Ästhetische Erziehung bei Friedrich Schiller


Seminararbeit, 1998

13 Seiten


Leseprobe


INHALTSVERZEICHNIS

1. EINLEITUNG

2. SCHILLERS ZEITANALYSE
2.1. Schillers Gedanken zur Französischen Revolution
2.2. Schiller vergleicht sein Zeitalter mit der Antike

3. THERAPIEVORSCHLAG
3.1. Der Naturstaat
3.2. Gebote der Zeit
3.3. Die Rolle der Kunst
3.4. Der ästhetische Zustand
3.5. Der Vernunftstaat
3.6. Schillers Auffassung zur Schönheit

4. KANTS EINFLUß AUF DIE PHILOSOPHIE SCHILLERS

5. SCHLUßBEMERKUNGEN

1. Einleitung

Ziel meiner Hausarbeit ist es, Friedrich Schillers (1759-1805) Konzept zur ästhetischen Erziehung in seinen Grundzügen zu beschreiben. Schiller verfaßte 27 Briefe “Über die ästhetische Erziehung des Menschen” und veröffentlichte sie 1795 in den Horen. Diese Schriften sind die überarbeitete Fassung, da die 1793 geschrie- bene Erstfassung bei einem Brand 1794 vernichtet wurde. Die ursprünglichen Briefe schrieb der Dichter an den dänischen Erbprinzen Herzog Friedrich Christian von Holstein-Augustenburg, der von der finanziellen Notlage des deutschen Dichters bewegt, ihm ein Stipendium ermöglichte. Nach der Vernichtung der soge- nannten Augustenburger Briefe entschloß sich Schiller, seine Gedanken noch einmal zu verfassen und zu überarbeiten. Viele Elemente der Augustenburger Briefe flocht er in die erhaltene Fassung “Über die ästheti- sche Erziehung des Menschen” mit ein und vermischte sie mit neuen Gedanken, wodurch es zu “Unstimmig- keiten und Brüchen”1kam.

Diese Schrift ist der dritte Versuch Schillers über “die Schönheit” zu schreiben. Zuvor legte er schon in “Kallias, oder über die Schönheit” (1793) und der Schrift “Anmut und Würde” (1793) seine Überlegungen dar.

Schillers Gedanken zur “ästhetischen Erziehung” sind eine Zäsur in der Philosophie, da der Selbstzweck der Kunst in seinen Gedanken erstmals aufgehoben wird. Kunst ist jetzt das Mittel zur Veränderung! Der Grundgedanke des Dichters ist der Weg zur Freiheit über die Schönheit, die Wandlung des “Notstaates” in einen sittlichen “Vernunftstaat”. Hierzu arbeitet er ein Konzept aus, das durchdrungen ist von seinem Humanitätsideal und dem Glauben an die Entwicklungsfähigkeit der Menschheit. In dieser Veränderung der Gesellschaft sieht Schiller jedoch auch Schwierigkeiten und stellt deshalb fest, daß es eine Aufgabe für mehr als ein Jahrhundert sein wird.

Seine intensive Beschäftigung mit der Philosophie Kants wird in seinen Konzepten immer wieder deutlich und auch der zeitgeschichtliche Rahmen und die französische Revolution beeinflußten seine Überlegungen. Der Schwerpunkt dieser Hausarbeit liegt auf dem Seminarstoff, den Briefen fünf bis zehn, wobei ich auch immer wieder Elemente aus den anderen Briefen aufgreifen muß, da wichtige Erkenntnisse nur in diesem Kontext zu verstehen sind. Dabei werde ich nicht chronologisch vorgehen.

Schwerpunkte sind: “Schillers Diagnose seiner Zeit”, seine Gedanken zur Französischen Revolution und dem Vergleich der Antike mit seinem Zeitalter. Unter der Überschrift ”Therapievorschlag”, versuche ich sein Konzept unter den folgenden Gesichtspunkten darzustellen: “Der Naturstaat”, “Gebote der Zeit”, “Die Rolle der Kunst”, “Der ästhetische Zustand”, “Der Vernunftstaat”, “Schillers Auffassung zur Schönheit”. Schließlich versuche ich den Einfluß Imanuel Kants auf Schillers Philosophie zu beleuchten.

