Das Gymnasium Soltau im Informationszeitalter - Informationskompetenz als Ausbildungsziel


Diplomarbeit, 1997

117 Seiten, Note: Sehr gut


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Abstract

Vorwort

1 Einleitung

2 Ein Überblick: Ausbildung heute für die Gesellschaft von morgen?
2.1 Die Informationsgesellschaft im Informationszeitalter
2.1.1 Die „Informationsflut” durch wissenschaftliche Veröffentlichungen und Massenmedien
2.1.2 Neue Medien und Technologien eröffnen neue Möglichkeiten
2.1.3 Die Komplexität unserer Gesellschaft erfordert Informationskompetenz
2.1.3.1 Lebenslanges Lernen für den Beruf
2.1.3.2 Vernünftiger Umgang mit Informationen als Voraussetzung für den „mündigen Bürger” in Gesellschaft und Politik
2.1.3.3 Vernünftiger Umgang mit Informationen im Privatleben
2.2 Gymnasiale Bildung heute
2.2.1 Der Bildungsauftrag des Gymnasiums
2.2.2 Informationskompetenz gehört zum Bildungsauftrag
2.2.3 Die Rolle des Faches Informatik und der informations- und kommunikationstechnologischen Bildung
2.2.4 Die Rolle der Schulbibliotheken - von der Einrichtung für Leseerziehung zum Informationszentrum
2.3 Fazit: Das Gymnasium bereitet noch nicht hinreichend auf das Informationszeitalter vor

3 Initiativen und Anregungen für die ideale Schulbildung für das Informationszeitalter
3.1 Anregungen und Beispiele aus der pädagogischen Wissenschaft und Praxis
3.1.1 Das Lernen lernen
3.1.2 Problemorientierter Unterricht
3.1.3 Computeranwendung im Unterricht
3.1.4 Medienpädagogik und Medienerziehung
3.2 Bildungspolitische Anregungen und Forderungen
3.2.1 Der Standpunkt der deutschen Bildungspolitik
3.2.2 Das Projekt „Schulen ans Netz”
3.2.3 Europäische Bildungspolitik
3.3 Bibliothekswesen und Fachinformationswesen
3.3.1 Schulbildung aus der Perspektive des Informations- und Kommunikationswesens
3.3.2 Die Perspektive des Bibliothekswesens
3.4 Hindernisse bei der Umsetzung neuer Konzepte in Schulpraxis und Lehrerausbildung
3.5 Ausgewählte Beispiele
3.5.1 „The Need to Know” - ein Programm aus Großbritannien (1978/79)
3.5.2 Deutschunterricht in der Bibliothek (1988)
3.5.3 Multimediale Informationsmöglichkeiten in der Schulbibliothek (1996/97)
3.6 Bewertung: Technologiebeherrschung statt Informationskompetenz?

4 Konkrete Wege zur Informationskompetenz: Vorschläge für das Gymnasium Soltau
4.1 Informationskompetenz für die Schüler
4.1.1 Anwenden und Üben von selbständigem Informationsverhalten im Fachunterricht ...
4.1.2 Fehlt eine systematische Einführung in die Informationsfertigkeiten als Grundlage?
4.1.3 Sinnvoller Computereinsatz für die Informationsbeschaffung und Informationsverarbeitung
4.2 Informationskompetenz für die Lehrer: Lehrer müssen lernen
4.2.1 Lehrer als Vermittler von Informationsfertigkeiten
4.2.2 Informationsbeschaffung für die Unterrichtsvorbereitung
4.3 Bereitstellung und Produktion von Information an der Schule
4.3.1 Schulbibliothek
4.3.1.1 Bestandsaufnahme
4.3.1.2 Verbesserungsvorschläge
4.3.2 Andere Informationssammlungen
4.3.3 Öffentliche Information am „Schwarzen Brett”
4.3.4 Schulveröffentlichungen und Schülerzeitungen
4.3.5 Schulinterner Informationsfluß
4.3.6 Zusammenarbeit mit externen Einrichtungen

5 Ausblick

Anmerkungen

Literaturverzeichnis

Anhang: Auszüge aus den Niedersächsischen Rahmenrichtlinien für die gymnasiale Oberstufe zum Thema Informationskompetenz

Abstract

Die vorliegende Arbeit behandelt die Konsequenzen des anbrechenden Informationszeitalters für die schulische Praxis am Gymnasium Soltau. Dazu wird in einem ersten Teil die aktuelle Diskussion um die Begriffe Informationszeitalter und Informationsgesellschaft kritisch beleuchtet und die Notwendigkeit von Informationskompetenz, also dem bewußten und sinnvollen Umgang mit dem eigenen Informationsbedarf, begründet. Es wird belegt, daß die Vermittlung von Informationskompetenz zum Bildungsauftrag der Schule gehört. Anschließend werden pädagogische und bildungspolitische Konzepte vorgestellt, die für Informationskompetenz und Informationsgesellschaft relevant sind. Schließlich geht es um die konkrete Einbindung der Vermittlung von Informationskompetenz in Unterricht und Schulleben am Gymnasium Soltau anhand einer Reihe von praktischen Vorschlägen für Unterrichtsgestaltung und Schulbibliothek.

Vorwort

Informationskompetenz und das Gymnasium Soltau sind zwei Themen, die sich für mich durch meinen Ausbildungsweg verbinden. Nach dem Abitur am Soltauer Gymnasium habe ich in Hannover Dokumentation studiert und schon bald festgestellt, daß trotz 13 Jahren Schule mein Horizont bedenklich eng geblieben war, was Informationsbewußtsein und selbständiges, kreatives Recherchieren anging. Die Informationskompetenz, die mir im Studium vermittelt wurde, hätte ich in der Schule gut gebrauchen können. Trotzdem habe ich natürlich viel Gutes in meiner Zeit auf dem Gymnasium gelernt, und ich möchte mich mit dieser Diplomarbeit bei meinen ehemaligen Lehrern für die Mühe bedanken, die sie sich mit unserer Ausbildung gegeben haben. Ich hoffe, ihnen nützliche Anregungen für ihre weitere Arbeit geben zu können.

Noch einige technische Bemerkungen: Die Anmerkungen habe ich als Endnoten am Ende des Textes aufgeführt, sie enthalten ausschließlich Literaturverweise und sollen nicht vom Inhalt ablenken. Die Gliederung der Kapitel bringt es mit sich, daß einige Themen - wie zum Beispiel Schulbibliotheken und Unterrichtspraxis - an mehreren Stellen angesprochen werden. Ich hoffe, daß sich die einzelnen Aspekte zu einem stimmigen Gesamtbild verbinden.

Um allgemeinverständlich zu bleiben, vermeide ich unnötige Fachsprache und übersetze englische Zitate ins Deutsche. (Die Zitate im ursprünglichen Wortlaut finden sich jeweils bei den Anmerkungen.) Diese Arbeit richtet sich nach den noch gültigen Regeln der „unreformierten” Rechtschreibung. Noch eine Bemerkung zur Sprache: Wenn im Text von Schülern und Lehrern die Rede ist, bezieht sich das auf beide Geschlechter. Ich habe diese Form gewählt, um den Lesefluß zu erleichtern.

Besonders bedanken möchte ich mich bei den Mitarbeitern der Schulbibliothek des Gymnasiums Soltau für die Anregungen und Gespräche, bei Herrn Prof. Blumendorf und Herrn Wulfert für die Betreuung der Arbeit und bei meiner Familie und meinen Freunden für ihre Geduld und Ermutigung.

1 Einleitung

Die Welt verändert sich! Alles wird global, vernetzt, multimedial. Die Industrie- gesellschaft ist ablösungsreif, jetzt bricht das Informationszeitalter an! Auch die Schule hört diese Rufe und wirkt etwas überfordert angesichts der Visionen, mit denen man sie konfrontiert: Hatte sie nicht eben noch ganz andere Probleme? War da nicht die Rede von Gewalt unter Jugendlichen, Integrationsschwierigkei- ten, Einstellungsstopps für Lehrer oder gar von einer Bildungskrise?

Kaum jemand hält die deutsche Schule für einen Hort der Innovation, und so beeilt man sich, von allen Seiten gute Ratschläge zu erteilen. Die Schulen müssen ans Netz!, sagt der Bildungsminister und unternimmt gemeinsam mit der Telekom und der Computerindustrie einen hehren Kreuzzug für die neuen Technologien. Schön, wenn es so einfach (und einfach für Geld) zu haben ist: Ein Computer mit Zugang zum Internet pro Schule, und schon sind wir gerüstet für die Informationsgesellschaft! Die Schule reagiert unsicher - die Verwaltung fragt sich, wie Kosten und Anwendung der neuen Technologie zu verwalten seien, manche sehen sich im Datenmeer versinken, anstatt darauf zu „surfen”, und die eifrigen und modernen Lehrer sind stolz darauf, eine Zeitlang wenigstens wieder modern und im Trend zu sein.

Wer sich vom Wirbel um die bahnbrechenden Veränderungen eine Denkpause gönnt, könnte sich die Frage stellen, worin der Grund für soviel Optimismus bestehen soll. 24 Jahre nach Einführung des Informatikunterrichts ist man immer noch allgemein der Ansicht, daß die „Computerbildung” der niedersächsischen Gymnasiasten unzureichend sei. Oder soll es weniger um die Computerbildung und mehr um die Bedeutung des Zugangs zu Informationen gehen? Die perma- nente Krise der Schulbibliotheken legt nahe, daß die Bereitstellung von Informa- tionen eher gering geachtet wird. (Und dabei kommen Schulbibliotheken der Informationsnutzung an Schulen in vielen Belangen noch mehr entgegen als Internet-Computer.)

