Gliederung
1. Einführung
1.1 Zur Sozialpädagogischen Familienhilfe (SPFH)
1.2 Das Konzept der "Nachsozialisierung" von J. Nicolay
2. Ziele / Intention
2.1 Ziele der SPFH nach Nicolay
2.2 Ziele der "Nachsozialisierung"
3. Arbeitsansatz / Methoden
3.1 Arbeitsansatz
3.2 Methoden
3.3 Abgrenzung zu anderen Fördermaßnahmen
4. Indikation für die Anwendung
4.1 Auffälligkeitsmerkmale der Kinder
4.2 Erziehungsmilieu
5. Ergebnisse bei erfolgreicher Umsetzung (Folgen für die Kinder)
6. Organisatorische Voraussetzungen
6.1 Dauer / zeitlicher Rahmen
6.2 Co-Arbeit und Supervision
6.3 Ablösung / Nachbetreuung
7. Probleme / Gefahren bei der Anwendung
8. Forderungen zur Verwirklichung des Konzepts an die Arbeit der SPFH
9. Gründe für die Aktualität des Konzepts
10. Literaturangabe
1. Einführung
1.1 Zur Sozialpädagogischen Familienhilfe (SPFH)
Die Sozialpädagogische Familienhilfe ist eine ambulante, intensive und längerfristige Hilfe für Familien in schwerwiegenden Problemsituationen und vollzieht sich, unter Einbezug aller am Familienleben beteiligten Personen und dem sozialen Umfeld, im alltäglichen Lebenszusammenhang der Familie.
Ziel der Hilfe ist die Unterstützung und Stärkung der Erziehungskompetenz unter besonderer Berücksichtigung des Wohlergehens und der Sicherheit der Kinder und der sozialen, pädagogischen und ökonomischen Ressourcen der Familie.
Die Sozialpädagogische Familienhilfe versteht sich als Hilfe zur Selbsthilfe und setzt die Bereitschaft der Familie zur Zusammenarbeit und zur Auseinandersetzung mit ihrer Situation voraus.
Die rechtliche Grundlage ist gegeben durch, § 27 KJHG Hilfe zur Erziehung, § 31 KJHG Sozialpädagogische Familienhilfe, sowie § 36 KJHG Mitwirkung, Hilfeplan.
1.2 Das Konzept der "Nachsozialisierung" von J. NICOLAY
Im Folgenden werde ich das von Joachim NICOLAY beschriebene "Konzept der Nachsozialisierung in der Sozialpädagogischen Familienhilfe" erläutern. Im Fokus des Konzepts stehen, wie der Begriff der Nachsozialisierung andeutet, Kinder, die aufgrund ihrer in der Familie bisher nur unzulänglich erzielten Persönlichkeitsentwicklung und Reifung, einen Bedarf an nachträglicher Sozialisation aufweisen, den die Eltern allein nicht Rechnung tragen können.
Kern des Konzepts ist demnach, daß die FamilienhelferInnen der SPFH, zum einen die Eltern weiterhin in ihren Erziehungsfunktionen unterstützen und stärken, zum anderen aber auch zusätzlich zu diesen, eine weitere Bezugsperson für die Kinder bieten. Auf diese Weise soll den Kindern die Möglichkeit gegeben werden, durch den vertrauten Umgang mit dem/der Familienhelfer(in), die in ihrer Entwicklung nicht oder nur unzureichend gemachten Erfahrungen, durch Anregung und Begleitung durch diesen, nachzuholen. Die FamilienhelferInnen übernehmen demnach, im Rahmen ihres professionellen Einsatzes, vorübergehend einen Teil der Elternfunktion (vgl. NICOLAY: Jugendwohl 1992, S. 284).
2. Ziele / Intention
2.1 Ziele der SPFH nach NICOLAY
Allgemein formuliert soll die Arbeit der FamilienhelferInnen in der SPFH, nach NICOLAY (vgl. 1992; Jugendwohl), die Eltern dazu befähigen ihre Erziehungsfunktionen gegenüber ihren Kindern voll zu übernehmen, eine Besserung der Beziehung von Eltern und Kind, sowie eine Besserung der allgemeinen Lebensbedingungen der Familie, zu ermöglichen. Leider zeigte bzw. zeigt die Praxis jedoch häufig, daß dieses Vorhaben zwangsläufig an seine Grenzen stößt, da das Selbsthilfepotential vieler durch SPFH betreuten Familien allein nicht ausreichend ist, um den Kindern eine bedarfsgerechte Erziehung zu ermöglichen. Daher sieht NICOLAY die Notwendigkeit und Chance darin gegeben, die Situation der Kinder in diesen Familien zu verbessern, indem die dort im Rahmen der SPFH tätigen FamilienhelferInnen, bei Bedarf eine gezielte Förderung dieser vornehmen (vgl., ebd.).