2. Schillers Diagnose seiner Zeit

Von der Entwicklung der Französischen Revolution ist Schillers Konzept beeinflußt, da er die Probleme der grundlegenden politischen Umwälzung sah. Dies wird im Kapitel “Schillers Gedanken zur Französischen Revolution” näher ausgeführt. Auch die Beschäftigung mit der Antike, wo laut Schiller noch eine Einheit zwischen den intellektuellen und emotionalen Fähigkeiten des Menschen, also ein Idealzustand, herrschte, nimmt Schiller in seine Zeitkritik mit auf, um im Vergleich die Mängel seiner Zeit zu verdeutlichen. (“Antike und Schillers Zeitalter”)

2.1. Schillers Gedanken zur Französischen Revolution

Schiller verfaßt seine Briefe fünf Jahre nach dem Ausbruch der Französischen Revolution. Hatte er anfangs diesen Volksaufstand noch hoffnungsvoll betrachtet, weicht seine Zuversicht angesichts der immer brutaler werdenden Bewegung und wandelt sich schließlich in regelrechte Abscheu, so daß er feststellt: “Die losge- bundene Gesellschaft, anstatt aufwärts in das organische Leben zu eilen, fällt in das Elementarreich zurück.”2Schiller will zwar jetzt eine Veränderung des Staatswesens, jedoch auf dem Weg der Erziehung, nicht des politischen Kampfes. Seinem Humanitätsideal entsprechend kann Freiheit nur über die Schönheit erlangt werden, worauf er im fünften Brief näher eingeht. Für das Scheitern der Revolution macht Schiller das man- gelhafte Bewußtsein zur Freiheit, das Fehlen der “moralischen Möglichkeit” sowie die Gesellschaftsstruktu- ren verantwortlich. Er teilt die Gesellschaft in die “niederen Klassen” und die “zivilisierten Klassen”3ein, wobei laut Schiller gerade letztere die Ideale der Aufklärung nicht wirklich verinnerlicht hätten. Schiller ist überzeugt, daß rationale Aufklärung allein die Entwicklung zur Humanität nicht sichern kann. Erst wenn der Mensch die Harmonie in sich selbst wiedergefunden hat, kann politische Veränderung stattfinden. Schiller ließ sich durch die Entwicklung der Französischen Revolution nicht entmutigen. Er sah sich in seiner Überle- gung bestärkt, daß die Entwicklung der inneren Harmonie und damit auch des “Vernunftstaates” nur über den Weg des Ästhetischen möglich ist. Schiller will also die Ideale der Revolution ohne Revolution erreichen.

2.2. Schiller vergleicht sein Zeitalter mit der Antike

Schiller analysiert im sechsten Brief sein Zeitalter, indem er es mit der Antike vergleicht. Im antiken Grie- chenland waren nach Schiller Geist und Sinne, Phantasie und Vernunft noch eine Einheit. Für seine Epoche stellt der Dichter dagegen eine sezierende Trennung dieser Elemente fest. Er beklagt, daß der Mensch nun einseitig sei und besonders intellektuelle und produktive Fähigkeiten gefördert werden, die Phantasie jedoch vernachlässigt und so ein Kampf tobt zwischen “intuitivem” und “spekulativem” Verstand. Er vergleicht den Menschen mit einem “verkrüppelten Gewächs”, da nur einseitige Fähigkeiten ausgebildet werden und ver- deutlicht: “Auseinandergerissen wurden jetzt der Staat und die Kirche, die Gesetzte und die Sitten; der Genuß 3 wurde von der Arbeit, das Mittel vom Zweck, die Anstrengung von der Belohnung geschieden.”4 Der Mensch der Antike ist für ihn ein Ideal und Repräsentant seiner Zeit, während der Mensch seiner Zeit dies nicht mehr sein kann, “Weil jenem die alles vereinende Natur, diesem der alles trennende Verstand seine Formen erteilten.”5

Schuld an dieser Trennung sind laut Schiller die Kultur und Wissenschaft, die Arbeitsteilung und die Staatsform seiner Zeit, die die harmonischen Kräfte im Menschen trennen und die Selbstentfremdung fördern. Besonders die absolutistische Staatsform trägt zu dieser Unfreiheit des Einzelnen bei.

