Bernhard, Thomas - Auslöschung - Ein Zerfall - Die Kritik am Großbürgertum Österreichs und dessen metaphorische Bedeutung am Beispiel des Buches #


Facharbeit (Schule), 2002

16 Seiten, Note: 14 Punkte


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Kapitel I: Wolfsegg - Ort der Verstümmelung des Geistes
a) Intention Bernhards
b) Veranschaulichung der Intention am Beispiel der Familie Murau
1.) Die Eltern:
1.1 Die Mutter
1.2 Der Vater
2.) Die Geschwister
2.1 Der Bruder
2.2 Die Schwestern

Kapitel II: Rom - Ermöglichung der Geistesexistenz
a) Warum Rom?
b) Die Protagonisten Roms und ihre Bedeutung
1.) Die Römer
1.1 Onkel Georg
1.2 Gambetti und die römischen Freunde Muraus
2.) Die Wolfsegger
2.1 Die Großeltern
2.2 Das einfache Volk (die Gärtner)

Kapitel III: Lösung Bernhards - Warum Auslöschung?
1. Die Psychologische Komponente
2. Selbstverwirklichung durch Selbstauslöschung
3. Die Übertreibungskunst als Basis der Auslöschung

Literaturverzeichnis

Wolfsegg - Ort der Verstümmelung des Geistes

a) Intention Bernhards

In seinem 1986 erschienenen, letzten und umfangreichsten prosaischen Werk „Auslöschung - Ein Zerfall“ schildert Thomas Bernhard die Lebensgeschichte Franz-Josef Muraus, dessen Existenz und Leben aufs engste mit dem Ort seiner Geburt verwoben ist.

Bernhard verwendet die Metapher Wolfsegg zur Verdeutlichung seiner Intention im Sinne der drei Hauptmotive. Am Beispiel dieses Ortes und der dort in einem schlossartigen Gebäudekomplex lebenden Familie Murau manifestiert der Autor seine Kritik am Großbürgertum Österreichs und damit gleichzeitig auch dessen sich, seiner Meinung nach, wieder bildende bzw. nie verschwundene nationalsozialistische Mentalität und die damit verbundene Hilflosigkeit des Staates Österreich.

b) Veranschaulichung der Intention am Beispiel der Familie Murau „ Aber ich kann die Meinigen ja nicht, weil ich es will, abschaffen.“

1.) Die Eltern

1.1 Die Mutter:

Wie ein roter Faden zieht sich durch die1 gesamte Erzählung die Darstellung der Mutter des Protagonisten; sie ist die Person, um deren Charakterschilderung sich der Ich-Erzähler dieser Erzählung am meisten bemüht. Früh wird klar, dass Murau die Figur der Mutter als das Böse selbst klassifiziert und sie somit als Verursacherin seiner traumatischen und daher äußerst prägenden Kindheit sieht.

Besonders deutlich wird dies anhand einer der vielen Episoden, die der Ich-Erzähler immer wieder zur Veranschaulichung seiner Thesen verwendet: Der etwa zehnjährige Murau, der über die Lektüre des „Siebenkäs“ von Jean Paul in einer der Wolfsegger Bibliotheken das von ihm üblicherweise übernommene Sortieren der mütterliche Post vergisst, wird von der Mutter der „ Verfolgung seiner abwegigen Gedanken “ 2 bezichtigt und von ihr als „ Unmensch “ bezeichnet. Sie straft ein zitterndes, zehnjähriges Kind darauf mit Nichtachtung, der wahrscheinlich schlimmsten Sanktion überhaupt für ein Kind, das doch gar nicht weiß, was es falsch gemacht haben soll.

Die wahren Unmenschen dieser Erzählung sind jedoch die Eltern. Sie, insbesondere die Mutter, verweigern sich jeglicher Form der Bildung nach Beendigung ihrer Schulzeit; der Ich-Erzähler wirft ihnen wiederholt vor, nicht die geringste Hochachtung vor den Geisteserzeugnissen - also Literatur, Musik und Kunst - zu haben. Nie hat die Mutter ein gutes Buch zur Hand genommen (dies wird deutlich, als Murau bei einem Besuch der Mutter in seiner jetzigen Heimat Rom von eben jener gefragt wird, wer denn Kafka sei) und Konzertbesuche dienten ihr lediglich zur Vorführung ihrer neusten, laut Murau naturgemäß geschmacklosen Kleider und langweilten sie ansonsten zutiefst. Die fünf (!) Wolfsegger Bibliotheken, welche von den Großeltern eingerichtet worden waren, werden von den Eltern verschlossen gehalten, als gelte es, die Bildung und damit verbunden auch die Erweiterung ihrer Erkenntnisse und die Stärkung ihres Charakters zur Unmöglichkeit zu deklarieren. Zu erklären ist dieses Faktum laut Murau durch ihre pure Bequemlichkeit; „ sie begnügen sich mit dem tagtäglichen Trott, welcher von ihnen nicht mehr als den traditionellen Stumpfsinn forderte, der ihnen angeboren war. “ 3 Murau stellt fest, dass seine Eltern nur Gleichmut und Gleichgültigkeit unterlegen seien und die Fähigkeit zur Begeisterung, zu Leidenschaften, zu wahren Interessen, sofern sie sie je besaßen, bereits vor langer Zeit verloren hätten. Für diesen Zustand gibt es nur eine eventuelle Ausnahme, die Begeisterung der Mutter, die sich als „ Deutsche Frau “ 4 sieht, für den Nationalsozialismus, den diese auch an ihren Mann weitergegeben hat. Diese Mentalität geht sogar so weit, dass die überzeugten Nationalsozialisten nach Beendigung dieser Epoche noch jahrelang den Obersten und auch den Gauleitern ein feudales und gemütliches Versteck auf dem Hofe Wolfsegg boten. Ausgerechnet die sogenannte Kindervilla, in der Murau und seine Geschwister den schönsten Teil ihrer Kindheit verbrachten, diente den Verbrechern als Unterschlupf und machte daher auch die an sich schöne Erinnerung an die kindlichen Theaterspiele in der Kindervilla zunichte. In der symbolischen „Verschmutzung“ bzw. Verunglimpfung der Kindervilla wird auch die Kindheit Muraus beschmutzt und als ebenso furchtbar charakterisiert. Bis zur Stunde ihres Todes haben die Eltern ihren Glauben an den Nationalsozialismus nie verloren und zahlreiche Kleinigkeiten wie zum Beispiel die Löcher in den Jacken und Mänteln des Vaters, die vom Tragen des Parteiabzeichens stammen, oder sicherlich auch die Anwesenheit der ehemaligen Gauleiter beim Begräbnis machen es dem Ich-Erzähler schwer, zu vergessen - eher noch zu verdrängen - oder zu verzeihen.

