Neoliberalismus und Autoritarismus - ein symbiotisches Paar?


Hausarbeit, 2001

21 Seiten


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1.Einleitung

2.Begriffsbestimmung Autoritarismus

3.Neoliberale Theorie
3.1 Grobe Skizzierung des Begriffs
3.2 Hayeks Konzepte der „spontanen Ordnung“ und der „kulturellen Evolution“
3.3 Neoliberale Pluralismuskritik
3.4 Neoliberalismus und Demokratie

4.Neoliberal beeinflusste Praxis - Das Beispiel Chile

5.Fazit

6.Literaturangaben

1. Einleitung

Seit der mitte der 80er Jahre entstehen in einigen Ländern Europas rechtspopulistische Parteien eines neuen Typs. Korporatistische Wirtschaftspolitik in der Tradition des italienischen Faschismus ist ihnen ebenso fremd wie der Nationalsozialismus Hitlers. Stattdessen mischen sie herkömmlichen rechtsautoritären Politikstil mit neoliberalen Wirtschaftsvorstellungen, indem sie auf den freien, unregulierten Markt und zugleich auf den schlanken, aber starken Staat setzen.

In seinem Buch "The Radical Right in Europe. A Comparative Analysis." versucht sich der Politikwissenschaftler Herbert Kitschelt an der Beantwortung der Frage nach den Gründen für die Entstehung dieser eigentümlich erscheinenden ideologischen Verbindung. Sein Fazit: diese Parteien sind das Produkt "politischer Unternehmer", die autoritäre und neoliberale Ansätze zusammenführen, um im Zuge des Übergangs zur postindustriellen Gesellschaft entstandene "Nischen" am "Politischen Markt" zu besetzen. (Kitschelt 1995, S 43) Eine derartige Vorgehensweise gilt ihm als „winning formula“. (Kitschelt 1995, S VIII)

Das Ziel dieser Arbeit ist es, auf einer anderen Ebene nach weiteren Gründen zu suchen: warum sind rechtspopulistische Politiker, die schliesslich auch Menschen mit Werten und weltanschaulichen Positionen sind, überhaupt bereit, sich auf den Neoliberalismus zu beziehen? Welche Motivation für die Kombination könnte es über die wahltaktische Attraktivität hinaus geben? Welche Anknüpfungspunkte bietet die neoliberale Lehre?

Zur Beantwortung dieser Fragen ist es naheliegend, das Verhältnis der neoliberalen Lehre zu autoritären Politikstilen zu untersuchen. Dazu wird zunächst beschrieben, was hier mit „autoritären Politikstilen“ bzw. „Autoritarismus“ gemeint ist, um sodann den Neoliberalismus anhand ausgewählter Vertreter auf autoritäre Aspekte abzuklopfen, auf Elemente also, die den erwähnten Politikern interessant erscheinen könnten. Besonderes Augenmerk wird dabei auf die Beziehung der neoliberalen Theoretiker zur Demokratie und zu demokratischen Prinzipien gelegt

Zwecks Illustration soll daraufhin am Beispiel der Pinochet-Diktatur in Chile dargestellt werden, wie neoliberal beeinflusste Politik an der Macht aussehen kann und wie sich ausgewählte neoliberale Theoretiker demgegenüber verhalten haben.

Auf dem Boden der in den vorherigen Abschnitten gesammelten Erkenntnisse soll dann die Frage zu beantworten werden, als wie „eigentümlich“ eine Mischung von neoliberalen und autoritären Ansätzen tatsächlich einzuschätzen ist.

2.Begriffsbestimmung Autoritarismus

Dieter Nohlens „Lexikon der Politik“ definiert „Autoritarismus“ als einen „Politikstil, der die Autorität einer Person oder eines Amtes betont“ (Nohlen98: 61). Für die Zwecke dieser Arbeit möchte ich diese Definition logisch erweitern und Autoritarismus als einen Politikstil verstehen, der von ihm beherrschte Organisationen und Strukturen autoritär umgestaltet. Dies bedeutet nach dem Verständnis üblicher Lexika (etwa Microsoft Encarta99 oder Brockhaus digital) einmal die massive Einschränkung der Partizipationsmöglichkeiten der Organisationsbasis, weiterhin die Konzentration der organisatorischen Macht auf eine bestimmte Person, eine Gruppe oder Elite und schliesslich die konsequente Unterdrückung innerorganisatorischer Opposition.

Auf die Staatsebene übertragen meint Autoritarismus nach diesem Verständnis also einen Politikstil, der der demokratischen Machtlegitimation keinen besonderen Stellenwert einräumt, also beispielsweise durch gewalttätige Umstürze errichtete Regimes unter Umständen als legitim betrachtet, der, einmal an der Macht, demokratische Strukturen aushöhlt und demokratische Prinzipien missachtet, also etwa das Wahlrecht massiv einschränkt oder abschafft, und der dazu neigt, die politische Opposition mit repressiven Mitteln auszuschalten.

3. Neoliberale Theorie

3.1 Neoliberalismus - was ist das? Eine grobe Skizzierung.

Das Wort „Neoliberalismus“ teilt das Schicksal vieler Begriffe, die exzessiv in der allgemeinen politischen Diskussion verwendet werden: wie eine Münze, die von Hand zu Hand geht und dabei mehr und mehr die einstmals deutliche Prägung verliert, wurde es in seiner Bedeutung mit der Zeit immer unklarer und verwaschener. Verschlimmernd kommt hinzu, daßin der Debatte wenigstens zwei radikal verschiedene Vorstellungen vom Inhalt des Begriffs vertreten werden.

Während etwa die FDP in ihrem Pressedienst vom Neoliberalismus als „Zerr- und Feindbild“ spricht und ihn als Quelle der Grundlagen der Sozialen Marktwirtschaft im Sinne von Ludwig Erhard sieht (Internet1), erklärt beispielsweise der in der globalisierungskritischen Organisation „Attac“ mitarbeitende Sozialrichter Jürgen Borchert in einem Interview, daßder Neoliberalismus gerade nichts mit den Vorstellungen Ludwig Erhards gemein habe (Internet2). Eine kurze Internetrecherche mit üblichen Suchmaschinen fördert eine Fülle von Variationen des selben Widerspruchs zutage. Immer attackiert die eine Seite den Neoliberalismus als Ausbund von Sozialdarwinismus und Marktradikalismus, während die andere Seite die Entwicklung des Begriffs zum „Feindbild“, zum „Schimpfwort“ beklagt und ihn als Bezeichnung für eine sozial gezügelte Marktwirtschaft verstanden wissen will. Als Vertreter nennen die ersteren Milton Friedman und Friedrich August von Hayek, die letzteren dagegen Ludwig Erhard, Wilhelm Röpke oder Walter Eucken.

