Beobachtung - Am Beispiel Essensverhalten in der Mensa


Seminararbeit, 2000

18 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


1. Einleitung

1.1. Allgemeines

Im Rahmen des Seminars "Methoden der Kommunikations- und Medienforschung“ , wurde die Aufgabe gestellt, eine empirische Forschung durchzuführen. Unter den Seminarteilnehmern wurden mehrere Gruppen zwischen zwei und vier Personen gebildet. Man konnte zwischen den Methoden Beobachtung, Inhaltsanalyse, Experiment und Befragung wählen. Zu unserer Gruppe gehören:

Jörg Rebelein, Christian Fuchs, Susann Böhning und Juliane Lischka. Wir hatten uns für die Forschungsmethode: Beobachtung entschieden.

1.1. Problem

Jetzt kam als erstes die Aufgabe auf uns zu, ein geeignetes Thema für unsere Beobachtung zu finden. Da es untypisch ist, daß man zuerst eine Methode wählt und danach das Problem bzw. das Thema das man untersuchen möchte, war es schwerer als wir vermuteten ein geeignetes Thema zu finden. Bei einer wissenschaftlich Untersuchung hat man normalerweise zuerst ein Problem, und danach entscheidet man sich für eine geeignete Methode, mit der man das Problem untersuchen will. Bei uns war es genau umgekehrt. Wir hatten eben erst die Methode und suchten daraufhin ein Thema. Dabei ist uns aufgefallen, das viele Beobachtungen eigentlich Experimente sind, die beobachtet werden.

Oft werden Gegenstände oder Situationen im alltäglichen Leben von Menschen verändert, um zu beobachten, wie die Personen damit umgehen.

Die Grundidee für unsere Beobachtung entstand in der Mensa am Ernst-Abbé-Platz, Jena. Dort steht direkt neben der Geschirrabgabe ein langer Tisch, auf dem ein Schild angebracht ist, auf dem hingewiesen wird, kein Geschirr auf dem Tisch abzustellen, sondern es auf das dafür vorgesehenen Laufband zu stellen. Dieses Schild ist gut lesbar angebracht (siehe Anlage 1.1). Jeder der dort etwas abstellen will, hat also sofort das Schild vor Augen. Da aber zu Stoßzeiten zu viele Studenten ihr Geschirr zur gleichen Zeit abgeben wollen, entsteht eine lange Warteschlange vor dem Laufband. So stellen Einige ihr Geschirr trotz des Hinweisschildes einfach auf dem Tisch ab und gehen. Sie mißachten also das Hinweisschild, obwohl es von Ihnen gelesen wurde.

Ein zweiter Punkt, der uns auf die fehlende Idee bringen sollte war der Artikel "Platzreservierung für Mensa Ernst-Abbé-Platz" in der Zeitung "Akrützel" (November, 1 1999). Dort wird darauf hingewiesen, das nach der Einweihung der modernen Mensa erstmals, zunächst versuchsweise, Mensasitzplätze telefonisch oder per Fax reserviert werden können (siehe Anlage 1.2).

Wie sich dann herausstellte war dieser Artikel vom Studentenrat. Dieser wollte mit dem Artikel Kritik üben, weil die neue Mensa am Ernst-Abbé-Platz viel zu klein ist und somit die Kapazität an Sitzplätzen nicht ausreicht, wenn viele Studenten zur gleichen Zeit Essen gehen. Das heißt, jeder Anruf bei der Mensaverwaltung war vergebens, wenn man sich Sitzplätze reservieren wollte.

Wir dachten uns, wenn bei dem Sitzplatzmangel in der Mensa noch Tische bzw. Stühle reserviert werden könnten, gäbe es bestimmt viele Studenten, die sich über so eine Reservierung hinwegsetzen würden und einfach dort Platz nehmen wo ein Sitzplatz frei ist, egal ob er reserviert ist oder nicht.

So entstand unsere Idee, eine Beobachtung durchzuführen, indem wir in der Mensa zwei Tische reservieren und beobachten, ob die Reservierung akzeptiert wird oder nicht. Wir mußten uns eine Genehmigung von der Mensaverwaltung einholen, daß wir für unsere Beobachtung zwei Tische "reservieren" dürfen.

Allgemein wollten wir damit das Thema "Inwieweit akzeptieren Menschen Einschränkungen in ihren täglichen Lebensbereich?" untersuchen. Wir stellten also Thesen auf, welche mit Hilfe einer Beobachtung widerlegt beziehungsweise nachgewiesen werden sollten.

Eine Beobachtung durchzuführen heißt menschliches Handeln, Sprache und nonverbale Reaktionen zu beobachten.

Es gibt verschiedene Arten der Beobachtung:
1. Teilnehmende versus nichtteilnehmende Beobachtung
2. Offene versus verdeckte Beobachtung
3. Feldbeobachtung versus Beobachtung im Labor
4. Unstrukturierte versus strukturierte Beobachtung
5. Fremdbeobachtung versus Selbstbeobachtung1(vgl. Diekmann, 1998, S.469)

Wir haben uns für eine nichtteilnehmende, verdeckte Feldbeobachtung entschieden. Das hatte zum Beispiel den Vorteil, daß wir während wir beobachteten, Notizen machen konnten und es somit einfacher hatten in kurzer Zeit möglichst viel schriftlich festzuhalten um später eine bessere Auswertung zu ermöglichen. Es wäre auch zwecklos gewesen, sich bei der Beobachtung zu erkennen zu geben (Offene Beobachtung), da viele Leute ganz anders reagiert hätten, als sie es bei unserer verdeckten Beobachtung getan haben. Das hätte dann zu einem falschen Ergebnis bei der Auswertung der erhaltenen Daten geführt und somit hätte man vielleicht falsche Thesen angenommen und richtige Thesen verworfen. Wir haben unsere Beobachtung in einer natürlichen Umgebung durchgeführt. So war der Aufwand, die Beobachtung durchzuführen, relativ gering. Es mußten keine künstlichen Räume oder ähnliches geschaffen werden. Natürlich treten bei einer Beobachtung, wie auch bei anderen Methoden, Fehler auf. Die Fehlerquellen liegen beim Beobachter, dem Instrument und der Situation. (vgl. Friedrichs, S. 284)2

Wir selbst zum Beispiel, waren keine geschulten Beobachter. Uns wurde also vor der eigentlichen Beobachtung kein Hinweis gegeben, worauf wir genau achten sollen beziehungsweise wo evtl. Fehlerquellen liegen, die von vornherein vermeidbar sind. Normalerweise sind Beobachter geschult um möglichst exakte Ergebnisse zu erhalten bzw. mögliche Fehler einzudämmen. Eine weitere Fehlerquelle ist zum Beispiel, wenn der Beobachter bestimmte Gesten oder verbale Äußerungen zwar richtig wahrnimmt, aber falsch interpretiert. Manchmal ist ein Schlag auf die Schulter eines anderen eine freundliche Begrüßung. Aber wenn der Beobachter diesen Schlag auf die Schulter als Gewaltgeste auffaßt und sie als solche interpretiert, sind die Ergebnisse nicht valide.