Nach einem langen Prozess der Vergegenwärtigung von Kindheit und der Analyse der Mutter sieht der Protagonist Murau in der Mutter nur noch „ das personifizierte Böse, eine typische Provinzlerin (die den Vater nur aus rationalen Gründen wie der Bereicherung ihrer Person, nicht aber aus Liebe heiratete, Anm. d. Verf.) , eine Emporgekommene, einen absoluten Antikulturmensch, der keinen Komponisten verehrte und dem kein Bild etwas bedeutete.“5 Immer hatte seine Mutter Murau für alles verantwortlich gemacht, während sie Johannes, den älteren Bruder des Protagonisten, ständig in Schutz nahm und unterstützte. Sie verstand Muraus Begeisterung für Literatur nicht und aus ihrer Unkenntnis heraus erwuchs ein permanentes, für die Mutter-Kind-Beziehung symptomatisches Misstrauen ihrerseits, welches zur Folge hatte, dass sie niemals in der Lage war, ihren eigenen Sohn auch nur ansatzweise zu verstehen und ihm die Achtung entgegenzubringen, die er als ihr Kind doch naturgemäß verdient hätte.

Mehrfach werden Vergleiche aufgeführt, in denen die Mutter verantwortlich für Unnatürlichkeit, Unwahrhaftigkeit (vergleiche Affäre mit Spadolini) gemacht und mit rücksichtloser Machtgier gekennzeichnet wird; sie ist die Puppenspielerin im Puppenhaus Wolfsegg, ihr Mann und ihre Kinder nur die Figuren, welche sie, von ihrem perversen Spieltrieb getrieben, „ rücksichtslos, unmenschlich, ja grauenhaft “ 6 befehligt. Sie ist die Regisseurin Wolfeggs, deren Größenwahn nach und nach alles verkleinert hat. Sie lebt nur für die Wahrung des Scheins der edelmütigen Herrin über das Schloss Wolfsegg, (sie bezeichnet sich selbst stets als die Retterin Wolfseggs7 ), liebt den katholischen Pomp und es scheint, ihre Affäre mit dem höchst eleganten und gebildeten Spadolini diene ihr nur zur Selbstbestätigung.

So ist es nicht verwunderlich, dass - im Sinne der Dramaturgie - der Mutter das grausamste Schicksal widerfährt, die metaphorische und real physische Enthauptung.

1.2 Der Vater:

Aufgrund der sehr matriarchalischen Familienstruktur, die bereits in 1.1 durch die Charakterisierung der Mutter zum Ausdruck kommt, erscheint der Vater des Ich-Erzählers als eine sehr unselbstständige, ja geradezu von der Mutter abhängige Person, deren eigener Bruder Georg dem Ich-Erzähler gegenüber ihn betreffend feststellte: „ Aber dein Vater ist niemals ein selbstständig denkender Mensch gewesen, [...] es tut mir leid, aber dein Vater ist ein besonders dummer Mensch. “ 8 So ist es nicht weiter verwunderlich, dass Muraus Vater zeitlebens versuchte, sich eine Art Refugium in seiner Tätigkeit als Landwirt, Verwalter des Hofes und Jäger zu schaffen und an Orte wie das Büro neben dem Kuhstall floh, welche für die Mutter zu uninteressant waren, als dass sie sich auch dort in sein Schaffen einmischte. Dies bestätigt sich, als der Vater im Beisein Muraus zugibt: „ soweit hat es kommen müssen, dass ich nurmehr noch auf dem Traktor allein und glücklich sein kann. “ 9 Er erscheint dem Leser als geradezu tragische Figur; am Ende ist er völlig vereinsamt und unglücklich und hat zudem noch unter der Untreue seiner Frau zu leiden. Doch Murau stellt fest, dass der Vater wahrlich nie etwas gegen diese Situation unternommen habe, denn seine Schwäche machte ihn handlungsunfähig. Der bürokratische Stumpfsinn, die Pedanterie10 und, wie Murau es symbolisch ausdrückt, die im Büro stehenden Leitzordner haben ihn und seine ganze Persönlichkeit schließlich erdrückt.

Ebenso wie seine Frau hat er versäumt, sich weiterzubilden, da er, folgt man Muraus Theorie, „ ein von Wolfsegg und von der Mutter, seiner Frau, gleichzeitig umbarmherzig unterdrückter Mensch “ 11 sei, der alles Neue, wozu naturgemäß auch die Gedanken gehören, verachtet und als gefährlich betrachtet. Daher ist er ein ebensolcher Antikulturmensch wie seine Frau. Er hält an den veralteten Traditionen fest und hat im Laufe der Jahre seine Fähigkeit zur Behauptung gegenüber seiner Familie und damit verbunden die Fähigkeit zur kritischen Reflexion und zum eigenständigen Denken verloren oder wegen der Dominanz seiner Frau aufgeben müssen.

Doch auch das mildert nicht die Schuld, die er während der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft auf sich geladen hatte. Murau ist zutiefst beschämt und verletzt bezüglich des Verhaltens der von ihm als opportunistisch abgeurteilten Eltern. Murau dijudiziert: „ Die Eltern haben sich schuldig gemacht, indem sie diese gemeinen Leute [die Oberste und Gauleiter des Regimes] beherbergt und versteckt haben, die vor Gericht gestellt gehörten und abgeurteilt. Natürlich mit der Todesstrafe bestraft. “ 12 Der Vater hatte sich bei diesen Menschen so beliebt gemacht, dass sie auch zu seinem Begräbnis erschienen und eine Grabrede hielten, die ihn, nach Muraus Empfinden, auch nach dem Tod noch diffamierte.

Kunst und Natur bilden in Muraus Weltbild eine nicht zu trennende Einheit, denn „ erst wenn wir einen ordentlichen Kunstbegriff haben, haben wir auch einen ordentlichen Naturbegriff. “ 13 So ist der Vater, der Landwirt, als Verächter des Geistes, der schönen Künste also gar nicht in der Lage eine landwirtschaftstypische Naturverbundenheit herzustellen bzw. zu empfinden und versteht wahrlich nicht einmal sein selbstgewähltes Refugium. Die Schamlosigkeit, Unsensibilität, Lieblosigkeit und Gefühlskälte des Vaters, der Murau niemals vor der herrschsüchtigen Mutter beschützte, erschrecken ihn genauso wie die Banalitäten „ Geld, Jagd, Gemüse, Getreide, Kartoffeln, Holz, Kohle, sonst nichts “ 14, die sein Leben auszumachen scheinen. Und in einem ist sich Murau ganz sicher: Wer aufgehört hat, seine Erkenntnisse zu erweitern und seinen Charakter zu stärken, also an sich zu arbeiten, um so viel wie möglich aus sich zu machen, hat aufgehört zu leben. So gesehen hatten die Eltern schon sehr lange nicht mehr gelebt, als sie durch den Unfall ihr Leben verloren, denn sie waren innerlich schon lange tot, bevor sie tatsächlich starben.

