Lilienthal, Otto - Der Vogelflug als Grundlage der Fliegekunst


Hausarbeit, 2001

38 Seiten, Note: 1


Leseprobe


Inhalt: Seite:

Einleitung .

2. Historischer

Hintergrund

2.1. Biographie und Texthistorischer Hintergrund

2.2. Zeithistorischer Hintergrund

2.2.1. Zur Fluggeschichte

2.2.2. Geschichte der Rechtschreibung

2.2.3. Fremdwörter und Reinheit der deutschen Sprache

2.2.4. Deutsch als Wissenschaftssprache

3. Sprachliche Analyse

3.1. Inhalt des Buchs

3.2. Die Sprache der Wissenschaft

3.3. Spezifische Argumentationsmuster

3.4. Lexikalische und grammatische Auffälligkeiten

3.4.1. Syntax Wortbildung Kompositionen Derivationen

3.5. Stilistische Besonderheiten Animismus Poetisierung

3.5.3. Sprachliche Bilder Schlüsselbegriffe

3.6. Terminologie und Wortschatz Fremdwörter Fachbegriffe

Schlusswort

Literaturverzeichnis

6. Anhang: Kleines Glossar besonders auffälliger Begriffe

1. Einleitung

Ab 1891 führte der Ingenieur Otto Lilienthal als erster Mensch mit selbstgebauten Apparaten erfolgreich Gleitflüge aus. Er lieferte entscheidende Erkenntnisse für das Flugwesen. Otto Lilienthal zieht viele Erkenntnisse aus der Beobachtung der Natur, die Vögel sind seine Lehrmeister, die Natur ist sein Vorbild.

1889 veröffentlichte er seine flugwissenschaftlichen Untersuchungen in dem Buch "Der Vogelflug als Grundlage der Fliegekunst".

Diese Hausarbeit untersucht dieses Buch auf sprachwissenschaftlicher Ebene. Alle Seitenangaben, die in Klammern hinter den Zitaten ohne Fußnoten stehen, beziehen sich auf den Reprint der Originalausgabe (LILIENTHAL, Otto: Der Vogelflug als Grundlage der Fliegekunst. Ein Beitrag zur Systematik der Flugtechnik. Reprint der Originalausgabe von 1889. Dortmund 1982). Beziehe ich mich auf ein anderes Kapitel in dieser Hausarbeit, habe ich die Kapitelnummer und Seitenzahl fett gedruckt.

Das Buch hatte anfangs keinen besonders nennenswerten Erfolg in Deutschland. Die erste Auflage von 1000 Exemplaren war erst 20 Jahre später vergriffen. Als die neue Auflage gedruckt wurde, schien das Problem der „Fliegekunst“ durch die Versuche der Brüder Wright bereits gelöst zu sein.

Es handelt sich hier um ein wissenschaftliches Werk aus dem Bereich Physik und Technik. Die Sprache der Wissenschaft hat im Wesentlichen informierenden Charakter. Dennoch hat Otto Lilienthal in seinem Werk oft poetisierende Ausdrücke benutzt, z.B. ein Gedicht in diesen sachlichen Text eingefügt oder auch unwissenschaftliche Stilmittel benutzt. Diese Poetisierung ist eines der Hauptthemen dieser Arbeit.

2. Historischer Hintergrund

2.1. Biographie und Texthistorischer Hintergrund

Am 23 Mai 1848 wird Otto Lilienthal in Anklam geboren. Seine Familie war schwedischer Herkunft, sein Vater war ein Tuchhändler. Sein Bruder Gustav kam eineinhalb Jahre später zur Welt. Beide hegten großes Interesse für Natur und Technik. Auf das Fliegen kamen sie durch die Lektüre von „Die Reisen des Grafen Zanbeccary“ (ein Luftschaffner, der bei einem Ballonflug in der Adria ertrank).

1862, also mit gerade mal 14 Jahren, baute Otto mit seinem Bruder Flügel, die man sich auf die Arme schnallen konnte.

1864 kam Otto auf die Provinzial Gewebeschule, wo er seine technische Begabung nutzen konnte und das beste Examen machte. Nach einem Praktikantenjahr in der Maschinenfabrik Schwartzkopf begann er das Studium des Maschinenbaus an der Gewerbeakademie in Berlin. 1870 legte er das Examen ab und nahm als Freiwilliger am deutsch-französischen Krieg teil. Nach dem Krieg arbeitete er in einer Berliner Firma, die Dampfmaschinen und Pumpen herstellte.

Die Brüder bauten immer wieder Fluggeräte wie z.B. 1868 das Flügel- schlagflugzeug. Sie opferten all ihre Freizeit und Ersparnisse der Fliegekunst. 1871 zerlegten sie die Flugfrage in Teilprobleme, die sie systematisch untersuchten.

1874 probierten sie einen vogelartigen Drachen mit gewölbten Flügeln mit Erfolg aus.

Mit der naturwissenschaftlich exakten aerodynamischen Erforschung gewölbter Flächen leistete Otto Lilienthal flughistorisch eine Pionierleistung. Die Brüder veröffentlichten ihre Forschungsergebnisse noch nicht, weil die akademische Öffentlichkeit sie noch nicht ernst nahm.

1875 erfand Otto Lilienthal die Schrämmaschine (Schneidegerät zum leichteren Abbau von Kohle). Er stellte sie in seiner eigenen Fabrik her, aber 4 sein Unternehmen scheiterte 1878. Außerdem erfanden die Brüder einen Modellbaukasten für Kinder. Sie verkauften ihn für 1000 Mark, was sich als Fehler herausstellte, denn die „Anker“-Steinbaukästen hatten später sehr großen Erfolg.

In den 80er Jahren entwickelte und baute Otto verschiedene Motoren für Berliner Fabriken.

Er machte sich als Motorenhersteller selbständig. Seine Fabrik beschäftigte 60 Mitarbeiter und verschaffte ihm die nötigen finanziellen Mittel für seine Fliegerei.

1886 traten die Brüder dem 1881 gegründeten Verein zur Förderung der Luftschifffahrt bei und nahmen auch ihre 1875 unterbrochenen Versuche wieder auf. Sie prüften neue Flächenwölbung und Anstellwinkel im Windkanal.

1888 schlossen sie ihre Windkanalprüfungen ab und Otto stellte seine Forschungsergebnisse dem Verein vor.

1889 veröffentlichte er sein Hauptwerk: "Der Vogelflug als Grundlage der Fliegekunst". Die Drucklegung musste er aus eigener Tasche bezahlen. Das Buch wurde sehr zwiespältig aufgenommen, weil über die Verwendbarkeit gewölbter Flächen unter den Fachleuten tiefe Kontroversen herrschten. Aber als Ottos Gleitflüge später die praktische Brauchbarkeit seiner Untersuchungen unterstrich, wurde auch sein Buch besser beachtet.

Bis 1896 wurden in Deutschland erst 300 Exemplare seines Buches verkauft, doch in England und Frankreich fand es zu Beginn der 90er Jahre größere Beachtung und wurde in viele Sprachen übersetzt. Als um die Jahrhundertwende in anderen Ländern mit Flugzeugen erfolgreich experimentiert wurde, gaben die Wissenschaftler ihre Zurückhaltung auf. „Der Vogelflug als Grundlage der Fliegekunst" setzte sich durch, 1910 erschien die zweite Auflage, ergänzt durch eine Biographie von Otto Lilienthal.

Die späteren Auflagen von 1938 und vor allem die Faksimile-Reproduktion von 1943 sind vorwiegend auf die Inanspruchnahme von Otto Lilienthal und seinem Werk durch die Nationalsozialisten zurückzuführen. Im Vorwort einer Lilienthalbiographie von 1936 schreibt Hermann Göring, der „Schirmherr der Lilienthal-Gesellschaft für Luftfahrtforschung“ kategorisch: „Der erste Flieger war ein Deutscher!“(S.222).

1903 verwirklichten die Brüder Wright das erste brauchbare Propellerflugzeug. Wilbur Wright schrieb 1901: „Der deutsche Ingenieur Otto Lilienthal lieferte wohl den größten Beitrag zur Lösung des Flugproblems, der je von einem Mann geleistet wurde.“ (S. 224)

2.2. Zeithistorische Hintergrundinformationen

Externe Rahmenbedingungen hatten großen Einfluss auf die Entwicklung der Sprache. Für uns besonders entscheidend seien hier genannt Industrialisierung, Modernisierung und dabei speziell Technisierung.

2.2.1. Zur Fluggeschichte

Der Traum der Menschheit, wie ein Vogel fliegen zu können, ist beinahe so alt wie die Menschheit selbst. Zahlreiche Wandbilder, Märchen, Mythen und Sagen zeugen davon, wie z.B. die Sage von Ikarus und Daedalus. Erst mit den langsamen Fortschritten von Wissenschaft und Technik konnte der Mensch sich dem Ziel zu fliegen nähern. Zunächst bauten mutige Menschen primitive Geräte, mit denen sie meist abstürzten. Von ihren Zeitgenossen wurden sie verspottet und manchmal sogar verfolgt.

