehende Gigantomanie. Der Chorus der tanzenden Girls wuchs an und die Herstellbarkeit von Ereignissen (wie z. B. Kriegsschlachten o. ä.) rückte in den Mittelpunkt. So war zum Beispiel das Londoner Hippodrome als Mehrzweck- Music-Hall konzipiert, in der auch Wasser- und Zirkusspiele gezeigt wurden. Vor der klassischen Guckkastenbühne befand sich eine Arena, die mit 450 000 Litern Wasser geflutet werden konnte. In einer Show glitten beispielsweise 20 Elefanten über Rutschen ins Becken, in einer anderen traten 70 Eisbären auf (1907). Doch mit eben dieser Herstellbarkeit von Ereignissen, mit ihrem detailgetreuen Realismus raubten sich die Music-Halls das Geheimnisvolle, den luxuriös - erotischen Moment, der die Zuschauer in eine imaginäre Welt entführte und träumen ließ. Auf diesen Moment gingen die Ausstattungsrevuen wieder verstärkt ein. Sie lösten den Chorus der Girls und das Dekor aus dem Rahmen einer durchlaufenden Handlung. So wie die Blicke der Zuschauer die Ornamente an den Decken und Wänden der Paläste streiften, sollten die luxuriösen Sensationen auf der Bühne an ihnen Vorbeiziehen - sie sollten ”Revue passieren”. Da aber der eigentliche Ursprung der Ausstattungsrevuen in Frankreich liegt, soll später noch einmal an der entsprechende Stelle darauf eingegangen werden.

Trotz der aufwendigen Spektakel waren beim englischen Publikum aber weiterhin die Komiker am beliebtesten. Theatralische Bestandteile ihrer Nummern waren Nachahmungen bekannter Persönlichkeiten, lustige Lieder, absurde körperliche Verrenkungen und ein enormer Sprachwitz, der den englischen Humor bis heute prägt. Jeder Künstler war durch seinen persönlichen Stil und seine besonderen Spezialitäten bekannt. Durch ihre teils vulgäre, aber trotzdem bodenständige und lebensnahe Art ernteten sie große Erfolge und waren beim Publikum sehr beliebt.

Die dritte Periode zwischen den beiden Weltkriegen war geprägt von gesellschaftlichen und technischen Veränderungen. Zugleich waren es die Jahre, in denen der Film seine ersten Erfolge feierte. In diesen Jahren wandelte das englische Varieté seinen Charakter grundsätzlich von der Nationalität zur Internationalität, denn mit seinem vierzehntägigen oder monatlichen Programmwechseln ermöglichte er es, schneller zu Profit zu kommen als der herkömmliche Stil. Der französische Stil der Ausstattungsrevue und das deutsche Nummernvarieté veränderten das vorher einheitliche, dem Arbeitermilieu entstammende Bild des englischen Varietés und es entstanden multinationale Formen der Zusammenarbeit, so daß London, Berlin und New York ihre Künstler „tauschten“. Auf Grund wirtschaftlicher Schwierigkeiten und dem Erfolg des Films entstanden vielerlei Experimente, so z. B. das Kinovarieté oder das Nonstopvarieté.

Das Kinovarieté degradierte das Varieté zu einem Beiwerk der filmischen Darbietung. Die zunehmende Perfektionierung des Films führte zur völligen Verdrängung des Varietéelementes. Der Erfolg des Tonfilms war nicht aufzuhalten und die Kinovarietés zeigten nur noch Filme oder gingen pleite. Das Nonstopvarieté war eine englische Erfindung, die mitten in der Weltwirtschaftskrise von Vivian van Damme gemacht wurde. Sie eröffnete am 4. Februar 1931 in London das Windmill-Theatre und begründete damit einen neuen Stil. Hier sollte in kürzester Zeit ein Maximum an Optischem angeboten werden, damit die Hektik des Lebens ihre Entsprechung auf der Bühne fand. Die Programme waren revuehaft aufgemacht und faszinierten durch Quantität und Buntheit. Doch nachdem ihrem anfänglich großen Erfolg vergingen auch die Nonstopvarietés wieder. Nur das Windmill-Theatre hatte länger Bestand. Es schloß erst im Jahre 1964.

Mit Ende des zweiten Weltkrieges begann die vierte Periode des englischen Varietés, die geprägt war von der Rückbesinnung auf die ursprüngliche, kleine Form - obwohl zu Beginn eine Renaissance des groß angelegten Nummernvarietés stand. Doch diese Phase hielt sich nur bis Mitte der fünfziger Jahre als das erste große Varietésterben einsetzte. Die kleineren Nachtclubs und Theaterrestaurants gewannen wieder an Bedeutung, denn das finanzielle Risiko war gegenüber den Riesensälen mit 4000 Plätzen vergleichsweise gering.

Im Jahre 1962 erreichte die zweite große Varietékrise ihren Höhepunkt und bis zum Oktober des Jahres wurden 200 Varietés, darunter viele traditionelle, geschlossen.

Im Laufe der letzten Jahrzehnte hat sich der Trend zur gastronomischen Bindung und zum Nightclubcharakter mit vermehrt auftauchenden Travestie-Shows weiter verfestigt. Die Zahl der Varietés ist relativ stabil und die Rückkehr zum einstmals extravaganten internationalen Varietéstil scheint ausgeschlossen.

Varieté in Frankreich

Die Engländer hielten nie besonders viel vom französischen Varieté, da es ihnen nicht ernsthaft genug war und zu oberflächlich und vulgär erschien. Das hinderte sie aber nicht daran, ihre jungen, attraktiven Tänzerinnen nach Paris zu vermitteln, wo sie das tun konnten, was in England lange Zeit mit Problemen verbunden war: ihre nackte Haut zu zeigen. Doch kann man davon nicht ableiten, daß das französische Varieté unter Einfluß des englischen entstanden ist, obwohl der gesellschaftliche Hintergrund ähnlich war.

Wie in England, so beginnt hier, wenn auch ein wenig später, die Geschichte des Varietés mit der industriellen Revolution. Durch den Differenzierungsprozess innerhalb der Bourgeoisie entstand ebenfalls die Nachfrage nach Unterhaltung für das Mittel- und Kleinbürgertum. In Frankreich entstand sie aus den sogenannten Cafés chantants. Mit den heutigen Kaffeehäusern hatten sie nichts gemein, eher erinnerten sie an die Englischen Pub-Theatres. Der entscheidende Unterschied war allerdings, daß die Treffpunkte hier weniger geschäftlich, sondern Stätten des Amüsements waren, Orte der “Verbrüderung“ von Kleinbürgertum und Proletariat.

Die ersten Cafés chantants kamen in Lyon und Marseille zu Beginn des 19. Jh. auf. Ihre Programme wurden durch den Gesang dominiert, in dem die progressive Vaudeville-Tradition8 ihre Fortführung fand. Die Lieder waren so aufgebaut, daß das Publikum den Refrain mitsang oder - je später der Abend desto lauter- grölte. Wer Erfolg haben wollte, mußte, ebenso wie in England, die Zuschauer zum Lachen bringen. Neben dem satirischen bildete sich das derb-komische und vor allem drastisch-erotische, mit zweideutiger Gestik untermalte Lied aus. Amateure standen neben den Könnern auf der Bühne und die umsichtigen Wirte organisierten sogar entsprechende Wettbewerbe, was natürlich ihren Umsatz steigerte. Gleichberechtigt aber in geringerer Anzahl traten natürlich auch hier Akrobaten, Mimiker und andere auf.