Man könnte sich auch daran erinnern, daß es laut Gesetz zum Bildungsauftrag niedersächsischer Schulen gehört, daß Schüler befähigt werden, „sich umfassend zu informieren und die Informationen kritisch zu nutzen”. Erfüllen die Schulen diesen Auftrag? Und was sollen die neuen Technologien dazu beitragen? Konkret gefragt - denn es soll, wie man dem Titel dieser Arbeit entnimmt, hier schließlich um das Gymnasium in Soltau gehen - wie kann das Soltauer Gymna- sium diesen Auftrag erfüllen?

Was hinter den großen Tönen vom Informationszeitalter steckt, und was das mit dem Gymnasium zu tun hat: Damit werden im 2. Kapitel die Grundlagen für diese Arbeit erläutert. Das darauffolgende Kapitel gibt einen Überblick über die Anregungen, die die Schule von verschiedenen Seiten erhält und die sie „fit für die Informationsgesellschaft” machen sollen. Damit es nicht beim Analysieren bleibt, schließt die Arbeit mit konkreten Vorschlägen meinerseits für „Informati- onsarbeit” am Gymnasium Soltau.

Ich richte mich in erster Linie an Lehrer, Schüler und alle anderen am Soltauer Gymnasium Interessierten. Da die Kapitel 2 und 3 aber allgemein gehalten und sicherlich auch einige Anregungen in Kapitel 4 auf andere Schulen übertragbar sind, wird die vorliegende Arbeit auch von denen mit Gewinn zu lesen sein, denen die Situation in Soltau fremd ist.

Es liegt in der Natur des Themas, daß diese Arbeit sich in weiten Teilen mit Schule und Erziehungswissenschaft beschäftigt, obwohl das nicht zur Fachwis- senschaft eines Dokumentars gehört. Wenn meine Ausführungen ein Anstoß sind und sie von pädagogischer und schulpraktischer Seite ergänzt werden, liegt das in meiner Absicht. Ebenfalls ergänzungsbedürftig ist die Bestandsaufnahme der jetzigen Situation am Soltauer Gymnasium, die als wissenschaftliche Unter- suchung eine eigene Veröffentlichung gefüllt hätte.

Ich hoffe, daß ich mit dieser „Denkschrift” einen konstruktiven Beitrag zur Schulpraxis leisten kann. Ich möchte eine stellenweise vernachlässigte Aufgabe

von Schule neu ins Bewußtsein rufen, zu neuen Ideen inspirieren und Mut machen, sich auf diesem Gebiet weiter zu engagieren.

2 Ein Überblick: Ausbildung heute für die Gesell- schaft von morgen?

In diesem Kapitel sollen zwei Themen miteinander in Verbindung gebracht werden, die sicher nicht für jeden unmittelbar zusammengehören. Das Informati- onszeitalter scheint mehr in die Zuständigkeit von Zukunftsforschern oder Visionären zu fallen, während der Schulalltag am Gymnasium wenig von Fortschritt und Visionen bestimmt wird. Aber es ist eine Funktion (und ein Grundproblem) des Gymnasiums, heute Schüler auf die Gesellschaft von morgen vorbereiten zu müssen - und nicht nur auf die Teilnahme an dieser Gesellschaft, sondern auch auf deren Mitgestaltung. Und so erweisen sich auch die Konzepte hinter dem Wort „Informationsgesellschaft” als bedeutsam für die Schule.

2.1 Die Informationsgesellschaft im Informationszeitalter

Wir haben es uns angewöhnt, unsere Zeit und unsere Gesellschaft mit Etiketten zu versehen, um ihre herausragenden Merkmale oder die Bedeutung von Trends zu betonen. Die Terme „Industriegesellschaft” oder „Atomzeitalter” gelten nicht mehr als angemessen. Statt dessen reden wir, je nach Kontext, von der„Dienstleistungsgesellschaft”, der „Freizeitgesellschaft” oder vom

„Computerzeitalter”[1]. Ein zunehmend populäres Etikett ist das der „Informati- onsgesellschaft” beziehungsweise des „Informationszeitalters”. In den Massen- medien begegnen uns diese Begriffe in jüngerer Zeit häufig (auch wenn die Begriffe und das dahinterstehende Konzept nicht neu sind[2]). Prominente Redner, durchaus nicht nur aus der Computerbranche, sind sich einig, daß das Industriezeitalter durch das Informationszeitalter abgelöst und Deutschland zur Informationsgesellschaft werden wird - oder sogar schon dazu geworden ist[3]. Eine Enquete-Kommission des Bundestages, ein Forum der Bundesregierung, Forschungs- und Wirtschaftsministerium, die Europäische Kommission, die G7-Ministerkonferenz und andere bedeutende Institutionen[4] beschäftigen sich

mit den Auswirkungen des Informationszeitalters. Die entsprechenden Verlaut- barungen und Reden ähneln sich, die Formulierungen und Visionen sind größtenteils austauschbar.

Dabei leuchtet die Bezeichnung „Informationsgesellschaft” nicht unmittelbar ein. Arbeitet nicht jede Gesellschaft mit Informationen?

„Informationen sind [...] eine Voraussetzung unserer organischen Existenz und unabdingbare Grundelemente menschlicher Kommunikation, das heißt allen sozia- len Handelns. Ohne Informationen ist Gesellschaft nicht möglich, so gesehen wäre der Begriff der 'Informationsgesellschaft' eine Tautologie.”[5]

Die vielen Facetten des Wortes „Information” erschweren das Verständnis des Begriffes „Informationsgesellschaft”. Die Bemühungen, „Information” wissen- schaftlich exakt zu definieren, zeigen, daß eine konsensfähige Definition aus verschiedenen Gründen schwer zu finden ist und auch nicht in jedem Zusam- menhang Sinn ergeben würde[6]. Es mag hilfreich sein, zwischen Daten, Informa- tionen, Wissen und Erkenntnis (hierarchisch aufbauend) zu differenzieren[7]. Wir werden dann allerdings feststellen, daß viele mit der Informationsgesellschaft eine Wissensgesellschaft meinen (und einige sie konsequenterweise auch so nennen). Für diese Arbeit soll es der Einfachheit halber bei den Termini „Infor- mationsgesellschaft” und „Information” bleiben, sie scheinen am weitesten verbreitet und nicht ganz unsinnig zu sein. Burkhardt beispielsweise zieht aus ähnlichen Gründen etwas resigniert seine „persönliche Schlußfolgerung aus all den Diskussionen und Verlautbarungen der letzten Jahre: Information ist alles, was sich digitalisieren und über Telekommunikationswege [...] verbreiten läßt.”[8] Solch vager Informationsbegriff begünstigt aber natürlich auch Verwechslungen. Der sogenannte „Information Highway” etwa, der mit seiner angestrebten Übertragungskapazität hauptsächlich zur individuellen „Sendung” von Spielfil- men per „Video on demand” dienen soll, ist bestenfalls zu einem Teil für die Bildung von Wissen und Erkenntnis relevant. Puttnam sieht das Informations- zeitalter in ein „Unterhaltungszeitalter” münden: „Unterhaltung ist nicht einfach ein - wenn auch bedeutendes - Anhängsel unserer neuen Informationsgesell- schaft; sie wird zunehmend zur dominierenden Kraft und ‘kolonialisiert’ die ganze Welt der Information mit zerstörerischer Geschwindigkeit und Macht.”[9]

Die „Einmischung” der Technik ist ein Faktor für die Entstehung der Informati- onsgesellschaft. Ein weiterer Faktor ist die steigende Bedeutung von Informati- onsnutzung oder Informationsmangel. Man definiert etwa die moderne Informationsgesellschaft allgemein als „eine Wirtschafts- und Gesellschaftsform, in der die Gewinnung, Speicherung, Verarbeitung, Vermittlung, Verbreitung und Nutzung von Informationen und Wissen einschließlich wachsender technischer Möglichkeiten der interaktiven Kommunikation eine entscheidende Rolle spielen”[10].

Die Voraussetzungen für die Entstehung einer Informationsgesellschaft sind laut Martin die Durchdringung aller Lebensbereiche mit Informationstechnologie, darüber hinaus Information als wichtigster Beschäftigungsfaktor und wichtigste Ressource der Wirtschaft und ein ausgeprägtes Informationsbewußtsein sowie einfacher Zugang zu Informationen für die Bürger[11].

Die Auswirkungen der mit dem Wort „Informationsgesellschaft” umschriebenen Phänomene sollen zu fundamentalen Umwälzungen führen:

„Mit der Informationsgesellschaft beginnt auch ein neues Zeitalter, das Informati- onszeitalter. Die Arbeits- und Lebensformen ändern sich weit fundamentaler, als dies vielen Menschen heute noch erscheinen mag; die Welt ändert sich, nicht nur in ihren technologischen, sondern auch in ihren wirtschaftlichen und kulturellen Strukturen.”[12]

Insgesamt ist um dieses Wort herum eine Tendenz zur Legendenbildung zu verzeichnen[13]. Meist sind diese Legenden euphorisch, und zum Teil erinnern sie an Science-Fiction-Literatur.