Des weiteren beeinflußt das Befinden, die Motivation, Hunger, Angst ecetera pp. die Wahrnehmung des Beobachters.

Dennoch haben wir versucht, alle uns bekannten Fehlerquellen auszuschließen und haben unsere Beobachtung erfolgreich durchgeführt.

2. Forschungsfrage und Thesen

2.1 Forschungsfrage

Aus den oben genannten Gründen folgte die Aufstellung folgender Forschungsfrage: Inwieweit akzeptieren Menschen Einschränkungen in ihren täglichen Lebensbereich? Untersucht am Beispiel von Reservierungen.

Anders gesagt, wollten wir erforschen, wie Studenten auf Beschränkungen in ihrem natürlichen Alltagsumfeld reagieren. Wie handeln sie ? Halten sie sich an Restriktionen? Aber wo sind die meisten Studenten an einem Ort und wo halten sich viele Studenten mindestens ein mal pro Tag auf? In der Mensa.

Deshalb wählten wir für unsere Feldbeobachtung Jenaer Mensen aus, in denen wir das Verhalten auf Reservierungen untersuchen konnten. Genaugenommen „reservierten“ wir

zwei Tische, doch dazu später mehr. Die Reservierung sollte für einen „hohen Gast“ der Friedrich-Schiller-Universität Jena sein, damit sie auch legitimiert ist und ernstgenommen wird.

2.2. Thesen

Aufgrund unserer Frage stellten wir folgende 7 Thesen auf.

1. Mensabesucher respektieren Reservierungen im Allgemeinen.

Wir behaupten, daß Menschen, die in der Mensa essen sich größtenteils an Einschränkungen, in unserem Fall in Form von Reservierungsschildern, halten. Sie suchen sich andere Sitzmöglichkeiten, auch wenn keine sichtbare Kontrolle der Freihaltung der Plätze erfolgt. Weil Gebotsschilder für den größten Teil der Besucher eine ernstzunehmende Instanz darstellen.

2. Mensabesucher respektieren Reservierungen eher, wenn genügend

Ausweichmöglichkeiten vorhanden sind.

Wir behaupten, daß diejenigen Menschen, die in der Mensa essen die Einschränkung eher tolerieren, wenn in unmittelbarer Nähe noch ausreichend alternative Sitzmöglichkeiten zur Verfügung stehen. Denn der Mensch neigt zu Bequemlichkeit. Eine Einschränkung lässt sich daher besser einhalten, wenn es naheliegende Alternativen gibt.

3. Es gibt Unterschiede im Verhalten zwischen Gruppen und Einzelpersonen.

Wir behaupten, daß Menschen, die in Gruppen die Mensa besuchen ein anderes Verhältnis zu den Einschränkungen haben, als Einzelbesucher. So spielen verschiedene soziologische Phänomene eine große Rolle. Zum Beispiel die Gruppendynamik , bestimmtes Gruppenverhalten und der Gruppenzwang. Es ist beispielsweise vorstellbar, daß Einzelpersonen eine höhere Toleranz gegenüber den Einschränkungen haben, als die Gruppen.

4. Es gibt Unterschiede im Verhalten weiblicher und männlicher Mensabesucher.

Wir behaupten, daß es zwischen den Geschlechtern auch verschiedene beobachtbare Unterschiede im Verhalten gegenüber den Einschränkungen gibt. So ist vorstellbar, daß alte Rollenmuster in abgeschwächter Form immer noch funktionieren. Das Klischee impliziert folgendes Verhalten; Die Frau alsliebe, gesetzestreue und ehrliche Bürgerinund immerdarauf bedacht allen Streitigkeiten aus dem Weg zu gehen. Und der Mann als draufgängerischer, rüpelhafter Held, derseine Stärke durch Mißachtung von solchen Banalitäten demonstriert.

5. Es gibt Unterschiede im Verhalten jüngerer undälterer Mensabesucher.

Wir behaupten, daß das Alter auch andere Verhaltensmuster an den Tag legt.

Ältere Menschen haben in Ihrem Leben schon viel erlebt und werden aus diesen Erfahrungen heraus sich an Ge- und Verbote halten, sie akzeptieren. Außerdem wurden ältere Leute in einer Zeit geprägt und erzogen, in der noch Respekt gegenüber wichtigen Personen als selbstverständlich galt. Studenten sind durch ihre ganze Mentalität und Ihren Lebensstil eher an andere Gepflogenheiten gewöhnt.

6. Wenn die Mensa voll ist, wird der leere Tisch zuerst angesteuert.

Wir behaupten, daß viele Menschen, die auf Platzsuche sind zuerst den Tisch aufsuchen, an dem keine Person sitzt (der also wegen der Reservierung noch frei ist). Da jeder Mensch doch immer allein sein möchte und nicht unbedingt mit fremden Menschen sein Essen einnehmen möchte. (siehe auch in Zügen: viele Abteile die nur mit einer Person besetzt sind). Der Platzsuchende handelt in dem Moment nach seinem ursprünglichen, natürlichen Empfinden. Er handelt entsprechend der Individualinstanz.

7. Menschen sind neugierig und wollen wissen, was auf dem Schild steht .

Wir behaupten, daß ein Großteil der vorbeilaufenden Menschen neugierig auf das unbekannte Schild schauen werden. Obwohl sie gar nicht an einem Platz oder den Personen an dem Tisch interessiert sind. Sie interessieren sich nur für das Schild.

3. Die Beobachtung

3.1. Vorgeschehen/Allgemeine Fakten

Im Vorfeld der Beobachtung gab es verschiedene Schwierigkeiten mit dem Studentenwerk Jena-Weimar, daß für die Verwaltung der Mensen in Jena zuständig ist. Das Studentenwerk hatte sich in letzter Zeit großer Kritik zu stellen, daß sie mit ihren Mensa Neubau am Ernst-Abbé-Platz zuwenig Platzmöglichkeiten anbieten. Nun war das Studentenwerk vorsichtig geworden und hatte Angst, daß durch unsere Reservierung eine Flut von Beschwerden eintrifft.