Die Cafés chantants hatten großen Erfolg und verbreiteten sich schnell über das ganze Land. 1850 gab es in Paris 200, in denen jährlich 10 000 bis 15 000 Lieder erfunden wurden. Aber sie waren nicht nur Unterhaltung für die Mittel- und Unterschicht, sondern sie galten auch als subversiv, denn in ihnen konnten Kleinbürger und Proletarier ihrem Herzen Luft machen, anstatt nur ihr soziales Elend zu vergessen. Bei der Junirevolution von 1830 trugen sie in nicht unerheblichem Maße zu deren Vorbereitung bei. Zum einen wurde von den Bühnen aus das Volk zum Aufstand ermutigt, zum anderen fungierten sie als Treffpunkte und Debattierstätten. Ab 1846 wurden sie von den kommerzieller ausgerichteten Café concerts abgelöst, was zum einen daran lag, daß so manch einer entdeckte, welcher Profit aus der Sache zu schlagen war, wenn man sie in größeren Dimensionen fortsetzte. Andererseits blieb der Profit durch Anpassung an die politische Macht eher gewährleistet. Denn diese Macht hatte Interesse daran, die Opposition aus den Café chantants mundtot zu machen. So wurde aus dem progressiven, volkstümlichen Stil ein eher unterhaltsamer und politisch harmloser, der aber darum nicht weniger erfolgreich war.

Die Café concerts, (auch Caf´ conc´ genannt) waren in der Regel langgestreckte, rechteckige Säle mit einer ziemlich hohen Bühne an der hinteren Schmalwand, also keine Cafés im üblichen Sinne und auch keine Konzertsäle, sondern eher Volksvarietés mit gastronomischer Betreuung. Sie hatten Platz für eine große Anzahl von Zuschauern und waren auch inhaltlich auf Massenabfertigung eingestellt. Die Darbietungen waren immer noch kostenlos, denn der Hauptumsatz wurde auch hier mit Essen und Getränken erzielt.

In die Programme wurde alles aufgenommen, was irgendwie Erfolg zu versprechen schien: Neben den seit jeher populären Sängern und Komikern gab es Tänzerinnen, Clowns, Akrobaten, Magier, Imitatoren, Schauspieler, etc. Besonderes Merkmal war die direkte Reaktion des Publikums auf die Vorführungen, denn gute (meist komische) Nummern wurden enthusiastisch gefeiert, während die wirkungsmäßig schwachen niedergebrüllt wurden. Häufig wies die Programmstruktur eine Dreiteilung auf: 1. einen Nummern-, 2. einen Solisten- und 3. einen pantomimisch gestalteten Teil, der allerdings nicht stumm sein mußte. Das Jahr wurde ebenfalls unterteilt, in „die Saison“ und die „tote Zeit“ des Sommers, während der in Paris nicht gespielt wurde. Allerdings gingen die Künstler oft auf Tournee durch die Provinz.

So wie in England die größtenteils männlichen Komiker die Stars blieben, verhielt es sich in Frankreich mit den Sängerinnen. Zwar gab es auch Komiker und Sänger, aber die Hauptaufmerksamkeit galt den Frauen, was in gewisser Hinsicht auf die großen Revuen vorausweist. In der Zeit der Caf´conc´ hatten sich die Stars oft aus der bürgerlichen oder proletarischen Unterschicht hochgearbeitet und diese Nähe zum Volk begründete zum Teil ihren Ruhm. Der Erfolg schlug sich natürlich auch in den Gagen nieder, die langsam aber sicher in die Höhe kletterten. Eine, die als Beherrscherin der Caf´conc´ Bühnen galt, Yvette Guilbert, konnte zu dieser Zeit problemlos eine Gage von 850 Franc für einen Fünf- Minuten-Chanson verlangen. (Sie kam allerdings aus gutbürgerlichem Hause und nicht aus der Unterschicht.)

Ab ca. 1867 wurde der britische Einfluß deutlich spürbar, zuerst durch die Übernahme der Methoden der Programmgestaltung und dann durch den Begriff Music-Hall, der in Frankreich einfach okkupiert wurde (ca. 1875). Der Stern der Caf´conc´ sank und für die Folies9 begann der Aufschwung. Zu Beginn verlief dieser Erfolg allerdings etwas stockend, denn diese neuen Amüsierbetriebe waren auf Grund ihres höheren Niveaus auf ein zahlungskräftiges Publikum angewiesen. Die Groß- und Mittelbourgeoisie ließ sich erst rund zehn Jahre später für diese neuen Ideen gewinnen. 1885 besann sich der Direktor der 1869 eröffneten Folies Bergère10 L´Allemand auf die nationalen Eigenheiten des französischen Varietés: das Bekenntnis zur Erotik. Er kreierte die Varietéform, die für die Zukunft als „typisch französisch“ gelten sollte, das Grand spectacle. Unter dem Eindruck der Jahresrevuen, die sich an einigen Theatern großer Beliebtheit erfreuten, inszenierte er die erste, dem Metier angepaßte Revue, die am 30 November 1886 Premiere hatte und die für damalige Begriffe unglaubliche Summe von 10 000 Francs kostete.

Obwohl diese neue Form sehr erfolgreich war, konnte sie sich noch nicht gegen die Caf´conc´ durchsetzen und die Folies suchten den kontinuierlichen Erfolg mit allen Mitteln. So waren die Programme angefüllt mit allerlei spektakulären Nummern: Kraftmenschen, Löwenbändigern, Groteskenpantomimen, Elefantendressuren, Abnormitätenschauen und Ringkämpfen. Doch auch das vermochte das Publikum nicht dauerhaft und regelmäßig in die Vorstellungen zu locken. Also organisierte man für die besten Prostituierten der Stadt Freikarten, die sie zum vierzehntägigen Wandeln durch die Foyerhallen berechtigte. Zwar waren keine offensiven Angebote erlaubt, doch ein aufforderndes Kopfnicken war gestattet. Paul Derval, lange Zeit Direktor der Folies Bergère schrieb dazu in seinen Memoiren:

„ Dieses geniale System bewährte sich einige Jahre hindurch sehr gut. Jeder Pariser wußte, daßdie Damen im Promenoir solche von leichter Tugend waren und daßsie die Creme ihrer Profession darstellten... kurz, das Promenoir der Folies Berg è re war als der beste Liebesmarkt der Stadt bekannt. “ 11

Noch erfolgreicher als die Folies Bergère war das im Jahre 1889 von Alphonse Zidler eröffnete (und heute noch weltbekannte) Moulin Rouge. Sein Erfolgsgeheimnis bestand im Cancan, der bis heute das Markenzeichen der Roten Mühle gilt. In den Caf´conc´ war dieser Tanz die sexuelle Sensation schlechthin, mit dem die Wäscherinnen ihr bescheidenes Honorar aufbesserten, in dem sie ihre Rüschenunterhosen wegließen. Ziedler erkannte die sexuelle Expolsivität die dem Cancan innewohnte und holte ihn in sein Etablissement um ihn dort zu kultivieren.