Tatsächlich haben beide Fraktionen recht, sie reden nur, wie so oft in solchen Fällen, aneinander vorbei. Es handelt sich um zwei Richtungen derselben, auf einem 1938 in Paris stattfindenden Kolloqium begründeten Theoriefamilie (Walpen 2000: 1071). Beiden Varianten gemein ist die Ablehnung von Monopolen, der als schlimmste Form des Monopolismus geltenden Planwirtschaft sowie die Zielstellung, die nach der Weltwirtschaftskrise in den dreissiger Jahren weithin diskreditierte Marktwirtschaft und den Wettbewerb als ökonomischen Steuerungsmechanismus zu rehabilitieren. Dem Staat fällt in dieser Theorie hauptsächlich die Rolle zu, die Rahmenbedingungen des Wettbewerbs zu schaffen und zu erhalten. Aktiv steuerndes Eingreifen des Staates in Wirtschaftsabläufe, wie sie etwa der Keynesianismus vorsieht, wird dabei klar abgelehnt.

Die später vor allem als „Ordoliberalismus“ bekannt gewordene Variante der neoliberalen Lehre um Walter Eucken zählt zur Aufgabe der Rahmensicherung im Sinne der Legitimierung des politischen Systems auch die Verhinderung negativer externer Effekte, die Bekämpfung von Monopolen in Form von Kartellen, Trusts und Großkonzernen (Kühnl 111) und vor allem die Sicherung der Chancengleichheit und der sozialen Gerechtigkeit durch staatliche Umverteilung. Die Ungleichmäßigkeit der Besitzverteilung wird als „ein Haupthindernis für die Verwirklichung des sozialen Ausgleichs der Startbedingungen im wirtschaftlichen Wettbewerb“ (Brockhaus 1968) erkannt und kritisiert. Leitbild dieser Linie ist die soziale Marktwirtschaft, nicht „die freie Marktwirtschaft des liberalistischen Freibeutertums einer vergangenen Ära, auch nicht nur 'das freie Spiel der Kräfte'“(Informationen zur Politischen Bildung 256 / Internet 4), so der sich selbst als „neoliberal“ einstufende Ludwig Erhard. Vertreter dieser Linie verstanden den Neoliberalismus als „Dritten Weg“ zwischen Kapitalismus und Sozialismus.(Brockhaus 1968)

Die auch als „Chicagoismus“ oder „Libertarianismus“(Niesen: 78) bezeichnete und maßgeblich von Friedrich August von Hayek geprägte Linie billigt vor allem dem Eigentumsrecht oberste Priorität zu und spricht sich folglich konsequent gegen jede Art der staatlichen Umverteilung aus. Als Aufgabe des Staates sieht sie ausschliesslich die Erzwingung der Vertragsverhältnisse, sowie der Freiheits- und Eigentumsrechte. Dazu zählt auch für Hayek die Bekämpfung von Monopolen, deren gefährlichste Varianten er allerdings in staatlichen Betrieben und vor allem im „Arbeitsmonopol“ (Schui 1997) der Gewerkschaften und damit in den Gewerkschaften selbst sieht (Schui 2000: 77). Schon in den vierziger Jahren versteht er Sozialdemokraten und Sozialliberale als „intellektuelle Verbündete“ des Staatssozialismus und zählt sie damit zu den „Hauptfeinden der freien Welt“ (Niesen: 98). Der Begriff „Soziale Gerechtigkeit“ gilt ihm als „leer und bedeutungslos“ (ebenda), Gerechtigkeitsüberlegungen geben für ihn „keine Rechtfertigung für die Korrektur des Marktergebnisses“ ab (Grundsätze einer liberalen Gesellschaftsordnung S125, Ordo 1967 - zit. nach Schui 2000: 77) und Steuerprogression versteht er als „Diskriminierung der Wohlhabenden“(Niesen 98). Ungleichverteilung gesellschaftlichen Reichtums wird von ihm nicht kritisiert, sondern im Gegenteil begrüsst. In einem Interview erklärt er, Ungleichverteilung beliebigen Ausmaßes seien „einfach nötig“, um die weniger Vermögenden zu mehr Leistung anzuspornen. (Wirtschaftswoche 6.3.1981)

Im selben Interview erwartet den Leser eine radikale Absage an Bestrebungen, das globale Nord-Süd-Wohlstandsgefälle auszugleichen. „Gegen die Überbevölkerung gibt es nur eine Bremse, nämlich daßsich nur die Völker erhalten und vermehren, die sich auch selbst ernähren können.“, so Hayek wörtlich. (ebenda) Selbst den staatlichen Einsatz für gleiche Startbedingungen auf dem Markt lehnt Hayek ab, denn die dafür nötige Stärkung des Staates sei in jedem Fall ein größeres Übel als die Chancenungleichheit. (WoZ 18.3.99/ Internet3)

Wie klar erkennbar ist, widersprechen sich beide Linien in für die Debatte zentralen Punkten vehement. So ist es nicht verwunderlich, daßdiejenigen, die eine der beiden Varianten für den „einzig wahren“ Neoliberalismus halten, nicht zögern, der anderen Seite die übelsten Motive zu unterstellen. So etwa die Neue Zürcher Zeitung, in der in diesem Zusammenhang von „grassierender Begriffs-Falschmünzerei“ oder gar von „perfider Umdeutung“ die Rede ist. (NZZ vom 11.4.1998) Umso übler stößt es auf, daßselbst das renommierte politikwissenschaftliche Nachschlagewerk „Lexikon der Politik“ von Dieter Nohlen zur Verwirrung beiträgt, indem es Friedrich August von Hayek den Ordoliberalen zuschlägt.

International bedeutsam und damit prägend für den heutigen Inhalt des Wortes in den meisten Ländern wurde die hayeksche Ausprägung des Neoliberalismus. Der gebürtige Österreicher Hayek studierte Ökonomie, Recht und Politik und lehrte in London, Freiburg und auch in Chicago, wo er die mit seinen Ansichten verbundene „Chicago- Schule“ beeinflusste. Das Ansehen seiner zunächst ökonomischen und nach und nach gesellschaftsphilosophisch ausgebauten Lehre wuchs mit der Unterstützung, die sie im Chile Pinochets, im Großbritannien des Thatcherismus und in den USA der Reagan-Ära erfuhr. 1974 erhielt Hayek den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften, viele seinen Ideen nahestehende Theoretiker, wie der heute bedeutendste Vertreter des Neoliberalismus, Milton Friedman, taten es ihm nach.