Obwohl Schiller Kritik an der Situation der Gesellschaft übt, sieht er auch Vorteile der Spezialisierung, denn niemals sonst hätte eine Kritik der reinen Vernunft geübt oder ein Trabant des Jupiters entdeckt werden kön- nen, da dazu ein hohes Abstraktionsmaß und somit eine Einseitigkeit nötig sind. Nur durch die einseitige Schulung einer bestimmten Fähigkeit, eines Sinnes kann der Mensch zu solchen Höchstleistungen in einem Bereich gelangen.

Für die Ganzheit ist die Zerrüttung und die fehlende Totalität also ein Vorteil, für das Individuum ein Irrweg, ja sogar ein “Fluch”. Schiller weiß, daß es keinen Weg zurück zum idealen griechischen Zustand, zur “Sim- plizität” gibt. “Die Differenzierung und Spezialisierung war der Preis, den der Mensch für den wissenschaft- lichen und technischen Fortschritt zahlen mußte”.6 Friedrich Schiller will diese “Trennung von Kopf und Herz” aufheben und sucht nach einem Weg zur allseitigen Entwicklung der menschlichen Kräfte, nach einem “ästhetischen Zustand”.

3. Therapievorschlag

Schillers Konzept, wie der Mensch den “Notstaat” in einen sittlichen Vernunftstaat wandeln kann, welche Prozesse er bis dahin durchlaufen muß und welche Mittel ihm dabei helfen können, entwickelt er ausgehend von den Gegebenheiten im Naturstaat, woraus sich dann seine Forderungen zur Veränderung als “Gebote der Zeit” ergeben. Sein Ziel ist der “Vernunftstaat” und der damit verbundene “ästhetische Zustand”. Die Rolle der Kunst und seine Gedanken zur Schönheit sind dabei von besonderer Bedeutung. Interessant ist, daß Schiller sich selbst mit möglichen Einwänden gegen sein Konzept und dem Versuch derer Widerlegung aus- einandersetzt. Dabei werden Schillers Überlegungen stark von der Philosophie Imanuel Kants beeinflußt. Eine abschließende Betrachtung muß daher auch Kants Blickwinkel berücksichtigen.

3.1. Der Naturstaat

Wie bereits oben erwähnt, geht Schiller im fünften Brief davon aus, daß es einen sogenannten “Naturstaat” oder auch realen Staat gibt, der geprägt ist von autoritären Strukturen, in welchem sich der Egoismus ausge- breitet hat. Nur in der Abkehr von jeglichem Empfindungsvermögen glauben die Menschen Schutz vor den “Verirrungen” der Gesellschaft zu finden. Schiller teilt die Gesellschaft des so entstanden “Notstaates” in “niedere” und “zivilisierte” Klassen ein, die in Unfreiheit leben. Die “zivilisierte Klasse” bezeichnet der Dichter im siebzehnten Brief als “erschlafft” d.h. sie ist durch eine gewisse Kultur und Lebensstandard ver- weichlicht, während die “niederen Klassen”, die die Mehrheit einer Gesellschaft stellen, dazu neigen zu ver- rohen und zu “verwildern”. Er bemerkt: ”Aus dem Natursohn wird, wenn er ausschweift, ein Rasender; aus dem Zögling der Kunst ein Nichtswürdiger.”7 Diese beiden Irrwege, die “Rohigkeit” und die “Erschlaffung” sind nach Schiller die Übel der Zeit, da sie einer Weiterentwicklung der Gesellschaft verhindern und die Umwandlung des “Naturstaates” in einen “Vernunftstaat” blockieren. Wie diesen beiden Übeln entgegenge- wirkt werden kann, widmet er grundlegende Ausführungen.

3.2. Gebote der Zeit

Um nun den “Naturstaat” in einen sittlichen Staat der Vernunft zu verwandeln, bedarf es eines Zwischenschrittes. Es muß ein Zustand des Überganges geschaffen werden, die Gesellschaft muß sich ”von ihrer tiefen Entwürdigung erst aufrichten.”8 Besonders die Entwicklung in der Französischen Revolution hat Schiller gezeigt, daß diese Umwandlung nicht einfach zu bewältigen ist und zur Bedingung macht, daß “jeder Mensch, was er von Vernunft wegen tun soll, auch wirklich tun will”.9

