Aurobindo Ghose: Religiöse Elemente seiner nationalistischen Ideologie vor 1908


Hausarbeit (Hauptseminar), 2002

19 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


INHALT

1. Ziel der Arbeit

2. Quellen

3. Religiöse Elemente in Aurobindos politischer Gedankenwelt
3.1 Bhawani Mandir
3.2 Religiöses in Geheimgesellschaften
3.3 Religiöse Sprache in seinen Schriften
3.4 Vom ideellen zum spirituellen Nationalismus
3.5 Verwendung des „Bande Mataram“
3.6 Aurobindos religiöse Praxis

4. Spätere Interpretationen

5. Aurobindos eigene Darstellung

6. Zusammenfassung

LITERATUR

1. Ziel der Arbeit

Sri Aurobindo hat in seinem Leben einen Wandel vom politischen Freiheitskämpfer, der mit Mitteln der Guerilla kämpfte, zum Guru durchgemacht, der in seiner Kammer in Pondychery spirituelle Welten erforschte. Er selbst schreibt diesen Wandel einem Erlebnis im Gefängnis in Alipur zu, in dem er 1908 für ein Jahr wegen seiner politischen Aktivitäten inhaftiert wurde. Biographen und sonstige Interpreten, die über ihn schrieben und schreiben, wollen schon lange vor dieser Zeit Zeichen und Handlungen spiritueller Bedeutung erkennen.

In dieser Arbeit soll das politische Leben anhand seiner Schriften bis 1908 untersucht werden. Es stellt sich die Frage, ob schon damals Überzeugungen zu erkennen waren, die seinen späteren Aussagen zu Politik entsprachen. Nach der Zeit im Gefängnis sah er den Freiheitskampf als einen Schritt zur spirituellen Entwicklung der Menschheit, betrachtete die Mutter Indien als Gottheit und integrierte andere traditionell hinduistische Elemente, die sich von der westlichen Nationalismusideologie unterscheiden. Dafür wird im folgenden der Begriff des spirituellen Nationalismus verwendet, dem ich den ideellen Nationalismus entgegensetze. Dieser sieht im Gegensatz dazu zwar einen ideellen Wert in dem, was Nation genannt wird und aus Geschichte, Tradition, Territorium, Sprache und Mythologie mehrerer Menschen einen Wert schafft, der durch ein politisch unabhängiges Gebilde gesichert werden soll. Er tut dies aber ausdrücklich ohne religiöse Implikationen.

In einem ersten Schritt werden die verwendeten Quellen vorgestellt, um daraufhin ausgewertet zu werden. Die Interpretationen späterer Autoren werden diesen Auswertungen entgegengestellt, ebenso Aurobindos eigene Aussagen, um in einem Schlussteil zum Fazit zu kommen, dass sich eine langsame Entwicklung zu religiösen Inhalten schon vor dem Gefängnisaufenthalt Aurobindos in seinem Gedankengut belegen lässt.

2. Quellen

Über die politischen Aktivitäten Aurobindos gibt es nur Informationen aus bestens zweiter Hand. Eine umfassende Untersuchung über die Bewegung in Bengalen legte 1973 Sumit Sarkar mit „The Swadeshi Movement in Bengal 1903-1908“ vor, der Zugriff auf Originalberichte der britischen Regierung sowie Briefe und Aussagen der Akteure der Freiheitsbewegungen hatte. Auch verstand er verschiedene indische Sprachen und konnte so Veröffentlichungen in ihnen zusammenzutragen. Seine Untersuchung ist detailliert und mit vielen Belegen versehen und dient für diese Arbeit als Hintergrundinformation. Auch er hatte jedoch keinen Zugang den Aktivitäten der Geheimgesellschaften, die für den Terrorismus verantwortlich waren und in denen Aurobindo schon früh aktiv war und wohl auch als Anführer auftrat. Geheimgesellschaften hinterlassen aus ihrer Natur heraus keine Quellen, die ihre Aktivitäten beschreiben, auch haben sich damals keine Soziologen in teilnehmender Beobachtung unter die Revolutionäre gemischt.

Der Hauptteil der Informationen in dieser Arbeit stammt aus den erhältlichen Schriften von Aurobindo selbst. Auch wenn die politischen Texte nur einen kleinen Teil seiner gesamten Werke ausmachen, sind sie doch voluminös genug um Rückschlüsse auf seine damalige Haltung zu bieten.

1. Schon in England begann Aurobindo zu schreiben. Einige seiner Gedichte enthalten Hinweise auf schon frühe Vorstellungen zu Nationalismus.

