Lessing, G. E. - Nathan der Weise - Bedeutung der Identitätskrise im Erziehungsprozess


Referat / Aufsatz (Schule), 2002

13 Seiten, Note: 1+


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

A EINLEITUNG
1. „Nathan der Weise“ als Erziehungsdrama
2. Inhaltsangabe
3. Themafrage (siehe Deckblatt)
4. Definitionen und Erläuterungen

B HAUPTTEIL (Argumentation)
1. NATHAN
2. RECHA
3. SALADIN
4. TEMPELHERR

C SCHLUSS (aktueller Bezug)

D LITERATURVERZEICHNIS

A1 Alle namhaften Interpreten sind sich einig, dass G.E. Lessings dramatisches Gedicht „Nathan der Weise“ als Erziehungsdrama aufgefasst werden muss. Da der 1729 geborene Schriftsteller zu den wichtigsten Denkern der Aufklärung gezählt wird, ist auch „Nathan der Weise“ - veröffentlicht 1779 - unter dem erstrebenswerten Ideal dieser Epoche zu betrachten: Nur durch Erziehung und Bildung kann die Menschheit den Weg „aus ihrer selbstverschuldeten Unmündigkeit“ 1 finden. Deshalb erfüllt das Drama zur gleichen Zeit auf zwei Ebenen die Absicht erzieherischen Wirkens. Zum einen soll der Zuschauer auf gravierende Problematiken, wie beispielsweise die Toleranz gegenüber anderen Religionen, aufmerksam gemacht werden, für die er dann im Laufe des Stückes Lösungsgedanken und Antworten erhält. Zum anderen besteht die Gesamtheit der Handlung nahezu nur aus Gesprächsszenen mit lehrhaftem Hintergrund. Somit ist „Nathan der Weise“ ein Drama zur und über Erziehung.

A2 Im Jerusalem zur Zeit der Kreuzzüge wohnt der jüdische Kaufmann Nathan zusammen mit seiner Tochter Recha und der Christin Daja, ihrer Gesellschafterin. Dass Recha in Nathans Abwesenheit den verheerenden Brand ihres Hauses überlebt hat, verdankt sie der Rettung durch einen Tempelherren. Dieser ist zuvor wunderbarerweise von Sultan Saldin bei der Hinrichtung begnadigt worden, da Saladin bei ihm große Ähnlichkeiten zu seinem verschollenen Bruder Assad zu erkennen glaubte. Recha und ihre Angehörigen suchen Mittel und Wege, um sich für die heldenhafte Tat des fremdländischen Christen zu bedanken. Nathan erreicht schließlich einen guten Zugang zu diesem und stimmt dem Freundschaftsangebot des Tempelherren gerne zu. Doch nachdem dieser sich in Recha verliebt und Nathan seinem „liebevollen“ Antrag mit kühler Distanziertheit begegnet, sucht der Tempelherr den Patriarchen auf. Vom christlichen Oberhaupt der Stadt lässt er sich in rigiden Szenarien die Verwerflichkeit ausmalen, mit welcher die (von ihm als fingierter Musterfall getarnte) Wahrheit zu beurteilen sei: Recha ist nicht Nathans leibliche Tochter, sondern eine Christin - doch sie selbst weiß das nicht. Gerade dieses Geheimnis ist ein Baustein im ebenso komplexen wie „multikulturellen“ verwandtschaftlichen Gefüge, mit dem Nathan in der Schlussszene eine Verbindung zwischen beinahe allen Figuren des Dramas herstellt. Auch der kurz vor dem wirtschaftlichen Bankrott stehende Herrscher Saladin findet darin Platz; seit Nathan ihn mit der berühmten „Ringparabel“ fasziniert hat sind die beiden befreundet. Dieses Gleichnis beschäftigt sich mit den thematisch zentralen Aspekten des Dramas: Absolutheitsanspruch der Religion, Toleranz und Glaube an die Lernfähigkeit des Menschen.

A3 Aus den Konstellationen und den Konflikten der Personen kann man die Frage ableiten, welche Bedeutung im Rahmen des Erziehungsprozesses der Identitätskrise zukommt. Dies soll im Folgenden anhand des Nathans, der Recha, des Saladins und des Tempelherren herausgearbeitet und belegt werden.

