Kaiser, Georg - Die Bürger von Calais - Der neue Mensch des Expressionismus. Eine Interpretation.


Facharbeit (Schule), 2002

16 Seiten


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Vorwort

2. Der Expressionismus
2.1 Georg Kaiser, wie steht er zu seinen Werken?
2.2 Wovon handelt das Buch „Die Bürger von Calais"?
2.3 Der Historische Hintergrund verglichen mit dem des Dramas.

3. „Der neue Mensch des Expressionismus“

4. Zusammenfassung und Ausblick

5. Literaturverzeichnis

1. Vorwort

Das Thema meiner Facharbeit lautet: „Der „neue Mensch“ des Expressionismus. Eine Interpretation zu Georg Kaisers „Die Bürger von Calais“.

Um zu dem oben genannten Hauptthema zu gelangen, habe ich mir folgenden Aufbau überlegt:

Zuerst werde ich eine kurze Einführung über die damalige Zeit liefern, nämlich den Expressionismus. Was waren die Beweggründe für eine solche Literarische Epoche und was wollte die Expressionisten verändern? Dabei stelle ich auch schon einen Bezug zu meinem Hauptthema her.

Danach folgt eine knappe Biographie Georg Kaisers mit seiner Einstellung zu seiner Literatur.

Hierbei baue ich gleich einen Bezug zu meinen beiden nächsten Themen auf: Wovon handelt das Drama „Die Bürger von Calais“ und „Der Historische Hintergrund verglichen mit dem des Dramas“.

Diese vier Themen habe ich gewählt, um dem Leser das Buch näher zu bringen, damit er im Folgenden ein besseres Verständnis für mein Hauptthema aufbringen kann. Zudem sollen meine Angaben zu Georg Kaiser und seine Einstellung zu seiner Literatur, anhand einer Gegenüberstellung von Historie und Drama, verdeutlicht werden.

Nachdem ich viele für mich wichtige Hintergrundinformationen, zu dem Drama ausgeleuchtet habe, folgt nun das Hauptthema:

„Der neue Mensch des Expressionismus“ In wiefern findet sich der Gedanke des „neuen Menschen“ in dem Drama wieder?

Der Abschluss bildet eine knappe Zusammenfassung der erarbeiteten Ergebnisse und gibt einen Ausblick auf das mitbeeinflussende größere Umfeld des Dramas.

2. Der Expressionismus

Als Expressionismus wird die Epoche von ca. 1910 - 1925 bezeichnet.

Die Vertreter expressionistischer Ansichten kamen hauptsächlich aus den Reihen der jungen Generation, die unter anderem die Entwicklung des Menschen kritisierte, die ihnen chaotisch erschien und an der die Menschheit noch zu Grunde gehen würde.

Bestimmt wurde diese Einstellung im wesentlichen durch die rasant fortschreitende Industrialisierung und die damit zusammenhängende Entmenschlichung, die daraus resultierte, dass der Mensch zum Sklaven der Maschine wurde. Erinnert sei an den Film Metropolis.

Zusehends entstanden Grosstädte. Moloche, die alles Leben in schrecklicher, unpersönlicher Weise vereinnahmten. Die dort lebenden Menschen wurden als eine formlos strukturierte, anonyme, irreligiöse Masse gesehen, die ihrem alltäglichen Trott folgte, bestimmt durch die stets hektische Umwelt, verstärkt noch durch die Massenmedien aus Druckerzeugnissen, Radio und schließlich dem politischen Einfluss der Strasse. Des weiteren wurde das Eingeschränktsein kritisiert. Der Mensch folgte nur den strengen preußischen Idealen, ohne an sich zu denken. Auch die geltenden Standesunterschiede machten den Expressionisten zu schaffen.

Man fühlte sich zerrissen; die Übereinstimmung von Natur und Gesellschaft konnte sich nicht einstellen. Es entstand zusehend eine Entfernung von der Natur.

Wissenschaftliche Errungenschaften verdrängten die überkommenen Strukturen, aus dem Gesichtsfelde der Menschen. Dies führte zu Gefühlen der Benachteiligung derjenigen, die sich auf dem literarischen Sektor und dem der Kunst bewegten.

Außerdem bestimmten Gedanken des befürchteten Weltunterganges die Ansichten der Expressionisten. Bestimmt durch das Auftreten des Halleschen Kometen, Untergang der Titanic, einem Wunder der neuen Technik und den sich bis zum ersten Weltkrieg führenden politischen Spannungen zwischen den Großmächten Österreich/Ungarn, Italien und Deutschland auf der einen Seite und Russland, England und Frankreich auf der anderen Seite.

