Naturzustand vs. Urgesellschaft


Hausarbeit, 2002

12 Seiten


Leseprobe


1. Die Suche nach der Urgesellschaft: Ein historischer Überblick

1.1. Von der Bibel zur Neuzeit

Die Suche nach der Urform menschlichen Zusammenlebens ist (fast) so alt wie der homo sapiens selbst. In verschiedenen überlieferten Schöpfungsgeschichten finden wir die Erzählung von einem glücklichen Urzustand, dem Paradies.

Hesoid (um 700 vor unserer Zeitrechnung) systematisiert den griechischen Götterglauben und berichtet uns vom anfänglichen Idealzustand der Menschheit.

Platon (427-347 v.u.Z.) greift auf sehr alte, längst vergangene Zeiten und Völker, die Atlanter, zurück, um die Idealgesellschaft zu beschreiben.

Juden und Christen deuten ein Traumbild aus dem Buche Daniel als Prophezeiung für eine absteigende Reihe von Weltreichen.

Allen diesen Theorien und Mythen ist gemeinsam, dass - ähnlich der biblischen Apokalypse - sich der geschichtliche Verlauf der Menschheitsentwicklung vom ursprünglichen Guten zum Schlechten, ja sogar zur Katastrophe hin wendet.

In der Neuzeit spaltete sich diese geisteswissenschaftliche Bewegung in zwei große Gruppen: Den „antiqui“ (den Alten) und den „moderni“ (Fortschrittliche). Während erstere noch der Theorie des „absteigenden Astes“ der menschlichen Sozialisation verfallen waren, beziehungsweise sind, geht die zweite Gruppe einen neuen Weg.

Die „moderni“ nahmen sich die positiven Elemente der „Alten“ heraus und verbanden sie mit den modernen gesellschaftlichen und ökonomischen Begebenheiten.

1.2. antiqui oder moderni?

In welche Gruppe sind nun Rousseau und Marx einzuordnen? Aus Gründen des reiferen Alters, lassen wir zuerst Jean-Jacques Rousseau zu Wort kommen.

Im Folgenden wird aus einer fiktiven Fernsehdiskussion zwischen Thomas Hobbes und Rousseau zitiert:

„Hobbes: Der Naturzustand ist für mich gekennzeichnet durch einen `Krieg eines jeden gegen jeden`. Damit will ich nicht sagen, daß Menschen ohne Staat immer in einem Kriegszustand leben würden, aber sie ständen sich misstrauisch und feindselig gegenüber und wären jederzeit bereit, mit Waffengewalt aufeinander loszugehen. Um bildlich auszudrücken: Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf ...

Rousseau: ... aber das ist doch Unsinn, der Mensch ist von Natur aus gar nicht egoistisch und bösartig, wie ich in meinem `Diskurs über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit der Menschen` gezeigt habe.

Moderator: Herr Rousseau, bitte lassen Sie Herrn Hobbes ausreden. Sie werden gleich Gelegenheit haben, ihre Position darzulegen.“1

Also: Erst die Gesellschaft erzieht den Menschen zu Egoismus und Bösartigkeit.

Rousseau würde die Frage, ob die Entwicklung der Menschheit einen Fortschritt, hinsichtlich der Sitten und Lebensformen zeige, mit einem klaren Nein beantworten. Die Ungleichheit der Menschen, am deutlichsten sichtbar in reichen, kultivierten, aber verkommenen Salonmenschen und ihrem Kontrast zu den schlichten, aber armen Bauern, begann nach Rousseau, als zum erstenmal einer einen Grenzpfahl setzte und sagte: „Dies ist mein Land“ - und die anderen ihm glaubten und nachtaten.

Somit stellt sich Rousseau in die Tradition der „antiqui“. Er verklärt den „Naturzustand“ als das beste gesellschaftliche System. Alle Regierungsformen der modernen Menschheit müssten sich dieser anlehnen.