Der Staat unternimmt einiges, um die Entwicklung zur Informationsgesellschaft zu fördern und positiv zu beeinflussen - etwa durch die Förderung der Nutzung von Fachinformation, die Unterstützung von Pilotprojekten, zum Beispiel zur Erprobung des „Fernstudiums” für Schüler und Studenten am heimischen Computer („Telelearning”), und durch Gesetzgebungsinitiativen wie beim neuen Informations- und Kommunikationsdienstegesetz.

Die Rolle des Staates in der Informationsgesellschaft ist allerdings noch umstritten.

Diskutiert wird unter anderem die Notwendigkeit einer informationellen Grund- versorgung (ähnlich der staatlich gesicherten universalen Verfügbarkeit von Telefonleitungen), die durch allgemein zugängliche, ggf. staatlich unterstützte Universaldienste verschiedener Art (z.B. Verwaltungs- und Verbraucherinforma- tionen, Literaturnachweise in Bibliothekskatalogen und Zeitschriftendatenban- ken, alltagsrelevante juristische und medizinische Informationen) gesichert werden muß[14]. Einen ähnlichen Ansatz gab es Anfang der siebziger Jahre unter dem Motto „Information für jedermann” im Programm der Bundesregierung zur Förderung der Information und Dokumentation 1974-1977.

Der damalige universale Ansatz wurde allerdings schnell als nicht finanzierbar erkannt und zugunsten der Förderung der wissenschaftlich-technischen und wirtschaftlichen Fachinformation aufgegeben. Heute fällt wieder auf, daß trotz dem allseits anerkannten Trend zur Informationsgesellschaft ein entgegengesetz- ter Trend zur Kürzung der öffentlichen Gelder für informationsversorgende (wie Bibliotheken) und beratende Einrichtungen besteht. „In vielen entwickelten Volkswirtschaften wird die Sicherstellung des Zugangs zu Information als öffent- lichem Gut als nebensächlich für das wirtschaftliche und soziale Wohlergehen betrachtet.”[15] In den Zeiten der „leeren Kassen” wird - trotz guter Vorsätze wie der „Erleichterung des Informationszugangs für jedermann”[16] - alles gestrichen, was nicht unmittelbar notwendig erscheint. Und die Notwendigkeit von Infor- mation ist schwer zu belegen, wie Haywood ausführt:

„Information muß aufgenommen und verarbeitet werden, bevor man sie nutzen kann. Das ist zum Großteil ein persönlicher und unsichtbarer Vorgang, was erhebli- che Probleme für diejenigen aufwirft, die für Information als öffentliches Gut eintreten, und besonders für diejenigen, die den Zugang zu ihr als viertes Bürger- recht nach Nahrung, Bekleidung und Unterkunft ansehen. Regierungen müssen sich oft sagen lassen, daß einfacher und billiger Zugang zu Information wichtige wirtschaftliche Vorteile für den Einzelnen und die Gemeinschaft mit sich bringt, aber das ist schwer zu belegen. Darum stellen von der Regierung bezahlte Einrich- tungen wie öffentliche Bibliotheken, Rechtsberatungsstellen und Bürgerbüros regel- mäßig fest, daß ihnen jederzeit die Mittel auszugehen drohen. Der Information, die nicht gewinnorientiert ist und die der Verbesserung, Bereicherung und Entwicklung

des Lebens der Bürger dient, wird von Jahr zu Jahr geringere Priorität eingeräumt.”[17]

2.1.1 Die „Informationsflut” durch wissenschaftliche Veröffentlichungen und Massenmedien

Der einfache Zugang zu großen Informationsmengen und die hohe Bedeutung des Austauschs von Informationen sind positive Erscheinungen des Informati- onszeitalters. Diese Erscheinungen bringen allerdings auch „Nebenwirkungen” mit sich. Eine häufig angeführte Nebenwirkung ist die sogenannte Informations- flut: „Die neuen Medien schaffen freilich auch Probleme, unter anderem solche [...] - der komplizierten Orientierung in der Vielfalt der Inhalte von Informatio- nen; - der Überflutung mit (unnötigen) Informationen”[18]. Das Wort „Informa- tionsflut” und verwandte Wortbildungen sind negativ besetzt; sie stehen für das Paradoxon, daß eigentlich zur Problemlösung gedachte Information selbst zum Problem wird, wenn sie uns unübersichtlich und in Massen begegnet. Postman sieht in der Informationsflut gar eine Gefährdung unserer Kultur:

„Die Information ist zu einer Art Abfall geworden, nicht nur außerstande, die Grundfragen der Menschen zu beantworten, sondern auch kaum von Nutzen, wenn es darum geht, ihnen bei der Lösung ganz alltäglicher Probleme eine Orientierung zu bieten. [...] Erst heute beginnen wir zu begreifen, daß Kulturen auch durch eine Informationsschwemme beschädigt werden können, durch Information ohne Bedeutung, durch Information, die zu beherrschen wir verlernt haben.”[19]

Wo begegnet uns nun diese Informationsschwemme? Wenn wir die Belege für die Existenz der Informationsflut näher betrachten, stellen wir fest, daß der Begriff auf zwei verschiedene Bereiche angewandt wird. Diese Doppelbedeutung kann zu Verwirrungen führen.

Von einer Informationsflut oder genauer Publikationsflut spricht man einmal in der wissenschaftlichen Fachinformation und meint die exponentielle Zunahme wissenschaftlicher Veröffentlichungen in den letzten Jahrzehnten. Die Zahl der Wissenschaftler nimmt zu, und diese veröffentlichen teils neue, teils redundante Erkenntnisse in einer stetig wachsenden Zahl von Fachzeitschriften, deren Inhalt in ebenfalls zunehmenden Informationsdiensten auf Papier oder in Datenbanken nachgewiesen wird[20]. Die Menge an relevanter Literatur kann zum Problem für den Wissenschaftler werden, da er auf den Erkenntnissen anderer aufbauen soll:

„Wissenschaftler und Forscher leiden oft unter Zeitdruck, weil sie als Erster fertig werden müssen oder das Verlangen haben, alles bisher Veröffentlichte durchzuse- hen, das für ihre Tätigkeit relevant ist. Oft werden sie dabei behindert durch den Zwang, so viele Informationen aufzunehmen, daß ihre Originalität und Kreativität erstickt wird. Wegen der exponentiellen Wachstumsrate wissenschaftlicher Infor- mation kann sie die Notwendigkeit, schnell zu sein, paradoxerweise verlangsamen, und sie werden Geiseln der Informationsüberlastung. Das Verlangen, ‘alles durch- zusehen’, ist ein typischer akademischer Fehler, der oft zu einer verrückten, immer- währenden Jagd führt, die alle Freude an späteren Entdeckungen zerstören und das Veröffentlichungsdatum ewig hinausschieben kann. Wer an diesem besonderen Verlangen leidet, hat ständig das Gefühl, etwas übersehen zu haben.”[21]

Der zweite Bereich, in dem man von einer Informationsflut redet, ist der Bereich der Massenmedien. Diese Informationsflut wird offensichtlich und begreifbar am Zeitungskiosk, beim „Durchschalten” durch die Kabel- oder Satellitenfernseh- programme oder Radiosender. Hier wird sie zum Problem für jeden Bürger, der sich der Welt der Massenmedien nicht verschließt. Bei Harrington findet sich eine typische Beschreibung der Informationsflut durch Massenmedien:

„Information - das heißt in erster Linie Medien. Sie wird hauptsächlich durch diese verbreitet. Es gibt kaum einen Haushalt, der nicht Zugang zu Hörfunk und Fernse- hen hat. Drei Zeitschriften werden im Schnitt von jedem Haushalt genutzt, die Mehrzahl der Haushalte verfügt auch über eine Tageszeitung. Das ‘Gewicht’ der auf Papier gebannten Informationen, die wir gewollt oder ungewollt erhalten, erreicht im Verlaufe einer einzigen Woche oft mehrere Kilo. Immer mehr Radio- und Fernsehsender buhlen um unsere Gunst. Doch gerade hier stehen wir erst am Anfang einer weiteren stürmischen Entwicklung. Die Konkurrenz um unsere freie Zeit wird weiter steigen, und es wird zunehmend schwerer, sich in dem Informa- tions- und Mediendschungel zu orientieren.”[22]

Die Informationsflut, die aus unserem Fernseher, unserem Radio, von den engbedruckten Seiten unserer Tageszeitung auf uns einströmt, scheint von anderer Natur zu sein als die wissenschaftliche Publikationsflut: Sie bietet sich uns an, drängt sich uns auf, will gesehen, gehört, gelesen sein. Das ist das Wesen der Massenmedien. Dem Wissenschaftler ist die Informationsflut eher der Heuhaufen, der ihn begräbt, wenn er sich auf die Suche nach der Stecknadel begeben hat (oder die Masse von Stecknadeln, um das Bild etwas zu strapazieren). Der Wissenschaftler mag an der aktiven Suche verzweifeln, der Medienbürger fühlt sich schon mit dem passiven Konsumieren überfordert. Andere Informationswege bewegen sich zwischen Suchwerkzeug und Konsumkanal, etwa die elektronischen Medien Videotext, Onlinedienste und das unvermeidliche Internet. Aber immer stellen sich im Zusammenhang mit „Infor- mationsfluten” die grundlegenden Fragen: „Wie schaffe ich es, keine wichtige Information zu verpassen?” und „Was ist unwichtig für mich, und wie kann ich das Unwichtige ausblenden?”.