2.) Die Geschwister

2.1 Der Bruder:

Die Figur des Bruders Johannes dient im Sinne der Intention der Erzählung lediglich zur Hervorhebung, wie verheerend die Einflüsse Wolfeggs auf eine dort aufgewachsene und auch weiterhin lebende Person sind, die es im Gegensatz zum Protagonisten versäumte, den Hof rechtzeitig zu verlassen. Im Grunde hat es Murau der Existenz seines Bruders zu verdanken, dass es ihm möglich war, in Rom eine neue (Geistes-) Heimat zu finden, denn so hatten die Eltern in Johannes ihren Erben, den sie nach ihren Vorstellungen formen konnten, und legten daher nicht mehr viel Wert darauf, auch Kontrolle über den Ich-Erzähler auszuüben. Es wird von ihm erwartet, einmal den Hof zu führen, und zu diesem Zwecke formten sich die Eltern einen Stammhalter nach dem Vorbild des Vaters, mit dem Johannes sehr viel Ähnlichkeit hat; sie teilen sich die Refugien Landwirtschaft und Jagd. Während der Vater Freiheit und Ruhe auf seinem Traktor sucht, verhält es sich bei Johannes ganz ähnlich, der in seinem Jaguar einen Rückzugsort sieht, in dem er über die Möglichkeit verfügt, Macht über seine Eltern, insbesondere über seine Mutter auszuüben „ War er sonst der ruhigste Mensch, wenn er Auto fuhr, war er nurmehr noch der entfesselte, der zum absoluten Machtmensch gewordene, welcher er außerhalb des Autos nicht sein konnte, die verhinderte schon seine Mutter. “ 15 . Er wird als absolut autoritätsgläubiger, pedantischer, kulturell ungebildeter und schlichter Charakter dargestellt, der eigentlich gar keine eigene Persönlichkeit entwickeln konnte und bis zu seinem Tod nur der Wunschsohn der Eltern war, ohne eigene Interessen zu verfolgen.

2.2 Die Schwestern:

Während ihr Bruder Johannes kaum über einen eigenständigen Charakter verfügt, besitzen die Schwestern Caecilia und Amalia zwar Persönlichkeit, jedoch beurteilt Murau diese als durch und durch bieder und verlogen. Beide sind Mutterkinder, die von dieser zu ihren Gesellschafterinnen erzogen worden seien. Nie ist es ihnen wahrhaft gelungen, sich von ihrer übermächtigen Mutter zu lösen, und auch die Hochzeit Caecilias mit dem sogenannten Weinflaschenstöpselfabrikanten hat für Caecilia nicht die gewünschte Wirkung, nämlich die Lösung von Mutter und Schwester bewirkt. Statt dessen hat sie sich jetzt mit ihrem lahmen und als dümmlich beschriebenen Mann abzufinden. Immer werden die Schwestern als geistig und auch körperlich abstoßend und hässlich beschrieben, als ungebildet und gefühlskalt bis berechnend. Sie seien unverschämt, ihre Perfidie und Infamie kenne keine Grenze, dijudiziert Murau wieder und wieder. Aber durch den Einfluss der Mutter war es laut Murau auch gar nicht anders zu erwarten, als dass sich die Schlechtigkeit der Mutter auch in ihnen manifestiere.

Die gesamte nach Muraus Weggang noch auf Wolfsegg verbliebene Familie des Ich-Erzählers, allesamt Vertreter des von Bernhard kritisierten Großbürgertums, weisen alle Verhaltensweisen und Charakteristika unaufgeklärter, ja geradezu dummer bis bösartiger Menschen auf, denen Geist und freies Denken und Handeln fremd ist.

Kapitel II: Rom - Ermöglichung der Geistesexistenz

a) Warum Rom?

Parallel zur Metapher Wolfsegg, an Hand derer die Missbildung und die Kritik am Bürgertum verdeutlicht wird, baut Bernhard in Rückblenden die Allegorie Rom auf. Es fungiert als Gegenpol zur Kontrastierung der Wolfegger Verhältnisse und soll zeigen, wie der Autor sich das wahrhaftige und erfüllte Leben vorstellt. Ebenso wie der Autor die beschriebenen Mitglieder der Familie Murau zur Veranschaulichung der Unkultur und Gleichgültigkeit des Bürgertums nutzt, verwendet der Ich-Erzähler auf der einen Seite seinen Onkel Georg und seine römischen Freunde (insbesondere seinen Schüler Gambetti) und auf der anderen Seite die einfachen Arbeiter und seine Großeltern auf Wolfsegg zur Idealisierung seiner eigenen Lebensauffassung, die er als aufgeklärt und natürlich ansieht. Rom ist Widerstand, Auflehnung und Opposition gegen die autoritären Machtstrukturen auf Wolfsegg.

b) Protagonisten Roms und ihre Bedeutung:

1.) Die Römer:

1.1 Onkel Georg:

Für den Protagonisten, ebenso wie für Bernhard, wird Georg, der Bruder seines Vaters, zum Idol, also zum Vorbild im Sinne der Aufgeklärtheit und des damit einhergehenden Individualismus. Die Biographien Georgs und Muraus weisen bedeutende Parallelen auf; so hat sich Georg ebenfalls früh von Wolfsegg gelöst und dies nicht nur räumlich, sondern zugleich auch in seinem Denken, da er die Wolfegger Verhältnisse nicht zu ertragen in der Lage war. Ganz deutlich wird dieses Faktum in der Grabinschrift Georgs, dessen Text lautet: „ Der zu dem richtigen Zeitpunkt die Barbaren hinter sich gelassen hat. “ 16 Die „ Barbaren “ sind Symbol für seine Familie und auch für all die anderen ungebildeten Menschen. So stellt ihn der Ich-Erzähler als seinen Retter da als denjenigen, der ihn gelehrt habe, was wichtig sei, und der für ihn aufs engste mit der erstrebten Destination der sogenannten Geistesexistenz verbunden ist, da er diese in Muraus Augen verkörpere. Gleichfalls ist die Idee des Verfassens der sogenannten „ Auslöschung “ Georg zuzuschreiben, die Murau dessen Nachlass hatte entnehmen können. Diese Idee hatte sich über Jahre im Protagonisten festgesetzt und ihn schließlich so bewegt, jene als einzig möglichen Ausweg zu betrachten.

Früh hatte die Familie Murau begriffen, dass Georg sich nicht ihren Idealen anpasste und jenes auch gar nicht anstrebte. Folglich begannen sie ihn zu hassen, da sie ihn, wie auch im weiteren Verlauf den Protagonisten, als eine Bedrohung ansahen. „ Zeitlebens haben sie [die Eltern] meinen Onkel Georg gehasst, gar nicht mehr versteckt in den letzten Jahrzehnten, sie haben ihn mit der Zeit genauso behandelt wie mich, so gedachtüber ihn wieüber mich, ihn so hintergangen wie mich. “ 17 Georg nahm sich des jungen Muraus an und erzog ihn, mehr als es seine Eltern je vermochten. So führte er den Ich-Erzähler in die Kunst ein, lehrte ihn, Literatur und Musik zu genießen und auch zu verstehen. Anstatt ihn nur plump zu belehren, hat Georg Muraus Fähigkeit zur kritischen Reflexion und zum Anzweifeln der bestehenden Verhältnisse wiederbelebt, die die Eltern so lange unterdrückt und somit bewusst und gewollt hatten verkümmern lassen. Muraus Geist wurde frei und mit seiner Befreiung begann seine Persönlichkeitsentwicklung voranzuschreiten; anstatt die Lebensweise seiner stupiden Eltern zu assimilieren, wie es seine Geschwister taten, setzte ein Prozess der Individualisierung ein, der bewirkte, dass Murau, dem Vorbild seines Onkels folgend, seine eigenen Moralvorstellungen konzipierte18 und sich nur noch nach ihnen richtete. Durch diesen Prozess wurde aus Murau der Geistesmensch, der zum Philosophieren befähigt ist, was er als besonders wichtig im Sinne des Rationalismus ansieht. Für Georg, den „ Retter “, steht eines fest, nämlich dass die Mutter, die „ Verzieherin “ , für die Missstände Wolfseggs verantwortlich ist, ebenso, wie die Mutter diesen als verachtungswürdig betrachtet; dies verdeutlicht noch einmal die Parallelität der Orte Wolfsegg und Rom bzw. derer Protagonisten.