2.2 Ziele der "Nachsozialisierung"
Hauptziel der, mit dem Stichwort "Nachsozialisierung" beschriebenen Maßnahme, ist es, eine Förderung der Persönlichkeitsentwicklung, der Reifung und des Wachstums der "bedürftigen" Kinder zu erreichen, die über die Zeitdauer des Einsatzes hinausreichende Wirkung hat. Zudem zielt Nachsozialisierung, über die aktuelle Verhaltensänderung hinaus, auf die Entwicklung von Grundvertrauen und soll den Kindern die Erfahrung von Halt und Orientierung vermitteln. Als Folge dessen, soll sich ferner allmählich das Selbstvertrauen der Kinder erhöhen und Ängste und Unsicherheiten überwunden werden (vgl. NICOLAY, 1992).
H. PETZOLD (1988, S. 236) formulierte die Ziele der Nachsozialisierung, sinngemäß zu NICOLAY, folgendermaßen:
→ eineRestitution von Grundvertrauenund eineWiederherstellung beeinträchtigter odermangelhaft ausgebildeter Persönlichkeitsstrukturen. (nähere Erläuterung s. Pkt. 3.2)
3. Arbeitsansatz / Vorgehensweise
3.1 Arbeitsansatz
Eine Nachsozialisierung der Kinder in den defizitären Bereichen ihrer Persönlichkeitsentwicklung, soll dadurch erreicht werden, daß die FamilienhelferInnen im professionellen Rahmen ihres Einsatzes einen Teil der Elternfunktion vorübergehend mit übernehmen. Das heißt, er wird unter Berücksichtigung des Aspekts der Professionalität, zur Bezugs- und Vertrauensperson für das Kind, um dessen Entwicklung durch gezielte Förderung zu begleiten und zu unterstützen.
3.2 Vorgehensweise
Wie zuvor erwähnt, bedeutet einen Teil der Elternfunktion zu übernehmen, daß die FamilienhelferInnen zur Vertrauensperson für das Kind werden sollen, so daß sich dieses bspw. ohne Angst vor Strafe ihnen anvertrauen und mitteilen kann.
Nach NICOLAY (Jugendwohl, 1992) wird dies durch folgende methodische Vorgehensweise erreicht:
➔ Die FamilienhelferInnen sollen ihren Umgang mit den Kindern so gestalten, daß sie in ihrem Verhalten für diese berechenbar bzw. einschätzbar sind, d.h. sie sollen konsequent sein und klare, in verständlicher Weise formulierte Grenzen setzen. Î Ferner muß für die Kinder spürbar werden, daß die FamilienhelferInnen in ihrem Interesse handeln und sie bei Bedarf, bspw. in schwierigen Situationen mit anderen Beteiligten oder wenn es um die Bedürfnisse und Wünsche des Kindes geht, schützen.
➔ Eine weitere sehr wichtige Fördermaßnahme besteht darin, den Freiraum der Kinder soweit wie möglich zu erweitern, um ihre Entfaltungsmöglichkeiten und ihren Erfahrungsschatz vergrößern zu können. Dies kann natürlich nur durch die Abstimmung mit den Eltern und deren anschließenden Zustimmung erfolgen. Die FamilienhelferInnen setzen sich im Gespräch mit den Eltern dann z. B. dafür ein, daß das Kind (selbständig, oder in Begleitung) die Möglichkeit erhält einen Spielplatz oder ein Gruppenangebot der SPFH zu besuchen. Ferner wird oft gemeinsam nach Möglichkeiten gesucht, die zur Verfügung stehenden Räumlichkeiten in der Wohnung so zu verändern, daß sie zum Spielen geeigneter werden.