Damit die unterschiedlichen Klassen der Gesellschaft die Schönheit überhaupt wahrnehmen können und so zu einem Ausgleich ihrer Kräfte gelangen, müssen sie ihr Empfindungsvermögen ausbilden. “Der Weg zum Kopf muß über das Herz geöffnet werden”10, begründet Schiller seinen Appell. Die “schmelzende Schön- heit” die Schiller in der Musik sieht, soll dann der Anspannung der “niederen Klassen” entgegenwirken, während die “energische Schönheit”, zum Beispiel das Theater, die “Schlaffheit” der “zivilisierten Klassen” korrigieren soll. Der Ausgleich wird dadurch erzielt, daß genau die Sinne angesprochen werden, die sonst bei der jeweiligen Klasse vernachlässigt werden und es so zu einer Harmonisierung kommt.

Als weiteres Gebot an die Menschen seiner Zeit sieht Schiller den berühmten Ausspruch ”saper aude”, mit dem er seinen Zeitgenossen zurufen will: “Erkühne dich, weise zu sein”11denn, obwohl das Zeitalter aufgeklärt ist, sind die Menschen immer noch “Barbaren”. Es mangelt ihnen am Mut zur Freiheit. Vernunft ist für Schiller nicht das alleinige Mittel. Zur positiven Entwicklung ist es für ihn wichtig, daß das Gefühl diese geistigen Vorstellungen vollstreckt.

3.3. Die Rolle der Kunst

Um zu dem Zustand des sittlichen Vernunftstaates zu gelangen, muß die Suche nach der Wahrheit zum “Trieb” werden, “denn Triebe sind die einzigen bewegenden Kräfte in der empfindenden Welt.”12Dieser Überzeugung liegt Schillers Lehre über die Triebe zu Grunde, die er in den Briefen zwölf bis fünfzehn näher ausführt. Seiner Meinung nach kämpfen im Menschen der empfangende “Stofftrieb” als Ausdruck des natür- lichen Daseins gegen den gestaltenden “Formtrieb”, welcher Ausdruck des Geistes ist. Schiller sagt dazu: “Der sinnliche Trieb will, daß Veränderung sei, daß die Zeit einen Inhalt habe; der Formtrieb will, daß die Zeit aufgehoben, daß keine Veränderung sei.”13Durch den Stofftrieb ist eseineWelt, die sich durch den Formtrieb inmeineWelt verwandelt. Wenn ein Trieb die Oberhand erhält, bedeutet das für den Menschen eine Entwicklung zur Einseitigkeit. Den Kampf zwischen diesen beiden Anlagen gilt es zu einem harmoni- schen Ausgleich zu bringen, eine “Wechselwirkung” zu erreichen, die einen weiteren Trieb hervorbringt, den “Spieltrieb”. Auf diese Spieltheorie stützt sich Schillers gesamtes Konzept der ästhetischen Kunst, ja sogar das der “Lebenskunst”. Er betont, daß er nicht dasjenige Spiel meint, das sich auf Materielles richtet, sondern auf ein Ideal. Unter dem Ausdruck “Spiel” versteht er einen Zustand der Leichtigkeit, der, obwohl nicht “zu- fällig”, so doch frei von inneren und äußeren Zwängen ist. Der Gegenstand dieses Idealtriebs ist die “lebende Gestalt”, die Schiller in ihrer Vollkommenheit mit dem Begriff der “Schönheit” gleichsetzt. Dieser Spieltrieb ist für den Menschen der Weg zur Vereinigung seiner sich bekämpfenden Kräfte. Für den Denker ist der Mensch nur in diesem “ästhetischen Zustand”, in der totalen Harmonie der Triebe wirklich frei. “Denn, um es endlich einmal herauszusagen, der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.”14

Das Mittel zur Erreichung dieser Harmonie ist für ihn die Kunst und bedingt auch die Wissenschaft, da sie die einzigen Elemente der Gesellschaft sind, die autonom sein können: “Der politische Gesetzgeber kann ihr Gebiet sperren, aber darin herrschen kann er nicht. Er kann den Wahrheitsfreund ächten, aber die Wahrheit besteht; er kann den Künstler erniedrigen, aber die Kunst kann er nicht verfälschen”.15 In der Kunst erleben die Menschen die Harmonie ihres “Form- und Stofftriebes”, den “ästhetischen Zustand”, den Schiller jedoch nicht nur im Erleben der Kunst verwirklicht sehen will, sondern als Status quo in einem sittlichen Vernunft- staat.