All dies führte zu einer Auflehnung der Literaten gegenüber jeder Unterdrückung und Einschränkung, durch die sie eventuell auch in die „formlose“ Masse einverleibt werden könnten.

Das „Ich“ sollte rauschhaft agieren können, ohne Einschränkung von Konventionen. Die Expressionisten wollten eine neue Welt gestalten, einen „neuen Menschen“. Um dies zu erreichen, sollte sich der Mensch mit den Mitmenschen verbrüdern. Nicht das Individuum war wichtig, sondern die Bruderschaft. Doch zuvor musste es jemanden geben, den „neuen Menschen“, der als Vorbild für die anderen voranschritt und durch seine selbstlosen Taten den Menschen die Augen vor der jetzigen Situation öffnete und sie „[...] empfänglich machte für den Wert des Menschen schlechthin [...]“1. Er sollte unter den Menschen Brüderlichkeit statt Entfremdung herbeiführen. Um diesen „neuen Menschen“ besonders zu charakterisieren, wurden oft Vergleiche zu Jesus Christus hergestellt, der auch für eine bessere Welt gekämpft hatte und für seine Ideale.

Auf dieses neue Menschenideal werde ich in meinem Hauptteil noch zu sprechen kommen.

2.1 Georg Kaiser, wie steht er zu seinem Werk?

Georg Kaiser wurde 1878 in Magdeburg geboren. Nach dem Besuch des dortigen Gymnasiums machte er eine Lehre als kaufmännischer Angestellter und nach Abschluss dieser, zog er im Auftrag der AEG nach Buenos Aires. Zu schreiben begann Kaiser um 1905, als er malariakrank von Argentinien nach Deutschland zurückkam. So erschien im Jahre 1912 das Drama „Die Bürger von Calais“, das 1917 uraufgeführt wurde und Kaisers Bekanntheitsgrad vehement steigerte. Dem bevorstehenden Krieg sah er nicht, wie viele seiner Zeitgenossen, mit Schrecken an. 1938 verließ er freiwillig Deutschland, da er sich einer Verhaftung entziehen wollte. Seine Bücher galten als verpönt im Naziregime. Somit emigrierte er, nach Aufenthalt in Holland, in die Schweiz; hier verstarb er 1945. Kaiser galte als einer der „[...] vielleicht größten deutschen Dramatiker der naturalistischen Generation [...]“2

Kaiser selbst wollte sich stets von seinen Werken distanziert sehen, auch wehrte er sich gegen den Rummel um seine Person, den sein zunehmender Bekanntheitsgrad mit sich gebracht hatte. Kaiser war der Ansicht, die unter den Expressionisten kaum vertreten war, dass man Werk und Schöpfer, also die verfasste Literatur und seine eigene Person, voneinander zu trennen hatte „[...] Ich lehne es ab, nicht mehr als mein Werk zu sein [...]“3. Er wollte also nicht auf dieses reduziert werden.

Außerdem versuchte er sich durch weitere Aussagen so weit wie möglich von seiner Literatur zu distanzieren, er habe „[...] Dramen nur als Beweis zur eigenen Denkfähigkeit geschrieben [...] und ihren Erfolg lediglich als Mittel zum Zweck und d.h. zum Geldverdienen [...]“3 genutzt.

Diese beiden Aussagen verdeutlichen, dass seiner Meinung nach das Kunstwerk für sich sprechen soll, ohne die äußere zeitlichen Einflüsse zu beachten und den persönlichen Hintergrund des Autors.

Viele von Kaisers Werken basieren auf historischen Ereignissen, die er oft nur in Teilen übernommen und neu zusammengestellte wurden.

Denn für ihn zählte die Historie nur als Mittel, um einen Sachverhalt darstellen zu können. Sie wurde so geformt, bis sie seiner bestimmten Aussageabsicht entsprach. In den Augen der Literatur war sie seiner Meinung nach nämlich nichtig. „[...] nicht was sich kalendermäßig ereignet, ist wichtig -, sondern was geistig funktioniert gilt [...]4.

Diese Ansicht spiegelt sich auch in dem Drama „Die Bürger von Calais“ wieder, wie ich im nächsten Teil weiter darlegen werde.

2.2 Wovon handelt das Buch „Die Bürger von Calais“?

Das expressionistische Drama „Die Bürger von Calais“, im Jahre 1913 von Georg Kaiser geschrieben und 1917 uraufgeführt, handelt von den Bürgern der Hafenstadt Calais in Frankreich, die durch die Engländer besiegt und von diesen vor die Option der Aufgabe oder gewaltvollen Übernahme gestellt wurde.

