Inhaltsverzeichnis
1. Biographische Einleitung
2.Die Morgenlandfahrt - Ein Übergangsbuch?
3.Aufbau und Struktur
4. Figurenkonstellation
5.Das Ende - Der Dichter (Hesse)
6. Literaturliste
1. Biographische Einleitung
„Die Morgenlandfahrt“ steht für Hermann Hesses finalen Neubeginn in seinem Leben. Er durchlebte bis dahin mehrere schwere Krisen aufgrund seiner schwierigen Persönlichkeit, aufgrund seiner familiären Situation, seinem Ansehen in der Gesellschaft. Die gesamte Kind- heit stand im Zeichen der Unsicherheit der Eltern, wie sie dieses eigenwillige Kind erziehen konnten. Sie entschieden sich für verschiedene Schulheime und sogar eine Besserungsanstalt für schwererziehbare Kinder. Dies gab Hesse das Gefühl ein Fremder, ein Ausgestoßener die- ser Welt zu sein. Erst mit der Loslösung vom Elternhaus und den in ihm immer stärker wer- denden Wunsch Schriftsteller zu werden, fand er langsam einen Halt im Leben. Besonders durch das Schreiben konnte er seine Krisen bewältigen, indem er seine Kindheitserfahrungen in biographischen Schriften bewältigte. Das sollte für die folgenden Zeiten wesentlich blei- ben, doch änderte sich sein Stil, die Komposition seiner Werke mit zunehmendem Alter. Ein entscheidender Wendepunkt war dafür die Krise, die er während des ersten Weltkrieges durchlitt. Geschwächt durch Anfeindungen der Befürworter des Krieges, durch seine zerfal- lende Ehe und die Unklarheit der eigenen Gefühle, begab er sich in eine Psychotherapie bei einem Schüler C.G. Jungs. Durch die Motive und die Deutungsmöglichkeiten dieser Therapie erschlossen sich neue Ebenen seines Werkes, beschrieb er bis dahin seine Figuren zwar detail- liert und eindeutig, jedoch ohne die innere Situation dem Leser zu offenbaren. Diese erschien nun in Form von Traumsequenzen und Traumbildern. Der „Demian“ war das erste Werk des neuen Hesse, er befreite ihn, gab ihm Kraft für die nötige Loslösung von seiner Frau und sei- nen Kindern, die sein Leben eingezäunt, seinen inneren Trieb zur Freiheit eingesperrt hatten. So entfloh er in den Süden, nach Montagnola, wo er den Rest seines Lebens fast seßhaft verbringen sollte. An seiner nächsten Erzählung zeigt sich ein anderer Aspekt an Hesses Schaffen: Der „Siddhartha“, begonnen in einer Phase voller Kreativität und Schaffenskraft, läßt sich nicht vollenden, weil Hesse nicht echt über etwas schreiben kann, was er nicht am eigenen Leib erfahren hat. So wartet der zweite Teil lange auf seine Vollendung, denn den Weg zu den Kindermenschen, in die Stadt hatte er nicht vollzogen. Dies geschah vor seinem nächsten Werk, er hatte die innere Zerrissenheit in den Steppenwolf und den Menschen in sich gespürt, und mußte sich davon befreien, indem er sie niederschrieb. Diese Gespaltenheit der Person in zwei Teile durchzieht Hesses Werke seit Beginn seines Schaffens, wobei die Bedeutung jedoch variiert wird. Oft wird auch eine reale Spaltung in zwei Personen vorge- nommen, die jeweils die zwei Pole einer Einheit darstellen: Klein und Wagner, Siddhartha und Govinda, Narziß und Goldmund. Das letztgenannte Werk bildet auch den Abschluß der schwankenden Phasen in Hesses Leben. Sein Leben stabilisiert sich nun, findet seine Form, was er besonders seiner neuen Frau Ninon zu verdankt. Sie organisiert und plant den Haus- halt, was Hesse nie mochte, so daß er sich voll und ganz dem Schreiben widmen kann. Ihr Jahresablauf ist festgelegt, besonders auch durch die verschiedenen Kuren, die er aufgrund seiner Augen immer wieder machen mußte. Auch trotz dieser Reisen wird Hesse nun seßhaft. Seine innere Unruhe, die immer wieder gespeist wurde durch seinen Drang nach Freiheit, seine Angst vor einer festen zwanghaften Beziehung, wurde seltener, sie trat nicht mehr so offen zu tage. Doch konnte er diese Gefühle noch für seine Schriften produktiv machen. In dieser neuen Phase seines Lebens entstand nun „Die Morgenlandfahrt“.