Im Gegensatz zu Rousseau ist Marx ganz klar den „moderni“ zuzuordnen. Zwar gibt es in der Urgesellschaft, wie er sie sieht, durchaus Elemente, die im idealen Endzustand der Menschheit wiederum erhofft werden - das Fehlen aller Unterdrückung und Ausbeutung von Menschen durch den Menschen, die unmittelbare Produktion-Konsumtion, keine Entfremdung des Menschen von seinem Produkt und seiner Wirklichkeit - aber Marx ist dennoch nicht rückwärts gewandt. Friedrich Engels schreibt in seinem Werk „Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats“, in dem er schriftliche Fragmente des bereits verstorbenen Karl Marx verwendet: „Nach der materialistischen Auffassung ist das in letzter Instanz bestimmende Moment in der Geschichte: die Produktion und Reproduktion des unmittelbaren Lebens. Diese ist aber selbst wieder doppelter Art. Einerseits die Erzeugung von Lebensmitteln, von Gegenständen der Nahrung, Kleidung, Wohnung und den dazu erforderlichen Werkzeugen; andrerseits die Erzeugung von Menschen selbst, die Fortpflanzung der Gattung. Die gesellschaftlichen Einrichtungen, unter denen die Menschen einer bestimmten Geschichtsepoche und eines bestimmten Landes leben, werden bedingt durch beide Arten der Produktion: durch die Entwicklungsstufe einerseits der Arbeit, andrerseits der Familie.“2

So wird bei Marx/Engels die ökonomische Grundlage der jeweiligen Gesellschaftsform berücksichtigt. Somit ist ein Rückschritt in die archaische Urform menschlichen Zusammenlebens nicht mehr möglich.

Um weiter auf die Gemeinsamkeiten beziehungsweise auf die Unterschiede beider Philosophen eingehen zu können, wollen wir uns nun näher mit den Vorstellungen der Urgesellschaft bei ihnen beschäftigen.

2. Der Naturzustand bei Rousseau und der Urkommunismus bei Marx/Engels

Die nun folgenden Ausführungen stützen sich hauptsächlich auf zwei Schriften: Zum einen auf Rousseaus „Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen“ aus dem Jahre 1753, sowie zum anderen auf Engels` Schrift „Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats“ aus dem Jahre 1884. Zwischen diesen beiden Werken liegen also mehr als 130 Jahre. Es liegt dabei auf der Hand, dass sich Rousseau auf Vermutungen und Reiseberichte verlassen musste. Engels dagegen konnte sich auf so berühmte Wissenschaftler wie Darwin, Morgan und Bachofen stützen.

So kann es bei der Lektüre des „Discours“ vorkommen, dass sich der moderne Mensch des 21. Jahrhunderts über Rousseaus Naivität und Schlussfolgerungen belustigt zeigt. Dennoch: Angesichts der Mittel, welche ihm zur Verfügung standen, ist Rousseaus Werk zu Recht zu einem Standardwerk der Gesellschaftslehre geworden.

2.1. Der „Discours“

Für Rousseau besteht die menschliche Gesellschaft nicht von Natur aus, sondern musste zunächst durch Verträge untereinander gestiftet werden. Somit muss es einen Zustand ohne diese Abmachungen gegeben haben, welchen er als „Naturzustand“ bezeichnet. Rousseau versucht nun die zwischenmenschlichen Beziehungen - soweit sie seiner Meinung nach vorhanden waren - und den Lebensrhythmus der ersten Menschen zu ergründen. Denn, „... solange wir den Naturmenschen nicht kennen, werden wir uns vergeblich vornehmen, das Gesetz zu bestimmen, das er empfangen hat, oder jenes, das am besten seiner Verfassung entspricht.“3 Er sucht also im Naturrecht, das natürlich verbriefte Recht des Menschen, um es auf die Gesellschaft seiner Zeit anzuwenden.

Rousseau geht davon aus, dass der Einzelne im Naturzustand nicht nur materiell, sondern auch physisch autark war: „Die Erde, die ihrer natürlichen Fruchtbarkeit überlassen und von ungeheuren Wäldern bedeckt ist, welche niemals die Axt verstümmelt hat, bietet den Tieren jeder Art auf Schritt und Tritt Vorratslager und Zufluchtsorte. Die unter ihnen verstreut lebenden Menschen beobachten ihre Geschicklichkeit, ahmen sie nach und erheben sich so bis zum Instinkt der Tiere, mit dem Vorteil jedoch, daß jede andere Art nur ihren eigenen Instinkt hat, während der Mensch, der vielleicht gar keinen ihm eigentümlichen hat, sie sich alle aneignet, sich auf die gleiche Weise von den meisten der verschiedenen Nahrungsmittel ernährt, welche die anderen Tiere unter sich teilen, und der folglich sein Auskommen leichter findet, als irgendeines von ihnen dies kann.