Wie soll nun aber die Einheit genau hergestellt werden? Nach Schiller ist das Mittel die Kunst, die durch den Künstler verbreitet wird. Der Künstler ist der Erzieher der Nation, da er, abgelöst von der Willkür der Men- schen, zwar als “Kind” seiner Zeit lebt, aber nicht als ihr “Günstling”. Er soll nach der Würde und den Geset- zen, nicht nach seinem eigenen Glück streben und so ein Vorbild für die Gesellschaft werden, ihr die “Rich- tung zum Guten” geben. Schiller ist überzeugt, daß dann die Zeit die Entwicklung bringt. Dabei mahnt er den Künstler im neunten Brief zur Geschicklichkeit gegenüber den Menschen, wenn er sagt: ”Ihre Maximen wirst du umsonst bestürmen, ihre Taten umsonst verdammen, aber an ihrem Müßiggange kannst du deine bildende Hand versuchen.”16

3.4. Der ästhetische Zustand

Wenn Schiller den “ästhetischen Zustand” beschreibt, so meint er einen Zustand, in dem sich der Mensch über die Realität erhebt und seine eigene Wirklichkeit schafft, was Schiller den “schönen Schein” nennt. Freude an diesem schönen Schein, der niemals vorgibt, etwas anderes zu sein, als er ist, zeugt also von inne- rer wie äußerer Freiheit. Der “schöne Schein” ist zweckfrei und eine Zusammenführung der physischen und geistigen Seite im Menschen. Im 18. Brief geht er noch einmal auf das zentrale Problem seiner Schrift ein, denn in der Schönheit sind Empfinden und Denken zwei entgegengesetzte Zustände, deren Vereinigung jedoch nicht als Vermischung gesehen werden darf. Diese beiden Zustände müssen seiner Meinung nach aufgehoben werden, um zu einer Synthese, dem “Idealschönen” zu gelangen. “Aus der Einheit der Gegensät- ze ergibt sich die Totalität.”17Aus dieser Bestimmung des “schönen Scheins” entwickelt Schiller im 27. Brief seine Theorie über den “ästhetischen Staat”. Dieser steht dem “dynamischen Staat der Rechte”, in dem ein politischer Antagonismus der Kräfte herrscht und dem “ethischen Staat der Pflichten”, der die Gesellschaft moralisch notwendig macht, gegenüber. Nur im “ästhetischen Staat” wird der Wille des Individuums ver- wirklicht, ist der Mensch frei. Schiller betont auch das kommunikative Element, d.h., daß sich die Menschen über ihre Ideen unterhalten und austauschen, da er überzeugt ist, daß Weiterentwicklung in einer Gesellschaft nur auf diesem Wege möglich ist.

3.5. Der Vernunftstaat

Dieser “ästhetische Zustand” kann nur in Schillers Idealbild von einem Staat, dem “sittlichen Vernunftstaat”, dauerhaft gelebt werden. In dieser Gesellschaftsform, die den “Naturstaat” ablöst, ist der “Staat seinen Bür- gern nicht länger fremd”, sondern es entsteht eine glückliche Beziehung zwischen ihnen. In den Naturstaat ist der Bürger geworfen, hier wird sein “destruktives Potential” kontrolliert, der Mensch ist fremdbestimmt. Nach Schiller darf der Prozeß der Umwandlung einen Staat jedoch nicht zerstören, wie es in der Französi- schen Revolution passierte, sondern die Veränderung muß kontinuierlich erfolgen. Wenn eine Uhr repariert werden muß, so hält man sie zuvor an, bei einem Staat darf dies jedoch nicht geschehen, da sonst die Exis- tenz der Gesellschaft gefährdet würde, bemerkt Schiller. Der Staat muß also weiter funktionieren, die Verän derung muß währenddessen geschehen, “hier gilt es das Rad während seines Umschwunges auszutauschen”18, erläutert Schiller im dritten Brief. Dies gelingt aber nur, wenn der Staat eine “Stütze” für diese Zeit erhält, die Schiller in der Ausbildung der Harmonie zwischen den Trieben sieht. Hier wird nun eine deutliche Dis- krepanz zu den Augustenburger Briefen sichtbar, denn während in der ersten Fassung das Ästhetische nur Übergang zur Moralität ist, (was stark von der Lehre Kants geprägt ist), so sieht Schiller in der zweiten Fas- sung seiner Briefe “die Realisierung des Humanitätsideals als Aufgabe des Individuums und letzten Zweck des Staates”19