Mit dem Ende des Keynesianismus in den siebziger und achtziger Jahren und dem Zusammenbruch des Staatssozialismus wurde diese Linie der neoliberalen Theorie zum wirtschaftspolitischen Paradigma der meisten Staaten. (Nohlen 1998: 328).

Wenn in dieser Arbeit von „neoliberal“ oder „Neoliberalismus“ die Rede ist, wird vor allem auf die Vorstellungen Hayeks zurückgegriffen werden. Wo es sich anbietet, werden allerdings auch ähnliche Positionen anderer Vertreter der neoliberalen Theorienfamilie herangezogen.

3.2 Hayeks Konzepte der „spontanen Ordnung“ und der „kulturen Evolution“

Will man Hayeks Verhältnis zu Demokratie und Autoritarismus verständlich machen,, kommt man um eine wenigstens grobe Darstellung seiner philosophischen Vorstellungen nicht herum. Wesentlich sind dabei die Konzepte der „spontanen Ordnung“ und der „gesellschaftlichen Evolution“. Aus beiden leiten sich seine markantesten Positionen ab. (vgl. im folgenden Blankenburg S63-72 und Schui 2000 S79-84)

Eine „spontane Ordnung“ stellt sich bei Hayek durch das Zutun vieler ein, ohne daßdie Beteiligten die Erschaffung oder auch nur Gestaltung dieser Ordnung angestrebt haben. Das Individuum unterwirft sich lediglich den allgemein anerkannten Regeln und Normen und strebt auf dieser Basis zu bestmöglichem individuellen Erfolg. Ein allgemeines Ziel kann eine solche Ordnung nicht haben, ausschliesslich das Bestehen und die spontane, evolutionäre Weiterentwicklung dieses Zustands ist Zweck und Ziel zugleich. Nach Hayek sollte nicht nur die Wirtschaft auf diese Weise organisiert sein, sondern die gesamte Gesellschaft. Deshalb ist er der Feind politischer Bestrebungen, die Gesellschaft als Ganzes zu reformieren oder ihr ein Ziel wie soziale Gerechtigkeit oder Vollbeschäftigung zu geben. Derartige Dinge können bei Hayek lediglich als eine art Dreingabe von der spontanen Ordnung hervorgebracht werden. Ein aktives wirtschaftspolitisches Eingreifen in Marktprozesse oder gar vom Modell der „spontanen Ordnung“ wegführende gesellschaftliche Reformen zum Zwecke des Erreichens solcher Ziele müssen dagegen laut Hayek über kurz oder lang in eine totalitäre Gesellschaft führen. Die Erhaltung einer „spontanen Ordnung“ setzt also voraus, daßAkteure, die die beschrieben Zielsetzungen haben oder zumindest die Fähigkeiten hätten, solche Ziele umzusetzen, dieser Möglichkeiten möglichst endgültig beraubt, daßsie „gezügelt“ werden müssen.

Woher bezieht Hayek nun die Legitimation zur Herstellung einer solchen Ordnung auf wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Ebene? Wie funktioniert die oben schon angesprochene „evolutionäre Weiterentwicklung“ einer solchen Ordnung? Beides wird durch das Konzept der „kulturelle Evolution“ beschrieben. Gemeint ist damit die Entwicklung der Menschheit hin zur Marktwirtschaft und letztlich hin zu Hayeks „freier Gesellschaft“.

Diese Entwicklung begann in der „vorzeitlichen Horde“, die als Organisation noch auf bestimmte, konkrete Ziele wie das Erlegen der Jagdbeute oder die Verpflegung derjenigen, die sich nicht mehr selbst ernähren können, ausgerichtet war. Hayek nennt diese Gesellschaftsform „Face to Face-Society“ (Hayek: 219): einander bekannte Menschen erledigen zusammen, gezielt und geplant allgemein bekannte Ziele der gesellschaftlichen Organisation. Voraussetzung dafür waren laut Hayek genetisch programmierte Verhaltensmuster.

An einem Punkt durchbrachen dann einzelne Individuen diese Verhaltensmuster oder Verhaltensregeln und praktizierten neue Formen des Verhaltens - allerdings nicht, weil sie erkannten, daßdiese besser waren, sondern, weil ihre Gruppe durch die Verwendung dieser Regeln besser wuchs als andere Gruppen. (ebenda 218) Auf diese Weise setzten sich neue Verhaltensregeln nach und nach durch - Gruppen, deren Mitglieder sich diesen besseren Regeln unterwarfen, vergrößerten sich zunehmend, andere wurden verdrängt, passten sich letztlich an oder starben aus. Diese Ausbreitung neuer Regeln funktionierte also nicht durch einsichtiges Lernen, sondern lediglich durch bloße Übernahme des Erfolgreichen. Der Mensch nimmt aus dieser Sicht prinzipiell nicht neue Regeln und Prinzipien an, weil er intelligent ist - sondern er wird intelligent dadurch, daßer sich neuen Prinzipien und Regeln unterwirft.

Infolge des Evolutionsprozesses, durch das Wachstum der Bevölkerung und die Fortentwicklung der gesellschaftlichen Regeln und Normen, trat die menschliche Gesellschaft aus dem Stadium der „Face to Face - Society“ heraus. An die Stelle des gemeinschaftlich geplanten, zielgerichteten gesellschaftlichen Handelns trat der Markt und das individuell nutzenmaximierende Handeln innerhalb der Marktordnung. Die Menschen produzierten nicht mehr für die bekannten, konkreten Ziele etwa ihrer Nachbarn, sondern für die auf dem abstrakten Gebilde „Markt“ vorhandene oder auch nicht vorhandene Nachfrage. (ebenda 223) Infolgedessen änderten sich auch die gesellschaftlichen Regeln: sie wurden zunehmend abstrakt, indem sie auf den Markt und seine Erhaltung und auf unpersönliche Signale wie Reichtum oder wirtschaftlichen Erfolg orientierten. (ebenda 222)

Neben den schon vorher vorhandenen und oben beschriebenen Prozess der Gruppenselektion trat nun die marktliche Selektion von Individuen innerhalb dieser Gruppen. Hierfür sind Markt und Wettbewerb von entscheidender Bedeutung. Durch den Wettbewerb werden auf dem freien Markt die überlegenen Verfahren und Verhaltensweisen herausgesiebt. Überlegen ist hierbei, was zu persönlichem Wohlstand verhilft oder zumindest das Überleben sichert. Die Überlegenheit, der persönliche Wohlstand einzelner Individuen wird zum unpersönlichen Signal, zum Vorbild und zum Nachahmungsanreiz.