Zweierlei Schwächen des Bildes von der Information, die uns „überflutet”, darf man nicht übersehen. Erstens: Die Assoziation mit einer Sturmflut weckt die Vorstellung, etwas wirke schädlich auf die Allgemeinheit und sei grundsätzlich überflüssig. Aber was dem einen störende „Informationsflut” ist, kann für den anderen genau die gewünschte Information bedeuten. Während sich der Radio- hörer in der Küche über die ständigen Verkehrsmeldungen ärgert, wünscht sich der Autofahrer eben diese häufiger und ausführlicher. Und zweitens sollte es bei einer Überschwemmung mehr Wasser als genug geben. Trotz Informationsflut gibt es aber viele Themen, zu denen uns nicht genügend Informationen erreichen. Also können wir die sogenannte Informationsflut nicht als Übel bekämpfen, indem wir die Produktion und Verbreitung von Informationen

„eindämmen”. Die Informationsflut besteht aus einer Fülle verschiedenartiger Informationen zu den verschiedensten Themen, und diese Informationen sind zum Teil falsch oder nur zur Hälfte wahr, zum Teil richtig, oft aber für unsere Bedürfnisse zu knapp oder aufgebläht. Nur wenige sind für uns wertvoll, viele dagegen wertlos oder sogar schädlich. Wir müssen versuchen, „die Fluten zu teilen”.

2.1.2 Neue Medien und Technologien eröffnen neue Möglichkeiten

Es fällt auf, daß in den Prognosen und Analysen zum Informationszeitalter die sogenannten „Neuen Medien” und die „Informations- und Kommunikations- technologien” eine große, wenn nicht die tragende Rolle spielen. Der Terminus

„Neue Medien” ist schon älter, er prägte die Diskussion um Einfluß und Möglichkeiten der audiovisuellen Medien wie Radio, Fernsehen, Video oder auch Computerspiele. In den letzten Jahren sind die Computer in den Mittelpunkt

des Interesses gerückt und mit ihnen die computerunterstützte Kommunikation mit Informationssystemen (Online-Datenbanken, World-Wide-Web-Seiten im Internet) oder mit anderen Menschen (z.B. E-Mail, Videokonferenzen). Es läßt sich bezweifeln, ob die anderen Argumente für eine Gesellschaftsveränderung - Internationalisierung, Wissenszuwachs, neue Anforderungen an Weiterbildung - zusammen ausreichen würden, um mit vergleichbarem Nachdruck von einem

„neuen Zeitalter” zu sprechen. Postman ist zwar überzeugt: „Nichts wäre irreführender als die Behauptung, die Computertechnologie habe das Informati- onszeitalter hervorgebracht. Die Druckpresse hat damit schon im frühen 16. Jahrhundert begonnen.”[23] Aber seine Definition von „Informationszeitalter” ist recht unpopulär. Die elektronischen Medien und Computeranwendungen betrachtet man als derart zentral für den Weg in die Informationsgesellschaft - schließlich schaffen sie erst die technischen Voraussetzungen für massenhafte Informationsverteilung - daß sie in den Diskussionen leicht zum beherrschenden Thema werden und so nicht der Weg, aber das Werkzeug zum Ziel wird. Dürr warnt davor, die utopischen Erwartungen für unsere Gesellschaft an die Techno- logie zu knüpfen:

„Es ist allerhöchste Zeit, daß wir die Vorstellung begraben, ein Haufen raffgieriger, egoistischer, ehrgeiziger, erbarmungslos miteinander konkurrierender und macht- hungriger Individuen könnte unter Ausnutzung aller möglichen Technologien, gewissermaßen als unbeabsichtigten Nebeneffekt, jene immer wieder beschworene menschliche Gesellschaft schaffen, die mit sich und mit ihrer Umgebung in voller Harmonie leben kann.”[24]

Viele Wunschvorstellungen und Schreckensvorstellungen um den Computer aus den siebziger und achtziger Jahren waren verfrüht - zu teuer, unkomfortabel und unbequem in der Anwendung waren die Geräte. Heute scheint ihre Zeit gekom- men, „die leichte Handhabung, die gesunkenen Kosten, das breite Funktions- spektrum [...] sowie die allgemeine Akzeptanz des Computers in allen Gesellschaftsschichten, die spürbare Veränderung beruflicher, kultureller und alltäglicher Kommunikations- und Informationspraxis durch den Computer”[25] haben der Computertechnologie einen bedeutenden Platz im privaten Alltag wie im Wirtschaftsleben vieler Menschen verschafft.

Computergestützte Informationssysteme werden in wohl allen größeren Einrich- tungen und Firmen eingesetzt, um von den einzigartigen Möglichkeiten der Datenverarbeitung profitieren zu können - vom gleichzeitigen Zugriff vieler Personen an verschiedenen Orten auf dieselben Daten und Dokumente, von den schnellen, mehrdimensionalen Such- und Sortierfunktionen und der Automati- sierung von Berechnungen. Nachdem der Computer in Privathaushalten lange nur als moderner Ersatz für Schreibmaschine und Videospielgerät gedient hat, werden jetzt auch dort vermehrt Nachschlagewerke und Onlinedienste (Internet, T-Online, CompuServe und andere) zur Informationsbeschaffung eingesetzt.

Weder aus der Verbreitung von Computern in Firmen noch aus der Akzeptanz von Personal Computern und Internetzugang zuhause darf man allerdings direkt auf vermehrte Informationsnutzung und ein höheres Informationsbewußtsein schließen, denn keiner dieser Faktoren hängt direkt und unmittelbar mit Infor- mationsbeschaffung zusammen. Datenverarbeitung und das sogenannte „Surfen” im Internet haben nur am Rande mit dem Informationsbewußtsein zu tun.

2.1.3 Die Komplexität unserer Gesellschaft erfordert Informationskompetenz

Die neuen Medien und Technologien bieten einstmals ungeahnte Möglichkeiten, Informationen aufzubereiten, zu verarbeiten und zu verteilen. Aber das Vorhan- densein optimaler Informationsverteiler allein bedeutet noch nicht, daß auch Bedarf nach ihnen besteht (die Metapher vom Werkzeug, das seine Aufgabe sucht, ist altbekannt und trifft nicht selten auf die Anwendung von Computern zu). Einen tatsächlich steigenden Bedarf an Informationen bewirkt die zuneh- mende Entscheidungsfreiheit in unserer Gesellschaft. Unter einem totalitären Regime, in dem der Staat als einziger weitreichende Handlungsfreiheit hat, können und müssen Gesellschaft und Wirtschaft nicht so viele Informationen selbständig erheben; nur der Staat versucht, immer „gut informiert” zu sein (wie die DDR mit Hilfe der absurd aufwendigen Bevölkerungsüberwachung durch den Staatssicherheitsdienst). Aber die typischen westlichen Demokratien, zu denen die Bundesrepublik gehört, zeichnen sich durch ein liberales Wirtschafts- system und Gesellschaftsgefüge aus. Unternehmen (und Arbeitnehmer) agieren auf wachsenden komplexen, freien Märkten. Auch das gesellschaftliche Leben ist durch früher unvorstellbare Entscheidungsspielräume gekennzeichnet. Geißler argumentiert, daß

„in unserer Gesellschaft [...] Selbstbestimmung zum alltäglichen und jeden betref- fenden Schicksal geworden ist. In unserer Gesellschaft muß, infolge der in einen Endzustand eintretenden Entwicklung des Pluralismus und der dadurch bedingten fortgesetzten Schwächung bislang Gesittung stiftender Institutionen wie der Ehe, der Familie, der Schule und des Staates generell, jeder sich jederzeit und überall selbst bestimmen. Galt dies vor zwei Jahrzehnten noch als große, plakativ gefor- derte Hoffnung, so ist dieser Umstand mittlerweile mehr und mehr zur Last gewor- dene gesellschaftliche Wirklichkeit.”[26]

Die Freiheit zur Selbstbestimmung ist eben auch ein Zwang oder eine Last, wie Geißler es nennt: Jeder „muß sein Leben selbst in die Hand nehmen”. In gewis- sen Grenzen steht es allen Bürgern frei, Wohnort, Ausbildung und Beruf, Konsumgüter, politische Ausrichtung und Weltanschauung zu wählen. Wersig nennt dieses Problem die „Komplexität der Informationsgesellschaft” und formuliert es so:

„Komplexität scheint das Phänomen zu sein, das uns besonders zu schaffen macht, weil sie aus verschiedenen Quellen gespeist wird: Sie scheint einmal gespeist zu sein durch den Wegfall bisher geltender Sicherheiten, wie sie etwa die Industriegesell- schaft mit ihren Klassenstrukturen, Zeitstrukturen usw. bot. Sie dürfte weiterhin damit verknüpft sein, daß Individuen mehr auf sich selbst gestellt sind, aber damit noch nicht umzugehen wissen. Die Zusammenhänge, in denen jeder Einzelne oder in denen jede einzelne Handlung steht, sind vielfältiger, weitreichender und diffe- renzierter geworden. Gleichzeitig finden aber auch Abstraktionsbewegungen statt, die weit entfernt von den Individuen entschieden werden, aber auf ihre Lebenswelt einen erheblichen Einfluß ausüben. Unser Wissen über die Welt ist erheblich angewachsen, die Anwendungen dieses Wissens haben zu Systemen und Vernetzun- gen geführt, die nicht mehr überschaubar sind.”[27]

Die Notwendigkeit, auf immer mehr Gebieten selbständig zu entscheiden, stößt auf die andere Eigenheit unserer Zeit, daß jedes einzelne dieser Gebiete immer komplexer und schwerer zu überblicken wird. „Man denke an die Schnelligkeit des Informationszuwachses, der technischen Innovationsschübe und auch der Rechtsentwicklungen bis hin zum 'Rechtsdickicht'.”[28] Wer der

Entscheidungsfreiheit nicht gewachsen ist, droht, aus der Gesellschaft zu fallen. Er ist benachteiligt, wo er sich nicht um seinen eigenen Vorteil kümmern kann.