2. Die ersten rein politischen Schriften sind Veröffentlichungen, die in den Jahren 1893/94 in der Zeitschrift „Indu Prakash“ unter dem Titel „New Lamps for the old“ veröffentlicht wurden.

3. Für mehr als zehn Jahre gibt es keine Veröffentlichungen. Der Text „Bahwani Mandir“, der nicht veröffentlicht wurde aber später in Aurobindos Manuskripten gefunden wurde stammt wohl von 1905

4. Die meisten Texte finden sich in „Bande Mataram“, einer der Zeitschriften in denen die revolutionären Kräfte ihr Forum ab 1906 fanden.

5. Auch in „Yugantar“, einer ähnlichen, wenn auch etwas radikaleren Zeitschrift, schrieb Aurobindo ab 1906

6. Aurobindo hielt verschiedene Reden vor unterschiedlichem Publikum, von denen ein großer Teil erhalten ist.

7. Als weitere Quelle sind Aurobindos Briefe an Biographen

anzusehen, in denen er falsche Angaben berichtigen will. Sie sind in einer Veröffentlichung aus Pondycherry unter dem Titel „Sri Aurbindo on himself“ enthalten.

Diese Texte wurden für die vorliegende Arbeit dem Sammelband „Sri Aurobindo birth centenary library“ (SABCL) des Ashrams in Pondycherry entnommen. Einige Texte, die in der Veröffentlichung „On Nationalism“ des selben Herausgebers und in den Veröffentlichungen von Uma und Haridas Mukherjee verwendet wurden, sind nach Aussage des Nachwortes in SABCL fälschlicherweise Aurobindo zugeschrieben worden. Die hier veröffentlichten Texte bieten ausreichend Material für eine Untersuchung, inwiefern von einem „spirituellen Nationalismus“ gesprochen werden kann.

Die Artikel in den Zeitschriften, die am meisten Material bieten, sind

natürlich keine genauen Übersetzungen von Aurobindos Gedankenwelt. Er musste vorsichtig sein, um den Behörden keinen Anlass für ein Verbot der Zeitschriften zu geben. Auch hatte er ein klares Ziel: Die Unabhängigkeitsbewegung voranzutreiben. Es mag sein, dass einzelne Elemente nicht seiner Überzeugung entsprachen, er aber aus politischem Kalkül besondere, vielleicht religiöse Aspekte überbetonte um zu überzeugen. Um diese Quelle der Fehlinterpretation auszuschließen stütze ich mich eher auf die Artikel, die für ein intellektuelles Publikum geschrieben waren, denn auf seine Reden vor Studenten, die oft blumiger und bildreicher sind.

3. Religiöse Elemente in Aurobindos politischer Gedankenwelt

3.1 Bhawani Mandir

Die offensichtliche Ebene einer Religion sind ihr heiligen Orte, vor allem wenn sie von Menschen bewohnt werden, die sich allein der Pflege des Glaubens verschrieben haben. In seiner Schrift „Bhawani Mandir“ schlägt Aurobindo 1905 eben solches vor. In der Tradition der Durga-Verehrung soll ein Tempel errichtet werden für „Bhawani“, die Mutter. Ihre Anhänger sollen durch die Verehrung Stärke für ein Ziel erhalten: „India must be reborn, because her Rebirth is Demanded by the future of the world“[1]. In diesem Tempel sollen sannyasisns wohnen, deren “chief work will be that of mass instruction”[2]. Die Idee scheint die eines geschützten Raumes zu sein, in dem durch religiöse Übung Kämpfer für die nationale Befreiung herangezogen werden sollen, die „strictly obey the discipline and rules ... prescribed by the elders“[3].

Wäre dieser Text Ausdruck Aurobindos innersten Sehnens zu dieser Zeit, könnte die Arbeit hier beendet werden mit der Feststellung, dass Sri Aurobindo eine neue Religion des Nationalismus mit Riten, Tempeln und Jüngern gründen wollte. Dagegen spricht jedoch einiges: Aurobindo selbst hat nach eigener Aussage den Text geschrieben, die Idee sei jedoch mehr Barin`s als die seine gewesen[4]. Auch verfolgt er die Errichtung dieses Tempels nicht weiter, was so gar nicht seine Art gewesen war, wenn er denn von etwas überzeugt war. Hier scheint eine Idee niedergeschrieben worden zu sein, die als Zuspitzung damaliger Geheimgesellschaften zu sehen ist, in denen Aurobindo aktiv war [5]. Deren Struktur und Inhalte, wenn sie sich denn als religiös erweisen, sind schon mehr als Aurobindos eigene Überzeugungen anzusehen.

