Lola rennt - Ein Spiegelbild der Generation @?


Essay, 2000

16 Seiten, Note: 2,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Vorbemerkung

Einleitung

Psychoanalytische Grundlagen

Der Blick auf die Leinwand: Der Prozess der Identifikation

Der Identifikationsprozess in „Lola rennt“

Das Zeitverständnis

Die Wiederholbarkeit der Wirklichkeit

Die Rebellion als Symbol der Identifikation

Resümee

Quellenverzeichnis

„Was wir sehen, ist bestimmt durch die Art und Weise wie wir es sehen; das Subjektdes Sehens ist immer zugleich Objekt des Systems, in dem es gesehen wird“(1)

Vorbemerkung

Mitte der 70er Jahre entwickelte sich, ausgehend von Frankreich, eine theoretische Auseinandersetzung mit dem Medium Film und Kino. Im Mittelpunkt dieser filmtheoretischen Debatte stand das Zuschauersubjekt sowie dessen Beziehung zum Kino. Die hier vorliegende Arbeit soll einen Einblick in die psychoanalytisch orientierte Theorie der Rezeption von Filmen gewähren und wird versuchen Aussagen über den Gesamtapparat Kino zu treffen, wobei das Zuschauersubjekt stets im Mittelpunkt der Beschäftigung steht. Die Tatsache, dass unterschiedliche Kinogeher unterschiedlich auf denselben Film reagieren, weist darauf hin, dass unbewusste Prozesse die Rezeption von Filmgeschehen unterstützen, bzw. wie Film und Kino unbewusste Abläufe beim Betrachter auslösen und Filmschauen so zu einer lustvollen Erfahrung werden lassen.

Einleitung

Als Beispiel soll der deutsche Film „Lola rennt“ von Regisseur Tom Tykwer herangezogen werden. Der Film der ein und dieselbe Story, dreimal hintereinander, in drei verschiedenen Variationen erzählt, lässt dem Zuschauer genügend Raum für verschiedene Identifikationsmöglichkeiten.

Zu Beginn des Films lässt Tykwer nach seinen Worten die „Inkarnation des Erzählers“. „den Mythenverwalter, den Allwissenden“, den „lieben Gott“ den „Erzähler der in den 70er Jahren in jeden Kinderzimmer stehenden Märchenschallplatten“ Hans Paetsch folgenden Monolog sprechen. (2) Die Kamera rast derweil ziellos durch eine Menschenmenge:

„Der Mensch ... die wohl geheimnisvollste Spezies unseres Planeten. Ein Mysterium offener Fragen ... Wer sind wir? Woher kommen wir? Wohin gehen wir? Woher wissen wir, was wir zu wissen glauben? Wieso glauben wir überhaupt etwas? Unzählige Fragen, die nach einer Antwort suchen, einer Antwort, die wieder sie nächste Frage aufwerfen wird, und die nächste Antwort wieder die nächste Frage und 3 so weiter und so weiter ... Doch ist es am Ende doch nicht immer wieder die gleiche Frage ... und wieder die gleiche Antwort?“ (3)

Diese Fragen nach dem „Sinn des Lebens“ stellen sich vorwiegend Jugendliche, die zwischen Kindheit und Erwachsenenleben stehen. Auf ihrer Suche nach einem Platz in der Gesellschaft begegnen sie diesen Fragen.. „Lola rennt“ spiegelt den „Drive“ und die jugendliche Urbanität wider, bei der es unmöglich zu sein scheint sie auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Der Film ist somit Spiegelbild einer gesamten Generation, ihr Name:Die Generation @.Lola erfindet sich die Wirklichkeit selbst. Lola ist eine Figur wie Pippi Langstrumpf die sagt: „Ich mach mir die Welt, wie sie mir gefällt“ An Punkten, an denen sie keinen Ausweg mehr weiss, drückt sie den ‘rewind Button’ und startet von vorn. Kein Wunder das der Film, vor allem von Jugendlichen so geliebt wird. Er fungiert so als Projektionsfläche, über die sie ein Bild für ihre eigene emotionale Befindlichkeit, ihre Glücksvorstellungen, Ängste und Nöte beziehen können.

Diese Möglichkeit der Identifizierung eines sehenden Subjekts, bietet eine der Voraussetzungen aus denen die psychoanalytische Filmtheorie die beim Betrachten von Filmen ausgelösten psychischen Prozesse zu erklären versucht. Es stellt sich weiter die Frage wie das Kino eine Identifizierung des Betrachters mit dem Betrachteten überhaupt ermöglicht und wie jeder Film diese Identifizierung des Betrachters aufrechterhält.