In diesen frivolen und erotischen Züge der Programme drückt sich ein wichtiges Kennzeichen dieser Periode aus, der „Kampf um die Nacktheit“, denn die Direktoren der neuen Music-Halls waren sich der unwiderstehlichen Anziehungskraft des unbedeckten oder nur leicht verhüllten Körpers wohl bewußt. Sie versuchten damit den Café conc´ den Rang abzulaufen. Doch zu Beginn stand ihnen die Gesetzgebung im Wege. Um 1892 genügte eine Szene unter dem Titel „Mado geht zu Bett“, in der eine Dame sich auszog, bis sie in Korsett und knielangen Hosen vor dem Bett stand, um die Sittenpolizei zu Strafen, Protesten und Verboten zu veranlassen. Gegner und Befürworter lieferten sich in den darauffolgenden Jahren immer wieder heiße Diskussionen, bis durch die ständige Wiederholung ab 1895 Entkleidungsszenen zur Tagesordnung gehörten. Die Debatten blieben allerdings verschwanden die Repressalien mit der Zeit, so daß sich der (fast) nackte Körper als fester Bestandteil der französischen Revuen etablieren konnte. 1907 hatte der damalige Direktor des Moulin Rouge Oller eine Idee, die für die gesamte Branche in den nächsten 60 Jahren bestimmend sein sollte: er dachte sich für seine damalige Tänzerin Germaine Aymos als einzige Bekleidungsstücke drei metallene Muschelschalen aus. Eine noch heute bekannten Tänzerinn, die diesen Trend für sich nutzte war Marguerite Cambell - besser bekannt als Mata Hari. Sie war eine der ersten professionellen Nackttänzerinnen der Pariser Varietészene.

Die Folgezeit, in etwa von Anfang der 20er bis Mitte der 30er Jahre sollte mit ihren aufwendigen Revuen die Glanzzeit der französischen Varietés werden. Die großen Häuser, wie das Moulin Rouge, Casino de Paris oder Folies Bergère erlebten einen enormen Aufschwung durch die Revue, zu deren besserem Verständnis hier ein Abschnitt über den Ablauf eines Abends aus den Memoiren Paul Dervals zitiert werden soll:

„ Zur Eröffnung begr üß en elegant gekleidete Damen und Herren das Publikum, laden es scherzhaft zu einem Drink an der >Schehezerade-Bar<. Ein Zwischenvorhang senkt sich, vor dem ein Sketch geboten wird: eine Pariserin verführt einen Touristen zum Bummel durch die Stadt. Währenddessen werden hinter dem Vorhang die Kulissen für die nächste Szene geschoben: eine Straßenecke auf Montmartre bei Nacht, Mädchen, die ihre Beine schwingen -

Vorführung des unvermeidlichen Cancan. Plötzlich gehen die Lichter aus; nur auf der Vorderbühne beleuchtet ein Scheinwerferkegel drei in rote Roben gehüllte Kardinäle, die sichüber ein Schachbrett beugen. Aus einer riesigen Truhe, die inzwischen im Dunkeln auf die Bühne gebracht wurde, steigen zum Teil halbnackte Show-Girls, die Schachfiguren repräsentieren. In den folgenden Tableaus werden elegant gekleidete Rennbahn-Besucher , Menuett tanzende >Porzellan-Mädchen< und ein vor dem >Tempel der Liebe< eng umschlungenes Liebespaar vorgeführt. Als sich erneut der Zwischenvorhang hebt, ist im hinteren Teil der Bühne der Prospekt des Bahnhofs St. Lazare zu sehen, vor dem schon die Damen der Nacht warten und mit ihren aufgespannten Sonnenschirmen wirbeln, bis die Kulisse verschwindet, so daßdas nächste Tableau erscheinen kann: eine dämmrige Straße, Laternenpfähle, an denen sich die Prostituierten lehnen, um plötzlich in einen Apachentanz auszubrechen. Hinter ihnen liegt schon Adonis in einem Käfig, der im folgenden Bild von einigen barbusigen Girls befreit wird und mit ihnen einen Tango tanzt. Vom Schnürboden wird ein goldenes Gehäuse heruntergelassen, in dem die nur mit Straußenfedern bekleidete Veronica Bell ein Liedchen trällert. Der erste Akt schließt mit dem schon erwarteten Treppentableau: der Star der Show schreitet von den Girls umwirbelt die Stufen hinunter, das Ensemble gruppiert sich auf einer dreistufigen Pyramide. Der zweite Akt beginnt mit einer >Gartenparty<: junge Paare tollen um einen Springbrunnen, in dem die Statue des Neptun thront. Ein Mädchen nähert sich dem Pool, entledigt sich ihrer Kleider, um sich im Wasser abzukühlen - nun wird die Statue lebendig. Vor Schreck stolpert das Mädchen ins Becken und Neptun stürzt, nach vergeblichen Tauchversuchen der Partygäste, hinterher, um sie kurze Zeit später auf den Armen ins Trockene zu tragen. Da der Pool schon mal auf der Bühne steht, führen die Girls gleich noch ein Wasserballett auf. Die folgenden Szenen, im Programmheft angekündigt als >Das Leben geht weiter<, zeigt eine von einem Luftangriff zerstörte Stadt:überall noch Flammen, Kugelhagel, Flüchtlinge, feindliche Truppen. Ein ganz in weißgekleidetes Mädchen triumphiert schließlich mit ihrem Tanzüber das Chaos: die Feuer verlöschen, die Ruinen verschwinden, die siegreichen Truppen ziehen in einer Parade vorbei. Dem patriotischen Tableau folgt eine >Blitzreise um die Welt<. Argentinien ist die erste Station. In nur zehn Sekunden wird die Kulisse gewechselt: Schneeflocken treibeüber die Bühne, man befindet sich in der Arktis; Veronica Bell, noch immer in luftige Straußenfedern gehüllt, jagt auf einem Hundeschlitten vorbei, Eisläuferinnen drehen Pirouetten. Nachdem ein indianisches Dorf vorgeführt worden ist, schließt die Reise mit der Dekoration des brasilianischen Urwalds, durch den die Girl stolzieren, Obstkörbe auf den Köpfen balancierend; eine Schlangenfrau windet sich einen Baum herunter. Der Vorhang fällt zum letzten Abschnitt der Revue: Yvonne M é nard, der Star der Show, tritt auf als Lukrezia Borgia, die als Potentatin des Ostens ihre Liebhaber empfängt. In blutrotem Gewand steht Yvonne oben auf der Treppe, von ihren Schneidern umgeben. Unten wartet der Märchenprinz. Für einen Moment gehen die Lichter aus - dann erscheint die Herrscherin in einem strahlen weißen Kleid: die geglückte Verwandlung, Garant für den „ speed “ der Show. Zum Finale vereinigen sich die Mitwirkenden erneut um Yvonne auf der Treppe und stimmen in den Schlußchor ein: >Ce n ´ est qu ´ un au revoir!< 12

In dieser Schilderung sind die wesentlichen Inhalte der Revue als Form vereint, wenngleich sie in den unterschiedlichen Inszenierungen mehr oder weniger stark betont wurden. Doch im Grunde genommen hat sich diese Art der Revue, wenn auch in schmalerem Umfang, bis heute erhalten.