In den Briefen “Über die ästhetische Erziehung des Menschen” ist auch die Kunst nicht mehr nur die Vorstu- fe zur Wahrheit, sondern er betrachtet sie als autonom und eigenständig, was sich von seinen Ansichten in der ersten Fassung unterscheidet und ebenso der Auffassung der klassischen Ästhetik widerspricht. Die Ver- treter der klassischen Ästhetik sind überzeugt, daß das Ethische stets einen höheren Stellenwert als das Äs- thetische hat.

Schiller hinterfragt seine idealistische Ansicht bezüglich des Vernunftstaates aber auch und geht im neunten Brief auf den sogenannten “Zirkeleinwand” ein. Diese Theorie geht davon aus, daß sich die Verhältnisse in der Politik nur verändern können, wenn sich zuvor die geistige Einstellung geändert hat. Die Wandlung der Überzeugung ist aber ebenso von den politischen Bedingungen in einer Gesellschaft abhängig. Da sich beide gegenseitig bedingen, entsteht ein scheinbarer Kreislauf, der die Weiterentwicklung sowohl des Geistigen wie auch des Politischen verhindert. Der Ausweg aus diesem Dilemma ist für Schiller die Kunst, da sie autonom ist und sich von keiner gesellschaftlichen Institution wie zum Beispiel der Kirche oder den Vertretern der Wissenschaft beeinflussen lassen muß. Sie vermag ihre eigenständige Wirkung zu entfalten, was nach Schiller der Grundgedanke der ästhetischen Erziehung ist.

3.6. Schillers Auffassung zur Schönheit

Friedrich Schiller wendet sich im 10. Brief sowie in den Briefen 16-18 der Schönheit und deren Wirkung zu. Zunächst diskutiert er einen möglichen Einwand gegen seine Theorie, nämlich die Frage, wie die Schönheit auf eine Gesellschaft wirkt. Schiller stellt fest, daß, wo immer in der Vergangenheit die Künste und die Schönheit in einer Gesellschaft wirkten, es weder Sittlichkeit noch politische Freiheit oder Tugend mit sich brachte. Als Beispiele nennt er die Römer, bei welchen die griechische Kultur erst nach der kriegerischen Unterwerfung durch den Dynasten Einfluß auf ihre Seelen hatte sowie bei den Arabern, denen “die Morgen- röte der Kultur nicht eher aufging, als bis die Energie ihres kriegerischen Geistes unter dem Zepter der Ab- 8 bassiden erschlafft war.”20Der Geschmack regiert nach diesen Beispielen also nur fernab von kriegerischem Geiste und “die Reize des Schönen können in guten Händen zu löblichen Zwecken wirken, aber es wider- spricht ihrem Wesen nicht, in schlimmen Händen gerade das Gegenteil zu tun und ihre seelenfesselnde Kraft für Irrtum und Unrecht zu verwenden.”21Es hängt also davon ab, wie das Element der Schönheit umgesetzt wird und doch sieht Schiller in dieser Energie der Schönheit die wirksamste Antriebskraft alles “Großen und Trefflichen”. Er kommt zu der Erkenntnis, daß jene Schönheit, die in der Vergangenheit eine Rolle spielte, nicht das trifft, was er unter diesem Begriff versteht. Schiller will deshalb einen “reinen Vernunftsbegriff des Schönen” schaffen. Für ihn muß die Schönheit “sich als eine notwendige Bedingung der Menschheit aufzei- gen lassen”22und er will einen “transzendentalen Weg” zur Bestimmung des Schönen gehen. Aus einzelnen Situationen einzelner Menschen soll das Bleibende, Ewige herausdestiliert werden, das dann seinen Begriff von Schönheit begründet. Die Schwierigkeit dieser Aufgabe ist ihm bewußt, doch begründet er den Nutzen dieser Anstrengung damit, daß “wer sich nicht über die Wirklichkeit hinauswagt, der wird nie die Wahrheit erobern.”23