➔ Parallel zu der eben beschriebenen Maßnahme, sollten die FamilienhelferInnen den Kindern ausreichende Anregungen verschaffen. Dies kann z.B. durch das Mitbringen von Spielen und Büchern erfolgen, die dann gemeinsam gespielt oder gelesen werden, oder durch gemeinsam geplante Ausflüge (Waldspaziergang, Schwimmen, etc.) oder sonstige Aktivitäten (Malen, Basteln, etc.).
NACH H. PETZOLD (1988) sind es nicht einzelne methodische Interventionen, die die Kinder in ihrer Entwicklung fördern, sondern die Art und Weise, wie die FamilienhelferInnen mit den Kindern umgehen, d.h. die Qualität der Beziehung die daraus entsteht. Die FamilienhelferInnen nehmen die Kinder ernst, sie hören ihnen zu, ermuntern sie zu vielerlei Dingen und geben ihnen vor allem klare Strukturen vor. Dadurch sammelt das Kind neue Erfahrungen und wird in seinem Entwicklungsprozeß unterstützt bzw. gefördert.
Das Grundvertrauen eines Menschen zählt PETZOLD (1988) zur Basis der Persönlichkeitsentwicklung; daher sieht er eine primäre Aufgabe der "Nachsozialisierung" darin, eine Restitution (Wiederherstellung) des Grundvertrauens, durch die FamilienhelferInnen zu erreichen. Dazu bedarf es zum einen der Verläßlichkeit der FamilienhelferInnen, so daß das Kind durch die Regelmäßigkeit der Zuwendung, zu dieser, und schließlich in seine eigenen Fähigkeiten, vertrauen gewinnen kann. Zum anderen muß das Angebot eine gewisse Kontinuität haben um greifen zu können, denn auch diese läßt Vertrauen erst wachsen. Diese beiden Aspekte sind nach PETZOLD (1988) weitaus wichtiger, als bspw. ein wöchentlich hoher Zeitaufwand den die FamilienhelferInnen für das Kind aufbringen. Erst die Verläßlichkeit und Kontinuität der Maßnahme "Nachsozialisierung" bringt den gewünschten Entwicklungserfolg für das Kind (und im weiteren Sinne für die Familie) (vgl. PETZOLD 1988).
3.3 Abgrenzung zu anderen Fördermaßnahmen
Viele individuelle Fördermaßnahme von Kindern legen ihren Schwerpunkt meist primär auf die Förderung der Entwicklung von motorischen und intellektuellen Fähigkeiten, oder streben eine Anregung des Kindes zu sozialem Kontakt mit Gleichaltrigen an.
Das Konzept der "Nachsozialisierung" schließt dies zwar nicht aus, es legt seinen Schwerpunkt hingegen primär auf die "Restitution von Grundvertrauen" (PETZOLD, 1988), was als Basis der Persönlichkeitsentwicklung des Kindes angesehen wird (vgl. NICOLAY, 1992; s. Pkt. 3.2). Während bei den anfänglich genannten Förderungsschwerpunkten hauptsächlich eine Vermittlung von Impulsen und Anregungen durch den Erwachsenen stattfindet, wird beim Konzept der "Nachsozialisierung" eine umfassende Beziehung zum Kind gesucht bzw. zur Verwirklichung des Konzepts benötigt.
3.4 Probleme / Gefahren der methodischen Umsetzung
Die individuelle Förderung der Kinder im Rahmen des Konzepts der "Nachsozialisierung" muß, um erfolgreich zu sein und die anderen Aufgabenschwerpunkte der SPFH nicht zu gefährden, integriert sein in das Bemühen die Familie als ganzes zu unterstützen. Wird dieser Aspekt von dem / der Familienhelfer(in) nicht oder nur unzulänglich beachtet könne mehrere Probleme und Gefahren für die Arbeit mit der Familie entstehen (vgl. NICOLAY: Jugendwohl, 1992):
➔ Es besteht dann z.B. die Gefahr, daß der / die Familienhelfer(in) eine einseitige Parteinahme für das Kind entwickelt und so den Bezug zur Familie bzw. insbesondere zu den Eltern verliert, da er / sie diese lediglich als "Auslöser" für die problematische Situation der Familie und speziell der Kinder sieht. Er / Sie verliert dabei u.U. schnell aus den Augen, daß die Eltern selbst auch "hilfsbedürftig" sind. Dadurch entsteht dann meist ein Spannungsverhältnis zu den Eltern, welches die weitere Arbeit massiv gefährdet, wenn nicht gar unmöglich macht.