Von Kind auf an die Unbilden der Witterung und an die Härte der Jahreszeit gewöhnt, geübt im Ertragen von Erschöpfung und gezwungen, nackt und ohne Waffen ihr Leben und ihre Beute gegen die anderen wilden Tiere zu verteidigen oder ihnen durch die Flucht zu entkommen, bilden die Menschen eine robuste und fast unverwüstliche Körperbeschaffenheit aus.“4

Rousseau geht also von „verstreuten“ Individuen aus, welche quasi wie Tiere leben und sogar von ihnen lernen. Allen Widerlichkeiten der rauen Natur zum trotz, hätten sich die Menschen nur zu Paarungszwecken getroffen: „Die Männchen und die Weibchen vereinigten sich zufällig, je nach dem Zusammentreffen, der Gelegenheit und der Begierde, ; und sie gingen mit der gleichen Leichtigkeit auseinander Sobald die Kinder die Kraft hatten, sich ihre Nahrung selbst zu suchen, verließen sie alsbald ihre Mutter; und da es fast kein anderes Mittel gab, sich wiederzufinden, als das, sich nicht aus den Augen zu verlieren, waren sie bald dahin gelangt, sich gegenseitig nicht einmal mehr wiederzuerkennen.“5

Somit wird also sogar die Familie als kleinste Einheit des menschlichen Miteinander in Frage gestellt.

Auch der Ackerbau konnte sich laut Rousseau im Naturzustand nicht entwickeln, denn dieser ist „ganz offenkundig nur in einer wenigstens in den Anfängen bestehenden Gesellschaft zu betreiben“6. Auch hätten die Menschen jener Epoche gar nicht das nötige know how besessen.

Doch wie konnte dann überhaupt ein „Fortschritt“ in Technik und Kultur eintreten? Denn da die Menschen einzeln durch die Wälder zogen, war es logischerweise auch nicht möglich Entdeckungen und Erfindungen an andere weiterzugeben: „Wenn er zufällig eine Erfindung machte, vermochte er sie um so weniger mitzuteilen, als er nicht einmal seine Kinder kannte Es gab weder Erziehung noch Fortschritt; die Generationen folgten nutzlos aufeinander; und indem jede von demselben Punkt ausging, verflossen die Jahrhunderte in der ganzen Roheit der ersten Zeiten; die Gattung war schon gealtert, doch der Mensch blieb immer noch Kind.“7

Die Lösung dieses sich selbst auferlegten Problems, versuchte Rousseau durch eine wahre Meisterleistung geistiger Verdrehung, zu erreichen. Durch Naturkatastrophen sei die bewohnbare Erde geschrumpft, die Menschen sich öfters begegnet und somit hätten sich Wohngemeinschaften und Familien entwickelt.

Soweit zu den gesellschaftlich, ökonomischen Ansichten Rousseaus` über den Naturzustand. Darüber hinaus gestand er dem Menschen drei Haupteigenschaften zu:

1. Die Selbstliebe (amour de soi): Das einzelne Individuum bezieht sich nur auf sich selber und versucht zu überleben.
2. Das Mitleid (pitié): Der einzelne Mensch kann keinen anderen seiner Art leiden sehen.
3. Die Perfektibilität(perfectibilité): Durch sie besitzt der Mensch die Fähigkeit sich weiterzuentwickeln.

Doch da diese drei Eigenschaften nicht geeignet sind die gesellschaftlichen Faktoren zu beschreiben, soll an dieser Stelle nicht weiter darauf eingegangen werden.

2.2. „Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats“

Mit dem „Ursprung“ entstand, wie Lenin bemerkte, „eines der grundlegenden Werke des modernen Sozialismus“8. Diese Arbeit ist die erste umfassende Analyse und geschlossene Darstellung der Gesellschaftsformation Urgesellschaft und des Übergangs zur Klassengesellschaft.