A4 Um die Argumentation schlüssig und in aller Deutlichkeit nachvollziehbar gestalten zu können, bedarf es zuerst einiger grundlegender Definitionen und Erläuterungen:

„Eine Krise ist ein zeitlich eingrenzbarer psychischer Ausnahmezustand“2, eine Art lebenswichtiges Stadium im Fortgang einer Sache. Jede Art von Krisen besteht aus einer Reihe voraussagbarer Stadien, die sich im einzelnen festhalten und abstecken lassen. In der Zeit, da an der Lösung der Krise gearbeitet wird, ist der Mensch in der Regel Hilfsangeboten gegenüber besonders aufgeschlossen3. „Wird eine Krise aus eigener Kraft oder mit fremder Hilfe gelöst [...] stehen neue Möglichkeiten, Lösungswege und Kompetenzen zur Verfügung .“4

„Leib, soziales Netz, Arbeit und Leistung, materielle Sicherheit, Werte, alle diese fünf Säulen [= Aspekte] machen die Identität aus und wirken zusammen. Der gänzliche Verlust eines Bereiches oder mehrerer [...] führt unweigerlich zu persönlichen Krisen.“5

„Das Ende der Adoleszenz ist [beispielsweise] das Stadium einer sichtbaren Identitätskrise. Das heißt aber nicht, dass die Identitätsbildung mit der Adoleszenz beginne oder ende: sie ist vielmehr eine lebenslange Entwicklung“ 6.

Im weitesten Sinne kann auch die Erziehung als lebenslanger Prozess betrachtet werden: "Der Mensch ist offensichtlich von Natur aus ein erziehungsbedürftiges Wesen, d.h. ein Wesen, das von seiner Geburt an auf Lernen angewiesen ist.“7

Oder aus einem anderen Blickwinkel definiert: "Der Begriff der Erziehung dient dazu, aus der Gesamtmenge menschlicher Handlungen und Handlungssysteme jene hervorzuheben, durch die Menschen versuchen, das Gefüge der psychischen Dispositionen anderer Menschen in irgendeiner Hinsicht dauerhaft zu verbessern."8

G.E. Lessing erklärt in seinem Werk „Die Erziehung des Menschengeschlechts“:[1] Erziehung gibt dem Menschen nichts, was er nicht auch aus sich selbst haben könnte;[2]sie gibt ihm das, was er aus sich selber haben könnte, nur geschwinder und leichter.“9

B1 Die Identitätskrise Nathans spielt sich nicht direkt in der Handlung des Dramas ab, sondern der Zuschauer erfährt berichtend durch eine Retrospektive davon. Nathan gibt preis, seine „Frau mit sieben hoffnungsvollen Söhnen“ (3041f) verloren zu haben. Sie waren Opfer einer grausamen Judenverfolgung durch radikale Christen (vgl. 3038f). Er ist zutiefst verzweifelt, steht gewissermaßen vor dem Nichts und hätte guten Grund, das Christentum für immer zu hassen (vgl. 3046-3051). Aber anstatt sich endlos in Selbstmitleid über sein tragisches Schicksal zu ergehen, macht er sich bewusst, dass seine optimistische Vernunft auf eine harte Probe gestellt ist: Er darf jetzt nicht aufhören, an sich selbst und an Gott zu glauben (vgl. 3052-3066). „Während des Verlaufes der Krise betrachtet der Mensch die auslösenden und die darauf folgenden belastenden Ereignisse unter anderem als Herausforderung (es geht um sein Überleben, sein Wachstum, seinen Sieg über die Dinge [...]. Die Betrachtung des Ereignisses als Herausforderung [...] weckt Hoffnung und Erwartung.“ 10 Nachdem Nathan „drei Tag’ und Nächt’ in Asch’ und Staub vor Gott gelegen, und geweint“ (3046f) hat, ist diese Phase der Identitätskrise der Ansatzpunkt für Nathans Selbsterziehung. Die Krise muss also als unbedingt notwendig begriffen werden 11, damit Nathan sich als Mensch weiter entwickeln und sich selbst neu orientieren kann. Für seine Selbsterziehung kann der Richterspruch in der Ringparabel durchaus als Lebensmotto aufgefasst werden: „Es eifere jeder seiner eigenen, von Vorurteilen freien Liebe nach“ (2041f).