Nichts desto trotz konnten wir die Mitarbeiter überzeugen und durften nun an zwei Tagen in zwei Mensen zwei Tische mit je vier Plätzen für unsere Pseudo-Reservierung nutzen. Wir wollten unsere Beobachtung an zwei unterschiedlichen Tagen durchführen, damit 5 etwaige terminale Besonderheiten nicht so sehr ins Gewicht fallen. Die Beobachtung an zwei Orten war uns wichtig, damit wir einen recht repräsentativen Überblick erhalten konnten. Wir nutzen die zwei von den drei Jenaer Universitätsmensen, von denen die größte Bedeutung ausgeht. Außerdem konnten wir so auch einen Vergleich zwischen zwei Beobachtungen ziehen.

Unsere Beobachtungen sollten dann auch in einer Zeit der größten Frequentierung der Essenssäle stattfinden. Aus Erfahrungen und Gesprächen mit Mitarbeitern der Mensen wählten wir die Zeit zwischen 12.00 Uhr und 14.00 Uhr.

Die erste Beobachtung führten wir am 24.11.1999, von 12.00 bis 14.00 Uhr in der Mensa am Philosophenweg durch. Diese Mensa wird hauptsächlich durch Studenten der naturwissenschaftlichen Studiengänge (z.B. Medizin) und Universitätsklinikumsangestellte genutzt und bietet für ca. 450 Menschen Platz. Täglich werden hier ca. 2000 Essen verkauft.

Den zweiten Teil der Beobachtung führten wir eine Woche später am 01.12.1999 in der Neubauten Mensa am Ernst-Abbé-Platz durch. Hier zählen Studenten jeglicher Fachrichtungen zum Klientel, da diese Mensa auch die größte, mit ca. 600 Plätzen in Jena ist. Im Gegensatz zur Mensa am Philosophenweg werden hier doppelt so viele, also ca. 4000 Essen täglich verkauft.

Zur Beobachtung wählten wir jeweils zwei zusammenstehende Vierer-Tische aus, die in zentraler Lage gut einsichtbar von allen standen. Ab der Eröffnung der Mensa um 10.00 Uhr waren jeweils 2 rote DIN-A4-Schilder mit den Worten „Reserviert für eine Delegation vom Kultusministerium Thüringen. Bitte heute ab 12.00 Uhr freihalten“ auf den Tischen angebracht.

Die Beobachtung begann um 12.00 Uhr damit, daß jeweils ein Mann und eine Frau aus unserer Projektgruppe sich unauffällig in die Nähe des ausgewählten Tisches setzten, um das Geschehen zu beobachten.

3.2. Beobachtung in der Mensa am Philosophenweg

In den gesamten zwei Stunden Beobachtungszeit

wurden 104 Personen registriert, die die Tische ansteuerten und sich setzten wollten. Von den 104 Personen waren 55 männlich (53%) und 49 weiblich (47%). Von diesen Personen setzten sich dann Gegenüberstellung der Personen nach "weitergegangen" und "gesetzt" (Philosophenweg) Personen, die sich gesetzt 10% schließlich aber nur elf Menschen (zehn Prozent) an 90% die Tische: sieben männliche Personen (64%) und vier weibliche (36 %). (siehe Diagramm 1) Dazu muß aber Diagramm 1 haben Personen, die vorbei gegangen sind noch erwähnt werden, daß die vier weiblichen Besucher alle Einzelpersonen waren und unter sich die sieben männlichen in zwei Einzelpersonen und zwei Gruppen (eine à drei Personen und eine à zwei Personen) aufgliederten. (siehe Diagramm 2) Von allen elf Personen waren insgesamt drei älter, als das natürliche Studentenalter (also weit über 30 Jahre). Es waren also 27 % derjenigen, die sich den Restriktionen widersetzten ältere Menschen. Wenn man sich bewußt macht, daß lediglich zwei bis fünf Prozent der Besucher der Mensa ältere Menschen Geschlechterverteilung der Personen am Tisch der Mensa Philosophenweg weibliche 36% Personen männliche 64% sind, entsteht da ein Mißverhältnis. Genau in die einzelnen Zeiten aufgegliedert, Diagramm 2 Personen ergab sich folgendes Bild der Tischbesetzung (siehe Diagramm 3). In der Zeit von 12.00 bis 12.15 Uhr saßen keine Menschen an den reservierten Tischen, in der folgenden ¼ Stunde kamen zwei hinzu, in der folgenden dann noch mal vier neue. Und am Ende der ersten Stunde wiederum kamen keine neuen Personen. Von 13.00 bis 13.15 Uhr setzten sich fünf Personen an die Tische. Von 13.15 bis 14.00 setzten sich keine neuen Personen an die Tische. Außerdem sollte noch erwähnt werden, daß sich auch vier Personen an die Tische setzten, und nach der Lektüre der Hinweisschilder sich einen neuen Platz suchten.

3.3. Mensa am Ernst-Abbé-Platz

An diesem Termin fand etwas statt, womit selbst wir nicht gerechnet hätten. Nach über einer Stunde eskalierte die Situation und beide Schilder wurden entwendet. Folgende Situation war vorausgegangen. Eine Gruppe männlicher Studierender, die an benachbarten Tischen saß führte eine Diskussion über die Glaubwürdigkeit und den Sinn der Reservierung. Sie waren sich aber einig, daß sie vielleicht durch die Kassenangestellten beobachtet würden und deshalb alles so lassen sollte, wie es war. Kurz darauf kamen zwei weiblichen Studenten, die einfach beide Schilder vom Tisch lösten und sie umgedreht auf einen anderen Tisch legten. Untereinander legitimierten sie ihr Verhalten damit, daß die Delegation garantiert schon dagewesen sei und sie ja jetzt den Platz brauchten. Die Gruppe der männlichen Studenten entwendete die Schilder dann endgültig mit den Worten „toller 7 Spaß, so können wir ja jetzt immer schon Plätze ‚reservieren‘ „. Deshalb dauerte die zweite Beobachtung nur von 12.00 bis 13.15 Uhr an.