Als eines ihrer signifikanten Merkmale sei hier vor allem die Treppe als zentrales Bühnenelement genannt, die1917 im Casino de Paris erfunden worden war.13 Von dieser Bühnentreppe schritten die stets exotisch kostümierten Girls im Gleichschritt hinab und ihnen folgte, im Mittelpunkt des Abends stehend, der Star. Hier wurde der Grundstein gelegt für die folgenden, an Verschwendungslust und Luxus kaum noch zu übertreffenden Revuen. Immer mehr Glanz und Glamour erschienen auf der Bühne, immer mehr Tänzerinnen, die oft bis zu 3-mal in der Show ihre Kostüme wechselten. Der schnelle Bühnenwechsel wurde perfektioniert und die Bedeutung des ”Plots” reduziert.

Es wurden keine Stücke mehr gespielt, sondern nur noch ”Tableaus” gezeigt, lebendige Bilder aus Menschen. Präsentierte beispielsweise eine Show um 1906 noch 600 Kostüme in 18 Tableaus, so wurden 1924 dagegen 80 Tableaus mit 500 Mitwirkenden in 1200 speziell für sie angefertigten Kostüme gezeigt. Szenen wie Das Verkehrs-Chaos, Die Eroberung der Pole oder Ein Abend im Luna Park wurden von spärlich bekleideten Mädchen im schnellen Wechsel locker aneinandergereiht.

Diese Form hat sich im Grunde genommen bis in die Gegenwart gehalten, allerdings mit dem Unterschied, daß es weitaus weniger Varietés gibt. Diejenigen, die noch überleben können, gestalten ihre Shows wesentlich kostengünstiger oder haben finanzkräftige Sponsoren. Die wirklich große Zeit der Varietés wurde auch in Frankreich von mehreren Krisen erschüttert. Zum einen durch die Weltwirtschaftskrise, die in der Zeit von 1930 bis 1935 nur zwei große Music-Halls á la grand spectacle überlebten, und die meisten kleinen Varietés das Leben kostete. Zum anderen war der Erfolg des Tonfilms und die Abwanderung der Revuen auf die Leinwand für die Misere verantwortlich. Es folgte die Erfindung des Fernsehens. Beide Medien, Film und Fernsehen, waren besser zur Massenproduktion geeignet: eine Revue mußte nur einmal gespielt werden, konnte aber ohne die immensen Folgekosten tausendfach reproduziert werden. Gab es 1936 noch 23 kleine Varietés in Paris, so waren es 1952 neben den großen wie Moulin Rouge, Lido und Casino de Paris nur noch 7. Von den großen drei überlebten bis zu den 80er Jahren nur das Lido und das Moulin Rouge. Ihre Hauptkundschaft besteht mittlerweile zum Großteil aus Touristen.

Varieté in Amerika

Mitte des 19. Jh., als in England und Frankreich das Caf´conc´ bzw. die Pub- Theatres existierten, war in Amerika keine einheitliche Ausprägung dieses Genres zu finden. Das hatte seine Ursache zum einen darin, daß Amerika als Einwanderungsland noch keine einheitlichen Traditionen hatte, denn jede Eingewanderte Bevölkerungsgruppe brachte ihre eigenen Lieder, Tänze und Gesänge mit. Ein einheitlicher Stil ergab sich erst im Laufe der Zeit aus der Verschmelzung dieser unterschiedlichen Kulturen. Zum anderen fanden in Amerika nicht die durch Revolutionen bedingten gesellschaftlichen und politischen Umwälzungen statt wie in Europa, so daß dem proletarische und politische Charakter der Entfaltung in den Kneipen eine weitaus geringere Bedeutung zukam. Trotzdem war natürlich ein Bedürfnis nach Unterhaltung vorhanden und es fand in mehreren unterschiedlichen und parallel existierenden Formen seinen Ausdruck.

Als erste sei hier das Vaudeville genannt, das zwar begrifflich dem Französischen entlehnt ist, mit der Tradition des lustigen Trinkliedes aus dem 15. Jh. aber nichts gemeinsam hat außer den Namen. In Amerika wurde mit diesem Begriff Variety- Shows benannt, die ausnahmslos alles, was die Publikumsgunst zu gewinnen vermochte, präsentierten und damit mehr an einen Zirkus oder Jahrmarkt erinnerten. Auch wenn die Bandbreite der englischen und französischen Varietés zu Beginn ebenfalls groß war und scheinbar keine Einschränkungen machte, so war doch immer eine gewisse Gleichförmigkeit im Programm erkennbar, zumal das Publikum den Darbietungen weitaus kritischer gegenüberstand. Nicht so in Übersee. Dort waren von Einzelnummern wie Zauberkünstlern, Feuerspuckern, sprechenden Hunden, Komikern, Solodrummern, abnormen Gestalten über Tenöre und Tänzerinnen bis hin zu kompletten Gattungen wie Komödien, Melodramen und Tragödien alles Vertreten. Es war sozusagen ein Aufguß aller Genres: Oper, Drama, Ballett, Zirkus, Varieté und später auch Film. Die „echten“ Vaudevilles entstanden erst gegen 1860 auf, inspiriert von irischen Akrobaten. Ab da fand eine Gliederung des Programms in drei Teile statt:

Im ersten traten Jongleure, Zauberkünstler und Akrobaten auf, im zweiten Instrumentalisten, Gesangkomiker und „Monologisten“ (Wortkünstler). Im dritten wurden neben Sketchen auch Gesangs- und Tanzschauen präsentiert.

Die zweite Form war die Minstrel-Show, die auf eine recht rassistische Weise die schwarzen Sklaven parodierte. Der Erfinder der „Urform“ war ein aus Deutschland eingewanderter Komiker Namens Johann Gottlieb Graupner. Er schwärzte sich das Gesicht mit einem angebrannten Korken und trat, sich selbst auf dem Banjo begleitend, als „The gay Negro boy“ auf. Seine Idee verbreitete sich schnell und wurde von Thomas Rice aufgegriffen, der die Nummer mit Monologen und Groteskentänzen zum Negro-minstrel-act erweiterte, einem nahezu abendfüllenden Programm. Als nächster entwickelte Daniel Decatur Emmet den Minstrel-act weiter, in dem er eine Truppe um sich versammelte und damit die erste richtige Minstrelshow begründete, die allerdings immer noch ausschließlich aus Weißen bestand. Diese Variante wurde für die nächsten 50 Jahre zum Standart für Minstrelshows. In diesen Shows, die schon die ersten Varietéelemente aufwiesen, wirkten nur Männer mit, die blaue Seidenfräcke, weiße Hosen, buntgestreifte Hemden und einen Zylinder trugen. Sie saßen im Halbkreis auf der Bühne und vor ihnen an einem Tisch saß der „Mr. Interlouctor“14, der als eine Art Conférencier fungierte. Kennzeichnend für ihn war, daß er seine Ankündigungen und Einwürfe improvisierte und dabei auch aktuelle Begebenheiten einfließen ließ.