Diese Prinzipien sind grundlegend für Hayeks Weltanschauung. Aus ihnen erklärt sich etwa seine Position zur Entwicklungspolitik: hungernde Völker haben sich offensichtlich die „falschen“ Regeln unterworfen, müssen also die erfolgreichen Regeln übernehmen oder untergehen bzw. ausgelesen werden. Wer derartige Völker mit Lebensmitteln versorgt, handelt antievolutionär, indem er sie motiviert, unverändert an den „falschen“ Regeln festzuhalten. Auch der Ursprung seiner Position zur sozialen Ungleichheit wird offensichtlich - der Reichtum der Wenigen ist seiner Vorstellung nach unentbehrlich als unpersönlicher Signalgeber und Motivator. Bestrebungen, den Wohlstand sozial gerecht zu verteilen, erscheinen ihm als direkte Angriffe auf die „kulturelle Evolution“ und als quasi atavistischer Rückfall in die Verhaltensmuster der vorzivilisatorischen „Face to Face - Society“ (ebenda 223). Jeden Versuch, die Gesellschaft planvoll umzugestalten, versteht er als „Missbrauch der Vernunft“.

In seiner sich selbst regulierenden, „freien Gesellschaft“ hat ein Staat lediglich zwei Funktionen: erstens muss er die allgemeinverbindlichen Verhaltensregeln festlegen, denen sich die Mitglieder Gesellschaft nicht aus Gründen der Einsicht, sondern aus Demut gegenüber der Evolution zu unterwerfen haben. Zweitens die für alle gleichen Vertrags- und Freiheitsrechte, also den Raum der individuellen marktlichen Zielverfolgung, zu sichern. Der Wert eines politischen Systems bemisst sich für Hayek vor allem daran, wie gut darin seine „liberalen Freiheiten“ gesichert sind - oder anders ausgedrückt, wie gut darin das (vermögende) Individuum von der Verantwortlichkeit gegenüber beliebigen gesellschaftlichen Zielen freigehalten wird.

3.3 Neoliberale Pluralismuskritik

Die folgenden Ausführungen beziehen sich vor allem auf Positionen der Neoliberalen Eucken, Röpke, Rüstow und Böhm. Sie ist als wichtiger Teil der neoliberalen Demokratiekritik allerdings zum größten Teil auch auf Hayek übertragbar, wie seine Kritik an den „Schacherdemokratien“ zeigt (Hayek: 138).

Mit „Pluralismus“ meinen die erwähnten Theoretiker in ihrer Kritik nicht etwa Meinungspluralismus, sondern einen Interessenpluralismus innerhalb des Staates. Von einem dergestalt „kranken“ Pluralismus sprechen sie, wenn es Interessengruppen erlaubt ist zu versuchen, den Staat zu beeinflussen, unter Druck zu setzen oder zu kontrollieren, um beispielsweise staatliche Umverteilung zu ihren Gunsten zu erreichen. (Marchal: 77, vgl im folgenden S.74-81) Eine dem entsprechende Staatsauffassung, die den Staat ähnlich dem Markt als ein Konkurrenzfeld betrachtet, in dem sich verschiedene Gruppen um Einfluss und wirtschaftspolitische Vorteile bemühen, bezeichnet etwa Rüstow als „krankhaft“ oder „pervers“. Wettbewerb im Staat solle allenfalls um die Frage stattfinden, was dem Wohl der Allgemeinheit am ehesten dient. Der Staat als Ganzes habe unparteilich zu sein und unabhängig vom Druck einzelner Interessen zu Gunsten des „Gemeinwohles“ entscheiden, erst dadurch erhalte er seine Legitimation. Dieses „Gemeinwohl“ oder Gesamtinteresse lasse sich weder durch die bloße Addition von Partikularinteressen, noch durch den Ausgleich, den Kompromiss zwischen verschiedenen Interessengruppen abbilden.

Ein staatliche Praxis, die diesen Vorstellungen zuwiderläuft, führe zu einer „pluralistisch entarteten“ und tendenziell totalitären Demokratie und stelle aus zwei Gründen eine Gefahr für die staatliche Autorität dar: erstens verliere der Staat durch diese Verhältnisse „die Würde einer der Allgemeinheit dienenden Anstalt“, mit der sich alle Gruppen und Schichten der regierten Gesellschaft identifizieren könnten. Zweitens wird er einerseits durch die Macht von Interessengruppen zunehmend wichtiger Kompetenzen beraubt, die aus dem Staat heraus, in den Verantwortungbereich der jeweiligen Interessengruppe und damit in die Gesellschaft hinein überführt werden. Andererseits wird rt mit neuen, ihm wesensmäßig fremden Funktionen überlastet und dadurch in seiner Tätigkeit behindert. Zu diesen „überlastenden“ Funktionen zählen vor allem bei Hayek Arbeitsschutzgesetze oder etwa das bundesdeutsche Betriebsverfassungsesetz und in letzter Konsequenz alle wirtschaftspolitischen Kompetenzen.

Zu den wichtigsten Zielen der Neoliberalen gehört also die Befreiung der Demokratie von dieser „Entartung“, die Beseitigung des Einflusses von Interessengruppen auf staatliches Handeln. Während allerdings beispielsweise Eucken als Vertreter der Ordoliberalen die für Unparteilichkeit des Staates gefährlichen Interessengruppen hauptsächlich in der Großindustrie zu erkennen scheint (Marchal: 80), sucht und findet Hayek sie eher in den Gewerkschaften (Grundsätze einer liberalen Gesellschaftsordnung S125, Ordo 1967 - zit. nach Schui 2000: 77), die den Staat zu ihrer Beute machen und der vermögenden Minderheit damit eine sozial gerechte Umverteilungspolitik aufzwingen.

3.4 Neoliberalismus und Demokratie

Bei den im folgenden Abschnitt geschilderten Positionen offenbaren die neoliberalen Theoretiker ein hohes Maßan Übereinstimmung. Die erneut im Vordergrund stehenden Auffassungen Friedrich August von Hayeks werden deshalb bei Gelegenheit durch die anderer neoliberaler Theoretiker ergänzt.