➔ Ferner ist es problematisch, wenn sich aus dem obengenannten Aspekt (Parteilichkeit) die Tatsache ergibt, daß sich das Handeln des / der Familienhelfers(in) nur noch verstärkt auf das Kind konzentriert und somit die Belange der Familie in z.B. materiell-ökonomischer Sicht, sowie die weiteren Ziele der SPFH, der "Hilfe zu Selbsthilfe" und der Stärkung der Eltern in ihrer Erziehungsfunktion und- kompetenz, ins Abseits gerät.
➔ Eine weitere Gefahr besteht, wenn der / die Familienhelfer(in) die Eltern bei der Förderung ihres Kindes (oder ihrer Kinder) nicht ausreichend informiert und einbezieht. Grundsätzlich müssen alle Arbeitsziele und Arbeitsschwerpunkte mit der ganzen Familie abgestimmt und von dieser akzeptiert werden. Dies ist einerseits notwendig um zu vermeiden, daß das Förderungsziel des Kindes (oder der Kinder) in Konflikt gerät mit den Zielen der Integration und Stärkungen der gesamten Familie, zum anderen um zu vermeiden, daß die Eltern den / die Familienhelfer(in) als Konkurrenz erleben.
Nach ELGER (1990, S.75) und seinem Ansatz der Unterstützung der schwächeren Familienglieder, kann dadurch die Intention leicht in den gegenteiligen Effekt umschlagen, da die vermeintliche Konkurrenz von den Familienmitgliedern als Bedrohung ihrer Stellung erlebt wird, so daß sie ihre Position durch (erneute) Übergriffe auf die Schwächeren (i. d .F. die Kinder) zu verteidigen suchen.
➔ Problematisch wird es auch, wenn der / die Familienhelfer(in) Andeutungen von Eifersucht und Konkurrenzempfinden seitens der Eltern (in Bezug auf ihr Kind und den / die Familienhelfer(in)), nicht wahr oder nicht ernst genug nimmt, und es versäumt dies in einem Gespräch mit den Eltern gegebenenfalls zu klären.
➔ Ferner hat der / die Familienhelfer(in) darauf zu achten, daß das Kind sich nicht zu stark an ihn / sie bindet. Zum einen würde dies die Beziehung des Kindes zu den Eltern weiter be- als entlasten (ÆEifersucht, Konkurrenzempfinden, Ablehnung, etc.), zum anderen ist dadurch die nötige Ablösung von dem / der Familienhelfer(in) deutlich schwieriger und demnach eine Verbesserung der Situation des Kindes gefährdet.
3.5 Ergebnisse bei erfolgreicher Umsetzung (Folgen für die Kinder)
Bei erfolgreicher Anwendung des Konzepts gelingt eine Förderung der Entwicklung der Kinder, die über den Einsatzzeitraum den die FamilienhelferInnen in der Familie verbringen, hinausreicht.
Als Folge der "Nachsozialisierung" zeigen sich dabei nach NICOLAY (Jugendwohl;1992), der dazu Ergebnisse einer Befragung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern anführt, Veränderungen auf verschiedenen Ebenen ab:
➔ Die Kinder machen Entwicklungsfortschritte im motorischen und sprachlichen Bereich, zudem verbessern sich meist ihre schulischen Leistungen.
➔ Es ist zu beobachten, daß sie bei Kontakt mit anderen Kindern sich besser auf diese und das Spiel einlassen können, sie werden seltener durch unangepaßte Verhaltensweisen auffällig.
➔ Außerdem ist nach NICOLAY eine Verbesserung des körperlichen Befindens, der inneren Ruhe und Konzentration zu beobachten.
➔ Die Beziehung zu den Eltern erfährt u.U. eine gewisse Entspannung, da die Kinder z.B. die Erfahrung machen auch ohne Provokation von den Eltern wahrgenommen zu werden und Zuwendung zu erhalten.
➔ Zusammengenommen wirkt sich das alles dann dementsprechend auf ein verstärkt positives Selbstbewußtsein aus, welches sich z.B. im äußern von Wünschen und Bedürfnissen und im Stolz auf Selbsterreichtes ausdrückt.