Andre Bazin geht davon aus, daß die Leinwand als Fenster zur Welt fungiert, das die Objekte und den Raum außerhalb der Leinwand bereits impliziert (Fenster). Eisenstein und Arnheim hingegen sehen die Leinwand durch ihre Rahmung begrenzt, wobei diese Begrenzung das auf der Leinwand sichtbare Bild formt und positioniert (Rahmung). Durch hinzuziehen einer weiteren Metapher entwickelt sich schließlich eine neue Theorie: Die Leinwand wird nun als Spiegel aufgefasst. Die Begriffe Realität (Fenster) und Kunst (Rahmung) werden durch den Begriff des Unbewussten in die Diskussion eingebracht. Es geht also um mehr als nur Film: Das Kino und die Psyche werden in Beziehung gesetzt. (4) Um nichts anderes wird es im Folgenden gehen.

Psychoanalytische Grundlagen

Die Metapher des Spiegels spielt auch in der Psychoanalyse eine große Rolle. Lacan ergründete die Bedingungen filmischer Rezeption sowie die Prozesse, die auf den Betrachter während des Filmsehens einwirken mittels psychoanalytischer Konzepte. Er fand heraus, dass die Lust des Zuschauers beim betrachten eines Films in unbewussten Phänomenen wiederzufinden ist, dass filmische Prozesse nur deshalb verstanden werden können „weil es analoge psychische Prozesse gibt, die wir innerhalb einer psychosexuellen Entwicklung bereits kennengelernt haben“ (4) 1936 wurde diese Theorie des Spiegelstadiums erstmals von Lacan vorgestellt. Sie besagt, dass das heranwachsende Kind sich mit seinem Spiegelbild identifiziert und unterliegt somit den folgenschweren Irrtum, eine Repräsentation - das Bild des anderen im Spiegel - als ich selbst zu erkennen. Erst in einem Alter von 6-18 Monaten lernt das Kind langsam, sein Spiegelbild, das anfangs nur als Bild eines ähnlichen kennengelernt wird, als ich selbst anzuerkennen. Zuvor erlaubte ihm seine Konstitution sowie sein noch unausgebildetes Nervensystem lediglich, einzelne, voneinander isoliert erscheinende Teile seines Körpers mehr oder weniger koordiniert zu bewegen, was die Möglichkeit sich als Einheit zu begreifen ausschliessen musste. Durch seine relativ früh ausgebildete visuelle Wahrnehmungsfähigkeit, ist es dem Kind möglich, seine Mutter (Vater etc.) wahrzunehmen und als Einheit zu erkennen. Dadurch bekommt es eine Ahnung davon, auch selbst eine Einheit zu sein. Die Ähnlichkeit des Bildes der Mutter im Spiegel mit der Mutter trägt dazu bei, dass sich das Kind selbst mit der Repräsentation des Spiegelbildes identifiziert. Ähnlich wie im Spiegel, versucht das Kind auch in Anderen, sein Bild wiederzufinden. Die Suche nach Gemeinsamkeiten in Anderen ist immer auch die Suche nach sich selbst und dem Verlangen sich selbst in der Rolle des „Vollkommenen“ sehen zu können. (4)

Der Blick auf die Leinwand: Der Prozess der Identifikation

Was bedeutet nun das durch Lacan beschriebene Spiegelstadium für die filmtheoretische Diskussion?

Vor allem der Umstand, dass es sich beim Spiegelblick um die „Auseinandersetzung eines Sehenden mit sich selbst“ handelt, wobei der Körper zum Bild wird, das erblickt wird, „ohne die Distanz zwischen sich und seinem Spiegelbild aufheben zu können“ (5) Der Körper und das Ich scheinen beim Anblick des Ebenbildes (Spiegel) getrennt voneinander zu sein. Diese Trennung von Körper und Ich ist unabdingbar um die Beziehung zu sich als Objekt (als Bild) aufstellen zu können. Das Ich glaubt (durch die Trennung), seinen Körper außerhalb seiner selbst wiederzufinden, und bemüht sich darum, diesem Ideal-Ich in einem Prozess der Identifizierung anzugleichen. Dieser Blick in den erweiterten Bildraum der Spiegelung und in der Folge dann der Blick auf die Leinwand ermöglicht dem Sehenden seinen ursprünglichen, angestammten Platz zu verlassen um ihn gegen einen neuen Raum eintauschen zu können: „Sein Standort liegt nicht mehr außerhalb des Geschehens, sondern im Bild“. (4)