Das Drama ist in 3 Akte unterteilt.

Der erste Akt beinhaltet die Übermittlung der Botschaft, über die Niederlage des französischen Heeres und Tod des französischen Königs in der Schlacht, durch einen englischen Gesandten. Dieses Ereignis stößt zunächst auf Unglauben unter den Bürgern, doch ein gefangener französischer Soldat bestätigt die Aussage.

Der englische Gesandte unterrichtet nun die verzweifelten Bürger von den Forderungen des siegreichen englischen Königs.

Die Stadt soll vor der Vernichtung bewahrt bleiben, wenn sich am nächsten Morgen sechs Bürger „[...] barhäuptig und unbeschuht - mit dem Kittel eines Sünders bekleidet und dem Strick im Nacken[...]“5 für die Stadt opfernd, den Schlüssel überreichen. Nun steht die Entscheidung an. Was soll getan werden? Der Hauptmann Duguesclin möchte die Stadt verteidigen, auch wenn keine Aussichten auf Sieg bestehen. Ihm gegenüber tritt der angesehene Bürger Eustache de Saint Pierre auf, der für Kapitulation steht. Die Bürger sollen die Stadt um des Hafens willen, den sie mit all ihren Kräften über Jahre hinweg aufgebaut haben, aufgeben und sechs Opferwillige hinaussenden. Er kann sich mit seiner Ansicht durchsetzten und meldet sich als erster bereit, das Opfer anzutreten. Es folgen noch sechs weitere Bürger und somit stehen sie vor dem Problem: Wer muss sich nicht opfern, da ja sieben Freiwillige bereit sind? Darüber soll am Nachmittag das Los entscheiden.

Im zweiten Akt erfolgt die Losentscheidung. Die Opferwilligen treffen sich, um das Los über ihr Schicksal richten zu lassen. Dabei bemerkt man deutlich die Ängste und eine zunehmende Unruhe unter den Opferbereiten. Jeder hat die Hoffnung auf Rettung noch nicht aufgegeben. Doch Eustache manipuliert die Lose so, dass sich keine Entscheidung herbeiführen ließ. Die Sieben entscheiden sich dafür, dass der das Leben geschenkt bekommen soll, der am nächsten Morgen als letzter nach dem Glockenschlag auf dem Marktplatz eintrifft.

Der dritte Akt beginnt mit der Ankunft auf dem Marktplatz. Einer nach dem anderen kommt, außer Eustache de Saint Pierre. Empörung entsteht unter den Bürgern, da der, der sich für die Tat stark gemacht hat, nicht erscheint. Man will ihn holen, doch Eustache wird auf einmal auf einer Bahre tot hereingetragen. Begleitet wird diese von seinem blinden Vater. Dieser teilt ihnen mit, dass sein Sohn vorausgegangen sei und dass sie ihm nun folgen könnten. Er hätte sie in ihrem Entschluss bestärkt. Der Vater bezeichnet die selbstlose Opfertat des Sohnes als die Geburt des neuen Menschen. Die anderen, bestärkt in ihrem Entschluss, machen sich zum Aufbruch bereit.

Doch es geschieht ein Wunder. Der englische König verlangt das Opfer der anderen nicht mehr, da ihm in der Nacht ein Sohn geboren wurde. Voll Freude begibt er sich in die sich öffnende Stadt und betet in die Kathedrale, wo er vor dem Leichnam des verstobene Eustache de Saint Pierre niederkniet.

2.3 Der historische Hintergrund verglichen mit der Historie im Buch

„Die Bürger von Calais“ basieren auf einem Ereignis der Geschichte, dem „Hundertjährigen Krieg“, der sich in den Jahren 1339-1453 zutrug, zwischen dem englischen und dem französischen Königshaus.

Als historischen Anhaltspunkt benutzte Georg Kaiser die Chronik von Froissart, einem französischen Dichter (1337-1404), der als Zeitzeuge im Jahre 1347 die Begebenheiten niederschrieb. Zu dieser Zeit kämpften der englische König Eduard III und der französische König Philipp VI um den Thron Frankreichs.

Für die Charakterisierung der Personen des Drama soll auch August Rodins Plastik zu „Die Bürger von Calais“, auf die ich im weiteren Verlauf noch eingehen werde, Pate gestanden haben.