2. Die Morgenlandfahrt - Ein Übergangsbuch?
Wie läßt sie sich nun in die Werke, in das Leben Hesses einordnen? Zweierlei Deutungen sind möglich, die sich jedoch nicht gegenseitig ausschließen: Einmal sei die Morgenlandfahrt ein Bekenntnisbuch, zum anderen ein Buch des Übergangs. Zum ersten kann man sagen, daß ei- gentlich jedes Buch Hesses einen solchen Charakter hat. Doch erscheint der autobiographi- sche Bezug hier besonders stark, daher gehe ich im Kapitel „Das Ende - Der Dichter (Hesse)“ gesondert darauf ein. Die Morgenlandfahrt sei ein Übergangsbuch. Welcher Übergang also? Von der mittleren zur späten Schaffensperiode. Das jedoch zeigt bloß die Zeitdimension, die zeitliche Einordnung: Die Morgenlandfahrt ist das vorletzte größere Werk Hesses. Diese äu- ßere Einteilung wäre nicht nennenswert, wenn nicht auch eine innere Veränderung geschehen wäre. Ralph Freedman, der Biograph Hesses, glaubt daß sich Hesse in diesem neuen Lebens- abschnitt von der Seite Goldmunds hin zur Seite Narziss‘ wendet. Doch wofür stehen diese Prinzipien? Goldmund ist ein Künstler, ein Schaffender, ein Liebender, der in der Lebenswelt aufgeht und erblüht. Narziß hingegen ist Mönch eines Klosters, der andächtig und asketisch lebt. Freedman bezieht diesen Übergang zuerst auf die Frauen, die in der Morgenlandfahrt keine Rolle spielen. Er zeigt eine Entwicklung von dem ausschweifenden äußeren Leben im Steppenwolf zu dem Leben und den Frauen Goldmunds, die dieser nur benutzt um künstle- risch tätig zu sein, die ihm jedoch am Ende erst ermöglichen das Ideal aller Frauen, im Bilde der Madonna, zu erschaffen. In der Morgenlandfahrt ist das persönliche Ziel des Erzählers die Prinzessin Fatme zu finden, hier steht nur noch dieses Ideal der Frau, das sich jedoch auch in der Realität, in Ninon, äußert. Doch Freedman sieht in dieser das weibliche betreffenden Ent- wicklung eine allgemeine Entwicklung der Werke, hin zum Kontemplativen, zum Besinnli- chen. In diesem Zusammenhang scheint das Gesetz des Dienens zu passen, das die Einord- nung in eine Hierarchie verlangt, um lange zu leben. Und in „der Morgenlandfahrt“ wird die äußere Welt nicht mehr so positiv erlebt. Das bedeutet jedoch nicht das Hesse vom sinnlich Erlebbaren abkehrt, gerade in der Morgenlandfahrt äußert es sich noch. Nur ist es verlegt worden in eine Vergangenheit, der die Gegenwart widerspricht. Die Gegenwart ist durch den rationalen Erzähler geprägt, doch auch dorthin kommt die Morgenlandfahrt, gerade dort soll sie gelebt werden, wie es am Ende in dem Überfließen der Gestalt des Erzählers in die Figur Leos deutlich wird. Das Sinnliche wird also keineswegs ausgeblendet, sondern es wird nur überlagert von einer rationalen Gegenwart.
Diese rationale Gegenwart findet sich auch im „Glasperlenspiel“ wieder. „Die Morgenlandfahrt“ wird zumeist auch als Übergang zu diesem Alterswerk gesehen. In Kastalien, der Provinz des reinen Geistes, werden die sinnlichen Erfahrungen der äußeren Welt zugeschrieben. Wo besteht hier die Verbindung zur Morgenlandfahrt des Erzählers, außer das „das Glasperlenspiel“ den Morgenlandfahrern gewidmet ist? Hier kann man auf den Bund verweisen, der schon die hierarchischen Strukturen Kastaliens vorwegnimmt, und auf Leo, dessen Gesetz des Dienens, das ihn durch sein natürliches Einfügen in die Ordnung des Bundes, zum Obersten macht. Aber die Morgenlandfahrt scheint im Glasperlenspiel verloren gegangen zu sein, dieses Spiel vergeistigt die Phantasie, preßt sie in Formen, und wird somit aus der Verbindung des Geistes mit der individuellen Phantasie, denn nur durch diese entstehen die neuen großen Glasperlenspiele des Josef Knecht, zur höchsten Ausdrucksform.