1.2 Gambetti und die römischen Freunde Muraus:

Gambetti ist die wichtigste Bezugsperson des Ich-Erzählers in Rom, denn Muraus Lehrerfunktion Gambetti gegenüber ist eine Repetition der engen Beziehung zwischen Georg und eben diesem. Murau ist der Auffassung, Gambettis Eltern hätten eine vergleichbar eingeschränkte Sicht- und Denkweise, wie seine eigenen Eltern sie ihm in seiner Kind- und Jugendzeit aufgezwungen hatten. Er nimmt sich daher vor, den Jungen, wie es Georg bei ihm getan hatte, zu leiten und zu lehren selbstständig und vernunftbegabt zu handeln. „ Ich spiele die Rolle des Onkels Georg, der mich aus Wolfsegg vertrieben hat mit seinen Gedanken und Eröffnungen, [...], dass ich Gambetti, wie mich mein Onkel Georg aus Wolfsegg, aus der Welt seiner Eltern vertreibe. “ 19 Er fördert durch seinen Literatur- und Philosophieunterricht die Individualität und den Rationalismus des Schützlings. Diese Aufgabe ist für Murau spürbar von großer persönlicher Wichtigkeit: dies zeigt sich z.B. darin, für wie hoch er den (aufklärenden) Stellenwert der Wahrhaftigkeit darstellt:

„ Gambetti darfst dich nicht als Heuchler zu erkennen geben, dich von ihm in keiner Lüge ertappen lassen. “ 20 Dies hat ein starkes Vertrauens-verhältnis zu Folge, welches sich unter anderem darin ausdrückt, dass Gambetti einer der wenigen Personen ist, denen Murau vom Tod seiner Eltern und seiner bevorstehenden Abreise nach Österreich berichtet. Zudem ist mit dem Vertauen immer eine Art Beschützertrieb Muraus verbunden, der sich beispielsweise darin manifestiert, dass er es Gambetti ob der kalten und lieblosen Situation dort niemals zumuten mochte, ihn einmal nach Wolfsegg zu begleiten. Doch nicht nur, um die Beziehung Georg/Murau noch einmal in ihrer Wichtigkeit zu unterstreichen, wird der Charakter Gambettis in die Erzählung eingeführt; er dient - im Sinne der Dramaturgie - noch einem viel wichtigeren Zweck: Er ist der nie widersprechende Dialogpartner des Ich-Erzählers; er dient, indem sich der Protagonist nochmals die Gespräche der beiden verinnerlicht, Murau als Vorwand seine Gedanken und Erkenntnisse auch dem Leser offenkundig zu machen. Es scheint eine Art Rückbesinnung auf die platonischen Dialoge zu sein, in denen Platons Lehrer Sokrates ebenfalls zu Darlegung der philosophischen Theorien Platons als fiktiver Dialogpartner erscheint.

Zu den anderen Freunden Muraus in Rom gehören die Literaten und Dichter Zacchi und Maria sowie der Kirchenoberste und Geliebte der Mutter Spadolini, die der Protagonist alle ob ihrer Bildung und Intelligenz als wichtige und hoch geschätzte Persönlichkeiten anerkennt. Sie bilden die Messlatte seiner eigenen Fähigkeiten (Maria ist die wichtigste Kritikerin der Werke Muraus) und gleichzeitig auch ein stabiles, aufgeklärtes und freies Umfeld, in dem sich der Protagonist wohl und behütet fühlt.21

2.) Die Wolfsegger:

2.1 Die Großeltern:

Die Großeltern Muraus werden vom Protagonisten auf zweierlei Weisen idealisiert, denn zum einen waren die Großeltern in der frühen Kindheit des Ich-Erzählers ein starker Halt für diesen, da sie im Gegensatz zu den Eltern ihre Zuneigung den Enkeln gegenüber gerecht verteilten und naturgemäß auslebten, und zum anderen waren auch sie hoch gebildete, aufgeklärte Menschen, viel mehr noch als die nachfolgende Generation auf Wolfsegg. Murau sagt über die Zeit, in der seine Großeltern noch lebten, es sei die glücklichste Periode seines Lebens auf dem Hofe gewesen, und dass die Eltern nach dem Tode der beiden geliebten Personen ihn bestraften, da sie da Gefühl hätten, Murau sei von ihnen bevorzugt behandelt worden; dies sei, wie so oft, nur dem Unverständnis seiner Mutter ihm gegenüber zuzuschreiben.22 Doch „ die Großeltern kannten von Natur aus keine Bevorteilung. “ 23 Bernhards Formulierung „ von Natur aus “ ist ein weiterer Verweis auf die Bedeutung der Natürlichkeit als Basis wahrhaftiger, das heißt ungekünstelter Gefühle, als Antagonismus zu Betrug und Verlogenheit und der damit verbundenen Gefühlskälte der Mutter. Ihnen ist die Errichtung der fünf Wolfsegger Bibliotheken zu verdanken, in denen Murau so viel Zeit seiner Kindheit verbrachte und die ihm als Refugium vor den Eltern, dem ihn verratenden Bruder und den gehässigen Schwestern dienten. Das in den Bibliotheken erworbene literarische Wissen, welches durch Georg weiter vertieft wurde, ist daher auch die heutige Existenzgrundlage des Ich-Erzählers, der als Lehrer für deutschsprachige Literatur in Rom lebt. Auch die höchst wohlwollende Charakterisierung der Großeltern und hier besonders der „ geliebte Großvater “ 24 s tammen nicht von ungefähr, sondern sind zumindest zum Teil die Aufarbeitung der eigenen Kindheit Bernhards. Der uneheliche und in sehr ärmliche Verhältnisse hineingeborene Bernhard, Sohn einer Hausgehilfin, hat unter seiner Kindheitssituation, die mit einer frühen Tuberkuloseerkrankung einherging, zeitlebens gelitten und dieses Faktum machte seinen Großvater, den recht erfolglosen Heimatschriftsteller und der einzig positiven Gestalt seiner frühen Lebenszeit, Johannes Freumbichler, zum Archetyp all der späteren Geistesexistenzen und Protagonisten der Werke Bernhards. Dies zeigt sich auch im Fehlen jeglicher moderner Gerätschaften wie Computer o.ä., mit denen der Autor versucht, die Zustände zu Zeiten seines Großvaters wieder aufleben zu lassen. Davon abgesehen sind die Großeltern wohl die letzte Generation, die auf Wolfsegg in obgleich großbürgerlichen, doch trotzdem im Sinne des Rationalismus und der wahrhaftigen Emotionalität aufgeklärten Verhältnissen lebten. Mit ihrem Tod begann Wolfsegg sich zum Schlechten zu wandeln, was unter anderem auch die nationalsozialistischen Tendenzen anbelangt, die unter Führung des Großvaters niemals möglich gewesen wären.