Ohne die durch das Spiegelstadium ausgelöste Identifizierung, bei der das Subjekt dazu gezwungen ist, die Trennung zwischen seinem Ich (als Körper) und dem Bild des Körpers zu verleugnen, wäre identifikatorische Beziehung zum Film unmöglich. Vor allem Christian Metz machte auf den wesentlichen Unterschied zwischen Spiegel und Filmleinwand aufmerksam: Der Betrachter im Kino erkennt alles, was der Projektor hinter seinem Rücken auf die Leinwand projiziert, genauso als sässe er direkt vor dem Spiegel aus seiner Kindheit, ohne sich dabei selbst als Körper sehen zu müssen.(6) Da er das Spiegelstadium bereits durchschritten hat, hat der nunmehr erwachsene Betrachter gelernt, die imaginäre Welt auf der Leinwand, in Beziehung zur von ihm als Realität erfahrenen Welt zu setzen. Der Film, so Baudry - später von Christian Metz leicht modifiziert übernommen - versetzt den Betrachter in sein frühkindliches Stadium zurück. „Da aber das reflektierte Bild nicht das des eigenen Körpers ist, sondern das einer bereits vorgegebenen Welt [...] kann man zwischen zwei Identifizierungsebenen unterscheiden.“ Die erste, so Metz’ Argumentation, hängt am Bild selbst und betrachtet den porträtierten Darsteller als „Zentrum einer sekundären Identifizierung, der eine Identität trägt, die permanent besetzt und wiederhergestellt werden muss“. Die zweite Ebene „erlaubt das Auftauchen der ersten und plaziert sie in action“, das bedeutet: „Der Betrachter identifiziert sich weniger mit dem, was repräsentiert wird, also dem Schauspiel selbst, sondern mit dem was das Schauspiel inszeniert, was es sichtbar werden lässt, was ihn dazu zwingt, das zu sehen, was er sieht [...]“ (4) Baudry geht es also darum, das der Betrachter in der Lage ist, sich an die Stelle eines „Nicht-Ich“ (im Kino sind das die Darsteller) zu begeben. Da der Mensch gelernt hat, im Spiegel nicht zuerst sich selbst zu erkennen, sondern erst über das Bild des „ähnlichen“ zu seiner Identität gelangt, kann er auch das Bild des „ähnlichen“ (im Kino der ‘Star’, der Vollkommene, oder das idealisierte Ich) auf der Leinwand innerhalb eines sekundären Identifizierungsprozesses für sich besetzen, ohne selbst auf der Leinwand existieren zu müssen. Dabei muss die Identifizierung nicht einfach als eine Gefühlsbindung an eine geliebte, vorbildliche Person betrachtet werden, sondern sie kann durchaus auch an ein als feindselig erachtetes Objekt gebunden sein. Weiter ist es nicht notwendig, sich mit der gesamten Darstellung eines Charakters zu identifizieren, sondern der Betrachter kann sich auf einzelne, wenige Eigenschaften und Merkmale beschränken, die dann in Beziehung zum eigenen Ich gesetzt werden können. Auch die Frage nach dem Mann als Träger des Blicks und die daraus resultierenden Fragen nach den Identifikationsmöglichkeiten der Frau können durch feministisch orientierte Ansätze beantwortet werden. Diese sollen hier jedoch nur kurz genannt werden und in den nachfolgenden Betrachtungen nicht weiter Beachtung finden. Feministische Ansätze verweisen darauf, dass Identifizierungen nicht einmal an das eigene Geschlecht gebunden sein muss, sondern dass sogenannte cross-gender Identifizierungen beider Geschlechter möglich sind. Vor allem Autorinnen wie Elizbeth Cowie, Anne Friedberg und Janet Bergstrom konnten so die gesamte „Bandbreite und Diversität identifikatorischer Positionen im Film aufzeigen, und darlegen, wie diese Positionen sowohl von Mann als auch von der Frau beim betrachten eines Filmes eingenommen werden“ (7)

Wie oben bereits erwähnt verweist Metz, analog zu Baudry, auch auf eine sekundäre Identifikationsmöglichkeit des Zuschauers mit einer menschlichen Gestalt im Film, merkt allerdings an, dass diese Erklärung nicht ausreichen kann, alle durch die Kinosituation ausgelösten Identifizierungsprozesse zu charakterisieren, da es immer wieder Einstellungen und ganze Sequenzen gibt, in denen keinerlei menschliche Gestalten zu sehen sind, die aber dennoch identifikatorisch auf den Betrachter wirken und, so scheint, Vergnügen am Geschehen bereiten. Das heisst, dass der Betrachter zwar aufgrund sekundärer filmischer Identifizierungen mit den dargestellten