Beim Vergleichen der Chronik mit dem Theaterstück fallen diverse Unterschiede zwischen dem Drama und historischer Überlieferung auf. Hierbei bestätigt sich auch die im vorherigen Kapitel angesprochene Einstellung Kaisers gegenüber der Historie und ihrem Zweck innerhalb eines Werkes.

Die Überlieferung Froissarts berichtet uns über den Sieg der Engländer bei Cercy und dem darauffolgenden Marsch auf die wichtige Hafenstadt Calais, die den Engländern zur Sicherung des Schiffverkehrs mit ihrer Heimat dienen sollte. Wegen starker Verteidigungsanlagen konnten die Engländer die Stadt allerdings nicht einnehmen. So folgte eine Belagerungszeit von über einem Jahr. Hierauf wird auch im Drama hingewiesen „Calais ist durch die Wüste der Belagerung geschritten!“6. Nach dieser fortwährenden Belagerung lässt der Chronist berichten, dass die Bürger die Stadt aufgaben. Laut Froissart „[...] sammelten sich die verhungernden Bürger [...]“7 und wollten notgedrungen nachgeben, falls keine günstigeren Bedingungen auszuhandeln seien. Um ihre Belange dem englischen König mitzuteilen, wählten sie den Abgeordneten, Jean de Vienne. Eduard III lässt sich überreden; es sollen sechs der ehrenwertesten Bürger im Bußgewand heraustreten und ihm den Schlüssel der Stadt überreichen. Mit diesen will er dann so verfahren, wie es ihm beliebt. Diese Unterbreitung wird von den Bürgern in der Chronik sofort befolgt.

Im Gegensatz zum Drama, in dem die Bürger von einem Sieg Frankreichs ausgehen, werden sie jedoch von einem englischen Offizier eines Besseren belehrt. Dieser berichtet von der Flucht der Franzosen und unterbreitet ein Kapitulationsangebot. Der König will Gnade gewähren lassen, wenn sechs gewählte Bürger ihm im Büßergewand gegenübertreten und den Schlüssel der Stadt überreichen (S.12), er gibt ihnen eine Bedenkzeit bis zum Morgen des nächsten Tages.

Folgte in der Chronik die direkte Kapitulation von Seiten der Bürger und die sofortige Entscheidung, wird sie hier von den Engländern mit einer Entscheidungsfrist angeboten.

In beiden Fällen wird jedoch die Entscheidung zur Aufgabe der Stadt von einem Bürger besonders unterstützt und propagiert, Eustache de Saint Pierre. Diesem wird eine besondere Rolle in Kaisers Drama zugeschrieben, die ich noch im weiteren Verlauf erläutern werde.

In der Chronik folgte nun die Anlegung des Büßergewandes und die Übergabe des Schlüssels. Der König wollte die sich opfernden Bürger köpfen lassen, doch die schwangere Königin bat, Gnade gegenüber diesen walten zu lassen. Die Gnade wurde gewährt. Das Versprechen des englischen Königs, Stadt und Einwohner jedoch zu verschonen, wurde nicht eingehalten. Hingegen besetzten sie die Stadt und vertrieben ihre Einwohner.

Die Bürger des Dramas müssen jedoch den Akt der Entscheidungsfindung, nämlich wer von ihnen sich nicht zu opfern braucht, hier zweiter Akt des Dramas, durchlaufen. Der dritte Akt steht dann wieder in Verbindung zu den Ereignissen der Chronik. Der Königin wird ein Kind geboren und der König, überglücklich von diesem Ereignis, lässt Gnade gegenüber der Bürgern walten.

Es gilt also festzuhalten, dass Kaiser hauptsächlich Verbindungen mit der Chronik bei der Einführung, also dem ersten Akt hat; wogegen sich der zweite komplett von der Überlieferung abwendet, der dritte Akt wiederum eine Art von Zurückführung zu den wirklichen Ereignissen darstellt.

Dieses bestätigt sich die Aussage Kaisers, dass die Historie nur als Rahmengerüst für seine Literatur dient.

3. „Der neue Mensch des Expressionismus“

In Georg Kaisers Drama geht es um den „neuen Menschen des Expressionismus“. Doch wer ist dieser „neue Mensch“, was sind seine Vorstellungen und Ideale und wie schafft er es, diese zu verwirklichen? Sind es am Ende sogar mehrere „neue Menschen“, die in dem Drama auftreten?