➔ Durch die Interaktion zwischen Familienhelfer(in) und Kind, lernt dieses neue Kommunikationsmuster und -formen kennen. Dies geschieht z.B. durch die verbale Grenzsetzung der FamilienhelferInnen und die Ermunterung der Kinder, sich ebenfalls verbal abzugrenzen (statt z.B. durch schreien und toben). Ferner ermuntern die FamilienhelferInnen die Kinder dazu, ihre eigenen Bedürfnisse und Wünsche mitzuteilen. Eine positive Erweiterung (oder Änderungen) des Kommunikationsmusters der Kinder, kann dann im günstigsten Fall die Kinder in ihrer Kontaktfähigkeit zu anderen und somit in ihrer sozialen Integration (z.B. in Kindergarten oder Schule) unterstützen.
Abschließend möchte ich nochmals betonen: Die Förderung der Kinder kann allerdings nur erfolgreich sein, wenn sich eine gute Zusammenarbeit der FamilienhelferInnen mit der Familie, insbesondere den Eltern, entwickelt.
4. Indikation für die Anwendung
4.1 Auffälligkeitsmerkmale der Kinder
Die Kinder die nach NICOLAY der Nachsozialisierung bedürfen fallen vor allem dadurch auf, daß sie emotional haltlos wirken und unentwegt um Beachtung und Anerkennung bemüht sind. Sie kämpfen nahezu kompromißlos, um die Beachtung und Zuwendung der FamilienhelferInnen. Dieses Verhalten ist eine der Ausdrucksformen eines gestörten Grundvertrauens (ebd.). Hervorgerufen wurde dieses wiederum, durch die Erfahrung von weitgehend fehlender emotionaler Zuverlässigkeit und einem unbeständigen und wechselhaften Verhalten der Eltern. Eine andere Reaktion die dieses Erziehungsverhalten auslöst ist die, daß die Kinder ein grundsätzliches Mißtrauen in menschliche Beziehungen entwickeln und daher einen eher zurückgezogenen, ängstlichen Eindruck vermitteln (vgl. DJI: HELMING/SCHATTNER/BLÜML, 1999, S. 286).
Neben den Störungen auf der Verhaltensebene und im emotionalen Bereich, haben die Kinder der durch die SPFH betreuten Familien zudem durch beachtliche Entwicklungsverzögerungen, Schwierigkeiten beim Spracherwerb und durch Leistungsschwierigkeiten in der Schule (Æ kognitiver Bereich) (PRESSEL, 1981, S. 42).
4.2 Erziehungsmilieu
Das Erziehungsmilieu der Familien in denen eine Nachsozialisierung eines oder mehrerer Kinder sinnvoll erscheint, ist meist gekennzeichnet durch autoritär-restriktives und / oder inkonsequentes Verhalten der Eltern, sowie durch ein Klima von Aggression und Gewalt, oder Resignation und Hoffnungslosigkeit. Den Kindern fehlen meist Anregungen (z.B.: zum Spielen, zur Weckung der Neugier, zur Auseinandersetzung mit der Umwelt, oder schulischer Art, etc.). Sie finden in ihren Eltern keine Zuhörer für ihre kommunikativen Bedürfnisse. Oftmals erleben sie spontane Wechsel von Zuneigung und Zärtlichkeit zu Ablehnung und Ausstoßung (vgl. NICOLAY: Jugendwohl 1992).
In diesem Zusammenhang weist M. RUTTER (1981, S.123) daraufhin, daß Kinder sich in ihrem Verhalten an den Eltern orientieren. Wenn diese bspw. in Streßsituationen aggressiv reagieren, ist es relativ wahrscheinlich, daß das Kind unter Streß ebenso reagiert. Wenn der Vater bspw. in spannungsgeladenen Situationen schreit und flucht, bedeutet dies eine Ermutigung für das Kind, dasselbe zu tun.
Ingeborg PRESSEL (1981) unterscheidet die Ursachen für Erziehungsschwierigkeiten in zwei Gruppen:
Bei der einen Gruppe entstehen Schwierigkeiten zwischen Eltern und Kindern, aus der Tatsache, daß die Eltern aufgrund ihres niedrigen Intelligenz- und Bildungsniveaus und ihrem unzureichenden Organisations- und Planungsvermögens, den Kindern ein wenig anregendes Lern- und Lebensmilieu bieten, sie in schulischen Belangen kaum oder gar nicht unterstützen, und ein stark emotional bestimmtes, widersprüchliches Erziehungsverhalten zeigen (ebd.).