Als 1766 Wasserstoff entdeckt wurde, gedieh die so genannte Luftschifffahrt, das Fliegen „leichter als Luft“. Im Jahr 1783 gelang der erste erfolgreiche Flug eines Gasballons.1

2.2.2. Geschichte der Rechtschreibung

Die orthographische Situation dieser Zeit ist bekannt: eine traditionelle Richtung mit Leuten wie Sanders, eine gemäßigte phonetische mit Raumer. Beide Richtungen waren unterschiedlich präsent in den einzelstaatlichen Regelungsbemühungen. Daneben existierte eine nicht so erfolgreiche historische Richtung mit Vertretern wie Grimm und Weinhold und eine radikal phonetische.

Ab 1871 gewann ein Mann zunehmend an Einfluss: Konrad Duden. Er schrieb 1872 die theoretische Abhandlung „Zur Orientierung über die orthographische Frage“. Er veröffentlichte sie mit einer kurzen Zusammenfassung von Rechtschreibregeln unter dem Titel „Deutsche Rechtschreibung“. Die Position dieser Publikation vertrat er sein Leben lang größtenteils unverändert. Von den damaligen Richtungen war er am ehesten der Raumerschen Partei zuzurechnen. Dudens herausragende Ziele für das Aussehen der Orthographie waren Vereinfachung, Verbesserung, größere Prinzipientreue unter Beachtung des dominierenden phonetischen Prinzips. Aber er war auch für Kleinschreibung und eingedeutschte Schreibung von Fremdwörtern. Er forderte die weitgehende Ersetzung in Fremdwörtern von C in K oder Z.

1876 tagte in Berlin eine große orthographische Konferenz von Experten. Das Ergebnis war ein 1877 erschienenes Regel- und Wörterverzeichnis. Aber eine intensive Pressekampagne verhinderte die politische Durchsetzung der Beschlüsse.

1880 wurde eine neue Rechtschreibung für den preußischen Schulunterricht verordnet, in Übereinstimmung mit dem bayrischen Schulregelbuch. Bismarck bringt Unruhe in die Vorgänge, indem er die Reichsbehörden anweist, bei der alten Orthographie zu bleiben. Aber im deutschen Reich stieg in den 1880er Jahren und 1890er Jahren die Durchsetzungskraft der „Schulorthographie“ mit ihren zwei Flaggschiffen preußisches Regelbuch und Dudensches Wörterbuch gegenüber der Reichsorthographie kontinuierlich an. Nach der zweiten orthographischen Konferenz wurde die vereinbarte Orthographie zügig im ganzen Deutschen Reich, in Österreich und in der Schweiz verordnet. Diese neue, ab 1903 gültige Rechtschreibung nannte man „deutsche Einheitsorthographie“. Obwohl die Konferenzbeschlüsse von 1901 im Vergleich mit den Ergebnissen von 1876 eher als Rückschritt zu interpretieren sind, wurde eine Vereinheitlichung erreicht, wenn auch keine Vereinfachung. Eine Neuregelung war der Wegfall der th-Schreibung bei deutschen Wörtern, weitere Ersetzungen von C durch K oder Z in assimilierten Fremdwörtern und Einzelregelungen wie gieb →gib.2

2.2.3. Fremdwörter und Reinheit der deutschen Sprache

Wenn die deutschen Sprachreiniger der Barockzeit, der Aufklärung und der Romantik die deutsche Sprache von Fremdwörtern zu reinigen versuchten, insbesondere von französischen Fremdwörtern, hatte dies immer eine ästhetisch-stilistische, eine ethische und natürlich auch eine patriotisch- politische Seite.3

Die deutsche Reichsgründung 1871 löste einen Fremdwortpurismus aus. Für den neuen Nationalstaat wurden neue, vereinheitlichende Verordnungen für den Sprachgebrauch in Behörden erlassen. Dies gab Gelegenheit zur Durchsetzung staatlicher Sprachregelungen: die Vereinheitlichung der deutschen Rechtschreibung sowie eine umfangreiche behördliche Fremdwortverdeutschung.

1874 wurden 65 Fremdwörter ersetzt, 1875 noch einmal über 700.

1886 - 1893 wurden 1300 Fachtermini durch den Ausschuss des Verbandes deutscher Architekten- und Ingenieurvereine eingedeutscht.4Die von Otto Lilienthal benutzten Fremdwörter werden in Kapitel 3.5. untersucht.

2.2.4. Deutsch als Wissenschaftssprache

Bis 1800 galt auch in Deutschland Französisch als die Sprache des wissenschaftlichen Fortschritts. In der Zeit der französischen Besetzung von 1794 bis 1814 wirkte in Deutschland die Tendenz zum muttersprachlichen Monolinguismus. In der zweiten Hälfte des 19 Jahrhunderts waren deutsche Universitäten führend, noch 1920 - 1930 war Deutsch auf internationalen 8 Kongressen der Physik (u.a.) führende Weltwissenschaftssprache, dann begann der Aufstieg von Englisch als Weltwissenschaftssprache.5

3. Sprachliche Analyse

3.1. Inhalt des Buchs

„Der Vogelflug als Grundlage der Fliegekunst" ist ein „Beitrag zur Systematik der Flugtechnik“, wie es im Titel heißt. Otto Lilienthal veröffentlicht in diesem Werk eine Reihe von Versuchen und daran geknüpfte Beobachtungen zum Fliegen. Sein Buch ist also wissenschaftlichen Inhalts.

In der Einleitung beschreibt Lilienthal ausführlich mit langen, verschachtelten Sätzen, wie das Beobachten der Vögel eine Sehnsucht zum Fliegen in uns Menschen erweckt. Er schreibt, er wolle in seinem Werk nun wissenschaftlich untersuchen, wie der Vogelflug vor sich geht, und diese Erkenntnisse auch für den Menschen nutzbar machen. Von den Vogelbeobachtungen kommt er auf die Mechanik des Fliegens zu sprechen. Er stellt klar, dass die menschlichen Muskeln zum Fliegen ausreichen müssen, entgegen der damals verbreiteten gegenteiligen Meinung. Lilienthal untersucht verschiedene Flugarten der Vögel (Auffliegen, Ruderflug, Vorwärtsfliegen) und widmet dem Schwebeflug (= Segelflug) dabei das größte Interesse.

In dem gleichnamigen Kapitel erklärt Lilienthal die Fundamente der Flugtechnik, danach folgen viele Berechnungen von Luftwiderstand und Kräften, wobei er auch viele mit seinem Bruder gemachte Versuche anführt. In weiteren Kapiteln beschreibt und berechnet er exakt den Flug der Möwe, dann kommt er auf den Storch zu sprechen, über den er geradezu in Sehnsucht schwelgend seine Beobachtungen beschreibt. Es folgt ein Kapitel über den Ballon als Hindernis und weiteren Kapiteln mit verschiedenen Berechnungen der Flugarbeit. Im vorletzten Kapitel stellt Lilienthal 30 Sätze zur Konstruktion von Fluggeräten auf. Er beendet sein Buch mit einem Gedicht, in dem er beschreibt, an wen sich dieses Buch wenden soll, einer kurzen Zusammenfassung des zur Darstellung gebrachten, einem durch Fettdruck hervorgehobenen Schlusssatz und einem Zitat aus Goethes Faust.

Dieses abwechslungsreich gestaltete Schlusswort ist ein gutes Beispiel und charakteristisch für Lilienthals Stil, wie in den folgenden Kapiteln näher aufgezeigt wird.

Lilienthals Werk ist großzügig illustriert: mit 80 Holzschnitten, 8 lithographierten Tafeln und einem Titelbild in Farbe. Das Titelbild „Kreisende Storchenfamilie“ hat Otto Lilienthal selbst gemalt, die meisten anderen Bilder dienen zur Veranschaulichung des Erklärten. Zu der damaligen Zeit waren derartige Illustrationen sehr teuer und verdienen daher besondere Annerkennung, insbesondere weil Lilienthal die Drucklegung selbst finanzieren musste.

Lilienthal benutzt in seinem Werk auch das formale Stilmittel der Hervorhebung (auch Auszeichnung genannt). Man findet hier Hervorhebungen durch Kursivschreibung, Fettdruck und die Gesperrt- schreibung. Die Variablen (Kleinbuchstaben und Abkürzungen der Berechnungen) schreibt Lilienthal kursiv, einzelne wichtige Wörter, die er hervorheben möchte, wie auch wichtige Schlussfolgerungen druckt er dick (siehe Seite 185). Am häufigsten findet man in Lilienthals Werk jedoch gesperrt gedruckte Hervorhebungen. Beispiele findet man, um nur einige zu nennen, auf den Seiten 34, 60, 70, 84, 185 und sein Gedicht auf Seite 184. Er benutzt die genannten Hervorhebungen um wichtige Stellen, Erkenntnisse, Merksätze, einzelne Schlagwörter oder Grundgedanken optisch deutlich hervorzuheben, so dass sie dem Leser ins Auge fallen, auch wenn er manche Kapitel nur überfliegt.