Charakteren Vergnügen aus der Filmbetrachtung ziehen kann, dass die filmische Situation aber in erster Linie an einen Prozess des Sehens selbst (primäre Identifizierung) gebunden ist. Das bedeutet: Da der Betrachter als sehendes und hörendes Subjekt existiert, basiert seine Identifizierung zuallererst auf dem Prozess des Sehens und des Hörens und seine Faszination ist in allererster Linie die an der gesamten Darstellung als Bild, bevor diese erst in zweiter Linie zu Faszination an der gesamten Fiktion und den Figuren der Handlung wird. Nach Metz resultiert diese Herrschaft eines „all-wahrnehmenden Ichs“ über die Szene aus einem Bewußtsein des Zuschauers heraus, im Kino zu sitzen, also aus dem Wissen heraus, etwas völlig imaginäres auf der Leinwand erblicken zu können, von dem der Betrachter aber weiss, dass alles, was sein Ich sieht, tatsächlich wahrgenommen wird und nicht etwa das Resultat seiner Phantasie, oder das einer Halluzination ist. Der Betrachter befindet sich außerhalb des Dargestellten an einen sicheren Platz im Kinosaal und kann dem Geschehen mit dem Blick eines Allsehenden und Allmächtigen folgen. „Der Betrachter identifiziert sich mit sich selbst, mit sich selbst als einen reinen Akt der Wahrnehmung“ (6) und „Die Kamera, das Instrument, das beherrscht und gesteuert wird, kann der Zuschauer kaum vom eigenen Blick unterscheiden. Die Herrschaft, die ein anderer ausübt [...] wird als eigene erfahren“ (4)

Der Identifikationsprozess in „Lola rennt“

Der Film, als Medium stellt für die Gesellschaft also ein Spiegelbild dar, eine Oberfläche mit der man „sich identifiziert“. Auch das war nach Ansicht Tom Tykwers ein grundlegendes Element , nachdem sein Film funktionieren sollte. Seiner Ansicht nach sollten Filme immer auch „spannend und aufregend“ sein und viele Möglichkeiten der Identifizierung mit sich selbst geben. Im Sinne der Hitchcock-Filme, der „der Meister“ hintergründiger Filme war, in die sich der Betrachter hineinfühlen konnte. Das Erleben und Empfinden von schnell verstreichender Zeit, ist in diesem Film in einer Bildersprache umgesetzt worden. Die Bildersprache zitiert die Bildästhetik der MTV Musikvideos, der schnellen Schnitte und der sichtbargemachten Beats. Die Vielgestaltigkeit der Bildersprache lässt auf die heutige Generation schliessen, denn diese ist genauso facettenreich wie der gesamte Stil des Films. Diese heute 14- bis 24jährigen bezeichnet man als dieGeneration @.

Im Gegensatz zur Elterngeneration ist „Lola rennt“ ein typischer Film für diese neue Generation: schnell, laut, mit vielen Schnitten, einfacher Geschichte, bunt und schrill. Entgegen des Stillstandes, des Phlegmas und der Stagnation. In „Lola rennt“ wird dieGeneration @ gnadenlos in Bilder gefaßt und ihre Werte, Ihre Ideale und Ihr Zeitverständnis 3-dimensional dargestellt.

Das Zeitverständnis

Am wichtigsten ist augenscheinlich der Zeitaspekt im Film. Ganz sinnbildlich und durch die verschiedensten Symbole und Einfälle zeigt Tykwer immer wieder wie wichtig die Zeit für die neue Generation ist. Das Gut Zeit, als immer entscheidend werdender Faktor. Jeder ist immer erreichbar. Egal ob in Bad Salzufflen oder Burkina Faso. Auch Em@il und Internet sind nicht mehr vernachlässigbar für Firmen und Unternehmen. Mit der Folge, dass alles immer schneller wird und Ruhepausen immer seltener werden. Eine 7-Tage-Arbeits-Woche ist nur noch eine Frage der Zeit in Deutschland.