Demokratie ist für Hayek kein letzter und absoluter Wert (Stralek 41), vielmehr betrachtet er sie als bloßes Mittel, als Methode der Machterringung, die selbst noch nichts über den Zweck und Gestalt des Regimes aussagt. Als soziales Ideal oder Verfahren, daßsich auf andere Bereiche, wie Erziehung oder etwa den Arbeitsplatz anwenden lässt, kommt sie für ihn nicht in Betracht (Niesen 100).

Zwar erkennt er einige Vorteile an, wie etwa den friedlich ausgetragenen politischen Wettbewerb, die friedliche Ersetzung einer früheren Mehrheitsmeinung durch eine neuere oder die vergleichsweise geringe Gefahr des Machtmissbrauchs, durch die Entziehbarkeit der demokratisch erteilten Macht (Stralek 41) Demokratie bietet laut Hayek jedoch keinerlei Garantie für Freiheitssicherung in seinem Sinne, denn das Wahlrecht gebe dem Volk zwar eine kollektive Freiheit, die individuelle Freiheit sei aber nicht inbegriffen. (ebenda 43) Der „dogmatische Demokrat“ unterstelle die Staatsgewalt ausschliesslich der Mehrheitsmeinung, nur sie sei für diesen eine angemessene Legitimierung staatlicher Maßnahmen, deshalb sei Willkürherrschaft Hayeks Ansicht nach durch die demokratische Wahl des Machthabers noch nicht ausgeschlossen. (ebenda 45)

Deshalb ist sein entscheidendes Ziel nicht Demokratie, sondern Liberalismus, der nach seinem Verständnis die Beschränkung jeglicher staatlicher Zwangsgewalt, meint, egal ob sie demokratisch oder autoritär legitimiert wird. (ebenda) Um den Unterschied zwischen „Liberalismus“ und „Demokratie“ zum Ausdruck zu bringen, formuliert er die jeweiligen Gegensätze: der Kontrahent der Demokratie sei die Diktatur, der Kontrahent des Liberalismus sei dagegen der Totalitarismus. Denn Liberalismus und Totalitarismus stellen für ihn im Gegensatz zu Demokratie und Diktatur keine Formen der Machtgewinnung, sondern der Machtausübung dar (ebenda 44)

Nach Hayek Vorstellungen schliessen sich weder Demokratie und Totalitarismus, noch Diktatur und Liberalismus aus. Während eine Demokratie sich zu einer freiheitsvernichtenden „totalitären Demokratie“ (Hayek: 19), zu einer „plebiszitären Diktatur“ entwickeln kann, die liberale Grundrechte wie das Eigentumsverfügungsrecht beschneidet oder gar hinwegfegt, könne eine Diktatur auf der Grundlage liberaler Prinzipien agieren und so oftmals die Freiheit erhalten. Demokratische und autoritäre Regmies werden hier also offenbar als gleichwertig in Bezug auf die Realisierbarkeit liberaler Prinzipien verstanden. (Stralek 47)

Moderne Demokratien werden zum Ziel der Kritik Hayeks, da sie dazu neigen, gesellschaftliche Ziele festzulegen und auf dieser Grundlage ihren Handlungsradius in die Wirtschaft hinein auszuweiten -oder zumindest im Rahmen ihrer verfassungsmäßigen Kompetenzen jederzeit in der Lage wären, dies zu tun. Zudem seien sie zu bloßen Zankäpfeln zwischen organisierten Interessen verkommen, zu „Schacherdemokratien“ (Hayek: 138) Damit stellen sie in dieser Form eine permanente Gefahr für die liberalen Freiheitsrechte Hayeks, für die spontane Ordnung der Gesellschaft und damit auch für die kulturelle Evolution dar.

Hayek und auch andere neoliberale Theoretiker werden vor allem von der Furcht beherrscht, daßdie Bevölkerung unter Anwendung des allgemeinen Wahlrechts das Recht auf freie Verfügung über das Eigentum antasten könnte. So meint etwa Wilhelm Röpke: „Wer so fundamentale Einrichtungen wie Eigentum und Wirtschaftsfreiheit ihres unerschütterlichen Charakters entkleidet und sie in die Wahlurne hinabzerrt, zerstört die Voraussetzungen der liberalen Demokratie“ (Röpke, Wilhelm. Jenseits von Angebot und Nachfrage S 107 - zitiert nach Marchal: 136) Deshalb ist für die neoliberalen Theoretiker die Garantie der liberalen Freiheitsrechte entscheidend - nicht die universelle politische Teilhabe (ebenda 133) und daher wird im Zweifelsfall eher für die Einschränkung des Wahlrechts plädiert, falls dies zur Sicherung der Wirtschaftsfreiheit notwendig erscheinen sollte.

Die Neoliberalen bemühen sich, eine derartige Maßnahme theoretisch zu rechtfertigen. Politische Teilhabe sei im Gegensatz zu wirtschaftlicher oder rechtsstaatlicher Freiheit keine „echte“ Freiheit und, wie die Demokratie insgesamt, kein Wert an sich. (ebenda 134) Hayek kritisiert ausdrücklich einen Freiheitsbegriff, der die politische Freiheit einschliesst, weil dies eine Identität von Umfang und Ursprung der Staatsgewalt konstruieren würde. (ebenda 134) Wenn etwa Hayek also für „Freiheit“ eintritt, schliesst er keinesfalls zwangsläufig die politische Freiheit ein. Eine in seinem Sinne „freie“ Gesellschaft muss nicht unbedingt politisch frei sein.

Die Konsequenzen dieser Haltung kommen in den neoliberalen Vorschlägen zur Reformierung des politischen Systems und seiner Beziehungen zur Gesellschaft zum Ausdruck. Ein wesentliches Ziel dieser Reformierung ist die Entschärfung der latenten Bedrohung der „liberalen Freiheitsrechte“, der Marktwirtschaft und damit der kulturellen Evolution durch die demokratische Technik (Marchal: 134). Hierfür schwebt Hayek die Aufspaltung der Parlaments in ein die evolutionär hervorgebrachten, allgemeinen Verhaltensregeln gesetzlich festlegendes Oberhaus und ein in diesem Rahmen operierendes Unterhaus vor. Das Oberhaus bildet sich als eine Art „Rat der Weisen“, in den Männer und Frauen „in einem relativ reifen Alter“ gewählt werden. Dies Wahl dieser Personen soll folgendermaßen stattfinden: Hayek will „von jeder Gruppe von Personen im selben Alter einmal in ihrem Leben [...] verlangen, aus ihrer Mitte Repräsentanten zu wählen, um für 15 Jahre Dienst zu tun. Das Ergebnis wäre eine legislative Versammlung von Männern und Frauen zwischen ihrem 45. und 60. Lebensjahr, von denen ein Fünfzehntel jedes Jahr ersetzt werden würde.“ (Hayek: 156) Das Ergebnis wäre ausserdem eine Aufhebung des allgemeinen Wahlrechts für die entscheidende legislative Institution. Das aktive und passive Wahlrecht ist auf Personen im Alter von etwa 45 Jahren beschränkt.