3.2. Die Sprache der Wissenschaft

Die Sprache der Naturwissenschaft sollte informieren, knapp, aber präzise beschreiben, logisch nachvollziehbare Schlüsse ziehen. Es sollte keine oder kaum persönliche Wertung, Meinung o.ä. darin vorkommen. Damit wissenschaftliche Erkenntnisse weltweit vernünftig ausgetauscht werden 10 können, gibt es heute einen internationalen Standard zum Verfassen wissenschaftlicher Literatur.

Otto Lilienthal hat in seinem Werk dennoch seine persönliche Meinung kundgetan, besonders deutlich in Kapitel 39.: „Der Ballon als Hindernis“. Wie schon der Titel dieses Kapitels aussagt, sieht er die Erfindung des Heißluftballons als „Hemmschuh“ an, denn sie hat die freie Entwicklung der Flugtechnik gehemmt, ihr die finanziellen Mittel „weggenommen“ und die Forschung in die - für Lilienthal - falsche Richtung gelenkt.

Drei Dinge findet man in allen Fachsprachen: Ausweiten und Spezialisieren ihres Wortschatzes und ihrer Begriffssysteme (siehe 3.6.), Vereinfachen des Satzbaus (siehe 3.4.1.) und die sparsame Anwendung von Stilmitteln (siehe 3.5.).6

Die Gesamtheit der Fachworte sowie die Lehre von den Fachworten und den ihnen unterliegenden Begriffen nennt man Terminologie.

Doch je fachlicher spezialisiert der Text ist, um so weniger dürfte er für den Außenstehenden zugänglich sein. Lilienthal wollte aber genau dies erreichen, nämlich dass sein Werk eben auch für Laien verständlich ist. Heute spricht der Physiker in der Regel zum Physiker und nicht zum Laien. Warum sollten Fachleute mehr wollen?7

Otto Lilienthal hat schon im Vorwort von „Der Vogelflug als Grundlage der Fliegekunst" seine Absicht deutlich ausgesprochen, dieses Werk nicht nur für Fachleute zu schaffen, sondern für jeden Gebildeten. Auch hat er darauf hingewiesen, dass er bemüht war, sich in der Hauptdarstellung so auszudrücken, „dass jeder gebildete Laie den Ausführungen ohne Schwierigkeiten folgen kann, indem nur die elementarsten Begriffe der Mechanik zur Erläuterung herangezogen wurden, welche außerdem soviel als möglich ihre Erklärung im Text selbst fanden“(Seite V).

Sieht man sich diesen Gesichtspunkt genauer an, kommt man zu folgender Frage: Hatte Lilienthal denn überhaupt den Anspruch, einen wissenschaftlichen Text zu schreiben?

Oder sind seine Intentionen anders ausgerichtet? Er macht seine Absichten auch anderweitig deutlich: Im Vorwort schreibt er, er möchte „das schon so verbreitete Interesse für die Kunst des freien Fliegens noch mehr (...) heben“(Seite IV). Im Schlusswort betont er nochmals, dass er die Hoffnung hegt, dass „nicht bloss der Fliegeidee, sondern auch der Mechanik als der unumgänglichen Hülfswissenschaft neue Freunde geworben werden,...“(Seite 183).

Und dann, auch im Schlusswort, beschreibt er sogar mit einem kleinen Gedicht, an wen sich dieses Buch wenden soll:

„An jeden, dem es eingeboren, dass sein Gefühl hinauf und vorwärts dringt, Wenn über uns, im blauen Raum verloren, Ihr schmetternd Lied die Lerche singt, Wenn über schroffen Fichtenhöhen Der Adler ausgebreitet schwebt, Und über Flächen, über Seen Der Kranich nach der Heimat strebt.“ (Seite 184) Mit solchen Gedichten, denn Lilienthal hat an anderer Stelle noch ein Gedicht eingefügt, hatte er es sicher schwer, von der Fachwelt der Mechaniker und Physiker ernst genommen zu werden. Er schien mehr Wert darauf zu legen, andere Menschen dazu zu bringen, sich mit dem Fliegen zu beschäftigen, als die Fachwelt zu beeindrucken. Sicherlich hatte er auch einen wissenschaftlichen Anspruch. Im Vorwort z.B. schrieb er, die Fachleute sollten sein Werk lesen, überprüfen und die neugestellten Fragen weiterführen. Dennoch scheint es mir, war es ihm wichtiger, eine solche Begeisterung zu erwecken, wie er sie selbst dieses Thema betreffend an den Tag legte, denn er nahm wohl bewusst in Kauf, dass ein „seriöser“ Leser den Kopf über seine Verse schütteln würde.

Theodor Heuss schrieb in seinen „Studien zum 19. Jahrhundert“ über Otto Lilienthal, dass er mit seinen Versen keine Fußnote in einer deutschen Literaturgeschichte gewinnen konnte, aber dennoch habe die Naivität, mit der sie in dieses fachliche Buch gesetzt sind, nicht nur etwas Rührendes, sondern einen großartigen Zug. Sie gehören einfach zu diesem unbefangenen, herzhaften Mann und seiner Begeisterungsfähigkeit, denn seit seinen Bubenjahren fesselte Lilienthal nur eine Frage: „Wie, wann werde ich fliegen können?“8

3.3. Spezifische Argumentationsmuster

Wissenschaftliche Aussagen werden oft nach den Regeln der traditionellen Logik in Wendungen gekleidet, wie z.B. „wenn...dann!, „da...so...“. Lilienthal hat in seinem Buch verschiedene Formulierungen gebraucht, allgemeine Formulierungen sind z.B.

„ist Festgestellt (S. 27); „an dieser Stelle kann auch darauf aufmerksam gemacht werden...“ (S. 120), „man braucht nur“ (S. 139); „kann man sich vorstellen...“ (S. 141).

Aber er benutzt auch sehr häufig die „didaktischen“ Wir-Formulierungen:

„wir haben zu unterscheiden“ (S. 28), „Wir können dies beobachten“ (S. 29), „Wir werden sehen...“ (S. 39), „Wir können nun annehmen...“, „Wenn wir daher vergleichen wollen...“(S. 119) Damit wird der Leser mehr miteinbezogen, die logische Abfolge von Beobachtungen oder Schlussfolgerungen wird mit ihm gemeinsam durchgegangen.

Teilweise beschreibt Otto Lilienthal Versuche und Beobachtungen, die er mit seinem Bruder Gustav gemeinsam anstellte aber auch in der Wir-Form: „Als wir zuerst mit derartigen leicht gebauten Flächenformen in den Wind kamen...“(S. 122) oder „denn oft sahen wir ihn [den Falken] 13 plötzlich...niederstoßen“. Unterscheiden kann man manchmal die gemeinten Personen des Personalpronomens „wir“ (Gustav und Otto L. oder der Leser und Otto L.) nur am Tempus, nämlich Präsens, wenn er den Leser mit einbezieht und Präteritum, wenn er von sich und Gustav erzählt.

Auch didaktisch-pädagogische Formulierungen, die den Leser mit einbeziehen sollen, sind Interrogativsätze, die ein neues Problem vorstellen, welches im Laufe des Textes dann bearbeitet wird. Beispiel: „Wie kann aber die Erforschung... vor sich gehen?“ (S. 33)

Besonders oft nutzt Lilienthal die Frageform in der Einleitung, wo er den Leser (und insbesondere den Laien) fesseln, seine Begeisterung wecken und ihn für sein Werk gewinnen will: „Wer hätte...niemals bedauert, dass der Mensch bis jetzt der Kunst des freien Fliegens entbehren muss,...? Sollen wir denn diese Kunst immer noch nicht die unsere nennen...? Soll dieses schmerzliche Bewusstsein durch die traurige Gewissheit..vermehrt werden, dass es uns nie...gelingen wird, dem Vogel seine Fliegekunst abzulauschen? Oder wird es in der Macht des menschlichen Verstandes liegen, jene Mittel zu ergründen, welche uns zu ersetzen vermögen, was die Natur uns versagte?“(S. 1-2) Hier werden gleich vier Fragen hintereinander gestellt, denn in der Einleitung soll der Leser neugierig gemacht werden auf den Inhalt des Buches.

Im Schlusswort wie auch an anderen Stellen spricht Lilienthal plötzlich von „dem Verfasser“ (S. 73, 151, 183), er spricht also von sich in der dritten Person.

Übergreifende Argumentationsmuster sind die wissenschaftstypischen logisch aufgebauten Schlussfolgerungen, d.h. erst die Beobachtung, dann der Versuch, dann die Berechnungen mit Schlussfolgerungen.