2.2 Das einfache Volk (die Gärtner):

Bedingt durch die Abkehr von der Familie und das Fehlen von Freunden (zumindest berichtet Murau niemals von Freunden seiner Kindheit), versucht der Ich-Erzähler sich den einfachen Menschen innerhalb des Personals auf Wolfsegg anzunähern. Diese lassen sich in drei Kategorien einteilen: die Gärtner, die Jäger und das Hauspersonal. Den Jäger hatte sich Murau niemals verbunden gefühlt; sie verunsicherten ihn und stimmten ihn noch trauriger25 ; sie seien die Niveaulosesten und standen damit genau im Gegensatz zu den Gärtnern. Die Jäger werden als abstoßend charakterisiert, als Nationalsozialisten26 ; sie tränken und ihre Niveaulosigkeit manifestiere sich in ihren geschmacklosen Witzen. Zudem sind sie die Freunde der Mutter, die sich in ihrer Umgebung wohl fühlt und der sie auf Festen die anzüglichsten Komplimente machen. Als Symbol ihrer Unbildung ist das Jägerhaus exakt auf dem Platz errichtet worden, an dem vorher die sechste Bibliothek des Hofes stand. Über die den Jägern fehlende Sensibilität verfügen nun die Gärtner zuhauf: „ genauso, wie ihre Pflanzen, behandelten sie auch mich, wenn ich zu ihnen gekommen war, liebevoll. Sie hatten für meine Bedrängnisse und Nöte Verständnis “ . 27 Auch all die einfachen Leute im Dorf unterhalb Wolfseggs waren dem jungen Murau immer viel sympathischer in ihrer Art; sie, die armen Leute, waren die Freundlichen, die immer ein tröstendes Wort für ihn übrig hatten, die „ Liebenswürdigen “ , „ Fröhlichen “ und „ Zugänglichen “ . 28 „ Während hier im Dorf alles auf die natürlichste Weise vor sich geht und tatsächlich menschlich, [...] geht oben in Wolfsegg alles künstlich vor sich, unmenschlich. “ 29 Doch wie man bald sagen muss, natürlich, wurde Murau für jeden heilsamen Ausflug ins Dorf stark bestraft, meist durch die Züchtigung mit einem Ochsenziemer30, da die Eltern diese Menschen für den falschen „Umgang“ hielten. Ihre Natürlichkeit, Wahrhaftigkeit und auch ihre Humanität, denn bei ihnen gab es keine Lügen, keine Hypokrisie, kein Gefallenwollen um jeden Preis, sind Ideale Muraus und für ihn überaus tröstlich. Tatsächlich meint er, dass man erst in der Lage sei, einen ordentlichen Kunstbegriff, der ihm naturgemäß außerordentlich wichtig ist, zu entwickeln, wenn man über einen ordentlichen Naturbegriff verfüge. Prinzipiell sind die einfachen Leute also viel eher als die bürgerlichen Eltern zu Einsicht und einem Gespür für das Schöne befähigt. Doch auch wenn sich der Ich-Erzähler noch so sehr nach diesen Menschen sehnt, gibt es für ihn auf Grund seiner Herkunft keine Möglichkeit, je zu ihnen zu gehören.

Ingesamt ist Rom also mitsamt seiner Vertreter als Metapher für die Gegenwelt des Großbürgertums anzusehen, und zwar als Gegenwelt entweder deswegen, weil die Agierenden in ihrer Aufgeklärtheit und ihren Idealen (Gambetti, Georg, Großeltern) dem Bürgertum entgegen oder durch ihre Armut und Einfachheit (die Gärtner das einfach Volk) von Natur aus menschlich und klug handeln. Doch im Endeffekt ist Rom nur eine Scheinlösung, denn das Auseinandersetzen mit Wolfsegg verfolgt ihn auch weiterhin Tag und Nacht.31 Die Flucht vor der Geschichte der Familie ist vergeblich, eine definitive Trennung wird nicht erreicht und in Wahrheit auch gar nicht angestrebt. Murau existiert nur durch und wegen und gegen Wolfsegg.

Kapitel III: Lösung Bernhards - Warum Auslöschung?

„ Nach diesem Bericht muss alles, das Wolfsegg ist, ausgelöscht sein. Mein Bericht löscht Wolfsegg ganz einfach aus. [...]. Wir tragen alle ein Wolfsegg mit uns herum und haben den Willen, es auszulöschen zu unserer Errettung, es, indem wir es aufschreiben wollen, vernichten wollen, auslöschen. “ 32

1. Die Psychologische Komponente:

Zunächst einmal handelt es sich bei der von Bernhard konzipierten Lösung, der Auslöschung, um eine sehr persönliche, denn es lassen sich zahlreiche Hinweise auf Bernhards eigene Biographie feststellen. Wie bereits bei der Charakterisierung der Großeltern erwähnt, ist Bernhards Idol, der Archetyp all seiner glücklosen, aber höchst klugen, geradezu genialen Helden (in diesem Fall ist es Franz-Josef Murau), sein Großvater, der Schriftsteller Johannes Freumbichler. Auch Ingeborg Bachmann stand Pate für eine Figur dieser Erzählung, nämlich für die Dichterin Maria, vor der Murau die größte Hochachtung hat, und außerdem scheint, zumindest laut Biographie Bernhards, zu einem Teil in der Mutter Muraus auch die Mutter Bernhards wiederauffindbar zu sein, da die Mutter der Erzählung eine sogenannte Emporgekommene, eine Gefühlskalte und Stumpfsinnige noch dazu sei, die somit einiges mit der realen armen Hausgehilfin gemeinsam hat. Dass es sich nun um eine „Auslöschung“ handelt, und zwar auch der Auslöschung des Ich-Erzählers, ist dem misanthropischen Charakter Bernhards zuzuschreiben, denn immerhin stammt das Werk von einem Autor, der den Satz „Ich hasse die Menschen, aber sie sind gleichzeitig mein einziger Lebenszweck“33 als sein Credo betrachtete. Das von Bernhard kritisierte Großbürgertum ist zwar auf der einen Seite das Reale, zu dem er sich, aufgrund seiner Hochachtung vor dem Großvater, in seiner Kindheit hingezogen gefühlt hatte, dem er aber zunächst aufgrund seiner Herkunft nicht angehören konnte und das er später in seiner Spießigkeit und Doppelmoral (dies erkannte er an den Reaktionen, die er auf seine Bühnenstücke und Prosa erhielt, und außerdem ist Bernhard ein so hochgebildeter Mann, dass ihm die nationalsozialistischen Tendenzen in der Bevölkerung und damit auch im Bürgertum, nun auf die Spitze gebracht durch Jörg Haider, wohl schon damals nicht verborgen geblieben sind) verabscheute, aber auf der anderen Seite ist es schlicht auch die Metapher für die Widerstände und die schwere Vergangenheit eines jeden (vergleiche Zitat unter Kapitelüberschrift), denen man nur durch Vernichtung Einhalt gebieten kann.