Schon kurz darauf erhält er mit der kleinen Recha einen neuen Lichtblick - eine Person, die ihm sehr nahe steht und um die er sich kümmern kann (vgl. ebd.). Durch die Erziehung von anderen wird der Prozess seiner Selbsterziehung immer weiter fortgesetzt. „Es ist wichtig zu erkennen, dass auch die Erziehung, wie alle Formen menschlicher Beziehung, auf Wechselseitigkeit angelegt ist: Nicht nur der Erzieher erzieht den zu Erziehenden, sondern auch umgekehrt.“ 12 Denn sein Beiname „der Weise“ kommt nicht von ungefähr: Die Erlangung von Weisheit ist „learning by doing“, sie erfordert permanenten Eifer und viel Arbeit an sich selbst 13. In allen Erziehungsgesprächen des Dramas tritt Nathan als vorbildlicher Erzieher auf und lässt seine Gesprächspartner von seinen gewonnenen Erkenntnissen, seiner Weisheit profitieren. Dabei zeichnet er keinen verbindlichen Lösungsweg vor, sondern beschreitet gemeinsam mit seinen Gesprächspartnern durch geschickte Fragestellungen („Mäeutik“) oder empathische Anregungen den Weg zu eigenen Einsichten (vgl. I2; II5; III7).

B2 Gerade diese positiven Eigenschaften ihres Vaters helfen Recha aus ihrer ersten Identitätskrise. Nachdem sie vom Tempelherren aus dem brennenden Haus gerettet worden ist, findet Nathan sie in einem Zustand emotionaler Verwirrung vor; „kalte Schauer befallen sie“ (vgl. 333). Sie ist einer Art Wunderglauben verfallen, da sie ihren Retter als leibhaftigen Engel umschwärmt (vgl. 195-198; 205-210) und ihm tiefe Dankbarkeit geschworen hat (vgl. 320f). „Es kommt zu völliger Rat- und Hilflosigkeit, zu einem extrem bedrohlichen Ungleichgewicht, [...] gekoppelt mit Verschlossenheit und Erschöpfungszuständen [...] In dieser Phase kann Hilfe nur noch von nahestehenden Personen [...] kommen, die [...] den drohenden Zusammenbruch noch abzuwehren vermögen.“ 14 In diesem Stadium ihrer Krise ist Nathans volle Unterstützung gefordert. Indem er Recha fragt, „wie viel andächtig schwärmen leichter als gut handeln ist“ (360f), weist er sie wieder auf die eigene, realistische Vernunft hin. Auch für Recha ist daher ihre Problemsituation als Vorraussetzung für kontinuierliche Erziehung zu verstehen: Damit sie sich intellektuell weiterentwickeln kann, muss sie sich mit ihren persönlichkeitseigenen Werten auseinandersetzen.

Die zweite Krise Rechas hat ein weitaus gravierenderes Ausmaß: Sie erfährt von Daja, dass Nathan nicht ihr leiblicher Vater ist (vgl. 3149) und befürchtet, ihn als ihren Vater zu verlieren (vgl. 3555). Dieser Einbruch der sozialen Komponente der Identität 15 entspricht wohl in den meisten Fällen unserer ersten Assoziation mit dem Begriff „Identitätskrise“. Obwohl sie dem Wahnsinn nahe scheint (vgl. 3640ff), kann sie den Grund ihrer Verzweiflung in Worte fassen: „So manches, was [ich] weiß, weiß ich allein aus seinem [= Nathans] Munde. Und könnte bei dem meisten [...] noch sagen, wie? wo? warum? er mich’s gelehrt.“ (3538ff) Sie „sei Nathans Tochter nicht, er nicht [ihr] Vater! - Gott! Gott!“ (3636f) Somit ist die Sicherheit, die ihr diese wichtige Bezugsperson über lange Zeit in ihrer Lebenswelt gegeben hat, stark bedroht 16: Doch Rechas Erziehung durch Nathan ist gut gelungen; sie besticht trotz ihres jungen Alters durch eine große geistige Reife. Dadurch dass sie sich Saladins aufgeklärt anmutenden Ausspruch „das Blut allein macht lange noch den Vater nicht“ (3662f) zu Herzen genommen hat, manifestiert sich in der überschwänglichen Schlussszene (vgl. V letzter Auftritt) erneut die Bewältigung einer Krise durch erzieherische Handlung. „[Ihr] Vater ist ihr unverloren“ (3708f). Sicher möchte Lessing mit der Person Rechas hervorheben, dass während einer Identitätskrise die Anfälligkeit für intentionale Edukation den Weg zu einer schnelleren Bewältigung bereitet.