Allgemein betont Hayek, daßes kein Verstoßgegen die Rechtsgleichheit sei, etwa nur Leuten in einem Alter von mindestens 40 Jahren, nur Einkommensbeziehern, nur Haushaltsvorständen oder nur gebildeten Leuten das Wahlrecht zuzuerkennen. Solche Regelungen seien keine größere Verletzung des demokratischen Prinzips als die traditionellen Einschränkungen des Wahlrechts, etwa für Minderjährige oder Verbrecher. Möglicherweise sei es für das demokratische Ideal sogar günstiger, Beamte und Angestellte des öffentlichen Dienstes vom Wahlrecht auszuschliessen (Stralek: 79)

Die Vorstellungen Wilhelm Röpkes lesen sich ähnlich: er warnt vor einer „unvernünftigen Festsetzung des Wahlalters“ und schlägt unter Umständen eine Differenzierung des Wahlrechts vor, durch die etwa Familienvätern oder den „in ihrem Beruf bewährten“ mehrere Stimmen zuerkannt würden, womit man es also mit einer Aufhebung des Prinzips „One man, one vote“ zu tun hätte. (Röpke 186) Durch derartige Maßnahmen und die unveränderliche Verankerung der „liberalen Freiheitsrechte“ erhofft man sich offensichtlich die Bändigung des demokratischen Souveräns. Auch eine solcherart „gezügelte“ Demokratie könne man noch als „Demokratie“ bezeichen - denn die durch das allgemeine Wahlrecht manifestierte Volkssouveränität ist für Hayek gar kein unabdingbarer Bestandteil einer Demokratie. (Marchal: 135)

Das zweite Ziel der Umgestaltung, die Befreiung der Demokratie von ihrer „pluralistischen Entartung“, die Verwandlung des Staates in eine neutrale und von der Gesellschaft abgetrennte Institution setzt zum einen die Ausschaltung der wichtigsten, auf den Staat einflussnehmenden Interessengruppen voraus. Wie diese „Ausschaltung“ beispielsweise der Gewerkschaften sich in der Praxis darstellen kann, wird im Abschnitt über Pinochet-Diktatur zu betrachten sein. Für Hayek heben derartige Interessengruppen den Wettbewerb teilweise auf, womit sie die Marktwirtschaft bedrohen, die „kulturelle Evolution“ behindern und damit letztlich das Überleben der Menschheit riskieren (Schui2000: 87, vgl. auch Niesen: 104). Ein neutraler Staat setzt zum anderen zwangsläufig die vorrangige Besetzung der Positionen in Staat und den nunmehr lediglich Ideen vertretenden Parteien mit Personen voraus, die von den Neoliberalen für vergleichsweise neutral und unparteilich gehalten werden - dies sind die wenigen Kreise, denen noch ein Wahlrecht zufällt und die gesellschaftliche Elite, die aufgrund ihrer „hohen sittlichen Werte“ für eher uneigennützig und allgemeinwohlorientiert gehalten wird. (Stralek 67)

Zugespitzt könnte man die Merkmale einer vollständig neoliberal umgeformten Gesellschaft folgendermaßen formulieren:

- Die Wirtschaft muss weitestgehend privatisiert und dereguliert werden. Der Staat hat sich vollständig aus der Wirtschaft zurückzuziehen
- Gewerkschaften u.ä. soziale Gruppen, die eine Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums oder ein anders geartetes, steuerndes Eingreifen des Staates in die Wirtschaft erreichen wollen, müssen jeglichen Einflusses auf den Staat beraubt werden.
- Zur Bändigung des demokratischen Souveräns muss das allgemeine Wahlrecht eingeschränkt und / oder in ein ungleiches Wahlrecht umgewandelt werden, damit vor allem den Neoliberalen als „vernünftig“ und „verantwortlich“ geltende Menschen als Wähler in Erscheinung treten
- Die wichtigsten Positionen in Staat und Parteien müssen mit Vertretern der gesellschaftlichen Elite und sonstigen, auf die Neoliberalen unparteilich und verantwortlich wirkenden Personen besetzt werden.
- Die „liberalen Freiheitsrechte“, vor allem die Wirtschafts- und Eigentumsfreiheit, müssen mit unveränderlichem Charakter in der jeweiligen Verfassung verankert werden.

Das Verhältnis des Neoliberalismus zur Demokratie ist insgesamt als eher distanziert zu bezeichnen. Die neoliberalen Theoretiker scheinen die Demokratie trotz der erwähnten Vorteile vor allem als Gefahr für die von ihnen propagierten Freiheitsrechte zu sehen. Auf den Staat Einfluss ausübende, vor allem aber auch als Machtkonzentrationen gegen den Staat konkurrierende Interessengruppen sollen ihrer Einflussmöglichkeiten beraubt, die Partizipationsmöglichkeiten der Bevölkerung sollen massiv eingeschränkt und die nach neoliberalem Verständnis unverzichtbaren Beschneidungen der wirtschaftspolitischen Kompetenzen des Staates sollen möglichst unveränderbar in der Verfassung des jeweiligen Staates verankert werden. Insgesamt schwebt ihnen offenbar die Installierung einer Elite- oder Expertenherrschaft vor, die auch durch die von Hayek beschriebene „Responsivität“ seines Weisenrates gegenüber den „Gerechtigkeitsmeinungen“ (Niesen 101) der Bevölkerung kaum gemildert wird. Vor allem stellt sich auch die Frage, welche Maßnahmen gegen mit dem Ziel der soziale Gerechtigkeit agierende Gruppen Hayek zu rechtfertigen bereit ist, wenn dieser Einsatz als Zivilisationswidrigkeit, als Bedrohung der Existenzgrundlage der Gesellschaft verstanden wird. Zwecks Illustration und Überprüfung der oben dargelegten Vermutungen über die neoliberale Gesellschaftsumgestaltung folgt im nächsten Abschnitt die Beschreibung einer Variante der neoliberalen Praxis - der Pinochet- Diktatur in Chile.