Diese Theorien werden meist begründet durch diesen Aufbau, d.h. erst die Beobachtung der Natur als etwas Gegebenes, dann das experimentelle Prüfen der Theorie. Im Naturalismus war das Erkenntnisverfahren des wissenschaftlichen Positivismus die experimentelle Beobachtung und Überprüfung von Gesetzmäßigkeiten nach dem Prinzip von Ursache und Wirkung.

Das wichtigste Argumentationsprinzip aber ist die Berufung auf die Natur, denn darauf gehen alle Beobachtungen zurück. Hier hat das Werk seinen Ausgangspunkt, durch die Beobachtung des Vogelfluges wird zur physikalischen Untersuchung der Kräfte angeregt, und hierauf hat Lilienthal sich auch immer wieder berufen:

„Die Natur belehrt uns...“ (S.89) oder „die Natur als unsere Lehrmeisterin (S.74) „Die Natur beweist uns täglich von neuem, daß das Fliegen gar nicht so schwierig ist...“ (S. 70) „Die Beobachtung der Natur ist es, welche immer und immer wieder dem Gedanken Nahrung giebt: Es kann und darf die Fliegekunst nicht für ewig dem Menschen versagt sein.“ (S. 2) “Die Natur entfaltet gerade in diesen Bewegungsformen ...eine Harmonie..., welche uns so mit Bewunderung erfüllen muß, wenn auf anderen Wegen versucht wird zu erreichen, was die Natur auf ihrem Wege so schön und einfach erzielt. (S.154)

Wie wir aus anderen Schriften dieser Zeit wissen, berufen die Autoren sich auf die Natur oder benutzen Naturmetaphern, denn die Naturwissenschaft hatte einen hohen Stellenwert erlangt (vgl. hierzu Kapitel 3.5.4.). Auch bei der Analyse dieses Werkes spielt die Natur eine sehr große Rolle, wir werden immer wieder auf sie stoßen.

Auf Seite 5 beruft sich Lilienthal auf Brehm, diesen „hervorragende Kenner der Vogelwelt“. Lilienthal schreibt über Brehms Schilderungen der Ausdauer von meerbewohnenden Vögeln, die Hunderte von Meilen einem Schiff Tag und Nacht folgen, ohne je Rast auf dem Schiff zu machen. Dieses Berufen auf andere Wissenschaftler bleibt in Lilienthals Werk aber eher die Ausnahme.

3.4. Lexikalische und grammatische Auffälligkeiten

3.4.1. Syntax

Im Satzbau der Fachsprachen zeichnet sich eine deutliche Tendenz ab, die charakteristisch ist: der nominalisierte Stil.9Der Nominalstil vermag eine große Zahl von Mitteilungsgegebenheiten in der grammatisch und syntaktisch einfachsten Weise zu fassen. GERR10 meint, wissenschaftliche Vorstellungen ließen sich im Allgemeinen genauer durch Substantive als durch Verben vermitteln..

Im 19. und 20. Jahrhundert entwickelte sich allmählich eine Tendenzwende von komplexen, verschachtelten Nebensätzen (wie später gezeigt) und zum inhaltlich komprimierenden Nominalisierungsstil, vor allem in fachlicher und öffentlicher Schriftsprache11. Dies kann man auch an Lilienthals Sätzen sehen, allerdings nicht in so hohem Maße, wie es heute praktiziert wird. Beispiele:

„Das Vorhandensein der hemmenden Komponente ol bei der ebenen Fläche war aber das eigentliche Hindernis für die Erzielung von Kraftersparnis durch Vorwärtsfliegen.“(S. 79) Alle unterstrichenen Substantive sind von Verben (sein, hindern, erzielen, ersparen, fliegen) abgeleitet.

Andere Beispiele für substantivierte Verben sind:

„Vorwärtsfliegen“ (S. 66), „Auffliegen“(S. 102,103), „Herabschlagen“ (S. 22), „Herunterschlagen“(S. 23), „beim Flügelheben“(S. 23), „Flügelnieder- schlag“(S. 23), „Das Wiederaufschlagen“(S. 16), „Vorwärtshüpfen“(S. 102) alles Komposita, die aus einem substantivierten Verb und einer meist richtungsangebenden Komponente bestehen.

Interessant sind auch dreigliedrige zur Nominalisierung gebildete Kompositionen wie „Flügelschlagbewegung“ oder „Sichtreibenlassen“. Auch benutzte er oft den substantivierten Infinitiv: „Fliegen“ (S. 57 u.a.), „das Wachsen“(S. 66), „durch...Laufen“(S. binden“(S. 73). Lilienthal benutzt die Nominalisierung auch gerne zur Angabe von bereits gesagten Dingen: „nach Vorstehendem“ (S. 54), „das Gefundene“(S. 32) oder, dann ohne enthaltendes Verb, „nach Früherem“(S. 48).

Funktionsverbgefüge sind die häufigste Form des Nominalstils. Auch Lilienthal hat sie sehr oft verwendet. Beispiele:

„in Anschlag zu bringen“ (S. statt veranschlagen 23)

„zur Anwendung gelangen“ (S. statt anwenden 65)

„zur Anwendung kommen“ (S.66 und 183) „zur Anwendung bringen“ (S.91) „Gebrauch machen“ (S. statt gebrauchen 72) „vor Augen führen“ (S. statt ansehen 80) „in Erscheinung treten“ (S. statt erscheinen 138) „zur Anschauung gebracht“ (S.90) statt zeigen/anschauen „Die Aufstellung...war...gemacht...“ (S.93) statt aufstellen „Erwähnung finden“ (S. statt erwähnen 111) „in Zusammenhang stehen“ (S. statt zusammenhängen 182) „zur Mitwirkung bringen“ (S. statt mitwirken 131) „den Nachweis führen“ (S. statt nachweisen 165)

Diese Funktionsverben sind semantisch fast ganz entleert, wie man am zweiten Beispiel in der Tabelle gut erkennen kann. Sie haben nur noch eine syntaktische Funktion.

Viele Substantivierungen sind der Fachsprache der Physik (aber auch der Umgangssprache) eigen, wie z.B. Widerstand, Drehung, Leistung, Bewegung, Richtung, Hebung, Neigung, Schwankung, Messung. Die meisten dieser Verbalsubstantive werden mit dem Suffix -ung gebildet. Im Vergleich mit den substantivierten Infinitiven haben „-ung-.Substantive“ den Vorteil, dass sie pluralisierbar sind.

Die Syntax wird heute in den Fachsprachen auf eindeutige, einfachste Formen zurückgeführt. Daran hat Lilienthal sich nicht immer gehalten. Sein Satzbau ist so abwechslungsreich wie der Inhalt. Denn auch, wenn sein Werk physikalisch-technischer Art ist, hat er doch oft auch philosophische Elemente darin, oder, wenn er von seinen Beobachtungen schreibt, einen erzählenden (narrativen) Stil. Lilienthals Text ist gerade in diesen Teilen teilweise sehr „unwissenschaftlich“ gestaltet, oder besser gesagt untypisch für einen technisch-wissenschaftlichen Text, denn seine Sätze sind manchmal sehr lang. Teilweise geht ein Satz fast über eine halbe Buchseite, wie z.B. auf Seite 2, ein 17-zeiliger Satz über Naturbeobachtungen. Oft reiht Lilienthal lange verschachtelte Satzkonstruktionen aneinander und lässt dabei zwischen jedem einzelnen Satz einen Absatz (besonders gut zu sehen auf Seite 3, 17 oder 30). Häufig benutzt er dabei erweiterte Infinitive und beginnt mit aneinander gereihten Nebensätzen, bis endlich der Hauptsatz folgt. Ein gutes Beispiel ist der erste Satz der Einleitung. In diesem Satz finden wir viele Nebensätze, die dem Hauptsatz untergeordnet sind (Hypotaxe), sich aber gegenseitig auch wieder unter- oder nebengeordnet sind. Der Satz ist dadurch sehr verschachtelt und kompliziert konstruiert:

„Alljährlich, wenn der Frühling kommt, und die Luft sich wieder bevölkert mit unzähligen frohen Geschöpfen, wenn die Störche, zu ihren alten nordischen Wohnsitzen zurückgekehrt, ihren stattlichen Flugapparat, der sie schon viele tausende von Meilen weit getragen, zusammenfalten, den Kopf auf den Rücken legen und durch ein Freudengeklapper ihre Ankunft anzeigen, wenn die Schwalben ihren Einzug gehalten, und wieder in segelndem Fluge Straße auf und Straße ab mit glattem Flügelschlag an unseren Häusern entlang und an unseren Fenstern vorbei eilen, wenn die Lärche als Punkt im Äther steht, und mit lautem Jubelgesang ihre Freude am Dasein verkündet, dann ergreift auch den Menschen eine gewisse Sehnsucht, sich hinaufzuschwingen, und frei wie der Vogel über lachende Gefilde, schattige Wälder und spiegelnde Seen dahinzugleiten, und die Landschaft so voll und ganz zu genießen, wie es sonst nur der Vogel vermag.“(S. 1)

Am Ende dieses Satzes finden wir viele Infinitivformen (hinaufzuschwingen, dahinzugleiten, zu genießen). Auch finden wir hier Partizipialkonstruktionen: getragen, gehalten, zurückgekehrt (alle Partizip 2), segelnd(-em) (=Präsenspartizip).