Die Literatur ordnet dem „neuen Menschen“ verschiedene Attribute zu, wie zum Beispiel: „Gemeinschaft8, Geist8, Friedensbewusstsein8, Denken jenseits nationaler und sozialer Schranken9, Selbstlosigkeit9, Brüderlichkeit statt Entfremdung9.“ All diese den „Neuen Menschen“ kennzeichnenden Attribute sind also in Opposition zu den Eigenschaften, die die Gesellschaft Anfang des 20. Jahrhunderts aus Sicht der Expressionisten kennzeichnete und die ich vorher im Teil „Expressionismus“ dargelegt habe.

In dem Drama wird die Rolle dieses Menschenideals der Expressionisten vornehmlich von Eustache de Saint Pierre repräsentiert. Er ist derjenige, der Frieden gegenüber Krieg, Erhaltung des Lebens und des „Schaffen von Menschenhand“ sowie Gemeinschaft propagiert.

Das Drama beginnt mit einer Entscheidung, die das Leben der Städter tiefgreifend verändern wird: Auslieferung sechs hochrangiger Bürger, oder Verteidigung, ohne Aussicht auf Sieg. Hier tritt Eustache de Saint Pierre in den Vordergrund. Im Gegensatz zu Duguesclin, einem Hauptmann des Königs von Frankreich, der für Verteidigung steht, vertritt er einen anderen Standpunkt. Nach seiner Meinung ist der patriotische Gedanke der Verteidigung überflüssig. Vielmehr sollen sie an „ihr Werk“, den Hafen, denken, den man einst mit vereinten Kräften gebaut hat „[...] Ein Fremder zögert vor der Stadt um des Hafens willen: - ihr zögert nicht? [...]“ (S.15). Wichtig ist Eustache hier, dass man auch an die Zeit danach denkt, man soll nicht nur für den Augenblick existieren und an sich und sein Schicksal denken „[...] Ist der Tag mehr als alle Zeit? Wie belehrt euch euer Werk , an das ihr die Tage und Tage reihet [...]“ (S.17). An hand dieser rhetorischen Frage zeigt sich deutlich, dass Eustache gleich beim ersten Auftritt die Ideale des „Neuen Menschen“ vertritt.

Er stellt Frieden und Erhaltung der Werke, die man mit eigener Hand geschaffen hat, in diesem Falle den Hafen, über den „ edlen Patriotismus“, den Duguesclin an den Tag legt.

Zukunftsorientierung ist ebenfalls noch eines seiner Ziele. Der Mensch soll sich nicht dem Taumel und der Euphorie des Augenblickes hingeben, sondern all die Umstände mit berücksichtigen, die eine Entscheidung maßgeblich mit von aussen beeinflussen, wie hier das Werk, der Hafen. Die selbe Forderung vertritt er im Bereich des Mutes, bei dem Wille und Tat im Einklang zu stehen haben.

„[...] Wo ist der Mut, wenn sich der Wille von der Tat scheidet? [...] Was gilt diese Tat noch, wenn sie dich dumpf zwingt ? - Wenn du heute alle Strassen um dich verschüttest - lobt dich morgen dein Weg? - Es kostet dich keinen Mut: du musst ihn schreiten - dieser ist noch übrig! Den stürmst du keuchend hinaus - wie ein Flüchtling keucht vor seiner Flucht! - Auf ihm fliehst du in deine Tat. Sie wartet auf dich - sie rettet dich aus der Öde um dich - sie hebt dich aus der Leere. [...] Deine Tat wird feige wie - du sie heute begehrst! [...]“ (S.19)

Hier wird deutlich, worauf es Eustache noch bei einer Entscheidung ankommt: Er möchte, dass die Opferbereiten, sich fortwährend mit ihrer Tat auseinandersetzen. Hier mit der bevorstehenden Niederlage und dem Tode des einzelnen. Nur durch eigenständiges Denken gelangt eine Person zu einem Ergebnis. Nur eine Auseinandersetzung mit dem Bevorstehenden erlaubt es dem Menschen, sich die Gewissheit zu verschaffen, dass der Wille mit der zu begehenden Tat geprüft wird. Dabei haben am Ende Wille und Tat im Einklang zu stehen.

Die Bürger konnte er nun von seiner Ansicht überzeugen und es finden sich nicht nur sechs, sondern sieben Freiwillige. Damit stehen die Bürger aber vor einem Problem. Wie soll man entscheiden, wer der Opfertat entbunden wird? Eustache ruft die opferwilligen Bürger zu einer Versammlung in den Ratssaal des Stadthauses, um über Leben und Tod das Los entscheiden zu lassen. Doch das Los gelangt zu keinem Ergebnis. Eustach de Saint Pierre muss den anderen gestehen, dass er die Kugellose selbst vertauscht hat „ [...]Ich habe euch die selben Kugeln gereicht! [...] (S.48). Doch wieso hat er dies getan? Aus dem selben Motiv, das er vorher schon dargelegt hat.