2. Selbstverwirklichung durch Selbstauslöschung:

„ Tatsächlich bin ich dabei, Wolfsegg und die Meinigen auseinanderzunehmen und zu zersetzen, sie zu vernichten, auszulöschen und nehme mich dabei selbst auseinander, zersetze mich, vernichte mich, lösche mich aus. Das allerdings, hatte ich zu Gambetti gesagt, ist mir ein angenehmer Gedanke, meine Selbstzersetzung und Selbstauslöschung. “ 34 Die literarische Auslöschung, der auch der reale Tod des Protagonisten folgt, ist ein Versuch der Verarbeitung der Kindheit und des Lebens überhaupt. Schon das Montaigne-Zitat zu Beginn, „ Ich fühle, wie der Tod mich beständig in seinen Klauen hat. Wie ich mich auch verhalte, er istüberall “ ist ein Verweis auf das sichere Ende der Erzählung und auch auf die trost- und hoffnungslose Gesinnung des Autors, denn „wenn man die Welt schon nicht verändern kann, so kann der Einzelne [hier naturgemäß Bernhard, Anm. d. Verf.] doch wenigstens seine sprachliche Omnipotenz immer wieder beweisen, indem er seiner realen Ohnmacht die Macht der Phantasie entgegensetzt; er [Bernhard] rächt sich an einer Welt, die seiner nicht bedarf.“35 Dass diese Rache eine durch sprachlich-literarische Mittel ist, ist durch das Faktum zu erklären, dass die Präsenz der Sprache und die Radikalität des Blicks des Ich-Erzählers, manifestiert in den Gedanken und der sprachlichen Ausdruckskraft, eine Form von Freiheit für Bernhard und gleichfalls für den Ich- Erzähler darstellen. Die wahre Auslöschung, der wahre Zerfall ist das Schweigen; Schweigen, Stillstand und Bequemlichkeit sind die Feinde der Geistesexistenz, die durch Wandel und den Wunsch zur Veränderung, zur Verbesserung gekennzeichnet ist. Solange der Protagonist noch redet, ist noch Substanz, Halt in der Realität in und um ihn. Die Auslöschung, die Bernhard dagegen anstrebt, ist eine nur oberflächlich destruktive, denn er verweist stets auf die Schaffung des Neuen durch die Abschaffung des Alten, „ denn ohne ihre totale Vernichtung [die der Welt] kann sie nicht erneuert sein. “ 36

Bernhard schreibt niemals für seine Leser, sondern immer zur Selbstdarstellung und -erarbeitung. Er selbst sagte dazu: „Warum schreibe ich Bücher? Aus Opposition gegen mich selbst plötzlich und gegen diesen Zustand - weil mir Widerstände alles bedeuten. [...] Ich wollte eben diesen ungeheuren Widerstand, und darum schreibe ich Prosa.“37 Der Bernhard’sche Geistesmensch ist ein Täter des Wortes, ein wahrhaftiger Geistestyrann.

In Bernhards Gedankenwelt deutet alles immer auf Tod und Untergang hin genauso wie auf Selbstzerstörung und „Vernichtung der realen oder symbolischen Welt der Geschichte [hier insbesondere die Vernichtung des nationalsozialistisch geprägten Wolfseggs, Anm. d. Verf.]“38, einer Welt, der zu entfliehen dem Ich-Erzähler niemals wahrhaft gelingt. Dies ist dadurch begründet, dass das wahre Gefängnis eben doch nicht Wolfsegg oder die Familie ist; in Wahrheit liegt es ihm Protagonisten selbst, der hier nicht vom Ort seiner Qual loskommt und auch die räumliche Trennung, die Flucht nach Rom, kann und wird niemals mit Erfolg im Sinne der Lösung und Verarbeitung von Wolfsegg gekrönt sein. Der Held Bernhards kann nur protestieren, an dieser fundamentalen Konstellation auf dem Hof jedoch nichts ändern. Er muss versuchen der Vergangenheit und den damit einhergehenden Misshandlungen eine - seine- Gegenwelt entgegenzustellen, und zwar durch seine Sprache (ein weiterer Verweis auf die Wichtigkeit der Individualität).

Dass der Ich-Erzähler dabei keinesfalls immer den Bezug zur Realität bewahren kann, zeigt sich darin, dass seine Urteile, seine Verfluchungen niemals durch Abwägung von Argumenten erfolgen, sondern eigentlich nur noch seiner Logik folgen und daher nicht mit objektiven Maßstäben nachvollziehbar sind: „Losgelöst von der literarischen Konstellation besitzen die Sätze des Erzählers kaum mehr Gewicht als jede andere beliebige Überzeugung; ihre Relevanz liegt einzig in der Form der Sätze und ihrer Konstellation, in der Skurrilität dessen, der sie ausspricht als letzte Möglichkeit von Selbstbehauptung vor der unvermeidlichen Selbstauslöschung.“39 Selbstmord ist also schließlich doch der einzige Ausweg, dem Kreislauf der Geschichte zu entkommen, denn im Leben hat der Ich-Erzähler nur die Wahl zwischen seinem inneren Gefängnis durch die ständige Rückbesinnung und Analyse der Wolfsegger Strukturen in Rom und der realen Wiederkehr an diesen Ort, um sich dort mit ihm auseinanderzusetzen. Es gibt einfach keine Errettung vor den Geistern in seinem Kopf, wenn es nicht mal den hehren Idolen, den Geistesexistenzen, gelingt. Dies liegt daran, dass der Protagonist die Geschichte der Familie zwar in seinem Werk, der Auslöschung, zerstört, sie aber gleichzeitig unsterblich macht, indem er sie im literarischen Werk neu aufbaut. In der Verbalisierung liegt die einzig mögliche Freiheit und selbst dort nur scheinbar. „Ist die Geschichte seines Lebens als Geschichte einer misslungenen Ablösung von Familie und Staat erzählt und in ihrer Ausweglosigkeit erkannt, so ist das Leben [des Protagonisten] beendet.“40 Dass sich der Ich-Erzähler am Ende zu sterben genötigt sieht, ist durch das Faktum zu erklären, dass der Erzähler nur durch seine, wenn auch unschöne, Vergangenheit existiert und durch die radikale geistige Durchdringung und Ablehnung dieser Vergangenheit ebendiese destruiert und damit auch seine eigene Existenz vernichtet. Es wird nie ein glückliches Ende geben, keine Lösung von Familie, Staat und Vergangenheit. „Die verbale Gnadenlosigkeit des Erzählers wiederholt die verbale und non-verbale Gnadenlosigkeit der Eltern; er unterscheidet sich von ihnen dadurch, dass er die Zeichen der Zeit erkannt hat oder erkannt zu haben und aus seiner Befindlichkeit heraus die Welt als missraten oder unrettbar dem Abgrund zustürzend begreift.“41 In dieser Wiederholung (und auch der Repetition einzelner Formulierungen wie z.B. „ hatte ich zu Gambetti gesagt “ ) zeigt sich ein innerer Zwang des Autors zum Ausdrücken und Ausleben der Geistesexistenz und zum Beschreiben der Unkultur und Stupidität des Großbürgertums als Mittel zur Durchbrechung seiner eigenen Isolation.