B3 Aber auch Saladin durchlebt im Drama eine, wenn auch im Vergleich zu Recha geringfügigere Krisenphase. Er, der Nathan in listiger Absicht die Frage nach der einzig wahren Religion gestellt hat, wird von diesem dazu aufgefordert, sich innerhalb der Ringparabel (III7) in die Situation des Richters hineinzuversetzen. Er ist zugleich hingerissen und verwirrt: „Ich Staub, ich nichts. O Gott !“ (2056f). Er sieht sich außerstande, das von Nathan so vortrefflich konstruierte Gleichnis zu kommentieren, geschweige denn könnte er sich einen Urteilsspruch zugunsten einer der drei Religionen anmaßen - ein zutiefst intoleranter Gedanke! „Er muss das Problem aus einer neuen Perspektive heraus [...] betrachten und angehen.“ 17. Für Saladin stellt das Krisenerlebnis in erster Linie eine Chance dar, welche den Erziehungsverlauf der Ringparabel begünstigen kann. Denn daraufhin erkennt er, dass Handlungsbedarf nach den Potentialen seiner Persönlichkeit besteht und sucht nach Alternativen - er befasst sich im Zuge der Problematik kritisch mit mehreren Aspekten seiner Identität 16. Er entsagt dem rigorosen Eintreiben von Geld (vgl. 482f) und allgemein opportunistischem Handlungskalkül (vgl. III4). „Ist es die Aufgabe des Menschen, sich selbst und seine Mittel so überlegt wie Nathan dem Ziel einer humanen Welt unterzuordnen, so [war] das Verhalten Saladins, das insgesamt nichts bessern kann und nur den Mythos von der Gottähnlichkeit des Fürsten festigen soll, in sozialethischer Hinsicht unverantwortbar und zudem Ausdruck persönlicher Schwäche.“ 18 Doch dann enthüllt Nathan durch seine weise Ringerzählung den guten Kern Saladins 19. Dieser sieht zwangsläufig ein, dass er Nathan mit falschen Vorurteilen begegnet ist und richtet sein Handeln nun nach dem Vorbild einer solchen „Persönlichkeit“ aus (vgl. 1991; 2060). Des weiteren tritt er in Problemsituationen anderen Menschen jetzt toleranter und mit mehr erzieherischem Geschick gegenüber (vgl. IV4; V7).

B4 Gleichermaßen spielt die Entwicklung in einer Identitätskrise für das Leben des Tempelherren eine zentrale Rolle. Da er in allen Aufzügen des Dramas auftritt, kann deren Ablauf und Bedeutung an ihm gut deutlich gemacht werden. „Nathan der Weise (kann) [...] als eine dramatisch exemplifizierte Erziehung des Menschengeschlechts (verstanden werden). Doch sind die Menschen nicht Objekte; sie bewähren sich als Subjekte des Geschehens.“ 20.

Der Ausgangspunkt seiner Selbstzweifel ist die Begnadigung durch Saladin, die eine Zäsur in seinem Leben darstellt: „Man hebt mich auf; ich bin entfesselt [...] - wie nun das zusammenhängt“ kann er nicht „enträtseln“ (vgl. 587ff) „Ich Tempelherr bin tot; war von dem Augenblick [...] tot, der mich zu Saladins Gefangnen machte. Der Kopf, den Saladin mir schenkte, wär mein alter? - Ist ein neuer; der von allem nichts weiß. [...] Und ist ein bessrer; für den väterlichen Himmel mehr gemacht.“ (2135ff). Doch seine neue Rolle bereitet ihm einige Schwierigkeiten, er durchläuft wegen seiner Fragen nach den Möglichkeiten und Maßstäben der Toleranz in seiner Umgebung im Drama mehrere Krisenphasen 21:

Wegen seiner Vorbehalte gegenüber Juden äußert er in seinem Unwillen bereits im ersten Aufzug gleichsam abwehrende wie abwertende Phrasen über Nathan, obwohl er diesem noch nie begegnet ist: „Lasst den Vater mir vom Halse. Jud’ ist Jude.“ (776f). Er „tut das, was er in solchen Fällen immer zur Klärung und Lösung von Problemen zu tun pflegte“22, nämlich Anwendung der religiösen Vorurteile, die ein Kämpfer im Kreuzzug (vgl. 657) zwangsläufig besitzt.

Im zweiten Aufzug erkennt er jedoch im Zwiegespräch Nathans liberalen Humanitätsgedanken und „schämt sich, (jenen) einen Augenblick verkannt zu haben“ (1318f).