„Dies führt zur Gefahr, daß in unserer Gesellschaft Bereiche einer neuen Art von Analphabetismus entstehen. [...] Aus beiden Situationen, der der zunehmenden Selbstbestimmung und der der wachsenden Sachzwänge, ergibt sich mit Notwen- digkeit, daß Menschen die nötigen Kompetenzen oder Problemlösestrategien besit- zen müssen, wollen sie in der gegebenen gesellschaftlichen Situation verantwortlich handeln können und nicht ihre gewonnene Selbständigkeit und Mündigkeit im Prozeß des Wandels wieder einbüßen.”[29]

Wie können wir nun mit unserer Entscheidungsfreiheit umgehen? Dazu ist zweifacher Fortschritt nötig:

Erstens die Weiterentwicklung der Informations- und Kommunikationstechno- logien zu solchen, die ihr Potential nutzen, die Informationsfluten zu filtern und uns mit den uns betreffenden Informationen zu versorgen. Das kann etwa durch auf Informationsdienste spezialisierte Dienstleister geschehen, aber auch durch spezielle Computerprogramme (etwa aus dem Bereich sogenannter „Intelligenter Agenten”), die uns regelmäßig mit aktuellen Informationen entsprechend unserem persönlichem „Informationsbedarfsprofil” versorgen. (Solche Dienste setzen uns allerdings noch viel mehr als die gegenwärtigen Massenmedien dem Risiko aus, interessante Randgebiete zu übersehen oder durch selektive Informa- tionen manipuliert zu werden.) Wersig formuliert den Bedarf an technischem Fortschritt so:

„'Informationsgesellschaft' ist die Gesellschaft, auf die wir uns zubewegen müssen, in der die existierende Komplexität, die an vielen Stellen überfordert, durch geeigne- te, d.h. die Errungenschaften der Moderne nicht zurückführende, Hilfsmittel reduziert wird. Nicht um 'Informationen' im landläufigen Sinn geht es, auch nicht um Informations(Kommunikations-, Wissens-)technolo-gien, sondern um diese nur dann, wenn sie so eingesetzt werden, daß sie Komplexität reduzieren.”[30]

Und zweitens stellt sich eine Anforderung an den Menschen. Jeder sollte kompe- tent mit den ihm zugänglichen Medien umgehen, das Wichtige vom Unwichtigen trennen und sich verschiedener Informationsquellen bedienen können. Die Fähigkeit zum kompetenten Umgang mit Informationen wird in der angloameri- kanischen Fachwelt seit einiger Zeit unter dem Namen „information literacy” diskutiert[31]. (In Deutschland stößt man nur vereinzelt auf dieses Thema.) Wer

diese Fähigkeit besitzt, ist sich seines Informationsbedarfs bewußt, kann aufgrund seines Grundwissens über mögliche Informationswege eine sinnvolle Suchstrategie entwickeln und durchführen und abschließend das Gefundene bewerten, ordnen und zur Entscheidungsfindung oder zur Lösung eines Problems einsetzen. Eine so definierte Informationskompetenz ist weder eine hochwissenschaftliche noch eine banale Fähigkeit. In gewissen Grenzen löst jeder denkende Mensch seine Informationsprobleme kompetent: „Natürlich benutzen Menschen in ihren alltäglichen Bedingungen Information - nicht die Information, die gegenwärtige Datenbanken anbieten, aber Information, die Teil ihrer kommunikativen Welt ist: Medien, Ankündigungen, Freunde etc.”[32] Aber die stetig wachsende Vielfalt von Informationsangeboten, Informationswegen (ob per Computer, über die örtlichen Bibliotheken oder Beratungseinrichtungen) und Gebieten, auf denen Informationsbedarf besteht, erschwert es beträchtlich, Informationskompetenz zu erlangen. Sie ist notwendig, stellt sich aber nicht von selbst ein, sondern muß erlernt und geschult werden[33].

Verfügt nur ein Teil der Gesellschaft über Informationskompetenz, droht die Entstehung einer neuen Klassengesellschaft mit einer „Informationselite” und einer Klasse, in der Informationsarmut herrscht. Diese Theorie ist mittlerweile recht weit verbreitet[34]. Das Problem des „ungleichen Zugangs zu Wissen und Information” ist real und hat die Tendenz, sich selbst zu verstärken: „Wer bereits gut informiert ist, weiß in der Regel, wo und auf welchem Wege er sich zusätzli- che Informationen beschaffen kann. Er versteht es auch, neue Informationen einzuordnen, Wesentliches von Unwesentlichem zu trennen.”[35] Und wer den Anschluß verliert, wird irgendwann gar nicht einmal mehr bemerken, daß er viel Wichtiges verpaßt. Bis dieses Problem gelöst ist und die Menschen im allgemei- nen ihre Entscheidungen gut informiert treffen können, kann von einer Informa- tionsgesellschaft noch nicht die Rede sein - ob wir nun über Breitbandnetze und Internet-Anschlüsse verfügen oder nicht. Vielleicht sollte man unsere Gesell- schaft bis dahin - analog zur Steinzeit - nach ihren Werkzeugen „Computerzeit” nennen.

2.1.3.1 Lebenslanges Lernen für den Beruf

In der Informationsgesellschaft soll sich die Arbeitswelt nach und nach verän- dern: „In unserer zukünftigen postindustriellen Gesellschaft verlieren einfache und monoton wiederkehrende Arbeitsvorgänge an Bedeutung gegenüber der Verarbeitung und Anwendung von Informationen und theoretischem Wissen.”[36] (Wie sich das allerdings auf die heutigen Probleme des Arbeitsmark- tes auswirken soll, wird kontrovers diskutiert.) Das Wissen und die Informatio- nen, die im Beruf angewandt werden müssen, können aber nicht während der Ausbildung gelernt und danach nur noch angewandt werden. Vielmehr besteht die Notwendigkeit zum sogenannten „lebenslangen Lernen”:

„Die nötige Bildung des Menschen kann künftighin nicht mehr in einem einmaligen, am Anfang des Lebens stehenden und danach abgeschlossenen Bildungsgang vermittelt werden. Wir diskutieren deshalb weltweit die Notwendigkeit eines lebensbegleitenden Lernens (life-long learning, éducation permanente) und definie- ren deshalb auch die Gesellschaft als eine ‘life-long-learning-society’.”[37]

Fortbildung und Weiterbildung sind nötig, weil sich die Berufsbilder verändern - durch den Einsatz neuer und immer wieder erneuerter Informations- und Kommunikationstechniken, durch die Globalisierung oder Internationalisierung der Märkte, die neue Konkurrenz und neue Absatzmöglichkeiten mit sich bringen, und natürlich nach wie vor durch die Veränderungen in Forschung und Entwicklung für den jeweiligen Berufsbereich. Das mag erscheinen wie eine ständige Aufholjagd, um den Arbeitsplatz nicht zu verlieren. „Bei Weiterbildung geht es aber um mehr als ständiges Lernen, um im Beruf seinen Mann oder seine Frau zu stehen. Weiterbildung hat auch für die Persönlichkeitsentwicklung des einzelnen Bürgers einen hohen Stellenwert.”[38] Murmann spitzt es so zu: „Der alte Lebensrhythmus Schulbank, Werkbank, Parkbank ist bereits heute passé. Die Zukunft hält statt dessen einen neuen Rhythmus bereit: Arbeitszeit, Weiter- bildungszeit, Freizeit.”[39]

2.1.3.2 Vernünftiger Umgang mit Informationen als Voraussetzung für den

„mündigen Bürger” in Gesellschaft und Politik

Eine Grundlage der Demokratie ist die Annahme, daß die Bürger in der Lage sind, begründet zu urteilen und mündig Entscheidungen zu treffen. Unsere parlamentarische, das heißt repräsentative, Demokratie berücksichtigt sozusagen schon, daß die Bürger damit überfordert wären, über alle Belange informiert zu sein und kompetent entscheiden zu können - es ist also Aufgabe der staatlichen Gewalten, Aufgabe der Regierung, des Parlaments und der Rechtsprechung, gut informiert zu sein und danach zu handeln. Aber die Bürger sollen dennoch durch Wahlen, durch ihr Engagement in Einrichtungen wie Bürgerinitiativen oder Gewerkschaften oder in politischen Parteien entscheiden. Dafür benötigen sie Informationen.