Auch Lola (Franke Potente) hat nur 20 Minuten Zeit, nicht sehr lang, für eine Lebensrettung. Hämmernder Beat unterstützt die Schnelllebigkeit und Uhren 9 verschiedenster Couleur müssen ständig die Zeit „ansagen“. Ob es die Bahnhofsuhr am Supermarkt, die Kuckucksuhr in Lolas Zimmer, die verschiedensten Armbanduhren der Passanten oder die mystische Uhr am Anfang des Vorspannes ist: Die Zeit ist allgegenwärtig. Auch anhand des Split Screens, den Tykwer in den letzten Einstellungen, bevor sich Lola und Manni (Moritz Bleibtreu) vor dem Supermarkt sehen, einsetzt zeigt sich der Einfluß der Zeit auf das Handeln. Die Uhr, die sich mit Lola und Manni den Bildschirm teilt, schwebt, wie ein Damoklesschwert über ihnen. Sie macht alles abhängig. Wenn Lola nicht genau 12:00:00 Uhr am Supermarkt ist, dann überfällt Manni den Markt.

Die Gefahr der Abhängigkeit ist groß und auch Lola kämpft gegen die Gefangenschaft der Zeit. Als einen Schlag gegen die Zeit sieht man Lola im Büro des Vaters in der zweiten Geschichte eine Uhr zerschmettern. Erfolglos.

Auf alle Fälle hat der Aktionismus, der durch den Zeitdruck entsteht etwas positives. Die Menschen derGeneration @leben aktiv und ändern ihr Leben, wenn es ihnen nicht paßt. Das ist auch einer der großen Vorwürfe des Regisseurs an die Generation der Eltern der neuen Generation: diese Art von Menschen „redete immer nur davon, daß es ihre Kinder einmal besser haben sollen [...] was für ein perverses Statement. Man hat schon aufgegebenen, daß man selber es noch mal gut haben könnte [...]“. (8) Die neue Generation aber ändert die eigene Lage, wenn es ihr missfällt. Jeder Augenblick wird wichtig, jede noch so kleine Veränderung der Handlungsweisen kann das ganze kommende Leben verändern. Jede Entscheidung ist wichtig, bedeutend und verändernd. Wie man handelt und das man etwas ändert sind somit auch zwei charakteristische Punkte für dieGeneration @. Im Film wird dieser Aspekt immer wieder betont.

Nur die kleinste Veränderung der eigenen Handlungsweise am Anfang jeder der drei Geschichten, bringt ein anderes Ende für Lola und Manni. Die Wichtigkeit dieser ersten Szenen jeder Geschichte wir durch die Abgrenzung zu den anderen Szenen verdeutlicht. Diese Szenen, im Treppenhaus sind alle im Comic-Stil gezeichnet. Lola begegnet dort immer einem jungen Mann mit einem Kampfhund. Und je nachdem, wie Lola reagiert, ändert sich die Folge der Geschichte. Einmal schreckt sie vor dem Hund zurück, einmal stellt Ihr das Herrchen ein Bein und einmal hüpft sie elegant über den Hund hinweg. Die Konsequenzen ihres Handelns zeigen sich später. Durch ihre zeitversetzte Ankunft kommt Lola an bestimmte Punkte immer in anderen Momenten an. Einmal rempelt sie die alte Frau mit Kinderwagen an, einmal umschifft sie diese ganz galant. Jede 10 Entscheidung, die man trifft verändert das Leben, auch wenn diese noch so simpel erscheint.

Aber auch für die Frau hat ihr Handeln eine gewisse Konsequenz. Jedes mal dreht sie sich um und lästert Lola hinter her. Aber je nachdem, wie sie lästert, ändert sich ihr ganzes Leben. Einmal wird ihr ihr Kind weggenommen, einmal gewinnt sie im Lotto und ein weiteres mal konvertiert sie zum Christentum und vertreibt den „Wachturm“. Diese vorweggenommene Zukunft inszeniert Tykwer, indem er das Bild für kurze Momente einfriert und nach der Einblendung der Frage „und dann ... ?“ schnell geschnittene Fotofolgen den weiteren Lebenslauf beschreiben lässt. Diese flashforwards auf die Zukunft werden aber nicht nur auf diese eine Passantin begrenzt. Fast jeder Kleindarsteller, aus den verschiedensten Milieus, wird mit einer Zukunft bedacht. Der Radfahrer, der sein Fahrrad verkaufen möchte, die Bankangestellte (Suzanne von Borsody), der Schalterbeamte, Somit wird noch einmal stark verdeutlicht, dass jeder sein eigenes Leben in die Hand nehmen kann und jede Sekunde kostbar ist. Doch auch die vom Film angebotenen Möglichkeiten einer Zukunft stehen nur für einen kleinen Teil der Möglichkeiten, die jeder Mensch in jedem Moment hat. Das zeigt Tykwer, indem er bewusst die Kamera ins Spiel bringt und eben nicht den Effekt der unsichtbaren Kamera benutzt. Bewusst zeigt er verwackelte und homevideoähnliche Bilder, bewusst sind die Handlungsweisen Lolas unrealistisch und übertrieben. Wer gewinnt schon zweimal hintereinander im Kasino, ohne die Kleiderordnung zu beachten ? Und wer überfällt mal einfach so eine Bank ? Die dargestellten Szenen, bei Neben- und Hauptdarstellern sind eben nur eine Möglichkeit der Realität.