Es ist der Mut, der ihnen fehlt. Die Verbindung von Wille und Tat hat noch nicht sattgefunden. Doch genau dieses zählt ja für Eustache, wie vorher schon erwähnt. Gleiche Ansicht vertritt auch Eberhard Lämmert. „[...]Bis zur Minute des Aufbruchs aber soll keiner sich abgefunden haben mit der Tat. Die Spontaneität des ersten Entschlusses soll in jedem der sechs zur Dauer werden, [...]10. Genau dies ist Eustaches Absicht. So legt er auch noch einmal deutlich das Bild des Mutes dar (S.49). Sie haben sich noch nicht genug mit ihrer Entscheidung auseinandergesetzt. Eustache musste eben dies feststellen, als er mit ihnen während des Mahls sprach. Keiner war fähig, sich vom Irdischen loszulösen. Bei allen war die Hoffnung vorhanden, doch noch vom Opfergang befreit zu werden, um in den Alltag zurückzukehren. So wollte beispielsweise der fünfte Bürger seinen Vertrauten noch nicht in seine zukünftigen Geschäftspläne einweihen (S.40). Auch die Ungeduld von Seiten der Bürger, endlich das Los entscheiden zu lassen, bestätigte Eustaches Annahme, das die Auseinandersetzung noch nicht stattgefunden hatte (S.43).

Bedeutend ist hier die Aussage des vierten Bürgers. „[...] Ist nicht eine Frist geben - von diesem Nachmittag an den Morgen, die reicht - mich dicht und dumpf zu verschliessen vor der Qual? [...]“. Dieser bestätigt Eustache darin, dass sie alle noch nicht bereit sind, da sie sich vor der Tat verschließen wollen und genau das ist ja nicht sein Ziel.

Ein weitere Gedanke Eustaches ist, der der Gemeinschaft. Er möchte eine Gemeinschaft schaffen, die sich nicht in ihrer Entscheidungsfindung von Aussen beeinflussen lässt, sondern den Weg von sich selbst aus zu einer Entscheidung findet. So gilt auch Eusatches Kritik an Jean de Viennes Forderung, der nicht zu den sieben Opferwilligen gehört, der Ungewissheit ein Ende zu bereiten (S.39). Er sieht es hierbei nicht ein, dass äussere Einflüsse - in diesem Falle durch das Volk - sie zu einer Entscheidung zwingen sollen.

Das Bild der Gemeinschaft soll noch durch das gemeinsame Mahl gestärkt werden. „[...] Wir sitzen hier um diesen Tisch - wir suchen das gleiche Ziel - der Willen ist einer - so teilen wir die gleiche Speise. [...]“ (S.38). Hier wird das Bild des letzten Abendmahles Jesu mit seinen Jüngern am Abend der bevorstehenden Opferung Jesus für die Menschen ganz bewusst mit aufgenommen. Jedoch hatte Jesus schon die Einigkeit unter seinen Jüngern bereits bewirkt. Das Abendmahl soll also eine Gemeinschaftsstärkung evozieren. Das christliche Thema wird im weiteren Verlauf noch einmal aufgegriffen.

Die Bürger konnten sich, da keine Lösung durch die Kugeln gefunden wurde, darauf einigen, dass derjenige mit dem Leben davonkommt, der am nächsten Morgen als letzter nach dem Glockenschlag auf dem Markt ankommt.

Doch am nächsten Morgen kommt Eustache nicht auf den Platz. Die Bürger sind entzürnt und wollen ihn holen. Dann wird er jedoch auf einer Bahre hereingebracht, tot, begleitet von seinem blinden Vater. Wieso hat sich Eustache geopfert.? Sein Vater gibt die Antwort auf diese Frage. Eustache sei vorausgegangen, damit die Gemeinschaft der Opferwilligen nicht zerbricht, er hat den Glauben an ihre nun tiefste innere Überzeugung nicht verloren, sondern ist sich dieser zu tiefst sicher

„[...]Sie müssen eilen - wenn sie mir folgen wollen - ich bin vorausgegangen [...] Er bog sie stumpf - er heilte die Verletzung in eurem Fleische vor dem Stich! [...] (S.69).“ Er hat es endlich erreicht, dass Tat und Wille vereint sind [...] Erfand er nicht Mittel und Mittel, mit dem er euch dicht und dicht schob [...] und seht mit klaren Augen euere Tat an? [...]“ (S.70).