Die Minstrel-Show bestand, wie das Vaudeville aus drei Teilen:

1. olio - musikalische Einführung, bei der jeder Akteur ein Instrument spielte; Kabarettvorführung; komischer Streitdialog zwischen den beiden Musikclowns Mr. Tambo und Mr. Bones15, Conferérenciersolo mit Witzen und Anekdoten, Groteskentanz und anderes;

2. fantasia - eine artistische Nummernfolge mit Stepptanz, Akrobatik, und anderem.

3. burlesque - musikalische Possen, Sketche, Parodien, Musiquettes und das obligatorische Marschlied zum Schluß.

Die dritte Form, die zur gleichen Zeit wie die Minstrel- und Vaudevilleperiode populär war, ist die Extravaganza, die später Music-Hall-Extravaganza genannt wurde. Sie kann von allen noch am ehesten mit dem französischen Varieté verglichen werden. Die angeblich erste hieß „The Black Crook“ und hatte am 12. 9. 1866 in New York Premiere.

In ihrem Aufbau reihte die Extravaganza melodramatisch-mystische Szenen, Ballette, Chöre, Akrobaten und anderes aneinander. Eines der wichtigsten Merkmale war jedoch der große technische Aufwand: Prospekte, Maschinen, Feuerwerke, fliegende Engel und künstliche Eisflächen waren die hauptsächlichen Gestaltungsmittel. Hierin ist wohl auch ein Vorläufer der späteren Shows zu sehen, in denen Perfektion und Größenwahn noch gesteigert wurden.

Als vierte und letzte Form gab es die Burleske oder Burlesque-Show, die der Extravaganza sehr ähnlich war. Allerdings stand sie der Musikalkomödie näher und von ihr verlief der Weg direkt zum Musical.

Amerika schloß ungefähr Mitte des 19. Jh. die industrielle Revolution bereits ab und ging beinahe nahtlos zum Imperialismus über. Diese wirtschaftliche Veränderung erfaßte auch das Showgeschäft und die Entwicklung der Varietés wurde davon stark mitbestimmt.

Wie schon oben erwähnt, gab es stets die Tendenz, dem Publikum ausnahmslos alles anzubieten, was irgendwie Geld einbrachte und „Geld machen“ spielte bei den Amerikanern eine große Rolle. Nicht umsonst entstand in diesem Land der “vom Tellerwäscher zum Millionär“ - Mythos. Mit den Millionären kamen die Giganten: J.D. Rockefeller, J.P. Morgan und A. Carnegie bauten die ersten großen Konzerne auf und bekämpften sich gegenseitig erbarmungslos. Rockefeller gründete 1870 mit der Standart Oil Company das größte Monopolunternehmen dieser Zeit und nutze zur Vermehrung seiner Gewinne ebenfalls das Varietégeschäft. Doch die eigentliche Glanzzeit und Monopolisierung des "Showbiz" folge erst noch, obwohl am Anfang dieser Phase ironischerweise der Sherman Anti Trust Act stand, der Monopolbildung für illegal erklärte. New York wurde zum Zentrum der Unterhaltungspaläste und Oscar Hammerstein nahm für sich in Anspruch, 1894 in einem tristen Stadtteil -in dem wenig später der weltbekannte Broadway seine Heimat fand- mit dem Olympia/Victoria die erste Music-Hall Amerikas geschaffen zu haben. In ihrem Baustil entsprach sie dem britischen Vorbild, war jedoch, wie beinahe alles in Amerika, größer und prunkvoller.

Bedeutender für die amerikanische Varietégeschichte war Florenz Ziegfeld, genannt Flo. Am 9. Juli 1907 präsentierte er im Liberty Theatre seine erste Follies, in der sich über 70 Mitwirkende um seinen Star Nora Bayes gruppierten und die 13 000 Dollar kostete. Bis 1931 brachte er 21 Revuen heraus, die meisten im Theatre New Amsterdam, und setzte damit Maßstäbe für ganz Amerika. Nicht nur den Namen Follies hatte er aus Frankreich. Er ließ auch Kostüme, Dekorationen und Künstler aus Paris kommen. So wie er die französischen Revuen amerikanisiert hatte, machten es die Shubert-Brothers mit dem deutschen Varieté: sie bauten einen Winter-Garden, dessen Programme sich durch erstklassige Artistik auszeichneten, die meist in einem revuehaften Rahmen präsentiert wurde. Aber auch für sie zählte der Profit und so kauften sie sich ebenfalls die namhaften Stars aus Europa. Allerdings war hier namhaft wirklich wörtlich zu nehmen, denn die Namen waren Zugpferde bei der Werbung. Sie lockten das Publikum an; der Inhalt interessierte wenig.16

In diese Trustsysteme waren neben den festen Häusern auch Tourneen , OneMan-Shows und anderes eingeschlossen. Die Macht über das Showgeschäft konzentrierte sich in den Händen einiger weniger und mit Varietéaktien ließ sich zwischen 1922 und 1929 gut Geld verdienen. Die mächtigsten Trustsysteme waren Hammerstein, Shubert, Proctor, Murdoc, Keith, Loew und Beck. Nur einer überragte sie alle: E.F. Albee. Er bestimmte die Preise, kaufte seine Konkurenten einfach auf und besaß 350 Varietétheater in ganz Amerika.

Doch eine ganz andere Konkurrenz brachte ab 1929 den Stern der Varietés allmählich zum sinken: der Film. 1927 leitete Al Johnson mit dem Satz “You ain´t heard nothing yet, folks” in dem Film The Jazz Singer die Ära des Tonfilms ein und beschwor den Untergang der Theaterrevuen und Varietés. Damit wanderten auch sämtliche Stars aus den Theatern nach Hollywood, um dort Karriere zu machen und weil sich dort wesentlich mehr Geld verdienen ließ. Aber nicht nur der Personalmangel ruinierte die Revuen, sondern ihr ästhetisches Prinzip hatte sich überlebt. Die immer wiederkehrenden, gleichen Tanzformationen auf der Bühne standen im Widerspruch zu dem Zwang der Demonstration immer neuer und gigantischer Ausstattung. Bei den Inhalten gab es nichts Neues, keine Abwechslung und keine Sensationen mehr. Der Tonfilm war die neueste Sensation und mit ihm ließen sich ebenfalls Revuen produzieren, die eine weitaus größere Gewinnspanne hatten, als die aufwendigen Theaterrevuen. MGM produzierte 1929 den ersten Revuefilm Broadway Melodie, der auch der erste MGM-Tonfilm überhaupt war. Er spielte bei 280 000 Dollar Produktionskosten 4 Millionen Dollar ein und löste damit eine Flut von Revuefilmen aus.