Weil sich in so kurzen Momenten so viel verändern kann, ist Zeit so wertvoll und kostbar. In einer Generation, in der niemand älter werden möchte, wird altern auch als negativ empfunden. So erkennt man, wenn man in der ersten Geschichte genau hinsieht eine Anspielung der Filmemacher auf diese Problematik. Lola steht vor der Bank, aus dem Seitenblick auf Lola erkennt an im Hintergrund eine junge blonde Frau mit schwarzer Kleidung und weißem Kragen, die in slowmotion auf Lola zukommt. In der genau darauffolgenden Szene des Plots kommt aber eine alte Frau mit grauen Haaren und genau der selben Kleidung, wie die junge Frau ins Bild und zeigt Lola die Zeit. Die Vergänglichkeit und das Altern werden so thematisiert.

Außerdem ist es ein Wesensmerkmal derGeneration @, daß man nie oder selten in die Vergangenheit schaut. Es geht immer voran und der alles neue, alles veränderbare ist der Antrieb. Das zeigt sich in den wenigen Rückblenden am Anfang des Filmes, in 11 denen die Vorgeschichte erklärt wird. Alle Szenen sind schwarz/weiss gehalten. Grau und unwiderruflich, wie ein Schatten, der auf dem Leben haftet. An diesen Erlebnissen kann man nichts mehr ändern. Sie sind „abgehackt“ und wie alte schwarz/weiss-Fotos in ein Album eingeklebt. Bunt und lebendig und damit spannend ist nur allein die Zukunft.

Und in der Gegenwart und Zukunft muß immer etwas passieren. Stillstand ist der Tod. Genau das beschreibt Tykwer mit seinem Stil. Dieser ist unruhig und greift durch den psychedelischen Computermix der Musik auch eindringlich auf das Publikum über. Unruhige, verwackelte Bilder, extreme Close ups, der Wechsel zwischen langsam und schnell und die vielen Einstellungsänderungen machen den Stil aus. Eben wie ein MTV-Musikvideo: Schnell, explosiv und mit der Weisung der Veränderbarkeit.

Die Wiederholbarkeit der Wirklichkeit

Ein weiteres Element, das wie ein Spiegel die Identifikation der Zuschauer mit der Leinwand zulässt, ist die rewind-Tasten-Funktion. Lola als Akteur in einer Computerspielgeneration, drückt immer wieder die imaginäre „rewind-Taste“ in Ihrem Leben. Immer wieder beginnt sie ihren Kampf für ihren Freund und gegen die Zeit neu. Insgesamt drei mal. Solange, bis es gelingt. Eben so, wie bei einem Computerspiel. Wenn das Spiel nicht gelingt, beendet man es und startet neu. Diese Mentalität, das man im Leben eben immer mehrere Chancen hat, wird durch die Wiederholung der Handlung verdeutlicht. Nach der ersten Wiederholung erinnert „Lola rennt“ noch entfernt an „Groundhog Day“. Doch steht diese Wiederholung im Gegensatz zur Wiederholung, die Kristin Thompson in „Wiederholte Zeit und narrative Motivation in Groundhog Day“ (9) beschreibt. In ihrer Theorie des Filmes „Groundhog Day“ muss der Hauptdarsteller ein und den selben Tag immer wieder erleben. Ihm ist es aber bewusst, dass es immer derselbe Tag ist und auch immer dasselbe passiert solange, bis er zu einem besseren Menschen geworden ist. Die Unterschiede beider Filme liegen auf der Hand. „[...] Kommt Groundhog Day ohne jede Rückblende aus“ (10), so operiert Tykwer am Anfang noch mit den schwarz/weiss Rückblenden. Außerdem werden in „Groundhog Day“ - durch das ungewöhnliche Element der „diskontinuierlichen Montage - wiederkehrende Zeitabläufe narrativ montiert“. (10) Darauf verzichtet Tykwer. Im Film „Lola rennt“ wissen die Akteure nicht, das sich die Handlung wiederholt. Anders als in „Groundhog Day“, findet hier nur eine Wiederholung auf der Ebene des Plots statt. Es gibt noch andere Unterschiede aber die prägnantesten sollten hier genügen.