3. Die Übertreibungskunst als Basis der Auslöschung:

„ Wenn wir unsereübertreibungskunst nicht hätten, hatte ich zu Gambetti gesagt, wären wir zu einem entsetzlich langweiligen Leben verurteilt, zu einer gar nicht mehr existierenswerten Existenz. Und ich habe meineübertreibungskunst in eine unglaubliche Höhe entwickelt, hatte ich zu Gambetti gesagt. “ 42

Bernhard lässt Murau diesen Satz aussprechen und erklärt und persifliert durch seinen Protagonisten seine eigene ebenfalls übertrieben karikierte Sicht auf die Welt. Murau versucht seinem Schüler zu vermitteln, dass man nur durch Übertreibung etwas begreiflich machen kann. „Der Erzähler skizziert mit seinem Verweis auf die Übertreibungskunst die elementare literarische Konstitution des gesamten Romans.“43 Ziel dieser Kunst kann nun naturgemäß nicht das möglichst reale Spiegeln der Wirklichkeit sein, nicht aber, wie Wolfsegg tatsächlich war oder wie gefährlich die nationalsozialistischen Tendenzen im heutigen Österreich und Deutschland sind; sie verfolgt einen anderen Zweck. Dieser liegt in der Destruktion der Welt und des Lebens in Form eines fortwährenden Monologs und selbst dieser monumentale Monolog ist nicht vor seiner eigenen Auslöschung, im Sinne seiner Irrelevanz, geschützt, denn es kommt durchaus vor, dass eine immer wieder auf die Spitze getriebene Beschimpfungsrhetorik immer wieder relativiert wird bis hin zur Feststellung, es gebe im Grunde „ keinerlei Ursache, fortwährendüber Wolfsegg als eine Katastrophe zu reden. “ 44 Ihr geht es also nicht um eine bloße Verzerrung und Überzeichung der Perspektive, um die Übertreibung des episch Mitgeteilten, sondern um einen, wie es im Roman heißt, „ Ü bertreibungsfanatismus “ 45, der jede episch verbürgte Ordnung der Welt auflöst und den Erzähler in einen großen „Ü bertreibungskünstler “ 46 verwandelt.“ Dieser Zerfall durch Übertreibung wird dadurch erreicht, dass mit der Verzerrung die Frage nach der Richtigkeit und dem Sinn der Wirklichkeit gestellt wird. In der Welt Bernhards lautet die Antwort, dass das Leben nur den Sinn hat, soviel wie möglich Gegenwehr gegen die bestehenden Verhältnisse aufzubringen, die in seinem Kosmos naturgemäß die allerSschlechtesten und fatalsten sind, und wenn man sich dahingehend aufgeopfert hat, soviel wie möglich zu ver- und zerstören, um soviel wie möglich neu zu schaffen, muss man doch schlussendlich einsehen, dass es niemals möglich sein wird, die totale Vernichtung als Grundlage des erstrebten vollständig Neuen zu erreichen. Diese Erkenntnis ist die Ursache für die Selbstzerstörung des Protagonisten; er hat so viel, wie er konnte, zur Auslöschung seiner Vergangenheit beigetragen und dennoch bleibt ein so großes Maß an Schlechtigkeit und Schuld, dass ein weiterer Kampf im Vorhinein zur Aporie erklärt wird und ihm lediglich der Tod die Möglichkeit einen Schlussstrich zu ziehen bietet. Bevor man sich durch die Übertreibung selbst zu Grunde richtet, bildet sie die einzig mögliche Existenzgrundlage für den Geistesmenschen Murau: „ Durchübertreibung schließlich durchübertreibungskunst, die Existenz aushalten, habe ich zu Gambetti gesagt, sie zu ermöglichen. Jeälter ich werde, desto mehr flüchte ich in meineübertreibungskunst, habe ich zu Gambetti gesagt. Das Geheimnis des großen Kunstwerks ist dieübertreibung, habe ich zu Gambetti gesagt, des großen Philosophierens ist es auch, dieübertreibungskunst istüberhaupt das Geistesgeheimnis. “ 47

Als Folge seines Selbstverständnisses ist sicher festzustellen, dass sich Bernhard als Künstler und Philosoph begriff und somit die Übertreibungskunst als Mittel zur Selbstdarstellung und auch zur Basis der wahren Existenz im Sinne der einzig tugendhaften, damit absolut elitären Existenzform, der des Geistes nämlich, nutzte. Daher dominiert das Stilmittel des Outrierens auch in seinem letzten prosaischen Text „Auslöschung“. Vor dem Hintergrund des „Übertreibungsfanatismus“ muss nun die Bernhard’sche Schlussszene gesehen werden, die schon durchaus als die reinste, purste Form der Übertreibungskunst betrachtet werden kann: Murau verweigert sich seines Erbes, des Schlosses Wolfsegg, und verschenkt es an die Israelische Kultusgemeinde, bedankt sich für die Annahme des Geschenks, und ein auktorialer Erzähler erklärt, dass Murau daraufhin 1983 in Rom verstorben sei.48 Die Übertreibungskunst liegt hierbei in der Dramatik, denn Murau verschenkt, sicherlich um einen Versuch zum Abbau der Schuld Wolfseggs zu unternehmen, mit dem Schloss seine Existenzgrundlage und bedankt sich, symbolisch vertreten durch den Dank für die Annahme des Geschenks, für seinen Tod, der als Erlösung begriffen werden kann.