3.2 Religiöses in Geheimgesellschften

„From the very beginning, the societies tried to combine physical culture with moral and intellectual training. […] Hindu resurgence of course was a major inspiration, with its principal sources in Rajnarayan, Bankimchandra and Vivekananda; tantric rituals influenced initiation ceremonies, while the Gita provided solace for the more sophisticated”[6] schreibt Sarkar. Welche Inhalte genau in Aurobindos Gruppen verbreitet waren lässt sich nicht rekonstruieren. Er selbst lehnt im Nachhinein beispielsweise den Einfluss von Vivekananda ab[7]. Es steht jedoch wohl fest, dass es einen Eid auf die Gita gab. Inwiefern Rituale und Formen, die aus religiösen Zeremonien bekannt sind, eine Bewegung religiös machen hängt von der eigenen Sichtweise von Religion zusammen. Natürlich gab es Initiantionsrituale. Natürlich gab es Gelübde. Natürlich gab es Symbole und natürlich kamen die Mitglieder zusammen um ein Ziel zu verfolgen, das ihre Individualität transzendierte: Ein freies Indien. Damit scheinen sich die Inhalte jedoch schon zu erschöpfen. Es gibt keine Belege zu Geheimgesellschaften Aurobindos, mit denen seine späteren Idee der spirituellen Rolle Indiens in der Welt als wichtiges Element der Geheimgesellschaften angesehen werden kann.

Es lässt sich überhaupt wenig gehaltvolles über diese frühen „revolutionären Zellen“ sagen. Mehr Material bieten die Texte Aurobindos, die ich zunächst auf ihre Sprache untersuchen will.

3.3 Religiöse Sprache in seinen Schriften

Der erste “New lamps for the old”-Artikel beginnt mit einem religiösen Bild: Einem Sinnspruch aus der Bibel - und endet mit dem Satz „The walls of the Anglo-Indian Jericho stand yet without a breach“[8]. Aurobindo schreibt viel in Metaphern und zieht historische Beispiele heran um seine Argumentation zu verdeutlichen. In diesen Artikeln sind seine Metaphern jedoch ausschließlich europäisch-christlich. Ihm deswegen christlichen Glauben oder gar die bewusste Einbeziehung seines Freiheitskampfes in eine neue christliche Theologie zu unterstellen ist deshalb noch lange nicht angebracht. Er brachte jedoch zu dieser Zeit seinen Nationalismus nicht in Verbindung mit traditionell hinduistischen Denkweisen. Zehn Jahre später, in den ersten Artikeln in „Bande Mataram“ ist das Bild ähnlich: Die französiche Revolution und griechische Analogien scheinen ihm näher zu liegen als die indische Geschichte. Im April 1907 erwähnt er zum ersten Mal die Politik in Zusammenhang mit der Religion: „The obvious course is to recognise that politics is religion and infuse it with the spirit of religion; for that is true patriotism which sees God as the mother in our country“[9]. Ab dann wird seine Sprache immer religiöser. So schreibt er ein Jahr später “…the Avatar will be ready to manifest himself and the end will come”[10] oder “…by this confusion ofdharmas, varnasankarais born in high places”[11]. Es lassen sich leicht viele weitere Beispiele finden.

Allein im Stil wird Aurobindo also immer „hinduistischer“ in seinem Sprachgebrauch, ganz unabhängig von den Inhalten seiner Schriften. Doch auch im Inhalt lässt sich ein Wandel feststellen.

3.4 Vom ideellen zum spirituellen Nationalismus

“…How changed, how fallen from her ancient spirit! She, that was Ireland, Ireland now no more, In beggar´s weeds behold at England´s door…”[12]

schreibt Aurobindo 1893 über Irland. In weiteren Gedichten über Irland lässt Aurobindo auch früher schon durchblicken, dass es für ihn so etwas wie eine Volksseele gibt, dass die Nation mehr ist als nur ein Zusammenschluss von Menschen, die aufgrund rationaler Erwägungen einen Gesellschaftsvertrag schließen. Was dieses mehr ist, darüber scheint er sich jedoch lange wenig Gedanken gemacht zu haben. Der Nationalismus und die Idee vom Nationalstaat waren damals in Europa in ihrer Blüte. Für Indiens Freiheit kämpft er, weil er die Unterdrückung als ungerecht empfindet. Sein Vorbild sind vorerst die Freiheitskämpfe der europäischen Nationen, die er in seinen Artikeln anfangs oft als Beispiele anführt.