Dennoch, man muss Lilienthal zugestehen, dass, wann immer auch etwas kompliziertere Rechnungen oder physikalisch-technische Erklärungen thematischer Inhalt waren, er seine Sätze kürzer und knapper bildete. Wenn es um physikalische Berechnungen oder ähnlich technische Inhalte geht, benutzte Lilienthal etwa 6 Zeilen lange Sätze. Hier hat er sich also relativ (im Vergleich zu seinen Bandwurmsätzen, wenn es um naturphilosophische Betrachtungen oder Beschreibungen geht) an die wissenschaftliche Vorgehensweise gehalten.

Im Schlusswort findet sich ein gutes Beispiel für die von Lilienthal oft verwendeten Partizipialkonstruktionen: „Werfen wir nun einen Rückblick auf das in diesem Werke zur Darstellung Gebrachte, so heben sich darin...“(S. 182). Partizipialsätze werden vornehmlich in der gehobenen Sprache verwendet.12Sie gehören zur Nominalisierung, sofern sie, wie in diesem Beispiel, substantiviert vorkommen.

Lilienthals Sätze haben oft eine Passivstruktur, wobei die Agensangabe oft wegfällt oder formal mit dem inhaltslosen Platzhalter es besetzt wird.

“Es ist dann in diesem Werke der trostlose Standpunkt gekennzeichnet, den die Flugtechnik einnimmt, solange sie...“(S. 184) “Es wurde dann gezeigt...“ (S. 185) “Endlich wurde an der Hand von Versuchsergebnissen der Nachweis zu führen versucht,...“(Seite 185) Es liegt dies an der noch herrschenden Unsicherheit...“ (S. 183) Derartige Passivstrukturen werden besonders in Stilarten und Textsorten wie Sprache der Wissenschaft und Verwaltung, in wissenschaftlichen Abhandlungen und Gesetzestexten verwendet, weil es Formulierungen gestattet, die den Handelnden unbezeichnet lassen.13

Die Syntax der indogermanischen Sprache mit ihrer Subjekt-Prädikat- und der Subjekt-Objekt-Struktur legt dem Menschen Formulierungen wie „der Wind weht“ nahe. „Der Wind weht“ - da haben wir einen Täter und seine Tat, ein Subjekt und sein Prädikat, und beides ist „unphysikalisch“.14In Lienthals Werk finden wir derartige Syntax (und extremere Formulierungen wie „der Wind... der so gern die Früchte unseres Fleißes zerstört“, siehe Kapitel 3.5.1.) aber ebenso wie Passivstrukturen mit Partizipkonstruktionen. Dennoch würde ich sagen, dass die Passivstrukturen auffallend häufig auftreten.

Da das wissenschaftliche Thema oft Hypothesenbildung und Annahmen erfordert, verwendet Lilienthal sehr häufig den hypothetischen Infinitiv. Bei Endstellung (und wenn möglich Zwischenstellung) des Inhaltssatzes ist hier ein Verweisungselement es im Hauptsatz üblich. Der Infinitivanschluss bezeichnet keine Faktizität, sondern setzt den Inhalt des Satzes als angenommen, bloß denkbar oder hypothetisch.15 “Es liegt nahe, nach Flügelformen zu suchen...“(S. 75) “Es liegt in der Absicht, diejenige Flächenform zu finden...“(S. 75) “Es kommt ..darauf an, eine Flächenform zu finden...“(S. 75)

3.4.2. Wortbildung

3.4.2.1. Kompositionen

Am vielfältigsten sind in diesem Werk die Kompositionen mit den Stammwörtern Flug und Flieg- und dem Derivat Flügel. Schon im Titel fällt einem das Kompositum Fliegekunst auf. Heute hätte man diese Komposition eher mit dem Derivat Flug gebildet: Flugkunst, wie auch andere heute geläufige Komposita (z.B. Flugplan, Flugfunk, Flughöhe). Und das, obwohl das Stammmorphem Flug von Lilienthal an anderen Stellen verwendet wurde, wie z.B. in der Überschrift von Kapitel 11. : „Die Kraftleistungen für die verschiedenen Arten des Fluges“. Andere Komposita wurden hier auch mit dem Stammmorphem Flug gebildet, wie z.B. im Untertitel : „Ein Beitrag zur Systematik der Flugtechnik“.

Ich vermute die Komposition von „Fliegekunst“ ist auf den Ausdruck „die Kunst des Fliegens“ (nicht: des Fluges) zurückzuführen. Dennoch hätte hier die Umsetzung mit dem Morphem Flug stattfinden können, wie z.B. auch bei „fliegende Blätter“ zu „Flugblatt“.

Auch möglich wäre, dass sich der Titel dann einfach nicht so wohlklingend angehört hätte, denn es kommt auch das Kompositum Vogelflug im Titel vor.

In der folgenden Tabelle habe ich einige der am häufigsten verwendeten Komposita aufgelistet:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Man erkennt die Tendenz: Kompositionen mit Flügel kommen am häufigsten vor, während die Kompositionen mit Flieg- am rarsten sind. Heute kommen sie so gut wie gar nicht mehr vor, außer mit Flieger- oder mit Fliege in semantisch anderem Zusammenhang (z.B. das Tier Fliege). Die Komposition Flugfrage hat hier noch einen anderen Hintergrund: Kompositionen mit dem Lexem Frage waren zu dieser Zeit sehr beliebt (vgl. andere Seminarthemen, wo die Kompositionen Frauenfrage, Judenfrage usw. häufig und gerne benutzt wurden). Alles, was ein komplexes Problem darstellte, wurde als „...-Frage“ zusammen gefasst. In Bezug auf das Fliegen hat die Komposition allerdings keine so große politische Bedeutung. Auf Seite 155 nennt Lilienthal übrigens die Flugfrage dann auch Fliegeproblem.

Auf Seite 157 benutzt Lilienthal das Kompositum Flugmaschine. Das heute gebräuchliche Kompositum Flugzeug ist erst später nach dem Vorbild des Kompositum Fahrzeug entstanden.

Viele Kompositionen werden mit Verben gebildet. Einige Beispiele dafür stehen in Kapitel 3.4.1. auf Seite 14, da sie von mir als Beispiele für den Nominalstil verwendet wurden.

Auch von Lilienthal verwendete Komposita sind die aus Adjektiv und Verb gebildeten: z.B. „schwachgewölbt“ (S. 77), schwachgekrümmt“ (S. 77). Am häufigsten finden wir jedoch, dem Nominalstil entsprechend, Substantive.

3.4.2.2. Derivationen

Ein auffallendes temporales Derivat ist z.B. „sekundlich“(S. 9), was man nicht sehr oft hört. Heute gibt es auch noch sekündlich, beide werden allerdings nicht besonders oft verwendet in der Alltagssprache. Abgeleitet wurde es wie das gebräuchlichere Derivat „stündlich“ oder „täglich“. Interessant hieran auch der Wechsel des Stammvokals (Stunde-stündlich, Tag-täglich, Sekunde-sekündlich, bei Lilienthal aber abweichend sekundlich).

Eine weitere Derivation ist „Erschwerung“(Seite 104), eine resultative Zustandsbezeichnung. Sie wurde wahrscheinlich parallel gebildet zu ihrem Gegensatzwort Erleichterung, heute auch noch existent neben der konkurrierenden (und heute eher gebrauchten) Derivation Erschwernis. Eine anderes Beispiel für den Wandel des Gebrauchs der Derivate in der Umgangssprache findet man auf Seite 4: „Jedoch diese geringe Dichtigkeit der Luft...“. Hier haben wir das Adjektiv „dicht“ als Basis (mit dem Suffix „-ig- keit“). Heute hat es sich in der Fachsprache der Physik mit dem Suffix -e als „Dichte“ eingebürgert (das konkurrierende Derivat Dichtigkeit gibt es aber auch noch), obwohl laut dem Grammatikduden das Suffix -e in der Gegenwartssprache fast unproduktiv geworden ist für die Eigenschaftsabstrakta. Lilienthal hat diese Derivation also sehr fortschrittlich gebildet. „Dichte“ wird im Duden als eine veraltete Derivation beschrieben.16

3.5. Stilistische Besonderheiten

In diesem Kapitel geht es um die Stilmittel der inhaltlichen Ebene. Grammatische Stilmittel wurden in Kapitel 3.4.1. „Syntax“ beschrieben, die formalen Stilmittel in Kapitel 3.1. „Inhalt des Buches“.