Die Weltwirtschaftskrise trug das übrige zum Ruin der kleinen und später großen Varietéhäuser bei. Nach der Krise, der auch viele der Trustsysteme zum Opfer fielen, übernahmen die neuen Filmfirmen das Geschäft und eine neue Form entstand: das Kinovarieté. Hier wurde im ersten Programmteil die verschiedensten Nummern präsentiert und im zweiten der jeweils neuste Film, sie waren jedoch mit den Varietétheatern der 20er und 30er nicht mehr vergleichbar, obwohl sie auch einen ungemein großen Profit abwarfen.

Das Varieté 24

In seiner ursprünglichen Form hat sich das Varieté nur in einer Stadt Amerikas erhalten: in Las Vegas. Aus den gigantischen Hoteltempeln und Spielhallen fließt bis heute noch genügend Geld, um aufwendige Shows zu produzieren. Aus ihnen sind große Persönlichkeiten des Showbusiness hervorgegangen: Lisa Minelli, Barbara Streisand, Frank Sinatra, Siegfried & Roy und Sammy Davis Junior. Sie alle haben das Bild des Entertainers, der sich unter dem Einfluß des Mediums Fernsehen weiter entfaltete geprägt.

Abschließend läßt sich das amerikanische Varieté wohl am besten mit den Worten Woody Allens charakterisieren:

„If show business wasn´t a show, it would be called show show.“

Die Sophiengala

Die Sophiengala ist mit den oben beschriebenen Formen des Varietés auf Grund ihrer Größe nur bedingt vergleichbar, doch in ihrer Grundkonzeption sind viele Merkmale des Varietés enthalten. Diese sollen im Folgenden einzeln abgehandelt werden.

Gastronomie

Die Verbindung zur Gastronomie ist die erste Parallele zum Varieté, allerdings mit dem Unterschied das nur vor der Vorstellung und in der Pause im Foyer gegessen und getrunken werden darf. Diese Abwandlung hat mehrere Gründe:

Würde man den Vorstellungssaal den gastronomischen Bedürfnissen eines „Verzehrtheaters“ entsprechend einrichten (mit mehreren 3-4 Personentischen), so ginge über die Hälfte der ca. 90 Plätze verloren. Zusätzlich müßte das Publikum an den Tischen bedient werden, um Unruhe während der Vorstellung zu vermeiden. Beides würde sich negativ auf die Einnahmen auswirken: mit geringerer Platzkapazität müßte man die Eintritt- und Getränkepreise erhöhen, was wiederum eine Spezialisierung auf ein zahlungskräftige Publikum zur Folge hätte. Das wiederum wäre nur mit einem enormen logistischen Aufwand möglich, der den Rahmen der Studiobühne bei weitem übersteigt. Deshalb ist die gewählte Form die Einzige, die praktizierbar ist und gleichzeitig den größtmöglichen Umsatz gewährleistet. Des weiteren verbieten die gesetzlichen Bestimmungen für Fluchtwege eine individuelle Gestaltung des Zuschauerraums, bzw. die Kosten für das Erfüllen der Auflagen wären enorm und von den Veranstaltern der Sophiengala nicht tragbar. Außerdem bliebe die Möglichkeit der freien Raumgestaltung für andere Theatergruppen unter diesen Umständen nicht mehr gewährleistet.

Es sind also in erster Linie die äußeren Umstände, wegen derer die Sophiengala nur vom Prinzip her der gastronomischen Form der Caf´conc´ oder den Pub- Theatres ähnlich sein kann. Da jedoch die Studiobühne nicht für einen gastronomischen Betrieb ausgelegt ist, bestehen die hauptsächlichen Parallelen auf der inhaltlichen Seite. Hier setzt sich das Konzept das Nummernprogramms allerdings wieder aus verschiedenen Erscheinungsformen des Varietés zusammen.

Das Programm und die Moderation

Die Moderation der Sophiengala beruft sich auf die Tradition des Conférenciers, die ihren Ursprung im „Mr. Intolouctour“ der amrikanischebn Minstrel-Shows und im „Mr. Chairman“ der englischen Pub-Theatres hat.17 Die Aufgabe des Conférenciers besteht darin, durch verbindende Worte zwischen den einzelnen Nummern den Rahmen für das gesamte Programm zu bilden. Er kann aber auch mit ausführlichen Plaudereien zur Gestaltung des Programms beitragen. Im Falle der Sophiengala handelt es sich um eine „Doppelconférence“18, d.h. ein männlicher und ein weiblicher Conférecier gestalten die Ansagen in Dialogform. Dabei beziehen sie sich immer wieder auf das übergreifende Motto der entsprechenden Gala, damit der „rote Faden“ für das Publikum während der gesamten Vorstellung gut „sichtbar“ bleibt. Als Beispiel für diese Form der Moderation soll hier die Gala „Liebe und Verschwörung“ vom 05. 07. 00 dienen. Anhand des Scriptes und des Programmblattes, soll zum einen das dramaturgische Konzept der Moderation erläutert werden, zum anderen möchte ich aber auch die Unterschiedlichen Genres aufzeigen, die in einer Aufführung zu finden sind.

Zum besseren Verständnis ist das Programm der angesprochenen Gala, auf das ich mich beziehe im Folgenden aufgeführt.

Liebe & Verschwörung - Programm vom 5. 7. 00

1. Prolog Wir sind fromm doch nicht von Rachsucht frei. (Eine Szene aus Othello, frei nach Shakespeare)

2. Drei Lieder aus der 3 Groschen-Oper (Chansons; Ariane Wendland und Thilo Krastel)

3. Die Anatomie Amouröser Affären (Satirische - wissenschaftliche Betrachtung der Liebe; Christian von Aster)

4. Der Himmel über Friedrichshain (Ein romantisches Lied; Christian Backe)

5. Fluchtpunkte (Satirische Betrachtung der Aufnahmeprüfung einer Schauspielschule)

6. Postmodernes Kitschmärchen für Hexe, Flamenco & Bote (Kurzoperette von Stefan-Hendrik Müller, Solveig Fischer und Lubi Kimpernov)

P A U S E (20 min)

7. Filme (6 kurze Animationsfilme von Studenten der HdK)

8. Im Freien Fall (Improvisationstheater; Gruppe von 5 Personen)

9. Handygreiflich - ein Liebesattentat (Lesung; Holger Kulick)

10.Brägen & Pansen (Humorvolle Lieder auf Plattdeutsch; Tobias Klein, Christian Backe)

11.Epilog (Kurze Wiederholung des Prologes)

12.Finale (Alle Künstler kommen zur Verabschiedung des Publikums auf die Bühne)

Das Programm

Grundsätzliches

Jedes Programm der Sophiengala hat ein Übergeordnetes aber immer möglichst allgemein gehaltenes Motto, was ebenfalls eine Parallele zum Varieté darstellt.19 Alle aufgeführten Nummern stehen mit ihm im Zusammenhang, müssen sich aber nicht zwangsweise unterordnen. In erster Linie greift die Moderation das Motto als „roten Faden“ immer wieder auf und verbindet die einzelnen Nummern miteinander. Mit Ausnahme des Prologes/Epilogs der am Anfang bzw. Ende einer Gala steht, wird jede Nummer einzeln angekündigt. Neben der Moderation umgreift diese kurze Szene als eine Art Rahmen ebenfalls das gesamte Programm.