Aber das individuelle Ziel jedes Einzelnen geht in der Hierarchie verloren, sie existiert nur noch für sich selbst. Um jedoch Mitglied des Bundes der Morgenlandfahrer zu sein, braucht man ein persönliches Ziel, einen eigenen Wunsch, einen sehnsüchtigen Traum - das große Ziel des Bundes, das alle eint, wird in „der Morgenlandfahrt“ jedoch nicht genannt, aufgrund des Bundesgeheimnisses. Doch auch das Glasperlenspiel beinhaltet eine Morgenlandfahrt, die ganze Geschichte Knechts kann als diese Suche gesehen werden. Das Verlassen Kastaliens zeigt die Suche des Glasperlenspielmeisters nach seinem eigenen Morgenland. Die Metapher der Morgenlandfahrt läßt sich somit für viele Bücher verwenden. Immer wenn jemand seinen eigenen Weg beschreitet, wenn jemand nach seiner eigenen persönlichen Erfüllung sucht, ist er auf dem Weg ins Morgenland. Der Bund steht nicht im Gegensatz dazu, sondern stellt eine Gemeinschaft der Suchenden dar, die ihr eigenes Ziel verbindet und aus diesem heraus ein gemeinsames Ziel schafft.
3. Struktur und Aufbau
Die Erzählung läßt sich grob zweiteilen: Der erste Teil in dem der Erzähler über die Morgen- landfahrt selbst schreibt, sie beschreibt, jedoch immer wieder an das Ende dieser Fahrt gerät und somit beginnt über das Schreiben selbst zu reflektieren. Im zweiten Teil hingegen ent- deckt der Erzähler die Gegenwart des Bundes und findet dorthin zurück. Dieser Teil erscheint anfangs nur wie die Rahmenerzählung der Geschichte des Bundes, doch mit zunehmenden Problemen bei der geradlinigen Erzählung der Morgenlandfahrt, wird immer mehr von dem Erzähler offenbart und seine Gegenwart gezeigt. Diese Gegenwart läßt sich eindeutig nach dem ersten Weltkrieg und vor dem zweiten, von dem der Erzähler jedoch noch nichts wissen konnte, einordnen. Schon am Anfang wird „unsere merkwürdige Zeit“ beschrieben als eine „trübe, verzweifelte und doch so fruchtbare Zeit nach dem großen Kriege“. Der einleitende erste Satz endet mit dieser Zeit. In ihm wird auch die Morgenlandfahrt des Protagonisten be- schrieben: „deren Wunder damals wie ein Meteor aufstrahlte und die nachher so wunderlich rasch in Vergessenheit geriet“. Dieser schnelle Aufstieg und das schnelle Ende innerhalb ei- nes Nebensatzes soll die Abgeschlossenheit dieser Fahrt zeigen, die dann direkt den Protago- nisten auf den Plan bringt, als Gegenmotiv etwas dagegen zu tun und von der Fahrt zu berich- ten. Es besteht gar nicht die Möglichkeit, daß die Fahrt nur für den Erzähler abgeschlossen ist. Durch die Ich-Perspektive kann der Leser nur diesem Irrglauben erliegen, so daß an der ent- scheidenden Stelle des Buches, an der sich die nie beendete Morgenlandfahrt offenbart, der Leser genauso wie der Erzähler erstaunt, ja überrumpelt ist. Somit wird der gesamte erste Teil des Buches revidiert, muß unter anderen Aspekten gesehen werden. Wobei selbst beim ersten Teil nicht klar ist, ob dieser die vom Erzähler geplante Beschreibung der Reise selbst ist oder nur eine Reflexion darüber. Inhaltlich wird die Fahrt beschrieben, aber es bleibt nur äußerlich, da der Erzähler immer wieder über seine Probleme beim Schreiben berichtet, und somit eine Metaperspektive zu dem Geschehenen einnimmt. Dies verdeutlicht auch die Situation des Erzählers, der in dieser, seiner rationalen Gegenwart gefangen, verhaftet ist und nicht mehr die Irrationalität der Reise nachvollziehen kann. Schon im ersten Satz wird dieser starke Ge- gensatz, zwischen