Endlich hat er eine lebensfähige Gemeinschaft Opferwilliger geschaffen, die aus langwieriger Entscheidungsfindung die Augen nicht vor der Tat verschlossen hat, sondern sich mit ihr befasst hat und nun bereit ist „[...] rund und vollkommen eine Kugel, die ein Anfang ist und ein Ende ohne Unterschied [...] jetzt seid ihr eins und eng ohne Mal und Marke [...]“ (S.70). Dies war wohl neben vielen Zielen, die ich oben bereits näher erläutert habe, sein Hauptgedanke. Eine stabile Opfergemeinschaft zu schaffen, deren Mitglieder erst die eigene Individualität entdeckt haben, indem sie sich mit der Tat auseinandergesetzt haben. Und schließlich zum „Wir“, also dem Prinzip der Brüderlichkeit gefunden haben. Dies war ja auch unter anderem der Gedanke der Expressionisten hinsichtlich des neuen Menschen, Brüderlichkeit zu gestalten. Wieso war aber dazu ein Selbstmord nötig?

Zu diesem Thema des „Warum“ des Selbstmordes kann man in der Literatur verschiedene Ansichten finden. Dass Eustache den andere die Angst vor der Bevorstehenden Tat nehmen wollte, indem er vorangeschritten ist, deckt sich mit meinen Ansichten. Als Untermauerung dient mir dabei das Christliche Symbol des Opfers Jesu Christi. Dieses Bild der Opferung wird auch hier im Buch dargestellt und zwar von Eustache de Saint Pierre.

Man trägt Eustache in die Kirche und legt ihn vor den Altar. Der Leser liest in den letzten Zeilen des Drama in der Regieanweisung, dass die Sonne ein Giebelfenster mit der Auferstehung Jesu und sechs seiner Jünger zeigt (S.73).

Diese auffällige Darstellung Jesu mit nur sechs Jüngern lässt direkte Bezüge zum Drama zu. Eustache de Saint Pierre hat genau wie Jesus, der den Menschen die Angst vor dem Tode nehmen wollte und eine Auferstehung versprach, den Opferwilligen die Angst genommen, die Angst vor dem Tod. Er ist für sie vorangeschritten.

Vorhandene Interpretationsvorschlägen, dass Eustache mit dem Selbstmord den Ruhm auf sich lenken will, kann ich nicht nachvollziehen.11 Eben so nicht die Ansicht, er habe es getan, um alle in den Tode mitzureißen. Denn meine oben herausgearbeiteten charakterlichen Eigenschaften, von gewünschter Brüderlichkeit und Friedens- bewusstsein würden nicht zu einem egoistischen Handeln führen. Es sei denn, er täuscht diese Eigenschaften vor, doch damit würde der Sinn des Dramas, nämlich den neuen Menschen darzustellen, verfehlt sein. Denn dieser Neue Mensch soll sich seiner Tat bewusst sein.

Das gewichtigste Argument, den Selbstmord betreffend ist „[...] dass der neue Mensch nur im Tode verwirklicht wird. Und um jeden einzelnen der Opferwilligen den Tod zu ermöglichen opfert er sich im Voraus [...]“11. Der Tod ist der Weg um den neuen Menschen zu stiften. Er hat es also aus Nächstenliebe getan, da er wusste, dass eine Opfergemeinschaft nur im Tode aufgeht.

Diese Ansicht mag aus heutiger Perspektive durchaus schwer nachvollziehbar sein, doch aus Sicht der Expressionisten war sie durchaus vertretbar.

Ich möchte am Schluss noch einmal auf meine anfangs aufgeworfenen Fragen zurückkommen, ob es am Ende sogar mehrere neue Menschen sind. Ich glaube diese Frage wird offen gelassen. Sie sind zwar bereit sich zu opfern, da sie sich nun sicher sind, sprich Tat und Wille sind im Einklang; doch ob die Brüderlichkeit und die durch Eustache geformte Gemeinschaft erhalten bleibt, bleibt offen. Zumal der englische König ihnen die Opfertat erlassen hat, da ihm ein Sohn geboren wurde.

Die Frage bleibt, wie sie zukünftig weiterleben werden? Entweder den neu gewonnenen Idealen entsprechend, oder aber in die alten Lebensgewohnheiten zurückfallen, aus denen sie kamen?

Georg Kaiser stellt damit die entscheidende Frage in den Raum, „ [...] gibt es den lebenden neuen Menschen? [...]“12.