Aber eine Gemeinsamkeit macht beide Filme aus. Die Verbindungen der einzelnen Geschichten („Lola rennt“) oder Tage („Groundhog Day“) ist ähnlich gestaltet. Bei „Groundhog Day“ leitet jeden Morgen der gleiche Radiowecker mit der Zeit „5:59“ und dem Lied im Radio „I Got You Babe“ die Wiederholung ein. Der Zuschauer weiss dann, dass wieder derselbe Tag beginnt. Bei „Lola rennt“ ist es ähnlich. Am Ende jeder Geschichten (der ersten zwei) liegt einer der beiden Hauptprotagonisten -Lola oder Manni- tot am Boden . Er schaut in die Luft und immer fällt der Beutel mit dem Geld auf ihn zu. Dann fällt (durch Montage in dieses Bild hineingesetzt) das rote Telefon (das Lola am Anfang wegwirft und losrennt) auf die liegende Person zu. Mit dem Ende der einen Geschichte startet mit der Montage die Nächste. Und „immer“ genauso, wie bei „Groundhog Day“.

Die Rebellion als Symbol der Identifikation

Als letztes auffälliges Merkmalder Generation @,das der Film darstellt, soll hier das Element der Rebellion betrachtet werden. Mit Rebellion beschreibt die neue Generation kein politisches Aufbegehren. DieGeneration @hat keine politischen Utopien mehr, demonstriert oder kämpft nicht mehr für Ziele, wie ihre Eltern oder gar Großeltern. Die Zeiten der 68er Bewegung sind längst vergangen und Politik spielt in der FunGeneration keine oder nur eine geringe Rolle.

Unpolitisch, aber nicht ohne dieses kreative, konstruktive und anarchistische Potential kommt auch Lola daher. Wie jeder junge Mensch in der gesamten Menschheitsgeschichte will auch Lola (und damit die gesamteGeneration @) gegen das Gewesene rebellieren. Sie will etwas Neues machen, sich abheben von der Masse. Die roten Haare - die englische Kritiker, als „punkiges, flammend-rotes“ Haar betitelten - sind ein Indiz dafür. Aber ihr Antrieb ist keine politische Ideologie oder ein Ziel, wie die Welt verändern zu wollen. Nein. Lolas Antrieb heisst Liebe. Ihr Engagement und ihre Aktivität entsteht durch die Liebe zu Manni. Ihre Kraft ist die Leidenschaft. Lola überwindet alle Schranken von Raum und Zeit und nimmt sich einer eigentlich ausweglosen Situation an.

Liebe ist der Antrieb, das symbolisiert die sehr häufig verwendete Farbe Rot, die für Liebe steht, wie keine andere. Neben den Haaren, sind auch das Telefon, viele Gegenstände in Lolas Zimmer, das Zeichen des „Bolle-Marktes“, die Tüte für die Geldbeförderung, das Blut am Ende jeder Geschichte, das Trikot des Fahrradfahrers, der Schriftzug „ENDE“ im Abspann ... rot. Auch sind alle Ampeln immer auf rot, wenn Lola sie passiert. Und auch der Krankenwagen der eigentlich die klassische Farbe Weis besitzt ist in Lolas Fall rot.

Die Liebe ist es dann auch, die die einzelnen Geschichten miteinander verbindet. Wenn entweder Lola oder Manni getroffen auf den Asphalt fallen, dann wird ihr Gesicht in Großaufnahme gezeigt und es wird in einem morphing-ähnlichen Prozeß dann zurück ins Bett versetzt. Dort liegen dann Lola und Manni und sprechen über ihre Liebe zueinander. Mit einfachen Worten, aber über ziemlich essentielle Themen. Diese Szenen sind in einem Rotschimmer gefilmt und unterstützen die gefühlvollen Gespräche der Liebenden.

Die Rebellion wird durch die Liebe getragen und zeigt sich an Äußerlichkeiten. Hauptsache anders sein: rote Haare, Drogen und Technomusik, die im gesamten Werk immer präsent ist.

Anders also, als die Elterngeneration zeigen sich bei derGeneration @der Drang nach Veränderung im privaten und auf egoistischer Basis. Ob Lola genauso gekämpft hätte, wenn es gegen Hunger in der Dritten Welt oder gegen das Walsterben gegangen wäre ? Wohl kaum.