Zusammenfassend ist festzustellen, dass der Titel des Romans, „Auslöschung - Ein Zerfall“das Hauptmotiv darstellt, „denn Auslöschung nennt Murau das Handeln der staatlichen Gewalt („ Die Auslöscher und die Umbringer bringen die Städte um und löschen sie aus und bringen die Landschaft um und löschen sie aus. Sie sitzen auf ihren dickenärschen in den Tausenden und Hunderttausenden vonämtern in allen Winkel des Staates. “ 49 ), Auslöschung ist die Umschreibung für jene schmerzhafte und deprimierende Rekonstruktion der eigenen Lebensgeschichte von früher Kindheit an, Auslöschung aber ist zugleich eine der Romanmetaphern für die Befreiung aus jener Familiengeschichte, in die der Erzähler gänzlich verstrickt ist, und schließlich der Grund des eigenen Schreibens, das in einem einzigen Wort das Selbstbild des Protagonisten ausdrückt.“50

Literaturverzeichnis

Auslöschung - Ein Zerfall, Thomas Bernhard, Suhrkamp Taschenbuch, 1.Auflage

Thomas Bernhard Werkgeschichte, herausgegeben von Jens Dittmer, Suhrkamp Taschenbuch, 2.Auflage

Flaneur - Die Ermöglichung der Lebenskunst im Spätwerk Thomas Bernhards, Dr. Eckhart Nickel, Manutius Verlag Heidelberg, 1.Auflage

Antiautobiografie Thomas Bernhards „Auslöschung“, herausgegeben von Hans Höller und Irene Heidelberger-Leonard, Suhrkamp Taschenbuch, 1.Auflage, darin enthalten:

- „Auslöschung“ als Antiautobiografie. Perspektiven der Forschung, Hans Höller/Matthias Part
- „Die Meinigen abschaffen“. Das Existenzgefüge des Franz-Josef Murau, Manfred Mittermayer
- Ein Versuch. Überlegungen zur Chiffrierung Ingeborg Bachmanns im Werk Thomas Bernhards, Maria Holger Gehle

Thomas Bernhard, Text + Kritik, Zeitschrift für Literatur, herausgegeben von Heinz Ludwig Arnold, 3.Auflage, darin enthalten:

- Die Zeichen des Verfalls. Zu Thomas Bernhards „Auslöschung“ und „Heldenplatz“, Bernhard Sorg
- Dramaturgie der „Übertreibungskunst“. Thomas Bernhards Roman „Auslöschung. Ein Zerfall“, Hermann Korte
- Vita Thomas Bernhard, Willi Huntemann
- Kommentierte Bibliographie zu Thomas Bernhard, Willi Huntemann

Wiedergänger und Kultfigur - Zehn Jahre nach dem Tode Thomas Bernhards ist die Zeit reif für eine Revision seines Werkes und seines Wertes, Sigrid Löffler, aus: Die Zeit online (http://www.zeit.de/1999/7/199907_bernhard1.html )

[...]


1 Auslöschung - Ein Zerfall, Thomas Bernhard, Suhrkamp Taschenbuch, 1.Auflage, 1996, s.18

2 ebenda, S.260

3 ebenda, S.77

4 ebenda, S.193

5 ebenda, S.569

6 ebenda, S.123

7 ebenda, S.103

8 ebenda, S.52

9 ebenda, S.353

10 ebenda, S.521

11 ebenda, S.522

12 ebenda, S.459

13 ebenda, S.34

14 ebenda, S.109

15 ebenda, S.352

16 ebenda, S.44

17 ebenda, S.36

18 ebenda, S.46

19 ebenda, S.208

20 ebenda, S.135

21 An dieser Stelle ist anzumerken, dass die Figur der Maria wohl der realen Person Ingeborg Bachmann nachempfunden ist, die Bernhard als eine der wenigen weiblichen Personen eines Umfeldes respektiert und geschätzt hat, ähnlich, wie der Protagonist Maria als seine „ höchste Dichterin “ bezeichnet.

22 ebenda, S.262

23 ebenda, S.262

24 ebenda, S.337

25 ebenda, S.191

26 ebenda, S.192

27 ebenda, S.190/191

28 ebenda, S.88

29 ebenda, S.316

30 ebenda, S.88

31 ebenda, S.197

32 ebenda, S.199

33 Sigrid Löffler: Wiedergänger und Kultfigur - Zehn Jahre nach dem Tode Thomas Bernhards ist die Zeit reif für eine Revision seines Werkes und seines Wertes, aus: Die Zeit online (http://www.zeit.de/1999/7/199907_bernhard1.html )

34 Auslöschung - Ein Zerfall, Thomas Bernhard, Suhrkamp Taschenbuch, 1. Auflage, 1996, S. 295

35 Bernhard Sorg: Die Zeichen des Zerfalls; aus Text + Kritik, Zeitschrift für Literatur, Herausgegeben von Heinz Ludwig Arnold; 3.Auflage, S. 78ff.

36 Auslöschung - Ein Zerfall, Thomas Bernhard, Suhrkamp Taschenbuch, 1.Auflage, 1996, S.209

37 Hans Höller/Matthias Part: „Auslöschung“ als Antiautobiografie Perspektiven der Forschung; aus: Antiautobiografie Thomas Bernhards „Auslöschung“, Herausgegeben von Hans Höller und Irene HeidelbergerLeonard, Suhrkamp Taschenbuch; 1.Auflage, S.97

38 Bernhard Sorg: Die Zeichen des Zerfalls; aus Text + Kritik, Zeitschrift für Literatur, Herausgegeben von Heinz Ludwig Arnold; 3.Auflage, S.75, mittig

39 ebenda, S.78

40 ebenda, S.83

41 ebenda, S.83

42 Auslöschung - Ein Zerfall, Thomas Bernhard, Suhrkamp Taschenbuch, 1.Auflage, 1996, S.128

43 Hermann Korte: Dramaturgie der „Übertreibungskunst“; aus Text + Kritik, Zeitschrift für Literatur, Herausgegeben von Heinz Ludwig Arnold; 3.Auflage, S.89

44 Auslöschung - Ein Zerfall, Thomas Bernhard, Suhrkamp Taschenbuch, 1.Auflage, 1996, S.105

45 ebenda, S.611

46 ebenda, S.612

47 Hermann Korte: Dramaturgie der „Übertreibungskunst“; aus Text + Kritik, Zeitschrift für Literatur, Herausgegeben von Heinz Ludwig Arnold; 3.Auflage, S.90

48 Auslöschung - Ein Zerfall, Thomas Bernhard, Suhrkamp Taschenbuch, 1.Auflage, 1996, S.650/651

49 ebenda, S.113

50 Hermann Korte: Dramaturgie der „Übertreibungskunst“; aus Text + Kritik, Zeitschrift für Literatur, Herausgegeben von Heinz Ludwig Arnold; 3.Auflage, S.98

Ende der Leseprobe aus 16 Seiten

Details

Titel
Bernhard, Thomas - Auslöschung - Ein Zerfall - Die Kritik am Großbürgertum Österreichs und dessen metaphorische Bedeutung am Beispiel des Buches #
Note
14 Punkte
Autor
Jahr
2002
Seiten
16
Katalognummer
V106265
ISBN (eBook)
9783640045440
Dateigröße
499 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Für jeden Bernhard Kenner interessant, sonst lieber weitersuchen.
Schlagworte
Bernhard, Thomas, Auslöschung, Zerfall, Kritik, Großbürgertum, Bedeutung, Beispiel, Buches
Arbeit zitieren
Clarissa Bartelsmeier (Autor:in), 2002, Bernhard, Thomas - Auslöschung - Ein Zerfall - Die Kritik am Großbürgertum Österreichs und dessen metaphorische Bedeutung am Beispiel des Buches #, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/106265

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