Der Informationsgehalt eines Textes kann um so höher sein, je weniger bildhafte Ausdrücke (Punkt 3.5.3.) er enthält. Der Wissenschaftler und Techniker greift nur selten zu besonderen Stilmitteln. Metaphorische Wendungen oder ironische Ausdrucksweisen würden die von ihm geschätzte Klarheit der Darlegung beeinträchtigen, und seine Tatsachen eigenen sich selten zu dramatischen Zuspitzungen.

Ein Wissenschaftler wählt bestimmte Wortvorstellungen und Stilmittel, die seine Aussagen prägnanter machen, dennoch haben diese in der naturwissenschaftlich-technischen Literatur weniger Gewicht als bei anderen Textgattungen.

3.5.1. Animismus

In der frühgeschichtlichen Zeit haben die Menschen rein animistisch gedacht. Sie lebten in Verwandtschaft mit einer beseelten Natur.

Berühmte Physiker reden teilweise animistisch, d.h. leblose Dinge werden personifiziert. Newton z.B. schreibt, dass die Pole zweier Magneten einander antworten. Sogar Einstein spricht 1906 in einem Brief an den Physiker Sommerfeld von Elektronenkindern.17

Animistische Rede ist teilnehmende Rede, eine Redeweise also, von den leblosen Dingen zu sprechen, als wären sie etwas wie wir, wie „Du und Ich“.18

Ein derartiger Stil wird heute in der Physik oft kritisiert. Pädagogik kommt in der reinen Physik nicht vor und hat hier auch nichts zu suchen. Martin Wagenschein schreibt, es sei einfach seine Erfahrung, dass das animistische (oder auch anthropomorphistische) Reden den Zugang zur Physik erleichtert. Und dies war doch eine zentrale Absicht von Lilienthal, den Zugang zur Physik auch den Laien zu erleichtern. In seinem Buch habe ich mehrere Beispiele für animistische Rede gefunden, oft als unwissenschaftlicher Stil kritisiert, aber wie eben gezeigt dennoch Lilienthals Intention entsprechend wohl gewählt. Besonders oft wird die Natur personifiziert, die als Bezugspunkt eine sehr große Rolle spielt (vgl. hierzu Kapitel 3.3. und 3.5.4.).

Beispiele:

„dass die Natur auch im Pflanzenreich den Vorteil gehöhlter Flügel ausnützt,...“(S. 129)

„...die Natur als unsere Lehrmeisterin“ (S. 74) „...das mütterliche Meer...“ (S. 106)

„wie zweckbewusst die Natur hierbei zu Werke ging...“(S. 145) „den Wind, diesen unstäten Gesellen, der so gern die Früchte unseres Fleißes zerstört“ (Seite 186)

„...die Luft sich wieder bevölkert mit unzähligen frohen Geschöpfen...“ (Seite 1)

„...obwohl die Erde ihn ebenso an sich zu ziehen und festzuhalten sucht wie ihre nicht fliegenden Lebewesen“ (S.8)

„...unser Ohr verrät uns...“ (S. 85)

Auch sehr häufig personifiziert Lilienthal Tiere, hier vor allem die so oft als Vorbild und Lehrmeister herangezogenen Vögel. Beispiele: „...weil der Storch die Inzucht hasst...“(S. 151)

„...hat er [der Storch] Freude an des Menschen Wirken und Schaffen?“ (S. 150)

“...die...Möwe wird dem geübten Beobachter verraten...“ (S. 140)

3.5.2. Poetisierung

Wie schon in Kapitel 3.1. beschrieben, benutzt Lilienthal in seinem Buch oft auch eine poetisierende Ausdrucksweise, die sogar so weit geht, dass er eigene Verse mitten in den fachlichen Text einfügt. Als bestes Beispiel das Gedicht über den Storch, auf welches man im Kapitel 38.: „Der Vogel als Vorbild“ plötzlich stößt. Hier steht ein sieben Strophen langes Gedicht über den Storch, „der eigens dazu geschaffen scheint, um in uns Menschen die Sehnsucht zum Fliegen anzuregen und uns als Lehrmeister in dieser Kunst zu dienen.“ Der Storch hält aus den Lüften eine mahnende Ansprache, die zunächst den mühelosen Genuss des Schwebens zwischen Himmel und Erde beschreibt und den Menschen fragt: »Wann löst sich dein Fuß von der Erde?«19 Ein weiteres Gedicht ist in Kapitel 3.2. zitiert. Man erkennt besonders am Gedicht vom Storch, dass Lilienthal nicht das einfachste Verspaar, d.h. die Verbindung zweier Verse durch Endreim gewählt hat. Seine Gedichte sind also mehr als nur simple Reimpaare.

Auf Seite 186 stößt man plötzlich auf ein Goethezitat: „Ach, zu des Geistes Flügeln wird so leicht Kein körperlicher Flügel sich gesellen!“

Es verstärkt den Eindruck der emotionalen Sehnsucht. Gerade auch bei Goethe findet man eine Verschmelzung rationaler und romantischer Elemente.20

Weitere poetisierende (dichterisch ausschmückende) Ausdrücke sind z.B. „die grüne Fläche des Morgens...“(S. 152) „die Kunst des freien Fliegens“(S. 1), eine Kollokation

“...wenn der herrliche Himmel der warmen Jahreszeit uns in seine Räume lockt, den Anblick seiner [des Storches] Fittige mit ihren weichen, schönen Bewegungen zu unserem Fliegestudium darbietet.“ (S. 150)

„Schauen wir zu der Möwe, welche ...fast regungslos im Winde schwebt! Die eben untergehende Sonne wirft den Schlagschatten der Kante ihres Flügels auf die schwach gewölbte, sonst hellgraue, jetzt rot vergoldete Unterfläche ihrer Schwingen.“ (S. 186)

An diesen Beschreibungen erkennt man einen romantischen, lebendigen, schwärmerischen und eher narrativen als wissenschaftlich-sachlichen Stil. Hier kann man noch einmal den ersten Satz der Einleitung heranziehen, der in seiner Wortwahl auch romantisch anstatt technisch daherkommt: „...über lachende Gefilde, schattige Wälder und spiegelnde Seen dahinzugleiten...“/ „hinaufzuschwingen“/ „zu genießen.“(S. 1, zitiert auf Seite 16)

Angesichts der Funktion eines naturwissenschaftlichen Textes ist diese Wortwahl eigentlich unangebracht: in Bereichen der Naturwissenschaften und Technik hat die Darstellungsfunktion (auch inhaltsvermittelnde Funktion genannt) stets den Vorrang vor der ästhetischen und affektiven Funktion. Nach HAYAKAWA sei die Anwendung der Sprache als affektiv bezeichnet, mit welcher Gefühle angesprochen und Empfindungen ausgelöst werden.21Genau dieses entspricht aber meiner Meinung nach Lilienthals Intention (siehe hierzu Kapitel 3.2. Die Sprache der Wissenschaft).

Wichtig ist auch die Art, wie Lilienthal die Flugfrage bzw. das Fliegeproblem darstellt, nämlich auch eher von Geheimnis und Rätselhaftigkeit durchdrungen (also wieder romantisch und poetisiert), als wie eine wissenschaftlich systematisch lösbare Aufgabe. Beispiele:

„...so erinnert jeder Vogel, jede dahinsegelnde Schwalbe uns wieder daran: Die Rechnung kann noch nicht stimmen...; es muß irgendwo noch ein

Geheimnis verborgen sein, ...“ (Seite 70)

„ den Geheimnissen des Luftwiderstandes... “ (Seite 85)

„...die Rätsel der anderen Fliegearten zu lösen...“ (Seite 32)

„...nach und nach einige Rätsel ihres [der Möwe] schönen Fluges

entziffern.“ (Seite 137)

3.5.3. Sprachliche Bilder

Wissenschaftliche Werke sind rationaler Anschauung und orientieren sich an der Wirklichkeit. Deshalb zeichnet sich, wie in Kapitel 3.5. bereits beschrieben, die Sprache der Wissenschaft durch sehr sparsame Anwendung von sprachlichen Bildern oder anderen Stilmitteln aus.22

Sprachliche Bilder oder Metaphern findet man in Lilienthals Buch nicht so häufig wie in nicht-wissenschaftlichen Werken dieser Zeit, im Vergleich mit wissenschaftlichen Texten jedoch relativ häufig. Auch benutzt er die oft unbewusst gebrauchten Metaphern der Umgangssprache (z.B. „Früchte des Fleißes“, Seite 186).