Das Programm selber besteht aus zwei Teilen, einem längeren ersten und kürzeren zweiten, die durch eine Pause unterbrochen werden. Diese Struktur hat zwei Gründe:

Zum einen ist die Pause notwendig, da sich die Sophiengala neben den Eintrittsgeldern auch aus den Einnahmen der Bar finanziert. Wenn die Bar nur vor dem eigentlichen Programmbeginn geöffnet oder die Pause „zu früh“ gesetzt wäre, hätte das Publikum kein oder nicht genügend Bedürfnis nach Erfrischung in Form von Getränken oder Essen. Folglich wäre der Umsatz nicht ausreichend, um die anfallenden Ausgaben zu decken.

Zum anderen hat sich aus der direkten Beobachtung der Publikumsreaktionen ergeben, daß mit der Länge eines Programmes die Aufmerksamkeit für die Darbietungen abnimmt. Die hohe Anzahl der einzelnen Nummern vermittelt ebenfalls das Gefühl von Länge, unabhängig von der tatsächlichen Dauer. Damit das Publikum aufmerksam und gespannt bleibt, ohne dabei überfordert zu werden, hat sich die Aufteilung in langen Ersten und kurzen Zweiten Teil künstlerisch wie finanziell bewährt.

Die Dauer der einzelnen Darbietungen liegt zwischen 7 und 10 Minuten, damit ein schneller Wechsel gewährleistet ist und das Programm bei 12 Nummern die Gesamtlänge von 180 Minuten inklusive Moderation und 30 Minuten Pause nicht übersteigt.

Inhaltliches20

Im Gegensatz zu den beschriebenen Varietéformen gibt es ein Merkmal, welches die Sophiengala von diesen abgrenzt. Wie oben bereits gesagt, ist der Bühnenraum der Studiobühne Mitte nicht für Gastronomische Zwecke ausgerichtet. Es dürfen zwar Getränke mit in den Zuschauerraum genommen werden, die Bar schließt jedoch mit Vorstellungsbeginn und öffnet erst wieder zur Pause. In den Varietés, die als Verzehrtheater ausgerichtet waren, begann die Vorstellung schon währen, sich das Publikum Plätze suchte und Getränke bestellte. Das Orchester gab den Auftakt und die folgenden ein bis zwei Nummern waren eher schwach. Erst dann herrschte die gewünschte Ruhe und Aufmerksamkeit und die Nummern steigerten sich. Vor der Pause wurde meistens der ersten Höhepunkt gesetzt. Bei der Sophiengala entfällt das „Bestellen“ und „Suchen“. Um 19:00 ist Vorstellungsbeginn, Nachzügler werden nur direkt nach einer Nummer in der „Applauspause“ eingelassen. Man ist also nicht gezwungen die vorhandene Unruhe im Publikum bei der Programmgestaltung zu berücksichtigen.

Um jedoch wieder zu den Gemeinsamkeiten zu kommen, so reiht auch die Sophiengala wie das Varieté in ihrem Nummernprogramm die verschiedenen Genres in schneller Abfolge aneinander.21

Im vorliegenden Programm steht als Prolog eine dramatische Szene, gleich darauf folgt mit den „Drei Liedern der drei Groschen-Oper“ eine Gesangsnummer von Ariane Wendland. Danach kommt der Komiker Christian von Aster, mit seiner „Anatomie Amouröser Affären“, um von Christian Backes romantischem Lied „Der Himmel über Friedrichshain“ abgelöst zu werden. Diesem steht eine kurze Komödie gegenüber, die „Fluchtpunkte“ der Theatergruppe Sujet. Schließlich findet die erste Hälfte ihren Höhepunkt und Abschluß in der Kurzoperette „Postmodernes Märchen für Hexe, Flamenco und Bote“.

Die Abwechslung der unterschiedlichen Genres ist hier Charakteristisch für die Varietéform, wobei der Wechsel zwischen komischen Nummern und Gesangsdarbietungen in diesem Fall rein zufällig ist. Das hat seine Ursache darin, das daß Programm meist aus schon vorhandenen Nummern zusammengestellt wird. Im dramturgischen Sinne wird bei den einzelnen Darbietungen lediglich zwischen „schnell“ und „langsam“ unterschieden, wobei „komisch“ für „schnell“ und „langsam“ für Gesang oder Lesung steht. Die Nummern sind so angeordnet, das durch den Wechsel ihrer Geschwindigkeiten eine Dynamik erzeugt wird, die immer auf das jeweilige Ende einer Hälfte und ihren Höhepunkt gerichtet ist.

Die zweite Hälfte beginnt mit mehreren Kurzfilmen, deren Titel zu Beginn von der Moderation angesagt werden. Im beschriebenen Programm sind dies wiederum mehrere Kurzfilme, so daß, obwohl das Medium ein anderes ist, der Nummerncharakter erhalten bleibt22 Als weiterer fester Bestandteil folgt nun die Improvisationstheatergruppe, die das Publikum zum Mitmachen auffordert. Aus zugerufenen Begriffen werden kurze, zum Teil absurde Szenen improvisiert. Dies ist die einzige Nummer, der mit ca. 20 Minuten mehr Zeit zu Verfügung steht, da sich in kurzer Zeit keine unterhaltsamen Szenen entwickeln lassen. Um die „Geschwindigkeit“ wieder zu reduzieren steht an dieser Stelle die Lesung einer Kurzgeschichte, der mit „Brägen und Pansen“, einer satirischen Gesangsnummer, der Höhepunkt der zweiten Hälfte folgt. Während der letzten Darbietung, dem Epilog, hat das Ensemble Zeit, sich hinter der Bühne für das Finale vorzubereiten, bei dem alle Mitwirkende in Auftrittsreihenfolge auf der Bühne erscheinen, um sich zu verabschieden und den absoluten Schlußpunkt einer jeden Gala zu setzen. Diese Form des Finales ist unter anderem aus der französischen Revue bekannt, wobei sich hier allerdings alle Mitwirkenden um den Star des Abends gruppieren und eine Schußnummer singen.23

Die Moderation

Die Moderation für die Gala „Liebe und Verschwörung“ orientiert sich an dem Geheimagenten-Image von James-Bond-Filmen. Die beiden Moderatoren schlüpfen in die Rolle der Agenten 69 und 96 und verpacken die Ankündigungen der Nummern in kleine Agentengeschichten. Gleichzeitig wird immer wieder das „Agenten-Verhältnis“ der beiden zueinander Thematisiert: Der männliche Part versucht, die Frau zu verführen, während sie versucht ihn umzubringen. Die Moderatoren sind in dieser Gala also keine Conférenciers im klassischen Sinne, da sie in ihren Rollen bleiben und nicht improvisieren.

Als Beispiel soll hier die Begrüßung des Publikums und die Überleitung zur ersten Nummern dienen, da das gesamte Sript den Rahmen sprengen würde. Neben dem Text sind als Regieanweisung alle Bewegungen, sowie Ton- und Lichtanweisungen vermerkt.

Script für die Moderation 1

Regieanweisungen

Sofia & Björn stehen auf der Bühne hinten links und rechts vom Sofa. James-Bond-Theme wird eingespielt.

Der Vorhang geht auf.