Im Mai 1907 schreibt er:

“A nation is indeed the outward expression of a community of sentiment, whether it be the sentiment of a common blood or the sentiment of a common religion or the sentiment of a common interest or all of these sentiments combined… But the progress, however rapid it may be, is one of growth and not of manufacture. The first impulse of the developing nation is to provide itself with a centre, a means of self-expression and united action…”[13].

Auch dieses Konzept entspricht noch der westlichen, zwar ideellen aber nicht spirituellen Idee von der Nation.

“But such feelings and thoughts (Nationalism, Democracy, the aspiration towards liberty) are more powerful than fighting men and guns and prisons and laws and ukases.”[14]

Diese Passage vom Juni 1907 beschreibt weiter seine ideelle Sicht. Hätte er spirituelle Ansichten überzeugt vertreten, hätte er sie wohl in diesem Zusammenhang erwähnt.

Doch seine Sicht scheint sich zu wandeln. Einen Monat später spricht er erstmals von einer spirituellen Aufgabe, die Indien in der Welt zu verrichten habe:

“we advocate the struggle for Liberty first…, secondly … and thirdly, because in the next great stage of human progress it is not a material but a spiritual, moral and psychical advance that has to be made and for this a free India must take the lead”[15]. Im Februar 1908 schreibt er:

“Svaraj is not mere political freedom, but a freedom vast and entire, freedom of the nation, spiritual freedom, social freedom, political freedom”. Hier wird der Begriff desSvarajder Idee vonmokshaangenähert. Es geht nicht mehr alleine um die politische Unabhängigkeit.

Noch deutlicher wird er im März des selben Jahres:

„the work which we have to do for humanity is a work which no other nation can accomlish, the spiritualisation of the race“[16] und “The movement of which the first outbreak was political, will end up in a spiritual consummation”[17]

Hier haben sich deutlich Gedanken entwickelt, die seinen späteren Ideen nahekommen. Welche genauen Vorstellungen Aurobindo schon vor seinem Gefängnisaufenthalt hatte, lässt sich nicht genau rekonstruieren, aber einige Punkte sind schon deutlich ausgesprochen:

- schon in England eine ideelle Grundhaltung, die nicht materiell rational argumentiert, sondern Begriffe wie „Freiheit“ und „Nation“ ungefragt als Ziele des Handelns sieht

- Die Voraussetzung politischer Freiheit für die Erreichung spiritueller Ziele

- Die Vorstellung von einer spirituellen Evolution der Menschheit, bei der Indien eine führende Rolle zu spielen hat

Diese Haltungen hat Aurobindo im letzten Jahr vor seinem

Gefängnisaufenthalt entwickelt. Von einem unreflektierten Ziel „Freiheit für Indien“ ist er, seinen Schriften nach zu urteilen, zu einer Theorie gekommen, die den revolutionären Kampf in einen größeren Rahmen stellt.

3.5 Die Verwendung des Bande Mataram

Ähnliches scheint für seine Beziehung zur späteren Nationalhymne, dem „Bande Mataram“ zu gelten. Schon früh verehrte er Bankim Chandra Chatterji für dessen Gesamtwerk. 1905, bei der Sitzung des Congress im August (Dem „Town-Hall meeting“), wurde das Lied zum ersten Mal gesungen. Aurobindo war damals wohl froh, dass die Massen dadurch begeistert waren. Er war aber nicht daran beteiligt, dieses religiös- nationalistische Lied zu verbreiten.

Im Januar 1908 sagt er bei einer Rede dann folgendes dazu:

“The song, was not only a national anthem to be looked on as the European nations look upon their own, but one replete with mighty power, being a sacredmantra, revealed to us by the author ofAnanda math, who might be called an inspired Rishi.”[18]

Der inspirierte Dichter wird zum Rishi und ein poetisches Lied wird zum mantra. Von ideeller Wertschätzung verändern sich Aurobindos Deutungen zu spirituellen. Seine Ideen präsentieren sich nun als Fortführung indischer Tradtition, mit all der Schwere, Tiefe und Pathos, die ihr angemessen sind.

3.6 Aurobindos religiöse Praxis

Aurobindo wendet sich inhaltlich religiösen Themen und Argumentationen zu. Gilt dies auch für seine persönliche Praxis? Nach eigener Aussage begann Aurobindo mit Yoga 1904[19] „to find the spiritual strength which would support him and enlighten his way“[20].