Lilienthal verwendet Bilder und Beispiele aus dem Alltag, um den Leser auf physikalische Phänomene aufmerksam zu machen. Er benutzt hierzu beispielsweise das Bild von Wäsche auf der Wäscheleine (S. 127) und stellt dieses Bild nicht nur sprachlich, sondern sogar graphisch dar (S.128). Damit verbindet er geschickt die Welt der Physik mit den Alltagserfahrungen des Lesers. Allerdings handelt es sich hier mehr um ein Beispiel als um eine Metapher. Diese Bilder nennt er auch explizit so: „ebenfalls ein treffendes Bild von der Luftbewegung...“ zeigt „die Linie, welche der, den hohen, freistehenden Fabrikschornsteinen entströmende Rauch in der windigen Luft beschreibt...“ (Seite 118). Ein anderes Bild zur Veranschaulichung eines Sachverhalts ist beispielsweise „die Luft in Wellen“ (S. 89).

Einfach strukturierte sprachliche Bilder sind z.B.:

„...und dass auf diesem Forschungsgebiet, wo fast jeder systematisch ausgeführte Spatenstich Neues zu Tage fördern muss,...“ (Seite 157) „...tragen die hier zum Ausdruck gelangten Gesichtspunkte dazu bei, die Flugfrage auf eine andere Bahn und in ein festes Geleise zu bringen,...“ (Seite 185)

„...welche dem Durchschneiden der Luft...“ (Seite 6)

“...Federkleid des Vogels...“ (Seite 3)

„...dass der Vogel zu einem Drachen wird, der nicht nur keine Schnur gebraucht, sondern sich...“ (Seite 133)

3.5.4. Schlüsselbegriffe

Auch eher etwas spärlich verhält es sich mit Schlüsselbegriffen, d.h. Fahnenoder Stigmawörtern.

„Natur“ ist ein Hochwertwort, denn die Naturwissenschaft machte damals große Fortschritte und wurde daher hoch angesehen, wie ich schon ausführlich beschrieben habe. Dies fällt auch an anderen Texten dieser Zeit auf. Natur war ein Zentralbegriff der Aufklärung. Dasselbe gilt für den Begriff „Technik“ (siehe hierzu auch 6. Glossar), auch als Kompositum „Flugtechnik“ verwendet, der zu dieser Zeit eine Popularisierung erfuhr. Die Industrialisierung bewirkte einen Fortschrittsoptimismus, die Technisierung brachte den Menschen viele Erleichterungen.

„Der freie Flug“(ab S. 1) beinhaltet das Adjektiv „frei“, ein positiv besetztes Schlüsselwort oder sogar Fahnenwort der Revolution, was in diesem Zusammenhang allerdings etwas weit interpretiert wäre.

3.6. Terminologie und Wortschatz

3.6.1. Fremdwörter

Beispiele der von Lilienthal benutzten Fremdwörter gibt es einige, hier sind nun ein paar aufgelistet:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Lilienthal bildet mit den Fremdwörtern auch Kompositionen wie z.B. „Luftwiderstandscentrum“, „Centrumslage“ (beide Seite 38) oder „Luftocean“ (Seite 156).

Obwohl Lilienthal politisch nicht gerade neutral war (er nahm freiwillig am Deutsch-Französischem Krieg von 1870/71 teil), schloss er sich nicht dem Fremdwörterpurismus an, der nach der Reichsgründung einsetzte. Das wundert nicht, denn gerade die Fachsprachen hatten es schwer, ohne Fremd- und Lehnwörter auszukommen (siehe 3.6.2.).

Dennoch, manchmal hätte Lilienthal auch den deutschen Begriff anstelle des Fremdwortes benutzen können, z.B. „Grundlagen“ statt „Fundamente“ oder „Mittelpunkt“ statt „Centrum“.

3.6.2. Fachbegriffe

Der Wortschatz der Physik ist erst im 18. und 19. Jahrhundert entstanden und wurde in der ersten Hälfte des 20 Jahrhunderts weiter ausgebaut.23Das rührt daher, dass ihr Wortschatz vor allem über das Buch, die Zeitung und den Rundfunk eine Popularisierung erfuhr, und ungleich stärker als früher Allgemeinbesitz wurde, besonders auf den Gebieten der Naturwissenschaften und der Technik.24 Vielfach greift man zunächst zu Entlehnungen aus Fremdsprachen.

Kennzeichnend für den physikalischen Wortschatz sind Experimente, bei denen mit zunehmender Genauigkeit die verschiedenen Größen gemessen wurden, die wir „physikalische Konstanten“ nennen. Auch die Variabeln der Berechnungen, d.h. die symbolische Beschreibung („L=0,13.F.v2“) sowie auch die sprachliche (Der Luftwiderstand nimmt mit der Flächengröße zu und wächst mit dem Quadrat der Geschwindigkeit, „wozu noch ein konstanter Faktor hinzutritt...“, Seite 34,35) sind Ausdrucksweisen der Fachsprache.25

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Alle diese Begriffe sind zwar Teil der Fachterminologie der Physik, aber trotzdem noch nicht so fachspezifisch, als dass man ein Physikwörterbuch heranziehen müsste. Man kann sie im Fremdwörterlexikon nachschlagen. Die Fachtermini der heutigen Wissenschaftssprache sind nicht mehr so leicht überschaubar. Mit der Spezialisierung und Aufteilung in wissenschaftliche Teilgebiete (z.B. Mechanik, Kinetik, Dynamik, Optik, Atomphysik) hat sich auch die Fülle des Wortschatzes vergrößert. Ein Atomphysiker von heute hätte es beispielsweise schwer, in einem Buch, dass sich an „den Laien“ richtet, seine neuen atomaren Erfindungen allgemeinverständlich und dennoch detailgenau vorzustellen.

Aus der Sicht des Laien wird die Fülle des Wortschatzes in den Fachsprachen zur Überfülle. Der heutige verfügbare Gesamtwortschatz der Medizin z.B. wird, die medizinischen Begriffe aus den Nachbargebieten wie Physik usw. mitgerechnet, auf 500 000 Termini geschätzt. Nur etwa 500 davon sind umgangssprachlich, also in der Sprache der Laien präsent.26

4. Schlusswort

Sieht man sich die Ergebnisse dieser Untersuchungen an, haben sie fast alle eines gemeinsam: den Gegensatz Wissenschaft/Poesie. Dem Zweiteren sind Untersuchungsgegenstände zuzuordnen wie lange, ausgeschmückte Sätze/Hypotaxe, Animismus, Gedichte (Poesie). Dem Wissenschaftsstil sind Nominalisierung und die Anfänge der Entstehung eines Fachwortschatzes zuzuordnen.

Das poetische Element in Lilienthals Werk ist leicht zu erklären, wenn man das Werk nicht nur vom heutigen Standpunkt aus betrachtet, sondern auch die Umstände der damaligen Zeit mit in die Betrachtung einbezieht (siehe Kapitel 2).

Lilienthals Interesse am „Fliegen wie ein Vogel“ entstand schon in seinen Bubenjahren. Der große Menschheitstraum vom Fliegen hatte ihn schon als Kind gefesselt und er war für Lilienthal verbunden mit einer Art Abenteuerromantik. Seine Motive waren daher durchdrungen von idealistischen Vorstellungen, eine von leidenschaftlichen Gefühlen und Sehnsucht getriebene Begeisterung für dieses Thema hatte ihn ergriffen. Diese Begeisterung kommt besonders zum Ausdruck im Vorwort, der Einleitung, im Schlusswort und in den Kapiteln, in denen er seine eigene Meinung deutlich macht (genauer siehe Kapitel 3.1) und schwärmerisch seine Beobachtungen schildert. Sein Interesse am Fliegen war also stark emotional geprägt, wie der Text oft erkennen lässt. Wie Lilienthal in dem von mir auf Seite 10 zitiertem Gedicht beschreibt: „...Daß sein Gefühl hinauf und vorwärts dringt,...“ (Seite 184), so drängte ihn auch sein eigenes Gefühl hinauf in die Lüfte.

Ein weiterer Punkt ist, dass die popularisierte Darstellung eines technischen Themas zu dieser Zeit etwas völlig Neues war. Deshalb ist die stilistische Vermischung eine geschickte Methode, denn hier konnte etwas völlig Unbekanntes (für den Laien verständliche angewandte Wissenschaft) neu eingeführt werden mit etwas Bekanntem (Poetisierung, narrativer Stil). Besonders der Bezugspunkt Natur darf hier also poetisierend dargestellt werden.

Auch war damals die Naturwissenschaft enger verbunden mit der Naturphilosophie. An die Stelle von Aberglaube und Dogma traten erst allmählich Vernunft und Logik. Das systematische Sammeln von Daten, die rationale Untersuchung der Natur kamen erst langsam auf, nach und nach wurden magische Ideen ersetzt durch Wissenschaftlichkeit. Die allgemeingültigen und strengen Regeln des wissenschaftlichen Arbeitens von heute waren zu dieser Zeit noch nicht gültig.

Und schließlich hat Lilienthal den rein wissenschaftlichen Teil seines Werkes, bei dem es um mechanische Versuche, Berechnungen usw. geht, auch dementsprechend etwas sachlicher gestaltet.

Kritik an seiner Stilvermischung kommt also nur auf den ersten Blick auf, in den Kontext der damaligen Zeit gebracht wird sie schnell wieder ausgehebelt.