Rainer drückt das so aus:

„Demokratie, das Recht jedes einzelnen auf politisches Engagement in allen Lebens- fragen - dies betrifft sowohl so enge Bereiche wie Familie (z. B. Erziehungsrechte) und Arbeitsplatz (z. B. Mitbestimmung) als auch gesamtgesellschaftliche Probleme eines Staates bzw. einer Gemeinde oder auch den weitgehend vergesellschafteten Freizeitbereich (z. B. Medien) - ist nur realisierbar durch Menschen, die zu verant- wortungsbewußter politischer Beteiligung befähigt sind. Mündige Menschen, auf die Demokratie baut, müssen aber sowohl Formen demokratischer Auseinanderset- zung (kommunikatives Ver-handeln) beherrschen, als auch in der Lage sein, sich selbst umfassend zu informieren (um überhaupt begründet argumentieren zu können).”[40]

Die Versorgung mit politischen Informationen übernehmen hauptsächlich die Presse und das Fernsehen. Mit politischen Nachrichten und Kommentaren werden wir zwar „überschwemmt”, da die Massenmedien aber zwangsläufig die Auswahl auf den „Massengeschmack” abstimmen müssen, ist es schwierig, an detaillierte oder ungewöhnliche Informationen heranzukommen. Auch bei

„authentischen” Politikerzitaten und Ausschnitten aus längeren Veranstaltungen sind eventuell wertende Auslassungen oder Fokussierungen in der Berichterstat- tung schwer zu erkennen, da der Zugang zum vollständigen Material ebenfalls nicht einfach ist.

Vielleicht ist auch der Mangel an zielgruppengerechter und lebensnaher Politikinformation eine Ursache für Politikverdrossenheit und geringe Wahlbeteiligung.

2.1.3.3 Vernünftiger Umgang mit Informationen im Privatleben

Die große Entscheidungsfreiheit jedes Bürgers prägt das Privatleben. Als Verbraucher auf einem freien Markt, auf dem noch zunehmend mehr Bereiche liberalisiert werden (Telekommunikation, Energieversorgung, Post), nur „unter- stützt” durch Werbung und wenige Erfahrungen, gehören Informationsdefizite zum Alltag. Eine noch nicht hinreichend beachtete Rolle spielen die Verbrau-che- rinformationsstellen, die zum Teil staatlich gefördert werden[41]. Welche Medien genutzt werden sollen, was man mit der Freizeit anfängt - fast alles ist beliebig wählbar. Freiheit und Freizeit können tatsächlich zum Problem werden. Welzel fordert dazu auf, nachzudenken über den

„[...] Wert der Bildung für die Bewältigung des Problemes ‘Freizeit’. Moderne Technik und wirtschaftlicher Wohlstand erlauben einer immer größeren Zahl von Menschen, immer kürzere Zeiten zu arbeiten. Aber was geschieht mit der restlichen Zeit? Freie Zeit allein bedeutet noch nicht sinnerfülltes Leben. Während wir in den vergangenen Jahren über die Monotonie der Arbeit klagten, müssen wir uns vielleicht schon morgen um die Monotonie der Freizeit sorgen. Freizeit als Zeit der passiven Konsumierung vorgefertigter Güter dürfte das Wohlbefinden der Menschen kaum vergrößern. Statt dessen muß wohl auch Freizeit aktiv und kreativ von den Betroffenen selbst gestaltet werden. Das Vermögen dazu - die Grundlagen zur Bewältigung der gestellten Anforderungen in Beruf und Freizeit - ist früh anzulegen.”[42]

Immerhin existieren für den Freizeitbereich schon erstaunlich viele und durch- dachte Informationshilfsmittel, namentlich die vielen Zeitschriften zu diversen Interessengebieten oder die in puncto Informationspräsentation zum Teil sehr weit entwickelten TV-Zeitschriften.

Schwerwiegender als ein verpatzter Fernsehabend ist aber das Informationsdefi- zit gegenüber staatlichen Exekutivorgangen, Behörden, anscheinend ein unlösba- res Problem (falls die Idee von der bürgernahen Verwaltung nicht doch zum Trend wird): Viele Unsicherheiten bei Steuerangelegenheiten, gegenüber dem Sozialamt und anderen Ämtern schaden uns entweder oder bedeuten Einkünfte für die Berater und Dienstleister, die uns den Umgang mit den Behörden abnehmen.

2.2 Gymnasiale Bildung heute

Anders als das Thema „Informationszeitalter” diskutiert man die Schulausbil- dung in Deutschland recht kontrovers. Nicht Visionen und Optimismus, sondern Finanznöte, soziale Probleme und die Sorgen der Lehrkräfte beherr- schen die Diskussion. Es scheint aus dem Blickfeld zu geraten, wozu die Schule eigentlich da ist.

Wozu ist die Schule denn da? Ein Schüler würde auf diese Frage wahrscheinlich antworten, daß die Schule Wissen vermitteln soll. Und das ist die wesentliche Funktion der Schule: die Vermittlung von Grundlagenwissen, das für das Verständnis unserer Gesellschaft und die Aufnahme weiteren Wissens notwendig ist, von der für unsere gemeinsame Kultur prägenden Allgemeinbildung und von beispielhaftem Fachwissen. Die Schule will aber auch erziehen. Der ehemalige Bundespräsident von Weizsäcker nannte als die „Erziehungsaufgaben der Pädagogen”, „die jungen Menschen zum eigenen moralischen Urteil zu befähigen, der Phantasie Raum zu schaffen, zu selbständigem Denken anzuregen, eine eigene freie Entscheidung finden zu lassen”.[43]

Der Gedanke einer durch unüberschaubaren Informationszuwachs gekennzeich- neten Gesellschaft ist der modernen Schule nicht wesensfremd - Postman führt im Gegenteil sogar an, daß die durch die Erfindung des Buchdrucks ausgelöste Informationsflut ein Hauptgrund für die Existenz der Schule in ihrer heutigen Form sei:

„Schon sehr früh begriff man, daß das gedruckte Buch eine Informationskrise ausgelöst hatte und daß etwas getan werden mußte, um ein gewisses Maß an Kontrolle zu gewährleisten.” Ein Mittel „war die neuzeitliche Schule, die im 17. Jahrhundert Gestalt annahm. Im Jahre 1480, in der Zeit vor der Informationsexplo- sion, gab es in ganz England lediglich 34 Schulen. Bis 1660 war ihre Zahl auf 444 angewachsen. [...] Es gab mehrere Gründe für die rasche Zunahme der staatlichen Volksschulen, aber vor allem war sie eine dringend erforderliche Reaktion auf die

durch die entfesselte Informationsfülle evozierten Ängste und Verwirrungen. Die Erfindung dessen, was wir heute Curriculum nennen, war ein logischer Schritt zur Gliederung und Eingrenzung der Informationen und zur Unterscheidung der verschiedenen verfügbaren Informationsquellen. Die Schulen waren die ersten weltlichen Bürokratien der Technokratie, Strukturen, die bestimmte Teile des Informationsflusses legitimierten und andere verwarfen. Kurz, die Schulen waren ein Mittel, die Informationsumwelt zu ordnen und zu verwalten.”[44]

2.2.1 Der Bildungsauftrag des Gymnasiums

Das Gymnasium ist eine Schulform mit Geschichte, die ihre Ursprünge im Griechenland von vor weit über 2000 Jahren hat und auch in Deutschland in einer langen, kontinuierlich verlaufenden Entwicklung steht[45]. In der Kontinui- tät dieser Entwicklung soll der Gymnasiast „ein im humanistischen Sinne ganzheitlich gebildeter Schüler sein”[46]. Formalrechtlich ist die besondere Aufgabe des Gymnasiums „die Hinführung zur allgemeinen Studierfähigkeit und die Verleihung der allgemeinen Studienberechtigung”[47]. Das Gymnasium soll auf ein Studium vorbereiten. Es sieht sich damit im Gegensatz zu den anderen Schulformen, die auf einen sofortigen Einstieg in den Beruf beziehungsweise die Berufsausbildung hinarbeiten, und es scheint es auch durchaus noch als seine Aufgabe zu betrachten, die Kräfte auszubilden, die vielleicht mehr als andere unsere Gesellschaft gestalten: „Primäre Aufgabe des Gymnasiums ist nicht die Vorbereitung junger Menschen auf die spätere Arbeitswelt, sondern vielmehr die Entwicklung junger Menschen derart zu fördern, daß sie in dieser Welt bestehen können. Bestehen heißt hier, diese Welt auch ständig weiterzugestalten.”[48]

Der Bildungsauftrag und die Lernziele für die Gymnasien in Niedersachsen werden, rechtlich gesehen, auf verschiedenen Ebenen festgelegt: Im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland ist der allgemeine Bildungsauftrag der Schule formuliert. Das Niedersächsische Schulgesetz ergänzt diesen Bildungsauftrag um Bildungs- und Erziehungsziele. Die konkreten Lernziele für die verschiedenen Schulfächer in den jeweiligen Schulformen und Jahrgangsstufen schreibt das Niedersächsische Kultusministerium vor. Lehrer an niedersächsischen Gymna- sien müssen ihren Fachunterricht nach den in den „Rahmenrichtlinien für das Gymnasium” vorgeschriebenen Richtzielen gestalten. Diese „Rahmenrichtlinien”

schreiben aber natürlich nicht den genauen Unterrichtsverlauf vor, sondern lassen dem Lehrer (oder auch den Schülern) die Wahl zwischen mehreren Grobzielen [49].