Engels leistete damit einen bedeutenden Beitrag zur weiteren Vertiefung und allseitigen Begründung der materialistischen Geschichtsauffassung. Er verdeutlichte die marxistische Anschauung von der Geschichte der Menschheit als einem Prozess der gesetzmäßigen Entwicklung und Ablösung von ökonomischen Gesellschaftsformationen. Engels periodisiert zunächst die Urgeschichte in enger Anlehnung an die Ergebnisse von Morgan „nach den grundlegenden Fortschritten in der Produktion der Lebensmittel“9. Die beiden Hauptepochen der Urgesellschaft werden als „Wildheit“ und „Barbarei“ bezeichnet. „Die Entwicklung der Familie geht daneben, bietet aber keine so schlagenden Merkmale zur Trennung der Perioden.“10

Die Epoche der Wildheit - untergliedert in drei Stufen - ist der Zeitraum der vorwiegenden Aneignung fertiger Naturprodukte durch Jagd, Fischfang und Sammeln.

Die Epoche der Barbarei - ebenfalls in drei Stufen gegliedert - wird durch den Übergang von der aneignenden Wirtschaftsweise zur Produktion von Naturerzeugnissen eingeleitet. Hauptsächliche Errungenschaften sind die Zähmung und Züchtung von Tieren und die Kultur von Pflanzen, also die Herausbildung von Ackerbau und Viehzucht. Die letzte Stufe der Barbarei, die Oberstufe, beginnt mit dem Schmelzen von Eisenerzen. sie ist an Fortschritten der Produktion reicher als alle vorhergehenden zusammen.

Das Anwachsen von Produktion und Kultur in der Oberstufe der Barbarei bilden die Grundlagen für den Zerfall der Urgesellschaft und den Übergang zur Zivilisation. Denn durch die hier erzeugten Mehrwerte konnte sich zum ersten mal in der Geschichte der Menschheit eine Minderheit diesen auf die Kosten der Mehrheit aneignen.

Engels fasst diese Entwicklungsschritte wie folgt zusammen: „Wildheit - Zeitraum der vorwiegenden Aneignung fertiger Naturprodukte; die Kunstprodukte des Menschen sind vorwiegend Hülfswerkzeuge dieser Aneignung. Barbarei - Zeitraum der Erwerbung von Viehzucht und Ackerbau, der Erlernung von Methoden zur gesteigerten Produktion von Naturerzeugnissen durch menschliche Tätigkeit.“11

Kommen wir nun zur Genese der Familie. Engels sieht diese unter dem Aspekt der Produktion und Reproduktion des unmittelbaren Lebens. Mit zunehmender ökonomischer Kraft verstärkt sich die wechselseitige Abhängigkeit der Entwicklung der Familie und der ökonomischen Basis der Gesellschaft. Engels unterscheidet mehrere Entwicklungsstufen der Familie.

Er bestimmt die erste Familienform zur „Reproduktion des unmittelbaren Lebens“ und „Fortpflanzung der Gattung“ als „eine Form des Geschlechtsverkehrs, die sich nur als regellos bezeichnen lässt“12, wobei Einzelpaarungen auf Zeit nicht ausgeschlossen sind. Die erste Form des menschlichen Zusammenlebens war die Horde. Hieraus sei die „Blutverwandtschaftsfamilie“ als erste Stufe der Familie hervorgegangen. Alle Angehörigen ein und derselben Generation einer Abstammungsgemeinschaft seien einander Mann und Frau gewesen, die Geschwisterehe eingeschlossen: „Alle Großväter und Großmütter innerhalb der Grenzen der Familie sind sämtlich untereinander Mann und Frau, ebenso deren Kinder, also Väter und Mütter, wie deren Kinder wieder einen dritten Kreis gemeinsamer Ehegatten bilden werden, und deren Kinder, die Urenkel der ersten, einen vierten.“13

Als zweite Stufe der Familie bezeichnet Engels die sogenannte „Punaluafamilie“, eine Familie, in der Geschwister vom gegenseitigen Geschlechtsverkehr ausgeschlossen waren. Dadurch sei die Inzucht ausgeschlossen und die biologische Entwicklung des Menschen vorangebracht worden. Hierbei ist die Gruppenehe charakteristisch, das heißt, eine Gruppe von Männern bildete mit einer Gruppe von nichtblutsverwandten Frauen eine Ehegemeinschaft oder Familie. Da in den Gruppenfamilien die Vaterschaft ungewiss blieb, wurde die Abstammung nach der Mutter gerechnet (Mutterrecht).