Bei der zweiten Gruppe sind es die stark voneinander abweichenden Norm- und Erziehungsvorstellungen der Elternteile, die sich als widersprechende Anforderungen an das Kind äußern, und als Folge der Irritation, bei diesem oft heftigen Widerstand gegen die Eltern und andere Erzieher auslösen. Der Umgangsstil der Eltern wird als fordern beschrieben, da zwischen den Elternteilen und zwischen Eltern und Kind keine argumentative Auseinandersetzung erfolgt. Die Kinder verhalten sich daher meist trotzig, quengelnd fordernd oder offen aggressiv (vgl. ebd.).
5. Organisatorische Voraussetzungen
5.1 Dauer / zeitlicher Rahmen
Da im Rahmen der Nachsozialisierung vor allem der Aufbau von Grundvertrauen und die Entwicklung neuer Persönlichkeitsstrukturen und Beziehungsmuster erreicht werden soll, ist es verständlich, daß hierzu ein längerfristiger Zeitrahmen benötigt wird. Demnach ist das Konzept der Nachsozialisierung nur dann ausführbar und sinnvoll, wenn eine l a n g f r i s t i g e B e g l e i t u n g der Kinder prinzipiell möglich ist. Eine zeitliche Fixierung bzw. Begrenzung sowohl der Familienhilfe als auch der Maßnahme der "Nachsozialisierung", mindern den angestrebten Erfolg u.U. beträchtlich (vgl. NICOLAY, 1992).
Nach NIELSEN, NIELSEN, MÜLLER, kann "Eine zu enge Orientierung an der Höchstgrenze `2 Jahre Familienhilfe` (...) alle in diesen Jahren erreichten Erfolge wieder rückgängig machen" (1986, S. 149).
Der Aspekt der Langfristigkeit der Maßnahme ermöglicht zudem, daß der / die betreffende Familienhelfer(in) sich zwar kontinuierlich aber nicht zu zeitintensiv auf das Kind einläßt bzw. einlassen muß. Hierdurch würde nämlich u.U. ein Überengagement entstehen, welches für alle Beteiligten ungünstige Folgen haben könnte. Sowohl das Kind als auch der / die Familienhelfer(in) wären dadurch leicht überfordert; zudem bestände die Gefahr verstärkt in Konkurrenz zu den Eltern zu geraten, was die Beziehung von Eltern und Kind, und Eltern und Familienhelfer(in), massiv verschlechtern könnte (vgl. NICOLAY, 1992).
5.2 Supervision und Co-Arbeit
Sozialpädagogischen Familienhilfe spielt sich unmittelbar im Geschehen bzw. Lebensraum der Familie ab und bietet daher wenig Raum für Distanz. Ferner gestaltet sie sich generell oft sehr komplex, so daß der / die Familienhelfer(in) sich als involvierte Person zeitweise sehr Bemühen muß um - quasi von außen - wieder den nötigen Überblick über die "Sachlage" zu gewinnen. Daher ist für die Arbeit in der Familie generell, und für die Arbeit im Rahmen der "Nachsozialisierung" im speziellen, eine ausreichende Möglichkeit zur S u p e r v i s i o n unumgänglich bzw. nahezu zwingend notwendig. Die Supervision ist nach NICOLAY (1992) "die zweite Säule der SPFH"; sie soll vor der Vereinnahmung durch das Familiensystem schützen und dient daher der Reflexion, der Zielplanung und der Bestimmung des eigenen Standortes.
Wenn sich die familiäre Situation zu komplex gestaltet, kann es sinnvoll sein, den Einsatz der SPFH in dieser Familie auf zwei Mitarbeiter aufzuteilen.
Diese C o - A r b e i t ermöglicht dann beispielsweise, daß sich ein Mitarbeiter stärker der allgemeinen familiären Situation widmet, während der andere sich auf die Förderung eines (oder mehrere Kinder) im Sinne des Konzepts der Nachsozialisierung konzentriert. Gerade in kinderreichen Familien ist dies sinnvoll, da hier eine hohe Bedürftigkeit der einzelnen Familienmitglieder nach Aufmerksamkeit besteht, die von einer einzelnen FamilienhelferIn nicht erfüllt werden kann. Außerdem spielen gerade bei der Förderung von Kindern geschlechtsspezifische Aspekte eine Rolle, da junge Mädchen u.U. eher einen Zugang zu FamilienhelferInnen und Jungen eher einen Zugang zu Familienhelfern finden (vgl.: NICOLAY, Jugendwohl, 1992; DJI: Handbuch SPFH, 1999, S.298).