Dies sagt er, um einem Biographen zu widersprechen, der den Beginn seiner Yoga-Praxis einer spirituellen Unzufriedenheit zuschreibt. Yoga sollte ihm lediglich die Kraft gegeben haben, seine politischen Ziele besser zu verfolgen. In mehreren Fällen widerspricht er Biographen, die ihm schon früh spirituelle Ziele und ausgedehnte Praxis unterstellen. Dieser Einspruch muss jedoch nicht unbedingt aus Wahrheitsliebe von ihn ins Feld geführt werden. Ihm mag auch die strikte Trennung seiner politischen und spirituellen Phase wichtig sein. Die offensichtlich schon vor dem Gefängnis auftretenden Ideen einer spirituellen Evolution passen nicht ganz zu dem Gnadenerlebnis im Alipur-Jail, das für sein Selbst- Verständnis so wichtig ist. Demnach wurde ihm dort durch eine Erscheinung plötzlich ein großer Teil Weisheit zuteil.

Es gibt keine Belege für oder gegen eine ausgedehnte religiöse Praxis vor dem Gefängnisaufenthalt. Die dokumentierten Treffen mit religiösen Führern mögen aus persönlichen, politischen oder beiden Gründen stattgefunden haben.

Sein Treffen mit Lele und die intensiveren Yoga-Übungen finden nach seiner Aussage zum Jaheswechsel 1907/08 statt. Er erfuhr eine „condition of silence of the mind, which he had come by his meditation for 3 days with Lele in Baroda and which he kept for many months and indeed always thereafter“[21]. Das wäre ein halbes Jahr, nachdem er in „Bande Mataram“ die ersten Aussagen macht, die über den idealistischen Nationalismus hinausgehen.

Ein Zusammenhang zwischen religiöser Praxis und religiösen Inhalten muss nicht bestehen.

Jedoch deuten die wenigen Informationen, die wir über seinen frühen Yoga haben und die Veränderung des Tones in Aurobindos Schriften darauf hin, dass sich für ihn ab dem Sommer 1907 in dieser Beziehung etwas geändert haben mag. Ob er schon vorher seinen Nationalismus als Teil einer spirituellen Evolution gesehen hat, ob er schon vorher intensiv meditierte, ob ihm schon vorher indische Mythen als wirklicher erschienen als die griechischen, mag dahin gestellt sein. Jedenfalls ist er sich ab dann seiner Sache so sicher, dass er damit an die Öffentlichkeit geht, sowohl in seinen Artikeln als auch in den erhaltenen Reden.

4. Spätere Interpretationen

Auorobindos eigene Schriften können Regalreihen füllen, die Schriften über ihn ganze Bibliotheken. Zwar beschäftigt sich nur ein kleiner Teil seiner Interpreten in Ausführlichkeit mit den politischen Gedanken des frühen Aurobindo, doch auch in diesem Bereich sind die Texte bis heute unübersehbar viele. Das bekannteste Buch ist „Prophet of Indian Nationalism“ von Karan Singh, Prinz von Kashmir, Kanzler der Benares Hindu University und späterer Minister in Nehrus Kabinett. Er schrieb bis 1962 an seiner Abschlussarbeit über Aurobindos politische Philosophie.

Die meistgenannten Autoren, auf die er und alle späteren sich berufen sind das Ehepaar Uma und Haridas Mukherjee. Ende der 50er Jahre des letzten Jahrhunderts veröffentlichten sie eine Reihe von Büchern über die Unabhängigkeitsbewegung und Sri Aurobindo im Besonderen. „The origins of the national education movement“, „Bande Mataram and Indian Nationalism (1906-08)“, „Sri Aurobindo’s Political thought (1983-1908)“, „Indias fight for freedom or The Swadeshi Mivement (1905-06)“, “Sri Aurobindo and the new thought in Indian politics” und andere. In späteren Jahren werden sie immer wieder Artikel zum Thema veröffentlichen und in den meisten Schriften über Aurobindo`s politische Zeit häufig zitiert.

Andere, bei den Mukherjees und Singh genannte Bücher sind leider hier schlecht erhältlich, scheinen allerdings auch keinen großen Einfluss auf die englischsprachige Literatur (und damit auch die deutsche Diskussion) über Aurobindos politische Zeit gehabt zu haben. Wie sehen also die erhältlichen Autoren Aurobindos politisch aktive Phase?