Spot vom Verfolger wie im James-Bond-Prolog von Björn zu Sofia, dann in die Mitte.

Langsam größer ziehen, bis beide im Lichtkegel stehen.

Sofia & Björn laufen langsam nach vorne, treffen sich Rücken an Rücken in der Bühnenmitte.

Beide schießen in den Spot

Der Spot färbt sich rot

Beide pusten in Pistolenlauf

Björn & Sofia fallen sich in die Arme.

Björn & Sofia laufen zusammen auf der. Stelle Schlußposition in der Bühnenmitte

Musik Fade out

Dialog

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Björn & Sofia gehen ab.

James-Bond-Theme anspielen, nach 7 sec Fade out

Verwendete Literatur

1. Die Geschichte des Varietés; Ernst Günther; Henschelverlag Berlin 1981

2. Körperbilder, Menschenornamente im Revuefilm; Kloos/Reuter; Syndikat; Frankfurt am Main, 1980

3. The Cambridge Guide to World Theatre; Cambridge University Press; Cambridge 1988

4. Lexikon Theater International; Jochanan Ch. Trilse-Finkelstein, Klaus Hammer, u.a.; Henschelverlag; Berlin; 1978

5. Theaterlexikon; Begriffe und Epochen, Bühnen und Ensembles; Hrsg,: Manfred Brauneck, Gérard Schneilin; Rohwolt Taschenbuch Verlag GmbH; Reinbeck bei Hamburg; 1986

6. Metzler Kabarett Lexikon; Klaus Budzinski, Reinhard Hippen in Verbindung mit dem Deutschen Kabarettarchiv; Verlag J. B. Metzler; Stuttgart, weimar; 1996

7. Fiktionskulisse; Poetik und Geschichte des Kabaretts; Benedikt Vogel; Dissertation; Paderborn, München, Wien, Zürich; Schönigh; 1993

8. The Th ê atre des Vari é t é s in 1852; David Hillery; Durham Modern Language Series; University of Durham; 1996

9. It Gives Me Further Pleasure; Michael Kilgarriff; Samuel French; London, New York, Toronto, Hollywood; 1996

10.Das Varieté; Wolfgang Jansen; Edition Heinrich; Berlin; 1990

11.Duden Fremdwörterbuch Bd. 5; Dudenverlag; Mannheim; Leipzig; Wien; Züchrich; 1990

12.Etymologisches Wörterbuch des Deutschen; dtv Gmbh & Co. KG; Müchen; 1989

[...]


1 Bd. 5. Duden Fremdwörterbuch; Dudenverlag; Mannheim; Leipzig; Wien; Züchrich; 1990

2 Etymologisches Wörterbuch des Deutschen; dtv Gmbh & Co. KG; Müchen; 1989

3 Die Geschichte des Varietés; Ernst Günther; Henschelverlag Berlin 1981; S.9 (Zitat von Arthur Moeller-Brucks aus: „Das Varieté“; Berlin 1902)

4 Die Geschichte des Varietés; Ernst Günther; Henschelverlag Berlin 1981; S. 16

5 Die Geschichte des Varietés; Ernst Günther; Henschelverlag Berlin 1981; S. 42

6 Vgl. Die Geschichte des Varietés; Ernst Günther; Henschelverlag Berlin 1981; S. 46

7 Vgl. Körperbilder; Kloos/Reuter; Syndikat; Frankfurt am Main, 1980; S.24

8 Vaudeville: Ursprüngliche, aus dem 15 Jh. Stammende Bedeutung für französisches Trinklied mit satirischen Pointen; in Amerika entwickelte sich ab ca. 1890 die ersten großen Vaudeville-Theatres, die aber mit dem französischen Trinklied nichts gemeinsam hatten.

9 Französischer Begriff für Vergnügungsstätte, der aus dem 18. Jh. übernommen wurde.

10 Dieses erste französische Varieté orientierte sich stark am Londoner Alhambra

11 Die Geschichte des Varietés; Ernst Günther; Henschelverlag Berlin 1981; S. 75

12 Zitiert aus: Körperbilder, Menschenornamente im Revuefilm; Kloos/Reuter; Syndikat; Frankfurt am Main, 1980

13 Vgl. Körperbilder, Menschenornamente im Revuefilm; Kloos/Reuter; Syndikat; Frankfurt am Main, 1980; S. 33

14 In England gab es eine ähnliche Figur, den „Mr. Chairman“ der Music-Hall. Einer der beiden könnte der Ahnherr des Conferénciers sein, wo genau er aber seinen Ursprung hat, läßt sich nicht mit Sicherheit sagen und ist in der Literatur umstritten.

15 Die Namen waren abgeleitet von ihren Musikinstrumenten Tamburin und Bones = Kastagnetten.

16 Vgl. Die Geschichte des Varietés; Ernst Günther; Henschelverlag Berlin 1981; S. 213

17 Einer der möglichen „Ahnherren“ des Conférenciers ist der „Mr. Interlocutor“ der amerikanischen Minstrel Show, der die einzelnen Nummern ansagte und sie mit aktuellen Anspielungen „würzte“. Der andere mögliche „Vater“ ist der „Mr. Chairman“ aus der englischen Tradition. Vlg. Die Geschichte des Varietés; Ernst Günther; Henschelverlag Berlin 1981; S. 283 ff und Theaterlexikon; Begriffe und Epochen, Bühnen und Ensembles; Hrsg. Manfred Brauneck, Gérard Schneilin; rohwolt; S. 251 ff

18 Eine im Wiener Kabarett „Simplicissimus“ in den 20er Jahren von Fritz Grünbaum und Karl Farkas erfundene besondere Form ist die dialogische „Doppelconference“, die von anderen Kabaretts aufgenommen und bis heute in die Gegenwart hinein kultiviert wurde. Vgl. Theaterlexikon; Begriffe und Epochen, Bühnen und Ensembles; Hrsg. Manfred Brauneck, Gérard Schneilin; rohwolt; S. 251 ff

19 Vgl. Die Geschichte des Varietés; Ernst Günther; Henschelverlag Berlin 1981; S. 142 ff.

20 Vgl. Die Geschichte des Varietés; Ernst Günther; Henschelverlag Berlin 1981; S. 142 ff.

21 Vgl. Die Geschichte des Varietés; Ernst Günther; Henschelverlag Berlin 1981; S. 43 ff, S. 66 ff, S 127 ff, 142 ff.

22 Vgl. zum Film im Varieté auch die Ausführungen von Kloos/Reuter (a.a.O, S. 75 ff) und Ernst Günther (a.a.O. S.54 ff,)

23 Vgl. Körperbilder, Menschenornamente im Revuefilm; Kloos/Reuter; Syndikat; Frankfurt am Main, 1980

Ende der Leseprobe aus 34 Seiten

Details

Titel
Das Varieté als Theaterform
Untertitel
Am Beispiel der Sophiengala
Autor
Jahr
2002
Seiten
34
Katalognummer
V106212
ISBN (eBook)
9783640044917
ISBN (Buch)
9783656761389
Dateigröße
520 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Varieté
Arbeit zitieren
Björn Braune (Autor:in), 2002, Das Varieté als Theaterform, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/106212

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