Die Generation wird gut getroffen. Anstatt einer Demonstration für mehr Arbeit oder gegen rechte Parteien, ziehen Millionen nach Berlin zur „Loveparade“ oder nach Rostock zur „Jobparade“. Und genauso, wie Zivilcourage, Wahlbeteiligung und ehrenamtliches Engagement sinken, genauso stark schießen Spassbäder, Diskotheken und Go-Kart-Bahnen aus dem Boden.

Alles Politische wird abgelehnt der persönliche Spaß steht im Vordergrund.

Resümee

Unser Ziel war es aufzuzeigen, dass der Betrachter beim Filmschauen, unbewussten psychischen Prozessen unterliegt die analoge Erfahrungen widerspiegeln, die dieser bereits in der Kindheit kennengelernt hat. Unsere Auseinandersetzung sollte zeigen, welche Möglichkeiten der Film dem Zuschauer bietet, sich mit dem Betrachteten zu identifizieren und daraus Vergnügen ziehen zu können.

„Lola rennt“ unterliegt also auch zwingend der Theorie des Identifikationswunsches des Zuschauers mit den Filminhalten. Er ist Spiegel und Spiegelbild zugleich. Ein Spiegelbild derGeneration @,die eine neue Definition von Zeit für sich in Anspruch nimmt. Jede Sekunde muß effektiv genutzt werden, jeder Moment ist gleich wichtig, man weiss nie welcher Moment der Entscheidende sein wird. Ein Bild einer Computergeneration, die das Leben als Spiel ansieht und der der eigene Spaß vor dem Allgemeinwohl kommt. Die Rebellion, als private Selbstfindung und nicht als politisches Mandat.

Quellenverzeichnis

(1) Lacan, Jacques: Das Spiegelastadium als Bildner der Ichfunktion, wie sie uns in der psychoanalytischen Erfahrung erscheint. In: Lacan, Jacques: Schriften 1, Freiburg 1973, S.61-70.
(2) http://.www.wsws.org: WSWS: WSWS/De Kunst & Kultur: Film Ungewöhnliche Form gewöhnlicher Inhalt. Autor: Dietmar Henning, 1998.
(3) Lola rennt. Regie: Tom Tykwer. 80 Minuten. VHS Kaufkassette. VPS-Video. D 1998.
(4) http://.www.univie.ac.at/Medienwissenaschaft/reichert/index.html: Autor: unbekannt
(5) Carrol, Noel: Mystifiying Movies. Fads Fallacies in Contemporary. New York 1988, S.33.
(6) Metz, Christian: Psychoanalysis and Cinema. The Imaginary Signifier. London 1982, S.45.
(7) Penley, Comstance: Individual Response. In: Camera Obscura. A Journal of Feminism and Film Theory, Nr 20/21 (The Spectatrix), Baltimore 1990, S. 256.
(8) Interview mit der „jungen welt“ aus Berlin am 24.08.1998 zur Premiere von „Lola rennt“
(9) In: Andreas Rost (Hrsg.): Zeit, Schnitt, Raum. München: Verlag der Autoren 1997.
(10) Wiederholte Zeit und narrative Motivation in Groundhog Day: In: Andreas Rost (Hrsg.): Zeit, Schnitt, Raum. München: Verlag der Autoren 1997

(weitere hinzugezogene Quellen)

1. Schönpflug, Wolfgang: Psychologie. Weinheim: Psychologie Verlags Union. 1995.

2. Stam, Robert: New vocabularies in film semiotics. structuralism, post-structuralism, and beyond. London: Routledge 1996. S. 123-173.

3. Zimbardo, Phillip G.: Zimbardo Psychologie. 6. Auflage. Berlin: Springer Verlag. 1995. 273 ff.

4. http://www.geocities.com/Athens/Oracle/7218/texte/juwelt/1998_08_24.htm

5. http://www.ifa.de

6. http://www.artechock.de

Ende der Leseprobe aus 16 Seiten

Details

Titel
Lola rennt - Ein Spiegelbild der Generation @?
Hochschule
Friedrich-Schiller-Universität Jena
Veranstaltung
Geschichte und Ästhetik der Medien
Note
2,0
Autor
Jahr
2000
Seiten
16
Katalognummer
V106775
ISBN (eBook)
9783640050505
Dateigröße
454 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Lola, Spiegelbild, Generation, Geschichte, Medien
Arbeit zitieren
Christian Fuchs (Autor:in), 2000, Lola rennt - Ein Spiegelbild der Generation @?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/106775

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