In dieser Zeit wollten sich 121 Personen an die Tische setzten. Von diesen 121 Personen waren 39 männlich (33%) und 82 weiblich (67%). Hier ist eine klarere Dominanz der weiblichen Interessenten für die Plätze sichtbar, als in der ersten Beobachtung. Von diesen 121 Personen setzten sich in der einen Stunde und 15 Minuten 24 Personen (17%) an die Tische (siehe Diagramm 4). Von den 24 Personen waren sechs männlich und 18 weiblich. Ein Verhältnis also von 1:4 für die Frauen. (siehe Diagramm 5) Wobei, im Gegensatz zur ersten Beobachtung, hier keine Gruppe männlicher Besucher, sondern nur vier männliche Einzelbesucher auftraten. Unter den Frauen waren sechs Einzelbesucherinnen und vier Gruppen à zwei Personen, die sich an den Tisch setzten. Außerdem kam es hier auch zwei mal zu dem Fall, daß sich getrenntgeschlechtliche Gruppen oder „Pärchen“ bestehende aus einem Mann und einer Frau an den Tisch setzten (vier Personen).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Diagramm 4

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Prozentwert von 42 % Anteil älterer Menschen, die sich den Restriktionen widersetzten.

Gliedert man auch hier genau auf, in welchen Zeiten sich wieviel neue Besucher an die Tische setzten ergibt sich folgendes Bild.

Von 12.00 bis 12.15 Uhr saßen vier Personen an den acht Plätzen. In der folgenden ¼ Stunde setzten sich acht neue Besucher an die Tische. In der Zeit von 12.30 bis 12.45 Uhr waren es zwei neue Gäste. Von 12.45 Uhr bis zum Ende der Stunde setzten sich dann noch 6 neue Esser an die Tische. Und im letzten Intervall der Beobachtung von 13.00 Uhr bis 13.15 Uhr setzten sich vier Personen an die

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Zeit

freigewordenen Plätze. Unter ihnen eben auch die zwei Frauen, die die Beobachtung durch ihr Handeln beendeten. Im Vergleich zur ersten Beobachtung waren es hier auch genau vier Personen, die sich erst setzen und dann wieder einen neuen Platz suchten, um den Hinweis auf dem Schild zu befolgen. Insgesamt sollen hier außerdem noch ein paar Besonderheiten aufgeführt werden. In den gesamten drei Stunden und 15 Minuten Beobachtungszeit gab es insgesamt vier Versuche die Schilder zu entwenden, von denen einer, wie erwähnt, zum Erfolg führte. Des weiteren waren öfter Zitate zu hören, wie die folgenden:

„Was soll den das ?“, „Hää, Besuch vom Ministerium und die Essen in der Mensa“, „Scheiß Politiker“, „Ist doch gar niemand da !“, „Die waren bestimmt schon da, laß uns hinsetzten“.

Diese Zitate belegen zum einen die Unsicherheit über eine ungewohnte Situation, Ausdruck von Politikverdrossenheit und interne Legitimation der Zuwiderhandlung.

4. Die Deutung

4.1. Reservierung als soziale Norm

Im folgenden soll nun der Bezug der Ergebnisse zu den zuvor aufgestellten Thesen hergestellt und der Versuch gemacht werden, das Beobachtete zu erläutern. Bei der Erklärung sollte man zunächst einmal davon ausgehen, daß das von uns vorgegebene Reservierungsschild eine soziale Norm darstellt.

Als solche kann eine Regel definiert werden, die mehrere Menschen anspricht und sich auf wiederholbare Situationen anwenden läßt. Im weiteren bezieht sich der Begriff 'sozial' auf Richtlinien, die für den Menschen als gesellschaftliches Lebewesen unerläßlich sind. ( vgl. Bellebaum, 1983, S. 34 )

Die Notwendigkeit oder gar Unerläßlichkeit eines bestimmten Verhaltens - in unserem Fall das Akzeptieren einer Reservierung - kann als Voraussetzung für ein relativ konfliktfreies Zusammenleben in der Gesellschaft begründet werden.

Man stelle sich beispielsweise vor, Bedienstete des Kultusministeriums müßten in einer überfüllten Mensa auf das Freiwerden von Plätzen warten, da die für sie vorgesehenen, reservierten Tische von „uneinsichtigen“ Studenten besetzt sind. Wenn schon nicht unbedingt von Konflikten so könnte dann doch die Rede von aufkommenden Spannungen zwischen den "Gästen" der Friedrich-Schiller-Universität und den Studenten sein. Folgt man allerdings dieser Überlegung, so stellt sich zwangsläufig die Frage, warum denn dann Normen, also hier die Reservierungsschilder, nicht von allen betroffenen Gesellschaftsmitgliedern bedingungslos akzeptiert werden. Dieser Frage soll nun im einzelnen nachgegangen werden.

4.2. Begründung der Thesen

Bei der Formulierung der ersten These gingen wir davon aus, daß die größere Zahl der Mensabesucher die Reservierung akzeptieren wird, schlossen dabei aber auch nicht aus, daß sich eine geringe Zahl der Norm widersetzt.

Ein Vergleich der Zahlen derer, die das Schild akzeptierten mit denen, die sich trotz des Schildes setzten, beweist die Richtigkeit unserer These. Wie könnte dies erklärt werden ? Ein möglicher Ansatz wäre der, daß Normen nichts Absolutes sind und somit auch keinen Anspruch auf absolute Gültigkeit besitzen. So unterliegen sie in vielen Fällen den Auslegungen durch die Gesellschaftsmitglieder.

Daß Normen überhaupt funktionieren können, setzt die Existenz von sogenannten Normadressaten, Normsetzern und Normhütern voraus. ( vgl. Bellebaum, 1983, S. 56 ) Während erstere die sind, für die eine bestimmte Norm gilt, beschließen zweitere über die Norm. Schließlich fungieren die Normhüter als äußere Kontrollinstanz. In unserem Beispiel stellen die Mensabesucher die Normadressaten dar, da an sie das Verbot gerichtet ist, sich an die reservierten Tische zu setzen. Vernachlässigt man die Tatsache, daß die Reservierung nur von uns inszeniert war, müßte man den Chef der Mensaverwaltung als Normsetzer angeben und die in der Mensa arbeitenden Kassiererinnen als die Normhüter, da nur sie die Möglichkeit einer direkten Kontrolle über die reservierten Tische hatten.