Die dritte Stufe ist dann die Paarungsfamilie. Hier gibt es bereits ein mehr oder weniger dauerhaftes Zusammenleben unter nichtblutsverwandten Ehegatten. Diese ist die letzte Stufe, welche sich noch innerhalb der Urgesellschaft befindet.

Die Entdeckung der Gens (Abstammungsgemeinschaft; Sippe) erschließt nach Engels die innere Organisation der kommunistischen Urgesellschaft. Seine umfangreichen Studien seien hier nur kurz zusammengefasst:

Die Gens entsteht als gesellschaftliche Einheit auf der Mittelstufe der Wildheit, das heißt bei Jägern und Sammlern. Sie geht aus der mit der naturgeschichtlichen Entstehung des Menschen verbundenen Horde hervor. Engels erläutert das Wesen der Gens am Beispiel der Irokesen. Sie beruht in ihrer ursprünglichen Existenzweise auf Blutsverwandtschaft der Mitglieder, die letztlich auf eine gemeinsame Stammmutter zurückgeführt wird. Die Kennzeichen sind vor allem:

- Demokratische Versammlung aller männlichen und weiblichen Gentilen (Angehörige eines Gens), die unter anderem ihren Häuptling und Anführer in Kriegszeiten wählen. Sie kann ihn auch nach Belieben absetzen.
- Kein Mitglied der Gens darf einen Partner aus derselben Gens heiraten. Der Ehepartner muss einer anderen entstammen. Die Gens beruht also auf Exogamie (Außen-Ehe).
- Die Erbfolge, soweit sie eine Rolle spielt, wird innerhalb der Gens geregelt.
- Hilfe, Schutz und gegenseitiger Beistand zeichnen das Verhältnis zwischen den Angehörigen einer Gens aus.
- Spezielle Namen und Zeremonien charakterisieren die einzelnen Gentes und machen die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gens kenntlich.
- Die Gens kann Andersstämmige, unter anderem Gefangene, adoptieren und so als vollberechtigte Mitglieder bei sich aufnehmen.

Soweit eine stark verkürzte Wiedergabe aus dem „Ursprung“. Für den Verfasser weniger wichtige Aspekte wurden bei Seite gelassen, da diese sonst den Rahmen der vorliegenden Arbeit sprengen würden.

3. Der Vergleich

Wenden wir uns zunächst der Quellenlage beider Autoren zu.

Dabei wird schnell ersichtlich, dass Rousseau klare „Standortnachteile“ besaß. Er konnte sich zum Beispiel noch nicht auf Charles Darwin berufen, der zum ersten mal klar und deutlich die Schöpfungsgeschichte der Bibel widerlegte. Rund 100 Jahre zuvor wäre Rousseau wohl auf einem Scheiterhaufen der Inquisition grausam verbrannt. So verwendete er Reiseberichte aus aller Welt, in denen von den „Wilden“ der Neuen Welt erzählt wurde. Außerdem war er sehr bewandert auf dem Gebiet der antiken Literatur. So wird Rousseau wahrscheinlich auch Caesars „bellum gallicum“ gelesen haben, in dem Caesar seine Begegnungen mit den germanischen und gallischen „Barbaren“ beschreibt.

Auch Engels stützte sich auf Reiseberichte und auf die antike Literatur. Allerdings konnte er sich bereits auf die Vorarbeiten von Charles Darwin und anderer stützen. Auch war gegen Ende des 19. Jahrhunderts der breiten Bevölkerung die Evolutionstheorie ein Begriff und anerkannt. Am meisten jedoch schrieb Engels bei Lewis Henry Morgan (1818-1881), einem amerikanischen Ethnologen, Archäologen und Historiker, ab. Die Einteilung der menschlichen Genesis in Wildheit und Barbarei, sowie die Entdeckung des Mutterrechts, stammen fast ausschließlich von Morgan.

Rousseau, wie auch Engels, suchen im Naturzustand beziehungsweise in der Urgesellschaft den Grund für die Entstehung des Privateigentums. Während bei Rousseau der Erste, „der ein Stück Land eingezäunt hatte und auf den Gedanken kam zu sagen `Dies ist mein` und der Leute fand, die einfältig genug waren, ihm zu glauben“14, als „Übeltäter“ ausgemacht wird, geht Engels wissenschaftlicher an diese komplexe Angelegenheit heran. Dass er die Ursache in der rasanten Entwicklung der Produktivkräfte in der letzten Stufe der Barbarei sieht, wurde bereits unter Punkt 2.2. nachgewiesen.