Auch bestimmend für die Darstellungsweise ist einerseits der Zweck des Werkes (hier ein wissenschaftlicher Zweck) und andererseits der persönliche Anteil des Autors Lilienthal, d.h. sein eigener Gestaltungstrieb aus Gemüt und Haltung (die oben beschriebene Begeisterung für den Menschheitstraum des freien Fliegens). Da diese zwei wesentlichen Faktoren des Stils in seinem Werk zum Ausdruck kommen ist die Stilvermischung dieses Werkes kein Stilbruch.

In Lilienthals Werk spricht nicht nur der Physiker, der wissenschaftliche Vorstellungen klar und richtig darstellt. Hier spricht der Pädagoge, der so schreibt, dass man förmlich sieht und hört, wie er handeln und reden wird, wie er Vorstellungen weckt, wie er das Gefragte in seine Sprache aufnimmt, wie er ordnet und zusammenfasst. Er sagt nicht nur „wir“, sondern er meint auch tatsächlich „uns“, er arbeitet mit seinem Leser. Er ist der Dichter, dessen Erzählgebärde uns gleich mitnimmt, er ist der Berichter, der von rätselhaften Naturbeobachtungen ausgeht und der Philosoph, der nach ihrer Erklärung sucht. Daher ist es auch die Sprache des Physikers und Philosophen, des Pädagogen, des Dichters und Berichters, die aus seinem Werk spricht.

Lilienthals „Der Vogelflug als Grundlage der Fliegekunst“ ist ein wundervolles Werk, an dem man viele Neuerungen und Tendenzen des Wandels dieser Zeit erkennen kann.

Meiner Meinung nach könnten sich manche Fachbücher von heute eine Scheibe abschneiden von Lilienthals Stil, insbesondere in pädagogischen Bereichen (Schulbücher). Denn was meiner Ansicht nach heute in der Wissenschaftssprache zu kurz kommt, ist die Begeisterung, die einem in Lilienthals Werk so entgegenleuchtet. Ästhetische Eindrücke und poetische Ausdrücke (wie in Kapitel 3.5.2.) „finden sich nicht in den Büchern der Schul-Physik.“27Physik wird oft in Formeln verpackt, dabei kann sie so lebendig sein ohne zu langweilen. Ausgehend und angeregt von etwas Rätselhaftem kann sie bezaubern, und dies ist es, was Lilienthal in seinem Werk überzeugend dargestellt hat.

5. Literaturverzeichnis

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POLENZ, Peter von: Deutsche Sprachgeschichte, vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart, Band III. De Gruyter: Berlin 1999

JUMPELT, Rudolf Walter: Die Übersetzung naturwissenschaftlicher und

technischer Literatur, Band 1. Langenscheidt KG: Berlin Schönberg 1961

WAGENSCHEIN, Martin: Die Sprache zwischen Natur und Naturwissenschaft. Jonas Verlag: Marburg 1986

STEPANOWA, Marija D.; FLEISCHER, Wolfgang: Grundzüge der deutschen Wortbildung. Bibliographisches Institut Leipzig, 1985

GÜTZLAFF, Kathrin: Von der Fügung Teutscher Stammwörter. Georg Olms Verlag: Hildesheim 1989

ZABEL, Hermann (Hrsg.): Fremdwortorthographie. Beiträge zu historischen und aktuellen Fragestellungen. Max Niemeyer Verlag: Tübingen 1987

WOLFF, Gerhardt: Deutsche Sprachgeschichte. Ein Studienbuch. Athenäum Verlag: Frankfurt am Main 1986

MEINEL, Christoph; VOSWINKEL, Peter (Hrsg.): Medizin, Naturwissenschaft,

Technik und Nationalsozialismus. Kontinuitäten und Diskontinuitäten. GNTVerlag: Stuttgart 1994

LEUNINGER, Helen; KELLER, Jörg: Grammatische Strukturen - Kognitive Prozesse. Ein Arbeitsbuch. Gunter Narr Verlag: Tübingen 1993

HEUSS, Theodor: Deutsche Gestalten. Studien zum 19. Jahrhundert. Rainer Wunderlich Verlag: Tübingen 1951

DUDEN (Hrsg.): Die Grammatik. Bd. 4, 6. Aufl., Dudenverlag: Mannheim 1998

SCHEURINGER, Hermann: Geschichte der Deutschen Rechtschreibung. Verlag Edition Praesens, Wien 1996

HISTORISCHE KOMMISSION BEI DER BAYRISCHEN AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN

(Hrsg.): Neue Deutsche Biographie, Vierzehnter Band. Duncker und Humblot, Berlin 1985

MOSER, Hugo: Deutsche Sprachgeschichte. Curt E. Schwab, Stuttgart 1955

LEXIKOGRAPHISCHES INSTITUT München (Hrsg.): Neue Enzyklopädie des Wissens. Deutscher Bücherbund GmbH & Co, München 1978, Seite 1431

BENSE, Max: Der Begriff Naturphilosophie. Deutsche Verlags-Anstalt GmbH, Stuttgart 1953

6. Anhang: Glossar auffälliger Begriffe

Dieses Glossar ist knapp gehalten, da viele auffällige Begriffe bereits in den Kapiteln 3.4. (Lexikalische und grammatische Auffälligkeiten) und 3.6. (Terminologie und Wortschatz) genannt wurden.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

[...]


1Vgl. LILIENTHAL, Otto: Der Vogelflug als Grundlage der Fliegekunst. Ein Beitrag zur Systematik der Flugtechnik. Reprint der Originalausgabe von 1889. Dortmund 1982, Seite 215 - 218

2Vgl. SCHEURINGER, Hermann: Geschichte der Deutschen Rechtschreibung. Verlag Edition Praesens, Wien 1996

3Vgl. WAGENSCHEIN, Martin: Die Sprache zwischen Natur und Naturwissenschaft. Jonas Verlag: Marburg 1986, Seite 11

4 Vgl. POLENZ, Peter von: Deutsche Sprachgeschichte, vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart, Band III. De Gruyter: Berlin 1999, Seite 269

5 Vgl. ebenso, Seite 217

6JUMPELT, Rudolf Walter: Die Übersetzung naturwissenschaftlicher und technischer Literatur, Band 1. Langenscheidt KG: Berlin Schönberg 1961

7 Vgl. WAGENSCHEIN (wie in Anm. 3), Seite 24

8 HEUSS, Theodor: Deutsche Gestalten, Studien zum 19. Jahrhundert. Rainer Wunderlich Verlag: Tübingen 1951, Seite 435

9JUMPELT (wie in Anm. 6), Seite 34

10Vgl. ebenso, Seite 34

11Vgl. POLENZ (wie in Anm. 4), Seite 5

102), „durch Zusammen-

12 Vgl. DUDEN (Hrsg): Die Grammatik. Bd 4, 6. Aufl., Dudenverlag: Mannheim 1998, S. 619

13Vgl. ebenso, Seite 176

14WAGENSCHEIN, Martin (wie in Anm. 3), Seite 28

15 Vgl. DUDEN (wie in Anm. 12), Seite 774

16DUDEN (wie in Anm. 12), Seite 520

17 Vgl. WAGENSCHEIN (wie in Anm. 3), Seite 61

18 Vgl. ebenso, Seite 59

19Vgl. HEUSS, Theodor (wie in Anm. 3), Seite 434 - 442

20 LEXIKOGRAPHISCHES INSTITUT München (Hrsg.): Neue Enzyklopädie des Wissens. Deutscher Bücherbund GmbH & Co, München 1978, Seite 1431

21 Vgl. JUMPELT, Walter (wie in Anm. 6), Seite 36

22 Vgl. ebenso, Seite 36

23Vgl. JUMPELT (wie in Anm. 6), Seite 32

24 Vgl. MOSER, Hugo: Deutsche Sprachgeschichte. Curt E. Schwab, Stuttgart 1955, Seite 176

25Vgl. WAGENSCHEIN, Martin (wie in Anm. 3), Seite 31

26 Vgl. DUDEN (wie in Anm. 12), Seite 604

27 WAGENSCHEIN, Martin (wie in Anm. 3), Seite 64

Ende der Leseprobe aus 38 Seiten

Details

Titel
Lilienthal, Otto - Der Vogelflug als Grundlage der Fliegekunst
Hochschule
Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main
Veranstaltung
Kommunikation und Sprache im Wilhelminischen Kaiserreich
Note
1
Autor
Jahr
2001
Seiten
38
Katalognummer
V106424
ISBN (eBook)
9783640047031
Dateigröße
498 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Lilienthal, Otto, Vogelflug, Grundlage, Fliegekunst, Kommunikation, Sprache, Wilhelminischen, Kaiserreich
Arbeit zitieren
Katrin Köpke (Autor:in), 2001, Lilienthal, Otto - Der Vogelflug als Grundlage der Fliegekunst, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/106424

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