Wie hoch die tatsächliche Geltung einer sozialen Norm ist, kann gemäß Bellebaum schließlich von den folgenden Faktoren abhängig gemacht werden:

1. dem Geltungsgrad, also dem Ausmaß, mit der Normsetzer selbst von der Norm überzeugt ist;

2. der Sanktionsbereitschaft, dem Maß, mit dem die Normüberwacher bereit sind, Abweichungen zu sanktionieren;

3. der Sanktionsmöglichkeit, dem Maß, mit dem die Normüberwacher Abweichungen sanktionieren können;

4. der Sanktionswahrscheinlichkeit, also der Frage, ob und wenn ja, wie stark die Abweichungen sanktioniert werden;

5. dem Wirkungsgrad, der Frage, ob die Norm überhaupt von den Normadressaten befolgt wird und wenn ja, wie stark;

Daraus ergibt sich der Zusammenhang: Je geringer die Sanktionsmöglichkeit ist, um so geringer ist auch die Sanktionswahrscheinlichkeit und um so geringer ist letztlich auch der Wirkungsgrad der Norm. ( vgl. Bellebaum, 1983, S. 73 )

Wiederum bezogen auf unser Reservierungsbeispiel kann man daraus folgendes ableiten:

Der Geltungsgrad einer Reservierung in der Mensa, also die Überzeugung des Mensaverwalters hinsichtlich der Wirksamkeit dieser Norm, wird wahrscheinlich nicht sehr hoch sein, da die Diszipliniertheit von Studenten bezüglich solcher Einschränkungen im allgemeinen bezweifelt wird. Diese Negativeinstellung wurde auch im Gespräch mit dem Leiter Jenaer Mensen, Herrn Burkhardt, deutlich, dessen Meinung auf schlechten Erfahrungen mit Reservierungen beruhte.

Auch die Sanktionsmöglichkeit muß in einer Mensa als gering eingeschätzt werden, da eine Kassiererin, selbst wenn sie es wollte, während der Zeit von 12 bis 14 Uhr kaum die Gelegenheit finden wird, Mensabesucher von den entsprechenden Plätzen zu "vertreiben". Somit sinkt auch die Sanktionswahrscheinlichkeit, d.h., die Mensabesucher können sich ziemlich sicher sein, daß ihr Vergehen gar nicht geahndet werden kann, da "ihre Normhüter" viel zu ausgelastet sind. Man konnte dies bei einigen Mensabesuchern daran erkennen, daß sie einen kurzen Blick in Richtung der Kassen warfen und sich anschließend setzten.

Alles in allem ist als Folge auch der zu erwartende Wirkungsgrad gering. Dies drückte sich darin aus, daß in beiden Beobachtunsfällen Mensabesucher an den reservierten Tischen Platz nahmen.

Neben diesem Ansatz ist ein weiterer Faktor dafür, ob eine Norm eingehalten wird oder nicht, zweifelsfrei der Grad der Wichtigkeit, der ihr beigemessen wird. Je unwichtiger eine Regel erscheint, um so eher wird gegen sie verstoßen.

In unserem Fall beispielsweise konnte bei einigen Personen ein Schulterzucken oder ein verständnisloser Blick bezüglich des Schildes bemerkt werden. In Zusammenhang damit steht auch ein gewisses "Nicht-Einsehen-Wollen" der Norm, ein bewußtes Verstoßen, weil man nicht akzeptieren will, daß einige Menschen Vorteile genießen, die man selbst nicht genießen darf.

Zusammenfassend hängt das Einhalten einer Norm also von der erwarteten Sanktion und von der prinzipiellen inneren Einstellung gegenüber Einschränkungen ab.

Die zweite These, also die Aussage, daß die Akzeptanz der Reservierung von den zur Verfügung stehenden Ausweichmöglichkeiten abhängt, konnte ebenfalls bestätigt werden. Obwohl wir diesbezüglich auf das genaue Festhalten von Zahlen der im Umkreis liegenden freien Plätze verzichteten und die Lage nur verbal einschätzten (zahlreiche/geringe Ausweichmöglichkeiten) , zeichnete sich die von uns erwartete Tendenz ab. Somit ist das Einhalten einer Norm auch eine Frage des Aufwandes, der durch die Einschränkung entsteht. Bedeutet das Akzeptieren der Einschränkung nur einen geringen Aufwand und eine geringe Abweichung vom üblichen Alltagsgeschehen, so wird 11 in der Regel nicht gegen diese Einschränkung verstoßen. Dies wurde folgendermaßen deutlich: Die meisten Personen, die auf die entsprechenden Tische zusteuerten und dann feststellten, daß diese angeblich reserviert waren, prüften zunächst erst einmal die Lage der umgebenden Tische und entschieden sich dieser gemäß. Je mehr Ausweichmöglichkeiten in der Umgebung vorhanden waren, um so seltener wurde die aufgestellte Regel verletzt. Im entgegengesetzten Fall konnte man beobachten, daß die Reservierung häufiger verletzt wurde, wenn wenige Ausweichmöglichkeiten in der Umgebung der Tische vorhanden waren.

Auch bezüglich der dritten These, den Unterschieden im Verhalten von Einzelpersonen und Gruppen, zeichnete sich eine Tendenz ab. Allerdings widersprach diese unseren Erwartungen. Während wir davon ausgegangen waren, daß sich die Einzelpersonen eher an das Verbot halten werden als Gruppen, war genau das Gegenteil zu beobachten. Die Zahlen belegen, daß sich mehr Einzelpersonen bzw. Gruppen aus zwei Personen an die Tische setzten als größere Gruppen. Folglich kann als Erklärung nicht die Stärke des einzelnen in der Gruppe herangezogen werden. Dagegen ist folgende Überlegung denkbar: Wie bereits unter Punkt 2 erwähnt, können für einem Besuch in der Mensa verschiedene Ursachen im Vordergrund stehen:. Zum einen natürlich das Essen an sich, da man Hunger hat, zum anderen aber auch das Essen aus Gewohnheit zu einem bestimmten Zeitpunkt am Tag. Je nachdem, ob Hunger oder Gewohnheit vorherrschen, verhalten sich Menschen bei einer Reservierung auf unterschiedliche Art und Weise. Herrscht beispielsweise der Hunger vor, so gilt die Nahrungsaufnahme als ein organisch bedingtes Bedürfnis. Menschen können auf eine Störung bei der Befriedigung dieses Bedürfnisses mit Anspannung, Nervosität und sogar Aggression reagieren. (vgl. Bellebaum, 1983, S.22) Folglich ist eine Mißachtung des Reservierungsschildes bei sehr hungrigen Personen wahrscheinlicher. Im gegenteiligen Fall wird die Reservierung eher akzeptiert, wenn das Essen entweder als gesellschaftliches Ereignis verstanden wird - wenn z.B. eine größere Gruppe zum Essen geht, um sich dabei zu unterhalten - oder wenn der Gang zur Mensa gewohnheitsmäßig erfolgt.

Obwohl es also auf den ersten Blick seltsam erscheint, daß die Zahl der Einzelpersonen an den reservierten Tischen höher war als die der Gruppen, kann man diese Erscheinung dennoch damit erklären, daß Gruppen bei ihrem Mensabesuch mehr auf geselliges Beisammensein aus sind. Somit reagieren sie weniger gereizt auf das Reservierungsschild als Einzelpersonen, für die das Essen im Vordergrund steht.