Daraufhin nimmt allerdings die Liebe zu Recha (III2; III8) gewaltigen Einfluss auf seine Denkweise: Weil Nathan seinem Wunsch nach einem „Zukunftsgespräch“ aus dem Weg geht (vgl. III9), wird seine alte Sichtweise wieder zum Leben erweckt, die nicht vollständig aufgelöst worden ist. Als er noch dazu von Daja das Geheimnis um Rechas wahre Herkunft erfährt (III10), zieht er - mit einem Beigeschmack christlicher Dogmatik - Nathans Menschlichkeit erneut in Zweifel: „Der weise gute Nathan hätte sich erlaubt, die Stimme der Natur so zu verfälschen?“ (2358ff)

Sein Zorn veranlasst ihn schließlich dazu, den radikal religiösen Patriarchen als christliche Instanz aufzusuchen. Denn „hält das Problem [des Tempelherren] an, lässt es sich nicht verdrängen noch umgehen, nötigt das hohe Maß an Spannung und Unbehagen dazu, alle äußeren und inneren Reserven zu aktivieren. [...] Er greift jetzt auch zu ungewohnten Verhaltensweisen, um das Problem zu lösen“ 22 Der theologisch begründete Eifer des Patriarchen schreckt ihn aber eher ab, erachtet jener ein solches Vergehen doch immerhin „schon dieserwegen wert, dreimal verbrannt zu werden“ (2560).

Auch wenn dieser Besuch ein „Anti-Erlebnis“ war (vgl. 2804f) - „Mit immer neuem Probierverhalten nach dem Muster ‚Versuch und Irrtum’ im Denken und Handeln versucht er, den Problemdruck zu mindern“ 22, er sucht bei Saladin um Rat. Der Tempelherr nimmt sich einen ziemlich beleidigenden Ton heraus, als er im Palast bei Saladin vorspricht: „Der tolerante Schwätzer ist entdeckt! Ich werde hinter diesen jüd’schen Wolf im philosoph’schen Schafpelz schon Hunde zu bringen wissen, die ihn zausen sollen!“ (2779ff). Er sieht sich „beim letzten Versuch, die immer komplexer werdende Verwirrung und Desorganisation des Lebenszusammenhanges zurückzudrängen“.23 Die Identitätskrise des Tempelherren hat in diesem Moment ihren Höhepunkt erreicht.

Daher lässt er sich endlich vom Sultan seine Intoleranz klarmachen (vgl. 2802f); „eine kleine Hilfeleistung, die am richtigen Ort ansetzt, kann sich als [ungemein] nützlich [...] erweisen“ 24. In einem inneren Monolog (V3) gesteht er sich daraufhin alle seine Fehler ein und gelangt zu der Einsicht, dass es auf religiösen Eifer nicht ankommt. Er würde sogar Moslem werden, um nur Recha heiraten zu dürfen (vgl. 2752f). Seine neu erlangte Identität gewinnt in der Schlussszene (V letzter Auftritt) ein großes Maß an sozialer Stabilität, zumal Nathans nivellierte Genealogie ein an Bezugspersonen reiches Tableau entwirft.

Alle Stadien seiner Krise bilden für den Tempelherren eine kontinuierliche Folge von Erkenntnissen und Erfahrungen25. In ihrer Gesamtheit kann man ihr sogar eine makrosystemische Bedeutung beimessen: Die Krise ist als Antwort auf die veränderte Umwelt und ihre Überwindung als Anpassung und letztlich Stabilisierung der Identität zweifellos denkbar. Neben der Chance zur Selbstreflexion (vgl. V3) bietet sie eine gesteigerte Empfänglichkeit für erzieherische Einflüsse24 (vgl. V7).

C Auch in unserer modernen Gesellschaft hat Lessings erzieherisches Ideal eine Vorbildfunktion. Zahlreiche Fachleute sehen in der Figur des Nathan ein Musterbeispiel des „aufgeklärten“, liberalen Pädagogen, ähnliche Bewunderung erntet „Nathan der Weise“ auch von interessierten Schülern und Studenten. Ebenso steht Lessings Werk auf allen großen Bühnen der Welt auf dem Spielplan; denn es ist wichtig die ewige Utopie dieses Theaterstückes im Hinblick auf die aktuelle Zeitgeschichte zu erhalten: „In ihr finden die größten Gegensätze, die widersprüchlichsten Parteien - Christen, Juden, Moslems nebeneinander ihre Existenzberechtigung, ohne ihre Identität aufgeben zu müssen.“ 26

[ D ] Literaturverzeichnis

[ALPHABETISCH]

PRIMÄRLITERATUR

- Lessing, G.E. - „Nathan der Weise“ (1779), Reclam (1964;2000)