Im 16. Brief beschreibt er noch einmal seine Auffassung, daß das Schöne eine Folge der Harmonie der ge- gensätzlichen Triebe ist, daß dieser Idealzustand jedoch in der Realität nur schwer zu erreichen ist. Für ihn hat die Schönheit zwei Wirkungsarten, die “auflösende”, die beide Grundtriebe in ihren Grenzen hält und die “anspannende”, die wiederum die Kraft der beiden Elemente erhält. Sein Ziel ist es, diese Wirkungsarten zu einer einzigen zu vereinigen, also “Aus Schönheiten Schönheit zu machen”.24Den 18. Brief leitet Schiller mit der Erkenntnis ein: “Durch die Schönheit wird der sinnliche Mensch zur Form und zum Denken geleitet; durch die Schönheit wird der geistige Mensch zur Materie zurückgeführt und der Sinnenwelt wiedergege- ben.”25, woraus er ableitet, daß es einen “mittleren” Zustand geben muß in den uns die Schönheit versetzen kann. Der mittlere Zustand ist jedoch nur der Übergang zur Vollendung. Hier soll es nach Schiller keine verschiedenen Zustände mehr geben. Der Mensch ist dann ganz in der Harmonie und nähert sich auf diesem Wege der totalen, allseitigen Entwicklung und wird so zum freien Individuum, das in Sittlichkeit aber vor allem in Freiheit in einem Staat der Vernunft lebt.

4. Kants Einfluß auf die Philosophie Schillers

Schiller schrieb sein Konzept zur ästhetischen Erziehung des Menschen, nachdem er sich mit der Philosophie Imanuel Kants beschäftigt hatte und er verweist auch selbst auf seine “kantischen” Gedanken. Deshalb soll hier auf dieses Element näher eingegangen werden.

Bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts herrschte in der klassischen Ästhetik die Überzeugung, daß es zur Erzeu- gung des Schönen nur gewisser Regeln bedarf. Wer dieses Regelwerk beherrschte, hatte alle Mittel zur künstlerischen Tätigkeit. Erst durch den Franzosen du Bos entwickelte sich eine “Ästhetik des Gefühls”, die sich gegen die klassische Rationalisierung der Kunst richtete. “Schön” ist ab diesem Zeitpunkt nur, was als schön “empfunden” wird, ganz gleich wie sein objektives Aussehen ist. Das Schöne ist also gleichgesetzt mit dem Angenehmen. Die Philosophie Kants stellt alles Vorausgegangene in Frage; er behauptet, daß beide Gegensätze das Wesen des Ästhetischen nicht beschreiben können. Weder sieht er das Wesen des Schönen durch ein Regelwerk, noch durch Lustgewinn für den Einzelnen richtig beschrieben. Für Kant ist, “was für die Beurteilung des Schönen der Geschmack, für seine Hervorbringung das Genie”26, denn nur das Genie bringt wirkliche Schönheit hervor, da es von der “ästhetischen Idee” beseelt ist. Für den Philosophen ist das Geschmacksurteil also vom Verstand unabhängig.

Wenn Schiller sagt, daß er in den Grundsätzen “kantisch” denke, so meint er damit, daß das Geschmacks- prinzip dem Moralprinzip untergeordnet ist, und doch gibt es Unterschiede in der Bewertung des Ge- schmacksurteils: Während Kant dies auf das Ästhetische reduziert und in seiner Kunstphilosophie sowohl das Politische wie das Moralische nicht so stark zum Tragen kommt, greift Schiller auf die frühere Tradition zurück, macht diese Einschränkung rückgängig und sieht im Geschmacksbegriff oder vielmehr in der dahin- terstehenden Idee einer humanen Gesellschaft “die Wurzel der Theorie des ästhetischen Staates”27. Schiller ist gegen eine Unterordnung des sinnlichen Elements, wie es bei Kant deutlich wird. Nicht die Sittlichkeit, sondern die Freiheit ist Schillers höchstes Ideal. Die Begriffe, die Schiller in seiner Abhandlung über die “ästhetische Erziehung” einführt, gehen über die Entgegensetzung von Schönem und Erhabenen hinaus. Er vereinigt sie zum “Idealschönen”. Für Kant stand die Entwicklung der Menschheit über der Entfaltung des Individuums für Schiller steht jedoch der Einzelne im Vordergrund.