Am Philosophenweg konnte dies folgendermaßen beobachtet werden: Eine Gruppe aus drei Personen - einem Pärchen und einer männlichen Person - steuerte einen der 12 reservierten Tische an. Während sich die Einzelperson setzte, war das Pärchen nicht auf "Ärger" aus. Die beiden versuchten daher den Freund davon zu überzeugen, sich mit ihnen an einen anderen Tisch zu setzen. Aussprüche wie "Ach komm, laß es lieber. Dahinten sind doch noch Tische frei." wiesen darauf hin, daß das Pärchen bereit war, die Regel zu akzeptieren, einfach um einer möglichen Konfrontation aus dem Weg zu gehen. Dieser positive Einfluß wirkte sich schließlich auch auf die dritte Person aus. Gemeinsam setzten sie sich an einen anderen Tisch und hielten somit die Reservierung ein.

Dieses Beispiel bezeugt, daß der Einfluß von Gruppenmitgliedern aufeinander auch in positiver Hinsicht eine starke Wirkung besitzt.

Unsere vierte These bezog sich auf das Verhalten von männlichen und weiblichen Mensabesuchern. Wir glaubten, daß sich letztere der Norm eher unterwerfen als die männlichen Personen. Auch diese These bestätigte sich nicht. Im Gegenteil stellten wir fest, daß insgesamt mehr weibliche Personen die Regel mißachteten.

Was kann nun aber hieraus abgeleitet werden?

Nach längerer Überlegung stellten wir fest, daß man aus dieser Beobachtung letztlich gar nichts ableiten kann, denn wir waren bei der Aufstellung der These davon ausgegangen, daß in beiden Mensen die Anzahl der männlichen und weiblichen Mensabesuchern gleich groß ist. Nur unter dieser Voraussetzung ist ein Vergleich beider Geschlechter möglich. In der Mensa am Ernst-Abbé-Platz essen jedoch hauptsächlich Studierende der Geisteswissenschaften und bei diesen ist erfahrungsgemäß die Zahl der weiblichen Studenten höher als die der männlichen Studenten. Somit ist ein Mißverhältnis hergestellt, das das Beobachtungsverhältnis verfälscht. Folglich müßte man die von uns erhaltenen Zahlen über das männliche und weibliche Verhalten in Beziehung setzen zu der Gesamtzahl männlicher und weiblicher Mensabesucher während unserer Beobachtungszeit, was uns in dieser Form allerdings unmöglich ist und eine gültige Auswertung der These verhindert.

Die fünfte These besagt, daß es Unterschiede im Verhalten älterer und jüngerer Mensabesucher gibt. Im Vorfeld unserer Beobachtung erwarteten wir keine älteren Menschen an den Tischen, sondern zum größten Teil Studenten. Unsere Annahme bejahte sich jedoch im Verlauf der Beobachtung nicht.

Ältere Personen sind reifer, erfahrener und auch besonnener. Daher vermuteten wir, sie würden sich eher an die Bestimmung halten als jüngere Mensabesucher. Ihr Handeln wiederum ist vielmehr von Eigenschaften wie Spontaneität, Willkür und Bedenkenlosigkeit geprägt. Sie sind daher eher „qualifiziert“, sich Vorschriften zu widersetzen.

Im Vergleich zu der Anzahl der älteren Menschen in der gesamten Mensa war die Anzahl der älteren Menschen an den Tischen in beiden Beobachtungen viel höher (vgl. Diagramm 2 und 3). Dennoch war der Anteil Studenten größer als der Anteil Älterer. Diese Tatsache läßt sich dahingehend begründen, daß älteren Mensabesuchern mehr Achtung gewährt wird. Dies geschieht aus vornehmlich zwei Gründen: zum einen schlicht wegen ihres Alters und zum anderen wegen der Gewißheit, daß sie wissenschaftliche Mitarbeiter der Universität sind und damit einen akademischen Grad haben, was auch von ihrem äußerlichen Erscheinungsbild deutlich wird. Wenn diejenigen sich ihres Vorteils gegenüber der Studenten bewußt sind, können sie davon ausgehen, daß sie keine oder nur eine milde Sanktion zu erwarten haben. Für sie nimmt also die Sanktionswahrscheinlichkeit ab. Das führt wiederum dazu, daß die Bereitschaft, sich nach der Vorgabe zu richten, abnimmt und so die Wahrscheinlichkeit steigt, daß sich ältere Menschen an den reservierten Tisch setzen.

Darüber hinaus entstand der Eindruck, ältere Mensabesucher nahmen an, sofern sie Mitarbeiter der Universität waren, sie wären unterrichtet worden, wenn das Kultusministerium zu Besuch kommen würde. Da sie nicht benachrichtigt wurden, schätzten sie die Chance sehr gering ein oder schlossen die Möglichkeit sogar aus, daß Angehörige des Kultusministeriums in der Mensa essen würden. Somit sank der Wirkungsgrad des Reservierungsschildes und gleichzeitig erhöhte sich auch hier die Wahrscheinlichkeit, daß sie sich an den Tisch setzten.

Ein älterer Herr in der Mensa am Philosophenweg ging sogar soweit, andere, die noch zögerlich vor dem Schild standen, von der Unwahrscheinlichkeit des Besuchs des Kultusministeriums zu unterrichten. Er war sich demnach sehr sicher, daß die Reservierung erfunden sein mußte. Erstaunlicherweise setzten sich diese Personen trotzdem an einen anderen Tisch.

Bei der sechsten These: „Wenn die Mensa voll ist, wird der leere Tisch zuerst angesteuert.“, gingen wir davon aus, daß die reservierten Tische mindestens durchschnittlich leerer als alle anderen waren. Die Mensabesucher wußten bevor sie an den Tischen standen nicht, daß der Grund für das größere Platzangebot die Reservierung war. Sie gingen also davon aus, daß sie mit Sicherheit an diesem Tisch essen konnten. Somit konnte beobachtet werden, daß viele den leereren Tisch zielstrebig ansteuerten, in der Hoffnung, einen Platz für sich zu ergattern. Wenn es der Fall war, daß schon andere Personen, die sichtlich nicht dem Kultusministerium angehörten, am Tisch saßen, verringerte sich der Wirkungsgrad der Reservierung und die Hemmschwelle bei de Mensabesuchern. Die platzsuchenden Personen mögen gedacht haben: “Wenn die sich das 14 erlauben können, mache ich es auch!“, und setzten sich. Möglicherweise war es für sie auch beruhigend, daß sie nicht die einzigen an den Tischen waren, die eine Sanktion zu erwarten hätten. Schließlich fällt sie dann für den einzelnen dann vielleicht gemäßigter aus. Da es besonders für Gruppen ab drei Personen schwieriger war, zusammenhängende Plätze zu bekommen, gingen sie zuerst an den reservierten Tisch, da dort Plätze für sie frei waren. Als sie aber das Schild bemerkten, suchten sie meistens nach einem anderen Tisch (vgl. These 3).