SEKUNDÄRLITERATUR

- Barner, Grimm, Kiesel - „Lessing. Epoche - Werk - Wirkung“ (1987)
- Brenzika, W. - Erziehungsziele, Erziehungsmittel, Erziehungserfolg“ (1995)
- Erikson, E. - „Identität und Lebenszyklus“ (1971)
- Giesecke, H. - „Einführung in die Pädagogik“ (1970)
- Golan, N. - „Krisenintervention“ (1983)
- Kaiser, G. - „Geschichte der Deutschen Literatur 3“ (1976)
- Kant, I. - „Was ist Aufklärung?“ (1784), [http://projekt.gutenberg.de/kant/aufklae/aufkl001.htm]
- Lessing, G.E. - “Die Erziehung des Menschengeschlechts“ (1780)
[http://projekt.gutenberg.de/lessing/erziehng/erziehng.htm]
- Mertens, R. - „Münchner Gestalttage ’87“ (1988)
- Meueler, E. - „Wie aus Schwäche Stärke wird“ (1987)
- Parad, G. - „Crisis Intervention“ (1978)
- Petzold, H. - „Verlauf des Krisenprozesses“ (1979)
- http://kultur.nat.de/theater/schauspiel-bonn/nathan.htm
- http://www.wissen.de

[...]


1 Immanuel Kant in „Was ist Aufklärung?“ (1784)

2 Parad in „Crisis Intervention“ (1978)

3 vgl. Golan in „Krisenintervention“ (1983), S. 61ff

4 Petzold in „Verlauf des Krisenprozesses“ (1979), S. 340

5 Mertens in „Münchner Gestalttage ’87“ (1988)

6 Erikson in „Identität und Lebenszyklus“ (1971), S. 140f

7 Giesecke zitiert in v. Braunmühl (1993), S. 70

8 Brenzika in „Erziehungsziele, Erziehungsmittel, Erziehungserfolg“ (1995), S. 196f

9 Lessing in „Die Erziehung des Menschengeschlechts“ (1780), §4

10 Golan in „Krisenintervention“ (1983)

11 vgl. Parad in „Crisis Intervention“ (1978)

12 http://www.wissen.de

13 vgl. Lessing in „Die Erziehung des Menschengeschlechts“ (1780), §41

14 Meueler in „Wie aus Schwäche Stärke wird“ (1987)

15 vgl. Mertens in „Münchner Gestalttage ’87“ (1988)

16 (vgl.) Mertens in „Münchner Gestalttage ’87“ (1988)

17 vgl. Meueler in „Wie aus Schwäche Stärke wird“ (1987)

18 Barner, Grimm, Kiesel in „Lessing. Epoche - Werk - Wirkung“ (1987), S. 321f

19 vgl. Lessing in „Die Erziehung des Menschengeschlechts“ (1780), §41 und 2

20 Kaiser in „Geschichte der Deutschen Literatur 3“ (1976), S. 133

21 vgl. Meueler in „Wie aus Schwäche Stärke wird“ (1987)

22 Meueler in „Wie aus Schwäche Stärke wird“ (1987)

23 Meueler in „Wie aus Schwäche Stärke wird“ (1987)

24 (vgl.) Golan in „Krisenintervention“ (1983)

25 vgl. Brenzika in „Erziehungsziele, Erziehungsmittel, Erziehungserfolg“ (1995)

26 http://kultur.nat.de/theater/schauspiel-bonn/nathan.htm

Ende der Leseprobe aus 13 Seiten

Details

Titel
Lessing, G. E. - Nathan der Weise - Bedeutung der Identitätskrise im Erziehungsprozess
Note
1+
Autor
Jahr
2002
Seiten
13
Katalognummer
V106740
ISBN (eBook)
9783640050154
Dateigröße
415 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
"Allein vom Umfang und von der verwendeten Sekundärliteratur her geht die Arbeit über das Niveau eines Deutschen Hausaufsatzes weit hinaus."
Schlagworte
Lessing, Nathan, Weise, Bedeutung, Identitätskrise, Erziehungsprozess
Arbeit zitieren
Bastian Gawellek (Autor:in), 2002, Lessing, G. E. - Nathan der Weise - Bedeutung der Identitätskrise im Erziehungsprozess, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/106740

Kommentare

  • Gast am 10.1.2003

    graf.

    Ganz schön langweilig

Blick ins Buch
Titel: Lessing, G. E. - Nathan der Weise - Bedeutung der Identitätskrise im Erziehungsprozess



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