5. Schlußbemerkungen

Schillers Konzept zur “ästhetischen Erziehung” hat mich beeindruckt, da sein humanistisches Ideal und sein Glaube an die Möglichkeit der Schaffung einer “besseren” Gesellschaft sich durch seine gesamte Theorie ziehen. Der für diese Zeit neue Gedanke, durch Kunst und Schönheit den “Notstaat”, in dem die Menschen nicht frei entscheiden und leben können, in einen Staat umzuwandeln, der eine Grundlage zur freien Entfaltung schafft, fasziniert mich. Wenn Schiller die einseitige Entwicklung des Menschen, die Arbeitsteilung und Bequemlichkeit problematisiert, so sind dies Tendenzen, die in unserer heutigen Gesellschaft noch stark wirksam sind und das Individuum vor Konflikte stellen.

Natürlich beruht Schillers Entwurf auf einer Idealvorstellung und es bleibt fraglich, ob die Kunst dies alles wirklich leisten kann beziehungsweise ob die konsequenten Einhaltung seines Konzeptes die Gesellschaft zum “ästhetischen Zustand” geführt hätte. Problematisch war für mich auch Schillers Unklarheit, ob das Ästhetische nun Endziel oder Übergang ist, da ich darin eine wichtige Voraussetzung zum Verständnis seines 10 Konzeptes sehe Allein die Vorstellung und Ausarbeitung einer solchen Theorie, selbst wenn sie nicht voll- ständig umgesetzt wird, ist jedoch ein elementarer Beitrag zur Entwicklung und Verbreitung eines humanisti- schen Ideals.

Friedrich Schillers Konzept regte viele seiner Zeitgenossen zum Nachdenken an und prägte so sein Zeitalter entscheidend. Der Dichter führte Gespräche mit Humboldt, lag im Streit mit Fichte, der Teile seiner Philoso- phie anzweifelte und stand im engen Austausch mit Goethe. Auch heute noch ist Schillers Vorstellung ein interessanter Denkanstoß, der seine Relevanz durch die Jahrhunderte behielt, wie ich in meiner Hausarbeit darzulegen versuche.

Literaturverzeichnis

Düsing, Wolfgang: Friedrich Schiller, ”Über die ästhetische Erziehung des Menschen”, Wien, München, 1981

Hauskeller, Michael: Was ist Kunst?, München 1998

Kindler Verlag GmbH, Kindlers Neues Literaturlexikon, München 1988

Günther, Karl-Heinz; Hoffmann, Franz; Hohendorf, Gerd; Schuffenhauer, Heinz: Geschichte der Erziehung, Berlin,1966

[...]


1 Düsing, Wolfgang, Friedrich Schiller ”Über die ästhetische Erziehung des Menschen”, Wien, Mün- chen, 1981, S.132

2 ebenda, S. 20

3 Erklärung siehe ”Naturstaat”, S. 5

4Düsing, Wolfgang, a.a.O.S. 24

5ebenda, S. 23

6ebenda, S. 153

7ebenda, S. 20

8ebenda, S. 29

9Hauskeller, Michael: Was ist Kunst?, München 1998, Seite. 40

10Düsing, Wolfgang, a.a.O. S. 32

11ebenda, S. 31

12ebenda, S. 31

13ebenda, S. 45

14Hauskeller, Michael: Was ist Kunst?, München 1998, S.43

15 ebenda, S.33

17 ebenda, S.36

16ebenda, S. 162

18ebenda, S. 15

19ebenda, S. 150

20ebenda, S. 39

21 ebenda, S. 38

22ebenda, S. 40

23ebenda, S. 41

24ebenda, S. 60

25ebenda, S.64

26Hauskeller, Michael: Was ist Kunst?, München 1998, S. 37

27 Wolfgang Düsing, Friedrich Schiller, Wien, München, 1981 S. 135

Ende der Leseprobe aus 13 Seiten

Details

Titel
Ästhetische Erziehung bei Friedrich Schiller
Veranstaltung
SS
Autor
Jahr
1998
Seiten
13
Katalognummer
V106421
ISBN (eBook)
9783640047000
Dateigröße
445 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Erziehung, Friedrich, Schiller
Arbeit zitieren
E. Appel (Autor:in), 1998, Ästhetische Erziehung bei Friedrich Schiller, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/106421

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