Die siebente und letzte These besagt, daß Menschen neugierig sind und wissen wollen, was auf dem Schild steht. Das würde also bedeuten, daß manche Mensabesucher nur aus Neugierde extra auf den Tisch zugehen würden, ohne von der Suche nach einem Platz geleitet zu werden.

Auch hierbei kann nur gemutmaßt werden, da anschließend keine Befragung der Personen zu den Gründen ihres Verhaltens durchgeführt wurde. Daß Menschen von Natur aus neugierig oder sensationslüstern sind, ist nachweisbar, wenn man sich beispielsweise das Verhalten von Schaulustigen bei einem Verkehrsunfall zu Augen führt. Eine solche Anziehungskraft hatte das Reservierungsschild nicht. Da es aber ungewöhnlich in der Mensa ist, übt es unter Umständen einen gewissen Reiz auf bestimmte Personen aus.

Am wahrscheinlichsten werden sich Personen aus reinem Interesse das Schild durchgelesen haben, wenn sie bereits einen Platz hatten und der reservierte Tisch auf dem Weg vom Platz zur Essensausgabe gelegen hat. Von einzelnen, ungezählten Personen kann das sicher behauptet werden.

Auf die beiden Mensen bezogen, wird das Interesse am Schild in der Mensa am Philosophenweg größer gewesen sein. Begründen läßt sich diese Behauptung durch die Größe dieser Mensa. Die Mensa am Philosophenweg ist überschaubarer, da sie kleiner als die Mensa am Ernst-Abbé-Platz ist und weniger Besucher zu ihr kommen. Gegenüber der Mensa am Ernst-Abbé-Platz, bei der einem Platz 1,4 m² zur Verfügung stehen, hat die Mensa am Philosophenweg1pro Platz 1,6 m², also 0,2 m² mehr2. Folglich herrscht in der Mensa am Philosophenweg weniger Gedränge und der reservierte Tisch fällt schneller auf. Dazu kommt noch die Farbigkeit des Schildes. Das Rot wirkt als Signalfarbe unterstützend auf das Interesse. Manche könnten dadurch der Ansicht sein, etwas außergewöhnlich wichtiges stünde auf dem Zettel und nun bestrebt sein, dies auch in Erfahrung zu bringen.

4.3. Der Mensabesuch als Alltagshandlung

Essen ist ein lebensnotwendiges Grundbedürfnis des Menschen. Jeder Mensch ist darum bemüht, diesem Bedürfnis mehrmals am Tag nachzukommen.

Für Studenten3und Mitarbeiter der Universität ist die Mensa der Ort, in dem die Möglichkeit besteht, sich täglich zu verpflegen. Daneben besteht die soziale Bedeutung der Mensa; Sie ist zugleich der Ort, an dem man sich trifft, Neuigkeiten austauscht oder Probleme bespricht.

Essengehen ist für den herkömmlichen Mensabesucher eine alltägliche und gewohnheitsmäßige Handlung. Man kann davon ausgehen, daß jeder den Verlauf kennt und daß sich in der Vergangenheit kaum Variationen des Handlungsablaufs für den einzelnen ergaben. In der Mensa zu essen hat einen mehr oder weniger festen Platz im Tagesablauf des Studenten (und des Mitarbeiters der Universität). Um diesen Status zu erreichen, ist es zwangsläufig Voraussetzung, die Mensa regelmäßig zu besuchen.

Bevor es aber durch den „potentiellen“ Mensabesucher zum Handeln kommt, bedarf es einem Entwurf und dem Entschluß (vgl. Luckmann, 1992, S.49). Der Entwurf gibt an, wie die Handlung nach der Vorstellung des Entwerfenden ablaufen wird. Der Entwurf selbst muß jedoch erst konstruiert werden. Dies geschieht, indem zuerst das Ziel seiner Handlung4vor Augen geführt wird und der Weg dorthin mit Hilfe seiner Erfahrung erstellt wird. Ist dieser fertiggestellt, kommt es zum Entschluß und das Handeln beginnt.

Das Erstellen des Entwurfs ist bei alltäglichen Handlungen weniger bewußt. Keiner großen Überwindungsleistung bedarf es auch bei dem Entschluß zur Handlung, da es hierbei ein gewohnheitsmäßiges Geschehen betrifft.

Die Handlung war erfolgreich, wenn alle Teilschritte vollzogen und das Ziel erreicht wurde. Folglich wird der gelungene Entwurf gespeichert und für alle nächsten Mensabesuche wieder eingesetzt.

Nach dem mehrmaligen Bewähren des Entwurfs geht man wie selbstverständlich davon aus, daß dieser auch in Zukunft realisierbar sein wird. Treten aber während des Handelns unerwartete Schwierigkeiten auf, für die noch keine Entwürfe vorliegen, können die folgenden Handlungsschritte nicht mehr ohne weiteres ausgeführt werden. Der Eingriff in den Mensaalltag durch das Reservieren von Tischen ist jedoch nicht von solcher Bedeutung, daß das Handeln auf der Stelle abgebrochen werden muß. Ein Handeln getreu seinem Entwurf ist nicht mehr durchführbar. Die Möglichkeit, sein Ziel (zu essen) zu erreichen, bleibt bestehen. Es erfordert lediglich ein Umdirigieren des Handelns.

Steuert also jemand den reservierten Tisch an, weil er von weiten sieht, daß für ihn ein Platz frei ist, wird er stutzen, wenn er das Schild bemerkt und es liest; Dies war in seinem Entwurf nicht vorgesehen. Es ergeben sich für den Mensabesucher nun zwei Möglichkeiten: zum einen kann er das Schild ignorieren und sich trotzdem setzen und zum anderen kann er sich an die Vorgabe halten und sich einen anderen Platz suchen. Dabei beeinflussen wesentliche innere- und Umweltfaktoren den Entschluß. Hat er eine Entscheidung getroffen, kann er sein Handeln fortsetzen und seinen neuen Teilentwurf unter Umständen erfolgreich beenden und damit sein Ziel erreichen.