4.Neoliberal beeinflusste Praxis - Das Beispiel Chile

Nachdem 1970 die sich aus Sozialisten, Sozialdemokraten, Kommunisten, Linkschristen und Linksliberalen bildende „Unitad Popular“ durch freie Wahlen an die chilenische Regierung gelangte und mit sozialistischen Reformen der Wirtschaft begann, folgte am 11. September 1973 ein von langer Hand vorbereiteter Putsch. Mit Unterstützung der us-amerikanischen CIA schaltete das Militär unter General Augusto Ugarte Pinochet die verfassungsmäßige Regierung aus. Der Präsidentenpalast wurde aus der Luft zerstört, Präsident Salvatore Allende ermordet. Andere führende Regierungspolitiker wurden in Haft genommen, weite Teile der Verfassung ausser Kraft gesetzt, der Kongress wurde aufgelöst, eine schwere Zensur trat in Kraft, alle politischen Parteien wurden verboten. Über 30 000 Menschen wurden verhaftet und in Fußballstadien interniert, weit über 10 000 Chilenen wurden umgebracht, tausende ins Ausland verbannt und über eine Million in die Flucht getrieben. Mit der Entfernung politisch Missliebiger von den Universitäten wurde die faktische Liquidierung der chilenischen Linken vollendet. Pinochets Rechtfertigung für all das war der „Kampf gegen den Kommunismus“. Nach und nach trat die restliche Mitlitärführung in den Hintergrund und die Macht wurde im wesentlichen in Pinochets Händen konzentriert. (vgl. Nohlen S133ff, Brockhaus digital, Encarta99)

Die Militärjunta hatte zunächst kein klar umrissenes Politikkonzept (Valdés 39), denn sie war eher bloße Reaktion auf Allende als ein entwickeltes Gegenprojekt. Die neuen wirtschaftspolitischen Verantwortlichen waren ebenso unerfahren in ihrem Zuständigkeitsbereich wie die meisten der neuen Regierenden. Nach kurzen Versuchen mit einer „gemischen Ökonomie“ griffen sie deshalb auf die Konzepte einer als „Chicago Boys“ bekannt gewordenen Ökonomenguppe zurück. Dabei handelte es sich um etwa hundert im Zeitraum von 1957 bis 1970 an der Universität von Chicago u.a. durch Milton Friedman und Friedrich August von Hayek ausgebildete Personen, die vor allem neoliberal geprägt waren und nach dem Putsch zunehmend wichtige Positionen in der Wirtschaft, der Presse und in den Universitäten (Walpen/Phlewe 50) einnahmen. Vor allem in der Regierung Pinochet erlangten sie großen Einfluss - aus ihren Kreisen kamen mehrere Wirtschaftsminister, Finanzminister und Arbeitsminister. (ebenda 53f) Dank der Ausschaltung der Linken konnten sie ihre Vorstellungen praktisch problemlos umsetzen: staatliche Unternehmen wurden in kürzester Zeit privatisiert, Zollschranken radikal abgebaut, sämtliche staatliche Produktsubventionen, vor allem für Lebensmittel, wurden abgeschafft, die öffentlichen Ausgaben wurden drastisch gesenkt (vgl. Rivera). Jeglicher Widerstand wurde unterdrückt - den Gewerkschaften wurden das Wahlrecht und Versammlungsrecht, das Streikrecht, das Recht auf überbetriebliebliche Organisierung und das Recht auf kollektive Tarifverhandlungen entzogen. (vgl. Ensignia) Die Diktatur sicherte die notwendigen Bedingungen für das wirtschaftliche „Laborexperiment“(Walpen/Phlewe 43) Chile.

Die Haltung der „Chicago Boys“ zur chilenischen Diktatur und zu autoritären Verfahrensweisen allgemein war schon aufgrund ihrer starken Involvierung in das Regime zweifelsfrei positiv. In „El Mercurio“, einer staatlich kontrollierten chilenischen Zeitung, verkündete ein Mitglied der Gruppe 1976, "daßdie wirkliche Freiheit der Person nur mit einer autoritären Regierung garantiert wird, die die Macht mittels Normen ausübt, die für alle gleich sind“ (zit nach Valdez 51). Wie jedoch standen die neoliberalen Theoretiker Friedman und von Hayek zu Pinochets Herrschaft und dem Treiben ihrer Schüler?

Friedman nahm schon 1975 an einer mehrtätigen Rundreise in Chile teil, deren Zweck darin bestand, durch öffentliche Reden und Seminare den Rückhalt der „Chicago Boys“ und die Unterstützung für deren Pläne in der chilenischen Unternehmerschaft zu stärken. Das Vordringen der Ökonomenguppe in chilenische Regierungsämter wurde dadurch wesentlich erleichtert. (Walpen/Phlewe 49) Am 21. März 1975 fand ein Treffen zwischen Friedman und Pinochet statt, bei dem Friedman versprach, die wirtschaftliche Probleme Chiles während seines Besuchs zu analysieren, sie Pinochet später in einem Brief zu beschreiben und Lösungsvorschläge zu unterbreiten. Friedman kam diesem Versprechen nach und die „Chicago Boys“ setzten seine Vorschläge um. (ebenda 53) Für Friedman war Chile ein Beispiel, dem andere Entwicklungsländer folgen sollten. (ebenda 65)