5.3 Ablösung / Nachbetreuung
Die Kinder die im Rahmen des Konzepts der "Nachsozialisierung" gefördert werden sollen, haben oft vielfältige Erfahrungen gemacht bezüglich abrupten Beziehungswechseln, Beziehungsabbrüchen und "Abgeschobenwerden" (vgl. NICOLAY; Jugendwohl, 1992). Daher ist eine ausreichend lange und gut vorbereitete Phase der A b l ö s u n g gegen Ende der Maßnahme vorzunehmen. In dieser Phase sollen sich die Kontakte zwischen Kind und Familienpfleger(in) allmählich reduzieren, um eine Stabilisierung des erreichten Fortschritts des Kindes nicht zu gefährden.
Ferner sollte die Möglichkeit einer N a c h b e t r e u u n g bestehen, in der der / die Familienhelfer(in) zumindest weiterhin ein Ansprechpartner für das Kind und die Familie bleibt. Dies wird meist recht locker gehandhabt, als ein Angebot an die Eltern, - bzw. hier auch das Kind oder die Kinder -, sich telefonisch zu melden um z.B. von erreichten Erfolgen zu berichten oder sich einen Tip oder eine Adresse geben zu lassen, oder auch um bei Bedarf eine aktuelle Problemsituation zu besprechen (vgl. DJI: HELMING/SCHATTNER/BLÜML, 1999, S. 310). In einzelnen Fällen werden auch feste Gesprächstermine im Büro des Mitarbeiters vereinbart (ebd.). Die Nachbetreuung kann somit helfen Erfolge abzusichern, und wenn es die Situation erfordert, durch frühzeitige Vermittlung einer Hilfe (z.B. SPFH oder andere Hilfen) eine präventive Funktion übernehmen (ebd.).
Obwohl "Nachbetreuung" in den meisten Konzeptionen der SPFH bisher keine zentrale Phase darstellt, ist sie nach Meinung einiger Autoren (BLÜML/HELMING/SCHATTNER,1994) ein wichtiger Aspekt der Hilfe im Rahmen der SPFH. Meiner Meinung nach ist sie gerade im Rahmen der "Nachsozialisierung" sehr wichtig, um die Förderungserfolge beim Kind durch das Vorhandensein eines vertrauten und kompetenten Ansprechpartners zu stützen, und dem Kind so ein Gefühl von "Rückhalt" geben zu können.
6. Forderungen zur Verwirklichung des Konzepts an die Arbeit der SPFH
Um das Konzept der "Nachsozialisierung" umsetzen bzw. verwirklichen zu können, müssen bestimmte Aspekte in der Arbeit der SPFH beachtet werden (NICOLAY: Jugendwohl, 1992): Die individuelle Förderung der Kinder ist nur möglich, wenn zwischen den Eltern und der FamilienhelferIn gegenseitiges Vertrauen und gegenseitige Wertschätzung herrscht.
- Ferner müssen die Eltern die Hilfe als unterstützend und sinnvoll ansehen, also einen spürbaren Nutzen für sich daraus ziehen können, um das Verständnis und das Vertrauen für die Förderung ihrer Kinder durch die FamilienhelferInnen aufbringen zu können. Bei Spannungen zwischen den Eltern und den FamilienhelferInnen, die sich z.B. durch das Empfinden und Äußern von Eifersucht und Konkurrenz seitens der Eltern ergeben, müssen unmittelbar und in ausreichender Form Gespräche zur Klärung der Situation erfolgen.
- Wenn eine (weitere) Zustimmung der Eltern für die individuelle Förderung ihres Kindes (ihrer Kinder) durch die Familienpfleger(in) nicht erreicht werden kann, muß die Zielsetzung für die weitere Arbeit in der Familie zwangsläufig verändert werden. Die Förderung muß dann - zumindest vorläufig - unterbrochen werden, bzw. kann u.U. in einer weniger konkreten Form weitergeführt werden (z.B. in der Gruppenarbeit der SPFH).