“In fact it would not be incorrect to say that Sri Aurobindos political theory was firmly grounded in and grew out of his deep spiritual convictions. Politics for him were an extension, as it were, of his theory of personal, national and universal spiritual development.”[22]

„He looked at India as a living and pulsating spiritual entity“[23] Schreibt Karan Singh über Aurobindo und meint damit ausdrücklich seine gesamte politische Laufbahn. Die Belege, die er anführt, stützen zwar einen idealistischen Nationalismus, nicht aber diese Aussagen. Außerdem stammen sie ausschließlich aus der Phase kurz vor dem Gefängnisaufenthalt in Alipur oder sogar aus späteren Schriften. Die Interpretation scheint Singh von den Mukherjees übernommen zu haben:

“It [the struggle for freedom] was a movement not entirely political in character but essentially a spiritual movement for the recovery of our ancient self and greatness, our individuality as a nation through political emancipation”[24]

“The new-born passion for the country, which appeared no longer as a peace of earth but an image of the Cosmic, had then seized the mind of the people, and it was Sri Aurobindo who gave a most passionate and fearless expression to their rising hopes and aspirations.”[25]

“With many others in the field it was a political sentiment, but with them [Bipin Chandra and Sri Aurobindo] it was a divine energy for the resurrection of the national soul; they were of it and in it; they made it a religion on the altar of which nothing was too dear for them to make an offering”[26]

Keines der Zitate ist mit Aussagen Aurobindos belegt. Auch die Mukherjees differenzieren nicht zeitlich, wenn sie die politische Philosophie darstellen. Aus ihren und Singhs Schriften spricht selbst ein glühender Patriotismus und die Verehrung von Aurobindo als Messias des Nationalismus:

„This combination of intellectual ability, artistic sensibility and patriotic fervour required only the deep spiritualizing influence of India - with her age-old philosophy and culture stretching back unbroken into the dawn of history - to transform Aurobindo into one of the most remarkable political figures in the history of modern India“[27]

Das Ziel ihrer Veröffentlichungen scheint nicht so sehr eine genaue Untersuchung der Entwicklung Aurobindos Gedanken zu sein, sondern eher die Würdigung eines geistigen und politischen Nationalhelden - eine Aufgabe, die sie gut erfüllt haben. Dies scheint auch der Tenor späterer Bücher zu sein:

1977 schreibt Susan O`Connor: „Currently with his intense political acitvity, „Aurobindo experienced the riches of the spiritual dimensions to life [...] Aurobindo feels no conflict, no wavering, no opposition between yoga and politics”[28] 1988 schreiben Gupta und Ranchan, Aurobindos spirituelle Erfahrung bei seiner ersten Ankunft in Indien habe ihn zu seinem Engagement in Politik getrieben.[29] und 1993 Das: „If Swaraj became the mantra of his life, this mantra was intended for the worship of the Divine Mother, the Indian Nation. For him the Nation was not a mere geographical entity, it was a Goddess incarnate, …”[30] all diese Aussagen lassen sich durch nichts belegen, was in den erhaltenen Schriften zu finden ist. Aurobindo schreibt selbst und hätte auch gar keine Zeit für viel anderes gehabt, dass er bis 1908 vor allem für die Politik tätig war. Seine Erlebnisse bei der Ankunft in Indien erzählt er viel später und bringt sie nicht in Zusammenhang mit seiner politischen Aktivität, die er außerdem schon in England begonnen hatte. Auch spricht er nie von Indien als einer Göttin. Seine Verehrung gilt bahwani, nicht bharati. Die bharat mandirs entstanden viel später und waren nicht Teil seiner Ideologie vor 1908.

5. Aurobindos eigene Darstellung

Aurobindo hielt nicht viel von Biographien und gab nur verstreute

Kommentare zu seiner Vergangenheit ab. Seine eigene Entwicklung sei ihm selbst ein Rätsel, wie solle sie dann von anderen verstanden werden. Es liegt ihm allerdings am Herzen, eine deutliche Trennung zwischen seiner politischen Zeit und dem spirituellen Weg zu machen. Den Wendepunkt gibt er mit seiner Inhaftierung und den Erlebnissen im Gefängnis an. Er widerspricht Autoren, die von einem Einfluss Vivekanandas auf den frühen Aurobindo sprechen[31] und die ihm spirituelle Unterrichtung und Gespräche unterstellen[32]. Für ihn war die Zeit bis zum Gefängnis allein dem politischen Kampf gewidmet, die danach nur dem spirituellen Weg.

Für ihn gab es zwei getrennte Phasen seines Weges - die meisten seiner Interpreten wollen seine religiöse Ausrichtung am liebsten schon während seiner Pubertät erkennen, unterstellen aber zumindest dem politischen Kampf eine spirituelle Basis.