Friedrich August von Hayek verteidigte die chilenische Militärdiktatur vehement. Nach einem Chile-Besuch 1977, bei dem er auch von Pinochet empfangen wurde, schrieb er einen Aufsatz über seine Wahrnehmung der Situation in Chile, in dem er von „internationalem Rufmord“ spricht. 1977 waren die Menschenrechtsverletzungen in Chile von der UNO verurteilt worden (Encarta99). Später vermutet er sogar „systematisch geförderte sozialistische Verleumdungen“ (Walpen/Phlewe 69). Die Frankfurter Allgemeine Zeitung, an die Hayek seinen Aufsatz zwecks Veröffentlichung geschickt hatte, lehnte den Abdruck sowohl als Artikel wie auch als Leserbrief ab. Als die Zeitung wenig später eine pinochet-kritische Karikatur veröffentlichte, warf Hayek ihr vor, „entstellende Propaganda“ zu betreiben. In einem „Abschiedsbrief“ an die FAZ schrieb er, „der Schwung [der Zeitung] nach links [gehe ihm] zu weit“ (ebenda 68). Dieser „Abschied“ hielt ihn jedoch nicht davon ab, 1982 in einem weiteren Leserbrief an die FAZ „auf das schärfste“ zu protestieren, weil die Zeitung eine Karikatur veröffentlicht hatte, in der das damals in Polen herrschende Notstandsregime mit der Pinochet- Diktatur gleichgestellt wurde. An die Redaktion schrieb er, „dass Sie der chilenischen Regierung eine demütige Entschuldigung für eine derartige Entstellung der Tatsachen schulden. Jeder Pole, der das Glück hätte, nach Chile entkommen zu können, könnte sich glücklich preisen." (FAZ 6. Januar 1982, zitiert nach Walpen/Plewe 61) Und das zwei Jahre, nachdem eine auf Pinochet zugeschnittene Verfassung in Kraft getreten war, die weiterhin die Tätigkeit politischer Parteien untersagte, die Macht des Diktators für weitere 8 Jahre festschrieb (Brockhaus digital) und im übrigen, nach einem der berühmtesten Werke Hayeks, als „Verfassung der Freiheit“ betitelt wurde. (Walpen/Phlewe 60)

DaßHayek das Pinochet-Regime so engagiert verteidigte, verwundert nicht, wenn man bedenkt, daßim damaligen Chile sämtliche im Abschnitt „Neoliberalismus und Demokratie“ beschriebenen Anforderungen an eine neoliberal umgestaltete Gesellschaft erfüllt, bzw. im Fall der Einschränkung des Wahlrechts sogar übererfüllt wurden.

5.Fazit

Nach dieser Darstellung erstaunt es wohl kaum noch, daßrechtspopulistische Parteien sich bereitwillig neoliberaler Argumentationen und Ansätze bedienen und sie mit autoritären Ansätzen mischen können. Dem Neoliberalismus selbst ist ein ausgeprägter Hang zu autoritären Politikstilen zu unterstellen. Vor allem Friedrich August von Hayek erfüllt direkt oder indirekt alle in Abschnitt 2 beschriebenen autoritaristischen Kriterien. Sein Drang zur Einschränkung der demokratischen Beteiligungsmöglichkeiten der Bevölkerung wird schon in der Theorie offensichtlich, sein in der Theorie indifferentes Verhältnis zur Frage „Demokratie oder Diktatur?“ stellt sich in der Praxis auch als offene Unterstützung einer brutalen Militärdiktatur dar. Aus dieser Sicht zutreffender Weise wird der Neoliberalismus daher etwa von Tullney und Wolf als „autoritärer Liberalismus“ eingestuft. Keinesfalls jedoch muss eine Bezugnahme auf neoliberale Theoretiker und ihr Werk sich automatisch autoritaristisch ausdrücken. Den nach Chile bedeutendsten Versuchen der Umsetzung neoliberaler Vorstellungen, dem Thatcherismus in Großbritannien und der Regierungszeit Reagans in den USA wird man schwerlich unterstellen können, zur autoritären Umgestaltung beider Staaten geführt zu haben. In beiden Fällen knüpfte man vor allem an der wirtschaftspolitischen Komponente des Neoliberalismus hayekscher Prägung an, wenn auch notwenig begleitet von umfangreichen Versuchen zur Ausschaltung des gewerkschaftlichen Einflusses auf Arbeitsbedingungen und Politik in den jeweiligen Staaten (vgl Hugo). Dennoch ist die Vielfalt der durchaus auch für rechtsradikale und rechtsextreme Politiker vorhandenen Anknüpfungspunkte erschreckend (vgl. Ptak: 198). Neben Demokratiekritik und Elitismus finden sich in der neoliberalen Theorie ein sowohl auf Gruppen- wie auch auf Individuenebene offensichtlicher Sozialdarwinismus, die offene Ablehnung gewerkschaftlicher Organisationsformen und selbst ein Anknüpfungspunkt für rassistische Vorstellungen, wenn Hayek schreibt, daßdie zu starke Mischung von in seinem Sinne fortschrittlichen und weniger fortschrittlichen Kulturen eine Bedrohung für die kulturelle Evolution sein könne. (Hayek: 232) Daher überrascht es etwa nach Meinung Herbert Schuis nicht, „wenn die von Hayek so benannte liberale Gesellschaftsordnung das Leitbild der gegenwärtig führenden rechtsextremen Parteien darstellt“ (Schui 2000: 85). Auch wenn diese Einschätzung nach vor allem wirtschaftspolitischen Veränderungen etwa in der französischen Front National nicht mehr aktuell erscheint (vgl. Minkenberg: 279f) und die provokativ gestellte Titelfrage in dieser pauschalen Form ganz sicher nicht zu bejahen ist, dürfte die Einschätzung der neoliberal-autoritären Mischung als bloßes Produkt „politischer Unternehmer“, die auf Veränderungen im Wählerspektrum reagieren, doch nicht weit genug in die Tiefe gehen.

6.Literaturangaben

Netzquellen

1<http://www.ipw.unibe.ch/ladner/dokumente/artikel/FDP_Pressedienst_7_12_20 00.html>
2 <http://www.wsws.org/de/2001/okt2001/att2-o25.shtml>
3 <http://www.woz.ch/wozhomepage/oekon/neol11.html>
4 <http://www.bpb.de/info-franzis/html/body_i_256_4.html>

Digitalquellen

Microsoft Encarta 99

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Printquellen

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Ende der Leseprobe aus 21 Seiten

Details

Titel
Neoliberalismus und Autoritarismus - ein symbiotisches Paar?
Hochschule
Universität Potsdam
Veranstaltung
Neue Rechtsparteien in westlichen Demokratien
Autor
Jahr
2001
Seiten
21
Katalognummer
V106906
ISBN (eBook)
9783640051816
Dateigröße
426 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Diskutiert den Begriff "Neoliberalismus" und seine Verwirrungen, stellt grundlegende philosophische Vorstellungen F.A.Hayeks dar, beschreibt die Haltung verschiedener neoliberaler Theoretiker zur Demokratie und ordnet die am Beispiel Pinochet-Chiles dargestellte Zusammenführung von Diktatur und Neoliberalismus in diesen Kontext ein.
Schlagworte
Neoliberalismus, Autoritarismus, Paar, Neue, Rechtsparteien, Demokratien
Arbeit zitieren
Sebastian Dittrich (Autor:in), 2001, Neoliberalismus und Autoritarismus - ein symbiotisches Paar?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/106906

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