4. Zusammenfassung und Ausblick

Zusammenfassend gilt festzustellen, dass die Attribute, die den neuen Menschen in der Literatur kennzeichnen, zutreffen.

Eustache bewirkte, dass die Sechs den Frieden als höheres Gut anstrebten als den Krieg. Sie haben sich selbstlos für das ihrer Meinung nach Gute hingegeben, nämlich die Errettung der Stadt und den Erhalt des Friedens. Er führte Brüderlichkei t statt Entfremdung, sowie Gemeinschaft unter den Opferwilligen herbei, da sie am Ende des Dramas von ihrer vorgenommenen Tat überzeugt waren und zusammen im Geiste eines Gedankens in den Tod ziehen wollten. Sie haben sich, wie beispielsweise beim Losentscheid, dem bedeutenden Druck der Bürger entziehen können und sich zu einer dem „neuen Menschen“ entsprechenden Einstellung entschieden. Damit haben sie „ nationale und soziale Schranken9 überwunden.

Als Ausblick möchte ich noch kurz auf Auguste Rodins Skulptur eingehen,13 die ja auch maßgeblich zur Charakterisierung beigetragen hat. 1895 wurde das Denkmal, dass von Calais in Auftrag gegeben wurde, enthüllt.

Ich glaube, dass die Skulptur und die Anordnung der Personen durchaus mit der Aussageabsicht des Stückes verbunden werden kann. Wie auf den Bildern erkennbar ist, handelt es sich um die Gruppe der sechs Opferwilligen. In der Mitte Eustache de Saint Pierre, alle anderen kreisen um ihn. Alle Opferbereiten haben verschiedene Gesichtsausdrücke, jeder scheint offensichtlich mit seinem Schicksal zu hadern, dennoch sind sie durch die kreisenden Bewegungen umeinander und miteinander verbunden. Sie bilden folglich eine Gruppe in der Gruppe. Diese Gruppenbildung ist äusserlich identisch mit denen in Kaisers Drama. Rodin vermenschlicht jedoch seine Bürger: Aus ihren Gesichtern tritt die Angst hervor, ihr Gang widerspiegelt das Entsetzen vor dem Opfer. Kaiser hat wohl diese Angstgefühle benutz, als bei den sechs Opferwilligen Tat und Wille noch nicht vereint waren. Also bis zur Ankunft des Toten Eustaches sind diese Gefühle sichtbar geworden.

Literaturverzeichnis:

1) C.C. Buchners Verlag: Das deutsche Drama vom Expressionismus bis zur Gegenwart, Interpretationen herausgegeben von Manfred Brauneck, Bamberg 31972, S. 36-51
2) Denkler, Horst: Die Bürger von Calais Drama und Dramaturgie, Interpretation, München 1974
3) Klett Verlag: Von den Anfängen bis zur Gegenwart, Leipzig 2000
4) Ich komme aus dieser Nacht... Kaiser, die Bürger von Calais, Kopien
5) Kaiser, Georg: Die Bürger von Calais, 20 Auflage, Bamberg 1999
6) J.B. Metzler: Der Expressionismus

[...]


1 S. Horst Denkler

2 Wolfgang Paulsen :Georg Kaiser A. a. O. S. I., hier Horst Denkler, S. 10

3 Georg Kaise über sich selbst, entnommen der Horst Denkler Interpretation, S. 11

4 Horst Denkler Interpretation S.16

5 Georg Kaiser, Die Bürger von Calais S.12

6 Georg Kaiser, Die Bürger von Calais S.6

7 Horst Denkler, S.22

8 Metzler J.B.

9 Von den Anfängen bis zur Gegenwart, S.217

10 Eberhard Lämmert, S.43

11 vgl Eberhard Lämmert, S.44

12 Eberhard Lämmert, S.44

13 siehe Material Anhang

Ende der Leseprobe aus 16 Seiten

Details

Titel
Kaiser, Georg - Die Bürger von Calais - Der neue Mensch des Expressionismus. Eine Interpretation.
Autor
Jahr
2002
Seiten
16
Katalognummer
V106260
ISBN (eBook)
9783640045396
Dateigröße
446 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Ich hoffe, dass euch die Facharbeit bei verschiedenen Themen weiterhelfen kann.
Schlagworte
Expressionismus
Arbeit zitieren
Dratwa Friederike (Autor:in), 2002, Kaiser, Georg - Die Bürger von Calais - Der neue Mensch des Expressionismus. Eine Interpretation., München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/106260

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