Beide Philosophen benutzten ihre Nachforschungen aber auch für konkrete Forderungen an ihre und die nachfolgenden Generationen. Wollte Rousseau einen Angleich der sich entwickelnden bürgerlichen Gesellschaft an den Naturzustand, so zeigte Engels, dass es in der Geschichte der Menschheit bereits eine lange Phase ohne den Privatbesitz an Produktionsmitteln gab. Und somit sei die kommunistische Gesellschaft keine Utopie, sondern eine logische Folge der menschlichen Sozialisation.

Die größten Unterschiede sind allerdings in den Vorstellungen über die Gesellschaftsstruktur der Urgesellschaft zu verzeichnen:

Rousseau geht davon aus, dass die Menschheit im Naturzustand aus Einzelgängern bestand, die praktisch mit den Tieren zusammenlebten. Zusammenkünfte ergaben sich rein zufällig oder zur Paarung. Er geht sogar so weit, dass die Eltern ihre Kinder nicht wiedererkannten, nachdem diese ihre Mutter verließen. Da es keinerlei Formen einer Gesellschaft gab, konnten auch keine Erfindungen an die nächste Generation weitergegeben werden. Allerdings gibt es in Rousseaus Beschreibung des Naturzustandes eine gewisse Ähnlichkeit mit der ersten Stufe der Wildheit bei Engels. Jedoch bleibt bei Engels die Menschheit nicht auf dieser Stufe stehen, sondern entwickelt sich weiter. Bei Rousseau ist dies nicht möglich.

Abschließend sei jedoch auf den größten Unterschied hingewiesen: Auf den ideologischen. Rousseau wurde zum Bestseller Autor der bürgerlichen Revolution in Frankreich 1789. Und somit auch zum Theoretiker der bürgerlich-demokratischen Gesellschaft bis in unsere Tage. Dabei darf allerdings bezweifelt werden, ob er hierüber begeistert wäre: Denn schon zu Lebzeiten zeigte er offene Antipathie gegen die aufstrebende Bourgeoisie. Speziell Engels zugewandt, sei nochmals auf das Zitat Lenins unter Punkt 2.2. verwiesen. Seine Schrift gilt unter Sozialisten und Kommunisten in aller Welt als grundlegendes Werk der materialistischen Geschichtswissenschaft.

Wenn auch Rousseau gegen Engels von bürgerlicher Seite her gerne gegeneinander ausgespielt werden, so sei dem Autor an dieser Stelle eine Vermutung gestattet: Wäre Rousseau mit dem „Ursprung“ vertraut gewesen, so hätte er sich seinem Inhalt angeschlossen.

[...]


1 Online im Internet, URL: http://www.dadalos.org/deutsch/Demokratie/Demokratie/Grundkurs2/Klassiker/streitgespraech.html ; Stand: 12.04.2002

2 Engels, Friedrich, Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats. Im Anschluß an Lewis H. Morgans Forschungen, 17. Aufl., Dietz, Berlin 1989, S. 9f.

3 Rousseau, Jean-Jacques, Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen. Reclam, Stuttgart 1998, S.25.

4 ebenda S. 36.

5 ebenda S. 51f.

6 ebenda S. 49.

7 Ebenda S. 69.

8 Lenin, W. I., Werke März -August 1919, herausgegeben vom Institut für M-L beim ZK der KpdSU, Dietz, Berlin 1963, S. 463.

9 Engels, S. 31

10 ebenda

11 ebenda S. 37

12 beide Zitate: ebenda S. 43

13 ebenda S. 47

14 Rousseau, S. 74.

Ende der Leseprobe aus 12 Seiten

Details

Titel
Naturzustand vs. Urgesellschaft
Autor
Jahr
2002
Seiten
12
Katalognummer
V106352
ISBN (eBook)
9783640046317
Dateigröße
404 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Naturzustand, Urgesellschaft
Arbeit zitieren
Thomas Zachmayer (Autor:in), 2002, Naturzustand vs. Urgesellschaft, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/106352

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