Die letzte größere und für das heutige Gymnasium wesentliche Umgestaltung des rechtlich festgelegten Rahmens für seinen Bildungsauftrag war die Reform der gymnasialen Oberstufe Anfang der siebziger Jahre, in der die Ablösung des Klassenverbandes in der Oberstufe durch das sogenannte Kurssystem festgelegt wurde. Kennzeichnend für diese Reform sind die größere Eigenverantwortung des Schülers bei der Auswahl seiner Schulfächer, das Ideal des „wissenschaftspro- pädeutischen” Arbeitens und das Konzept der „Schlüsselqualifikationen”:

„Das Konzept der 'Bonner Vereinbarung' [über die Neugestaltung der gymnasialen Oberstufe] von 1972 hat für die allgemeine Hochschulreife nicht nur objektive Veränderungen gebracht, sozusagen in der Materie und im Inhalt der Hochschulrei- fe, sondern auch an die Persönlichkeit des zur Reife zu Führenden neue und andere Anforderungen gestellt, die die Mitverantwortung und Mitentscheidung über den eigenen Bildungsgang und das individuelle Bildungsprofil betreffen. Mit den Stich- worten Grund- und Schwerpunktbildung sind insofern auch bestimmte andere Stichworte angesprochen, nämlich selbständiges Lernen, wissenschaftspropädeuti- sches Arbeiten und Persönlichkeitsbildung. Diese Schlüsselqualifikationen sind notwendige Voraussetzungen nicht nur für die Studierfähigkeit, sondern auch für den Eintritt in eine qualifizierte berufliche Tätigkeit.”[50]

Durch die Bildung von Schwerpunkten sollten „an die Stelle einigermaßen gleich- mäßig verteilter Wissensbestände aus einer Vielzahl von Fächern” einzelne, ausführlicher behandelte Themen treten, an denen das wissenschaftliche Arbeiten geübt werden sollte. Dahinter stand der Gedanke: „Wer in verschiedenen Berei- chen wissenschaftlich zu arbeiten gelernt habe, der werde das auch selbständig bei später nötigen Auseinandersetzungen mit neuem Wissen tun.”[51]

2.2.2 Informationskompetenz gehört zum Bildungsauftrag

Wenn auch die Vermittlung von Informationskompetenz in gewisser Weise schon immer zum Selbstverständnis des Gymnasiums gehört haben mag, ist es doch ein Verdienst der Oberstufenreform, diesen Punkt betont und gefordert zu haben. Speziell an den für die reformierte Oberstufe propagierten wissenschafts- propädeutischen Unterricht war die Erwartung geknüpft, der im

wissenschaftlichen Arbeiten geschulte Schüler „werde folglich Informationssuche, -auswahl und -anwendung selbständig betreiben können und dadurch in besonderem Maße die Kompetenz der Selbständigkeit erlangen.”[52]

Die selbständige Informationssuche sah man als eine der oben erwähnten Schlüs- selqualifikationen an, also als für das selbständige und verantwortliche Handeln in Wissenschaft und späterem Berufsleben grundlegende Fertigkeit. Hier folgte man der Erkenntnis, Informationskompetenz (wenn auch diese Bezeichnung damals nicht verwandt wurde) sei „wichtiger als das Aneignen eines möglichst großen Quantums von Daten, Fakten, Kenntnissen zum Zwecke der 'Vorratshaltung'”[53]. Zur Zeit der Oberstufenreform, als das Konzept der Schlüs- selqualifikationen in der Bildungsdiskussion aufkam, definierte man sie als

„solche Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten, welche nicht unmittelbaren und begrenzten Bezug zu bestimmten, disparaten praktischen Tätigkeiten erbringen, sondern vielmehr a) die Eignung für eine große Zahl von Positionen und Funktio- nen als alternative Optionen zum gleichen Zeitpunkt, und b) die Eignung für die Bewältigung einer Sequenz von (meist unvorhersehbaren) Änderungen von Anfor- derungen im Laufe des Lebens.”[54]

Eine der vier Oberkategorien nach dem damaligen Konzept von Schlüsselqualifi- kationen waren 'Horizontalqualifikationen', „zentrale Fähigkeiten mit horizonta- lem Transfer”. Diese Horizontalqualifikationen „beträfen vorwiegend die Beherrschung von Informationen - vermittelt durch allgemeine Semiotik und Informationskunde, Medienkunde, Fachsprachenkunde, Verstehen technischer Pläne, Umgang mit Bibliotheken etc.”[55]

Die Fähigkeit zum kompetenten Umgang mit Informationen wurde im Nieder- sächsischen Schulgesetz als Bildungsziel verankert. Dort heißt es zum „Bildungs- auftrag der Schule” unter anderem: „Die Schülerinnen und Schüler sollen fähig werden, [...] sich umfassend zu informieren und die Informationen kritisch zu nutzen”[56]. Die Aufzählung der verschiedenen geforderten Fähigkeiten schließt:

„Die Schule hat den Schülerinnen und Schülern die dafür erforderlichen Kenntnisse und Fertigkeiten zu vermitteln. Dabei sind die Bereitschaft und Fähigkeit zu fördern, für sich allein wie auch gemeinsam mit anderen zu lernen und Leistungen zu erzielen. Die Schülerinnen und Schüler sollen zunehmend selbständiger werden und lernen, ihre Fähigkeiten auch nach Beendigung der Schulzeit weiterzuentwickeln.”[57]

Auch in den niedersächsischen Lehrplänen hat sich dieses Ziel der Oberstufenre- form niedergeschlagen. Die Mehrzahl der niedersächsischen „Rahmenrichtlinien” für die Unterrichtsfächer in der gymnasialen Oberstufe enthält zumindest einige Fertigkeiten zur Beherrschung von Information als Lernziele (eine Zusammen- stellung der für Informationskompetenz relevanten Lernziele aus den Rahmen- richtlinien aller Fächer der gymnasialen Oberstufe findet sich im Anhang). Folgende Liste ergibt sich, wenn man die in den Rahmenrichtlinien für die Fächer Deutsch, Englisch, Erdkunde, Gemeinschaftskunde, Geschichte und Musik genannten informationsbezogenen Lernziele zusammenfaßt:

- eigenständiger Umgang mit Nachschlagewerken (Wörterbüchern, Lexika, Handbüchern, Zeitschriften, Fachbüchern, Fachzeitschriften, Atlanten und Karten)[58]
- die Nutzung von Bibliotheken, Datenbanken und von Institutionen und Verbänden als Informationsquellen[59]
- Erkundung von Museen oder Archiven; Durchführen von Interviews und Befragungen[60]
- selbständige Beschaffung sachbezogener Informationen mit den oben genannten Hilfsmitteln[61]
- Verarbeitung und Präsentation der gefundenen Informationen (Sammeln, Ordnen, Gliedern, Exzerpieren, Zitieren, Bibliographieren)[62]
- bewußter Umgang mit Printmedien und elektronischen Medien[63]

In den Rahmenrichtlinien für das Fach Musik wird der Rahmen für das Erreichen des dort genannten Ausschnitts aus den obigen Lernzielen so formuliert: Diese

„Arbeitstechniken und Arbeitsmethoden werden, aufbauend differenziert, während der gesamten Oberstufenzeit eingeübt.”[64]

Es sollte deutlich geworden sein, daß Informationskompetenz als Lernziel für das Gymnasium festgeschrieben ist. Die einzelnen Aspekte von

Informationskompetenz sind jedoch mehr oder weniger sinnvoll über die verschiedenen Fächer verstreut, es gibt kein Fach, dem Informationskompetenz ein Hauptanliegen wäre, und auch kein Konzept entsprechend der (in Nieder- sachsen) planvollen Integration der informationstechnischen Grundbildung in mehrere Unterrichtsfächer[65].

2.2.3 Die Rolle des Faches Informatik und der informations- und kommunikationstechnologischen Bildung

Es mag erstaunen, daß auch die „modernen” Schulfächer um den Computer sich für die Grundlagen des Umgangs mit Informationen jenseits von Technik und Algorithmen nicht „interessieren”. Schließlich wurden sie in den Fächerkanon des Gymnasiums aufgenommen, damit die Schule dem durch die modernen Informations- und Kommunikationstechnologien anbrechenden Zeitalter gerecht werden kann.

Das „computerwissenschaftliche” Schulfach Informatik wird in der gymnasialen Oberstufe in Niedersachsen immerhin seit 1973 angeboten[66]. Der spätere Ruf nach einer Computer-Grundbildung für alle („computer literacy”) ist u.a. auf die Weltkonferenz „Computers in Education” 1981 in Lausanne zurückzuführen[67]. Die Vorstellung, daß der „Umgang mit dem Computer als eine grundlegende Kulturtechnik (neben Lesen, Schreiben, Rechnen)” zur unverzichtbaren Grund- bildung gehören würde, hat an den niedersächsischen Gymnasien zur Ergänzung der Informatik durch die breiter angelegte Informations- und kommunikationstechnologische Bildung für die Mittelstufe[68] (in anderen Bundesländern auch unter dem Titel „informationstechnische Grundbildung”) geführt.