Luckmann macht auf diesen Sachverhalt aufmerksam:

„Grundsätzlich kann es eine vollkommene Übereinstimmung zwischen der Vorstellung (dem Entwurf) und der Verwirklichung (dem eigentlichen Handeln) gar nicht geben. Aber im Alltag bleibt dies unbemerkt und unerheblich - solange nur das Ziel erreicht wird...“ (vgl. Luckmann, 1992, S. 82)

In einem Fall dauerte die Entscheidungsphase überdurchschnittlich lange. Ein Student kam an den Tisch, las das Schild und zögerte, stellte seine Tasche trotzdem auf den (vermeintlich) besetzten Stuhl und ging sich sein Gericht holen. Unterwegs müssen ihn Zweifel befallen haben, denn als er zurückkam, stellte er zuerst sein Tablett ab, schaute sich dann um und entschied sich doch, diesen Tisch zu verlassen.

4.4. Das Entwenden der Reservierungsschilder als Sonderfall

Nach der Erläuterung unserer Beobachtungsergebnisse bezüglich der Thesen soll schließlich noch auf das unerwartete Ergebnis der zweiten Beobachtung am Ernst-Abbé- Platz, das Entwenden der Schilder, eingegangen werden. Während es uns nicht verwunderte, daß einige Mensabesucher der Reservierung zum Trotz an den Tischen Platz nahmen, war es erstaunlich, daß das Übertreten der Regel bis zum Entwenden der Schilder führte. Dabei war es interessant zu beobachten, wie bei den Beteiligten verschiedene, bereits genannte Faktoren zusammenspielten.

Wie bereits bei der Erläuterung der ersten These formuliert, spielt es eine wichtige Rolle, ob die betroffenen Gesellschaftsmitglieder eine Regel als sinnvoll und wichtig erachten, oder ob sie sie für lächerlich halten. Bei der Männergruppe war zweiteres der Fall, was durch Aussprüche wie "Beim nächsten Mal machen wir das genauso. Was die können, können wir schon lange" deutlich wurde. Obwohl sich die Studenten nicht direkt an die reservierten Tische setzten sondern an den Nebentisch, konnte man beobachten, daß ihre Aufmerksamkeit stets auf die angebrachten Schilder gerichtet war. Daß das Nicht- Hinsetzen bei ihnen kein Zeichen für die Akzeptanz der Norm war sondern nur für ihre anfängliche Vorsicht, konnte dann im folgenden beobachtet werden.

Nachdem zunächst nur über das Schild gesprochen wurde, begannen die Studenten schließlich, mit den Schildern zu spielen. Sie entfernten sie von den Tischen, warfen sie sich zu und legten sie mit der Aufschrift nach unten auf den Tisch. Somit widersetzten sie sich nicht der Norm sondern beseitigten sie.

Dabei war zu beobachten, welche Rolle hier der Einfluß der Gruppenmitglieder aufeinander spielte. Im Gegensatz zum angeführten Beispiel bei der Klärung der zweiten These war beim Entwenden der Schilder der Einfluß negativer Art. Während einer der Studenten stets zur Vorsicht mahnte und auf die Kassiererinnen hinwies - "Mensch, das könnt ihr doch nicht machen. Wenn die das sehen ..." - waren die übrigen Mitglieder nicht an diesen Einwänden interessiert. Vielmehr belustigten sie sich über die Angst ihres Freundes und konnten ihn dadurch zum "Mitspielen" animieren. Sie bestärkten sich gegenseitig damit, die Schuld auf andere, am Tisch Sitzende abwälzen zu können Folglich ist ein wichtiger Faktor bei der Akzeptanz oder Nichtakzeptanz einer Regel die Schuldfrage, die dabei auf dem einzelnen lastet.

Je mehr Personen an dem "Überschreiten" einer Norm beteiligt sind, um so geringer schätzen die einzelnen Personen ihre Schuld und damit auch die zu erwartende Sanktion ein. Und gerade deshalb fällt es den meisten Menschen leichter, Regeln im Beisein von mehreren.

4.5. Bilanz, Konsequenz, Resultat

Unsere Ergebnisse könnten auf den ersten Blick betrachtet, einen falschen Eindruck der Besucherschaft der Mensa erwecken. Um das zu vermeiden, soll auf einen wesentlichen Gesichtspunkte aufmerksam gemacht werden:

Es resultiert aus unseren Ergebnissennicht, daß Studenten (und Mitarbeiter der Universität) eine Bevölkerungsschicht darstellt, die sich gern und häufig sozialen Normen widersetzt. Man bedenke dabei, wie oft man schon erlebt hat, daß Personen bei Rot über die Ampel gehen und wie oft man dies selbst getan hat, ungeachtet dem Wissen, falsch zu handeln. Das Mißachten von sozialen Normen ist somit eine weit verbreitete Gepflogenheit in unserer Gesellschaft.

Bei sozialen Normen besteht das Problem, daß nicht jedes Individuum wählen konnte, ob eine Norm existiert und sich dadurch vielleicht übergangen oder ungerecht behandelt fühlt. Ihnen einfach aus dem Weg zu gehen, ist im Alltag kaum vorstellbar. Es bleibt dann unter Umständen nur die Möglichkeit, sie zu mißachten.

Rebelein, Jörg Seiten: 1 bis 3

Fuchs, Christian Seiten: 3 bis 9

Böhning, Susann Seiten: 9 bis 13

Lischka, Juliane Seiten: 13 bis 18

[...]


1 Andreas Diekmann, Empirische Sozialforschung: Grundlagen, Methoden, Anwendungen, 1998, S.469 2

2Jürgen Friedrichs: Methoden der empirischen Sozialforschung, S. 284

1Die Zahlen beziehen sich ausschließlich auf den Saal 1, da dort die reservierten Tische standen.

2Der Richtwert für Mensen liegt bei 1,5 m² pro Platz.

3Es wurde und wird auch im folgenden Text auf die Angabe des jeweils anderen Geschlechts verzichtet und sich am

grammatischen Geschlecht orientiert. Dies soll jedoch nicht bedeuten, daß das biologisch weibliche (in manchen Fällen auch männliche) Geschlecht ausgeschlossen ist.

4Ziel bei uns: zu essen

Ende der Leseprobe aus 18 Seiten

Details

Titel
Beobachtung - Am Beispiel Essensverhalten in der Mensa
Hochschule
Friedrich-Schiller-Universität Jena
Veranstaltung
Methoden der KMW
Note
1,7
Autor
Jahr
2000
Seiten
18
Katalognummer
V106774
ISBN (eBook)
9783640050499
Dateigröße
502 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Beobachtung, Beispiel, Essensverhalten, Mensa, Methoden
Arbeit zitieren
Christian Fuchs (Autor:in), 2000, Beobachtung - Am Beispiel Essensverhalten in der Mensa, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/106774

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