6. Zusammenfassung

Die Wirklichkeit liegt zwischen diesen Extremen seiner eigenen

Darstellung und der seiner Interpreten, die ihm wohl nicht einmal bewusst widersprechen. Aurobindo war schon immer ein Idealist, wie seine frühen Gedichte sowie sein gesamtes politisches Werk zeigen. Die Befreiung Indiens war nie rein zweckrationales politisches Ziel, das sich jederzeit ändern konnte. Er sah in der Unabhängigkeit, inSwaraj, einen Wert für sich, für den es sich zu kämpfen lohne. Mit dieser Sichtweise stand er Ende des 19. Jahrhunderts in Indien recht alleine. Der Congress verfolgte einen gemäßigteren Kurs, den er ohne Beteiligung der Massen fahren wollte.

Aurobindo wusste, dass er die Massen mobilisieren musste, wollte er denn mit seinen Zielen erfolgreich sein[33]. Ob ihn dies motivierte, immer mehr religiöses Vokabular zu verwenden oder ob er es aus eigener innerer Überzeugung tat, sei dahingestellt. Fest steht, dass sich vom Sommer 1907 bis in das folgende Jahr eine tiefgreifende Wende in seinen Argumentationen vollzogen hatte. Der Freiheitskampf wird in den größeren Zusammenhang der spirituellen Evolution der Menschheit gestellt. Das Konzept desSwarajbekommt den Charakter vonmoksha, einer umfassenden, die gesamte Person betreffenden Befreiung, zu der politische Unabhängigkeit nurmehr eine Vorstufe ist. 1908 wird er für ein Jahr inhaftiert, hält danach seine berühmte Uttarpara-Rede mit den bekannten Inhalten. Weitere Veröffentlichungen in „Karmayogin“ und „Dharma“ folgen, bevor er sich 1910 ganz aus dem politischen Leben nach Pondichery zurückzieht.

Der Wandel in seiner Ideologie hat sich, wenn auch nur ein paar Monate oder Jahre, so doch deutlich vor seinem Gefängnisaufenthalt vollzogen. Ihm wurde nicht in einer einzigen Vision all das neue Wissen zuteil, das ihn radikal sein Leben ändern lassen sollte, sondern es gab einen Prozess.

Es gibt offensichtliche Widersprüche in dem, was hier spiritueller Nationalismus genannt wird, so etwa in der Frage der individuellen Freiheit im Gegensatz zu Forderungen zur bedingungslosen Nachfolge[34]. Ob sie es waren, die Aurobindo mehr und mehr an der Nationalismusbewegung zweifeln ließen oder ob es ganz und gar andere Gründe waren, sich schließlich aus der Politik zu verabschieden, bleibt ungewiss. Er war jedenfalls nicht der einzige radikale Nationalist dieser Zeit in Indien, der sich schließlich aus der Politik in die Meditation zurückzog[35]. Viele seiner Mitstreiter hatten als politische Unabhängigkeitskämpfer begonnen und sich immer mehr spirituellen Themen genähert. Er war mit seinem Lebensweg nicht alleine und so ist eine langsame Entwicklung seiner Ansichten auch im Austausch mit anderen wahrscheinlich.

Insofern muss auch den späteren Interpreten widersprochen werden, allen voran den Mukherjees und Karan Singh. Aurobindo war nicht von Anfang an von einer weltweiten spirituellen Entwicklung überzeugt, von übernatürlichen Wahrnehmungen beschenkt oder von einem Wissen über seinen Lebensweg erleuchtet. Erst ab 1907 sind religiöse Inhalte in seinen Reden nachweisbar. Auch dieser außergewöhnliche Lebensweg, dem die indische Unabhängigkeitsbewegung mehr verdankt als allgemein bekannt, zeigt eine Entwicklung von Ideologien und war nicht von Beginn auf ein festes Ziel hin, der Aufgabe als spiritueller Meister, ausgerichtet.

ZITIERTE LITERATUR:

AUROBINDOS gesammelte Werke in: „Sri Aurobindo Birth Centenery Library“, Sri Aurobindo Ashram (Hrsg.), Pondicherry, 1972

- DAS, Swarnmala: „Sri Aurobindo, A Political Thinker“, New Delhi, 1993

- GROVER, Verinder: “Political Thinkers of Modern India”, Bd. 11 “Sri Aurobindo Ghose”, New Delhi, 1992

- JOHNSON, David L.: “The task of relevance: Aurobindo`s synthesis of religion and politics” in “Philosophy East and West”, Vol. 33, DEUTSCH, Eliot (Hrsg.) , S.450ff, Honolulu, 1992