Die „Kernthemen” der Informatik sind Algorithmen und Computertechnologie. Praktische Computeranwendung und gesellschaftliche Auswirkungen von Informationstechnologie können dazukommen[69]. Die informationstechnische Grundbildung bewegt sich grundsätzlich im selben Rahmen[70]. Sind beide Schul- fächer von der Konzeption her gescheitert, da sie in der aktuellen

Informationsgesellschafts”-Diskussion kaum eine Rolle spielen? Dem Fach Informatik jedenfalls scheint jetzt, wo doch eigentlich seine Zeit gekommen sein sollte, eine Krise bevorzustehen: Das Curriculum, die Lehrerausbildung und Lehrerweiterbildung und nicht zuletzt die Akzeptanz bei den Schülern in der Kursstufe sind unbefriedigend und entsprechen nicht den Erwartungen an ein zukunftsträchtiges Schulfach[71]. „Nebenbei” haben die Konzepte beider Fächer auffällige geschlechtsspezifische Differenzen zur Folge, beide Unterrichtsfächer werden von Mädchen deutlich schlechter angenommen als von Jungen[72].

[...]


[1] vgl. Götz-Henrich (1996), S. 56

[2] zu Entstehungsgeschichte und Diskussion des Begriffes vgl. z.B. Lyon (1988), S. 1 - 21, Zielinski (1993), S. 73 - 167

[3] vgl. etwa Herzog (1997)

[4] vgl. Rat für Forschung, Technologie und Innovation [Hrsg.] (1995)

[5] Götz-Henrich (1996), S. 57 - 58

[6] Eine sehr ausführliche Abhandlung über den „Begriff der Information im Gang der Geschichte” findet sich bei Zielinski (1993), S. 51 - 71

[7] vgl. Haywood (1995), S. 1

[8] Burkhardt (1995), S. 4

[9] „Entertainment is not simply an adjunct, albeit a significant one, of our new Information Society; it is rapidly becoming the dominant force, 'colonising' the whole world of information with devastating speed and power.” - Puttnam (1996), S. 2

[10] Rat für Forschung, Technologie und Innovation [Hrsg.] (1995), S. 9 - 10

[11] Martin (1988), S. 40

[12] Rat für Forschung, Technologie und Innovation [Hrsg.] (1995), S. 10

[13] zu Legenden um die Informationsgesellschaft vgl. Rolf (1995)

[14] vgl. Stock (1997), Kubicek (1996)

[15] „In many developed economies providing access to information as a public good is now perceived as being marginal to economic and social wellbeing.” - Haywood (1995), S. 84

[16] Rat für Forschung, Technologie und Innovation [Hrsg.] (1995), S. 14

[17] „Information has to be acquired and processed before it can be used, and this is largely a private and invisible process, which poses tremendous problems for those who would promote the cause of information as a public good, particularly those who perceive access to it as a kind of fourth right of citizenship after food, clothing and housing. Governments are often told that easy and cheap access to information results in important economic benefits for individuals and the wider community, but this is difficult to prove and therefore government-funded agencies such as public libraries, law centres and Citizens Advice Bureaux frequently find that their resources threaten to dry up at any time. Information to improve, enhance and develop non-profit-purposeful citizenship is being given lower priority by the year.” - Haywood (1995), S. 84

[18] Rat für Forschung, Technologie und Innovation [Hrsg.] (1995), S. 39

[19] Postman (1992), S. 79

[20] vgl. Manecke/Seeger (1997), S. 26 - 31

[21] „Scientists and researchers often suffer from urgency constructed by a need to be first, or by a desire to check everything that has been produced so far which is relevant to what they are doing. They are often hampered in this by having to access so much information that their ability to be original or creative is stifled. Because of the exponential rate of growth in scientific information, the pressure for speed may, paradoxically, be slowing them down and they are becoming hostages to information overload. The desire to 'check out everything' is a particu- larly academic failing that often leads to a mad, infinite hunt that can destroy all the joy of subsequent discovery and put off publication dates forever. Those who suffer from this particu- lar desire are constantly reminded that they might have missed something.” - Haywood (1995), S. 18

[22] Harrington (1993), S. 5

[23] Postman (1992), S. 70

[24] Dürr (1988), S. 8 - 9

[25] Beiner/Thomann (1991), S. 235

[26] Geißler (1989), S. 34 - 35

[27] Wersig (1995), S. 11

[28] Geißler (1989), S. 35

[29] Geißler (1989), S. 35, vgl. auch Landwehr (1994), S. 15

[30] Wersig (1995), S. 14

[31] zur Herleitung dieses Terminus vgl. Schmidmaier (1992), S. 40, Bies (1995), S. 284 - 285 und Bertram/Kammeyer (1996), S. 11 - 15

[32] Wersig (1990), S. 142

[33] vgl. Bertram/Kammeyer (1996), S. 12

[34] vgl. etwa Haywood (1995)

[35] Harrington (1993), S. 58

[36] Murmann (1989), S. 15

[37] Geißler (1989), S. 38

[38] Harrington (1993), S. 58

[39] Murmann (1989), S. 19

[40] Rainer (1980), S. 130

[41] vgl. Harrington (1993), S. 48 - 57

[42] Welzel (1989), S. 132, zur Begründung einer Freizeitbildung vgl. auch Wegener-Spöhring (1994)

[43] Richard von Weizsäcker am 21. März 1988 in seiner Rede zur Eröffnung des 11. Kongres- ses der 'Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaften', zitiert nach Oppermann (1989), S. 76 - 77

[44] Postman (1992), S. 71 - 72

[45] vgl. Schmidt (1994), S. 30

[46] Gerhardt (1989), S. 59

[47] Gerhardt (1989), S. 51

[48] Welzel (1989), S. 127

[49] Lernzielhierarchie nach Reeb (1981), S. 74, Tafel 1. Die dort aufgeführte Hierarchiestufe „Allgemeine Lernziele” ist in Niedersachsen so nicht vorhanden (ebd., S. 137).

[50] Gerhardt (1989), S. 54

[51] Geißler (1989), S. 41

[52] Geißler (1989), S. 41

[53] Rainer (1980), S. 129 - 130

[54] zitiert nach Mertens (1989), S. 87

[55] Mertens (1989), S. 90 - 91

[56] Niedersächsisches Schulgesetz (1993), § 2

[57] Niedersächsisches Schulgesetz (1993), § 2

[58] vgl. Rahmenrichtlinien Deutsch (1990), S. 12, Rahmenrichtlinien Englisch (1982), S. 7 - 8, Rahmenrichtlinien Erdkunde (1994), S. 23 - 24, Rahmenrichtlinien Geschichte (1994), S. 29 - 30

[59] vgl. Rahmenrichtlinien Gemeinschaftskunde (1994), S. 25, Rahmenrichtlinien Geschichte (1994), S. 29 - 30

[60] vgl. Rahmenrichtlinien Geschichte (1994), S. 29 - 30

[61] vgl. Rahmenrichtlinien Englisch (1982), S. 7 -8, Rahmenrichtlinien Geschichte (1994), S. 29 - 30, Rahmenrichtlinien Musik (1985), S. 6

[62] vgl. Rahmenrichtlinien Deutsch (1990), S. 12, Rahmenrichtlinien Englisch (1982), S. 7 - 8, Rahmenrichtlinien Erdkunde (1994), S. 23 - 24, Rahmenrichtlinien Geschichte (1994), S. 29 -

30, Rahmenrichtlinien Musik (1985), S. 6

[63] vgl. Rahmenrichtlinien Gemeinschaftskunde (1994), S. 25

[64] Rahmenrichtlinien Musik (1985), S. 6

[65] vgl. Tulodziecki [u.a.] (1996), S. 132

[66] vgl. Albrecht/Sjuts (1992), S. 339

[67] vgl. Zielinski (1993), S. 206

[68] vgl. Altermann-Köster [u.a.] (1990)

[69] vgl. Rahmenrichtlinien Informatik (1993)

[70] vgl. Altermann-Köster [u.a.] (1990), S. 30

[71] vgl. Albrecht/Sjuts (1992), S. 340 - 343

[72] vgl. Altermann-Köster [u.a.] (1990), S. 129 - 156 für die Informationstechnische Grundbil- dung, zur Situation beim Fach Informatik ebd., S. 137

Ende der Leseprobe aus 117 Seiten

Details

Titel
Das Gymnasium Soltau im Informationszeitalter - Informationskompetenz als Ausbildungsziel
Hochschule
Hochschule Hannover
Note
Sehr gut
Autor
Jahr
1997
Seiten
117
Katalognummer
V106229
ISBN (eBook)
9783640045082
Dateigröße
769 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Die vorliegende Arbeit behandelt die Konsequenzen des anbrechenden Informationszeitalters für die schulische Praxis am Gymnasium Soltau. Dazu wird in einem ersten Teil die aktuelle Diskussion um die Begriffe Informationszeitalter und Informationsgesellschaft kritisch beleuchtet und die Notwendigkeit von Informationskompetenz, also dem bewußten und sinnvollen Umgang mit dem eigenen Informationsbedarf, begründet. Es wird belegt, daß die Vermittlung von Informationskompetenz zum Bildungsauftrag der Schule gehört. Anschließend werden pädagogische und bildungspolitische Konzepte vorgestellt, die für Informationskompetenz und Informationsgesellschaft relevant sind. Schließlich geht es um die konkrete Einbindung der Vermittlung von Informationskompetenz in Unterricht und Schulleben am Gymnasium Soltau anhand einer Reihe von praktischen Vorschlägen für Unterrichtsgestaltung und Schulbibliothek.
Schlagworte
Gymnasium, Soltau, Informationszeitalter, Informationskompetenz, Ausbildungsziel
Arbeit zitieren
Tim Strehle (Autor:in), 1997, Das Gymnasium Soltau im Informationszeitalter - Informationskompetenz als Ausbildungsziel, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/106229

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