- Da sich die Kinder durch die Förderung meist deutlich in ihrem Verhalten ändern und dies für die Eltern nicht nur positiv sondern u.U. bedrohlich wirken kann, muß der / die Familienhelfer(in) sich um die (Re-)Integration des Kindes (der Kinder) in die Familie bemühen.
7. Gründe für die Aktualität des Konzepts
Ein Grund für die Aktualität des Konzepts ist, daß man in der heutigen Praxis der SPFH vermehrt Familien betreut die in (u.U. chronischen) Strukturkrisen und desolaten Verhältnissen leben, und bei denen das Konzept der "Nachsozialisierung" nach NICOLAY zur Förderung eines oder mehrerer Kinder der Familie, eine notwendige und sinnvolle Unterstützung der Familie (und im speziellen der Kinder), darstellen könnte (s. Pkt. 1.1). Im Gegensatz zu früheren Konzeptionen, werden bei vielen der heutigen weniger strenge oder sogar überhaupt keine Ausschlußkriterien vorgegeben, welche die Arbeit mit bestimmten Familien (z.B. in chronischen, desolaten Strukturkrisen) von vornherein ausschließen (vgl. DJI: HELMING/SCHATTNER/BLÜML, 1999, S. 81).
Ein weiterer Aspekt der für die Anwendung des Konzepts durch die FamilienhelferInnen spricht ist, daß heute in der Erziehung recht hohe Ansprüche an die Eltern gestellt werden; woraus für diese (und auch die Kinder) u.U. ein ebenso hoher, kulturell vorgegebener Druck erwächst, denen gerade benachteiligte und unterversorgte Familien allein nicht standhalten können (vgl. DJI: HELMING/SCHATTNER/BLÜML, 1999, S. 172).
Ferner mangelt es heutzutage außerhalb der Familie immer noch an pädagogischen Konzepten zur Stärkung der sozialen Kompetenz der Kinder und Jugendlichen. In der Schule werden bspw. immer noch hauptsächlich nur die kognitiven Möglichkeiten der Kinder gefördert und die Stärkung und Entwicklung der sozialen Kompetenz relativ wenig beachtet bzw. angegangen. Daher wird dies bei Familien, bei denen ein Klima welches soziale Kompetenzen fördert ohnehin fehlt, für die Kinder um so nötiger, daß sich bspw. eine FamilienhelferIn diesem Thema annimmt (vgl. DJI: HELMING/SCHATTNER/BLÜML, 1999, S. 173).
8. Schlußwort
Abschließend möchte ich bemerken, daß das Thema aufgrund der seitenmäßigen Begrenzung der Hausarbeit, nur in groben Zügen dargestellt werden konnte und demnach längst nicht ausgeschöpft wurde. Einige Aspekte wurden nur recht kurz angeschnitten, ich denke aber es reicht dennoch aus, um sich ein Bild von NICOLAY`s Konzept der "Nachsozialisierung" machen zu können. Persönlich halte ich das Konzept für sehr sinnvoll und notwendig und würde mir wünschen, daß es auch vermehrt Anwendung findet.
9. Literaturangabe
I. NICOLAY, J.
Das Konzept der Nachsozialisierung in der Sozialpädagogischen Familienhilfe. Aus: Jugendwohl 1992; S. 283-290
II. HELMING, E.; SCHATTNER, H.; BLÜML, H.
Handbuch Sozialpädagogische Familienhilfe. (DJI) Stuttgart: Kohlhammer, 1999
III. NIELSEN, H. u. K.; MÜLLER, S. W.
Sozialpädagogische Familienhilfe. Probleme, Prozesse und Langzeitwirkungen.
Weinheim: Beltz, 1986
IV. ELGER, W.
Sozialpädagogische Familienhilfe Neuwied: Luchterhand, 1990
V. PRESSEL, I.
Modellprojekt Familienhilfe in Kassel. Bericht der wissenschaftlichen Begleitung. Frankfurt, 1981
VI. RUTTER, M.
Hilfen für milieugeschädigte Kinder.
München, Basel: Ernst Reinhardt, 1981
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
- Arbeit zitieren
- Sandra Mauer (Autor:in), 2002, Das Konzept der Nachsozialisierung in der Sozialpädagogischen Familienhilfe (nach Joachim Nicolay), München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/106872
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