- MUKHERJEE, Uma und Haridas: “India`s fight for freedom“, Calcutta 1958

- MUKHERJEE, Uma und Haridas: “Sri Aurobindo and the new thought in Indian politics“, Calcutta 1964

- O`CONNOR, June: “The Quest for Political and Spiritual Liberation”, New Jersey, 1977

- RANCHAN, Som und GUPTA, K.D.: “Sri Aurobindo as a political thinker“, New Delhi, 1988

- SARKAR, Sumit: “The Swadeshi Movement in Bengal, 1903-1908”, New Delhi, 1973

- SINGH, Karan: “Prophet of Indian Nationalism”, 1. Ausgabe Great Britain, 1963, 3. Ausgabe, Bombay 1991

[...]


[1] „Bhawani Mandir“, SABCL1, S.66

[2] „Bahwani Mandir“, SABCL1, S.72

[3] „Bhawani Mandir“, SABCL1, S.72

[4] Vgl. “Sri Aurobindo on himself, SABCL26, S.56

[5] Es wundert allerdings, dass eine Passage eben dieses Textes immer wieder in Zusammenhang mit Aurobindos Nationalismus zitiert wird: „For what is a nation?... It is a mighty Shakti, composed of the Shaktis of all the millions of units that make up a nation...“ SABCL26, S.65

[6] The swadeshi movement in Bengal“, S.483

[7] Vgl. „Sri Aurobindo on himself“, SABCL26, S.17

[8] „New Lamps for the old - 1“,SABCL1, S.9

[9] „Many delusions“ SABCL1, S.235

[10] „Religion and Bureaucracy“, SABCL1, S.817

[11] „The new Ideal“, SABCL1, S.834

[12]„Lines of Irland“ in SABCL “Collected Poems”, S.12f

[13] „Yet there is a method in it“ SABCL1, S.207

[14] „The strength of the idea“, SABCL1, S.411

[15] „Europe and Asia“, SABCL1, S.465

[16] „Spirituality and Nationalism“, SABCL1, S.799

[17] a.a.O. S.801

[18] „Bande Mataram“, SABCL1, S.666

[19] SABCL26, S.62

[20] a.a.O. S.18

[21] a.a.O. S.49

[22] Singh, „Prohpet of Indian Nationalism“, S.44

[23]a.a.O. S.75

[24] Mukherjees im Vorwort zur ersten Ausgabe von „Sri Aurobindo and the new thought in Indian politics“

[25] Mukherjees, “Sri Aurobindo and the new thought in Indian politics”S. xviii

[26] Mukherjees, „Sri Aurobindo and Bande Mataram“ in Grover:“political Thinkers of modern India“, S.355

[27] Singh: „Prophet of Indian Nationalism“, S.41

[28] O`Connoer: „The quest for political and spiritual liberation“, S.20f

[29] Ranchan/Gupta: „Sri Aurobindo as a political thinker“, S.5/6

[30] Das: „Sri Aurobindo, a political thinker“, S.39

[31] „Aurobindo on himself“, SABCL26, S.17

[32] a.a.O. S.18/19

[33] „Aurobindo on himself“, SABCL26, S.16

[34] Vgl. Johnson: „The task of relevance: Aurobindo`s synthesis of religion and politics” in “Philosphy East&West”, S.450f

[35] Vgl. Sarkar: “The swadeshi movement in Bengal 1903-1908”, S.316

Ende der Leseprobe aus 19 Seiten

Details

Titel
Aurobindo Ghose: Religiöse Elemente seiner nationalistischen Ideologie vor 1908
Hochschule
Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn
Veranstaltung
Politik und Religion
Note
1,7
Autor
Jahr
2002
Seiten
19
Katalognummer
V106769
ISBN (eBook)
9783640050444
Dateigröße
457 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Aurobindo war einer der ersten Unabhängikeitskämpfer Indiens und entwickelte die Methoden, mit denen Gandhi Erfolg haben sollte, bevor er als Sri Aurobindo in Podycherry einen Ashram gründete und v.a. durch seinen "Integralen Yoga" weltweit bekannt wurde. Im Gegensatz zu seiner eigenen Darstellung und der! vieler Biographen entwickelte er schon in seiner natiolalistischen Ideologie religiöse Konzepte, die auch heute noch in Indien nachwirken.
Schlagworte
Aurobindo, Ghose, Religiöse, Elemente, Ideologie, Politik, Religion
Arbeit zitieren
Simon Benz (Autor:in), 2002, Aurobindo Ghose: Religiöse Elemente seiner nationalistischen Ideologie vor 1908, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/106769

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