Gegenwart und vergangener Morgenlandfahrt verdeutlicht. Die Zeitlich- keit, ja eigentlich die Möglichkeit dieser Reise, wird von „den Tagen Hüons und des Rasen- den Roland“ bis in „unsere merkwürdige Zeit“ geführt. Doch meint dies nun die Gegenwart des Erzählers oder die vergangene Gegenwart der Morgenlandfahrt? Einerseits wäre es der Gegensatz der Zeiten und die Abgeschlossenheit durch das Wort „bis“, andererseits wäre es die Hinführung zu einer Zeit, in der die Morgenlandfahrt möglich war, aufgrund der Ver- zweiflung und der daraus resultierenden Hoffnung auf das Neue. Aber eher weist das „unsre“ auf die zweite Deutung, denn der Erzähler wird kaum den Plural für seine einsame Zeit ver- wenden, dies macht er eher aus dem Gefühl des Bundes heraus, der Brüderlichkeit, der Ver- bundenheit mit den Morgenlandfahrern. Aber aus der Rationalität des Erzählers wiederum, könnte auch solch eine Aussage wie „unsre Zeit“ entstehen, die auch sehr umgangssprachlich ist. Diese Aussage kann somit zugleich Anfang und Ende der Morgenlandfahrt für den Erzäh- ler bedeuten.
Die Morgenlandfahrt selbst besteht ohne Zeit und Raum. Die Bundesgenossen reisen durch Zeiten, durch das Mittelalter, durch die Gegenwart, durch die Antike. Sie reisen durch Euro- pa, durch unbekannte Länder, sie durchqueren die Räume der Realität, der Phantasie, und beide vermischen sich. So daß selbst fiktionale Romanfiguren mit an ihrer Fahrt teilnehmen. Ganz im Gegensatz dazu steht die Welt des Erzählers, sie ist stark gekennzeichnet durch Zeit und Raum. Zuerst spielt sich alles in der Stube des Erzählers ab, dann verläßt er diese, auf- grund der großen Probleme mit der Erzählung und holt Rat bei einem anderen Schreiber, dem die Bewältigung seiner Erlebnisse während des ersten Weltkrieges gelungen ist. Gerade dort zeigt sich die Verbindung von Realität und Fiktion, als der Andere einfach in einem Telefon- buch nachschlägt und die Adresse der bisher fiktionalen Gestalt Leo findet. Dort wird die Morgenlandfahrt in die blanke Gegenwart geholt und deren Gestalten in dieser angesiedelt. Sie wird von ihrem hohen weltfernen Roß herabgeholt und der Zeit und dem Raum ausgelie- fert. Dann beginnen die Wanderungen des Erzählers, zuerst zu der angegebenen Adresse, dann mit Leo selbst. Die Wohnung wird nun nur noch zu einem Ort der Besinnung der Wan- derung, dort schreibt er im Rausch alle seine Verzweiflung, alle seine Hoffnungen nieder und damit beginnt für ihn wieder die Morgenlandfahrt. Er gibt die Seßhaftigkeit seiner Wohnung auf, er wird von Leo geführt durch die Straßen der Stadt, bis er die Orientierung und sein Zeitgefühl verloren hat. Obwohl dieses Gefühl der Rationalität immer noch aus ihm spricht und noch nicht besiegt ist, in dem Moment in dem er feststellt, „man hätte den Weg [...] recht wohl in einer Viertelstunde zurücklegen können.“1 Doch danach verliert sich sein Verstand im Bundesarchiv, dort herrschen keine Zeit und keinerlei Raum. Es erscheint endlos und die Er- zählung geht nur durch den Erzähler, durch dessen Entwicklung, dessen Erkenntnis voran.
In diesem zweiten Teil der Erzählung löst sich auch der Anspruch des Schreibenden auf, seine Erlebnisse genau festzuhalten und über die Fahrt zu berichten, und dies als gegenwärtig er- scheinen zu lassen. Es scheint als sei die Erzählung selbst das Geschriebene des Protagonis- ten, als sei sie selbst der Versuch über die Morgenlandfahrt. Das offenbart sich in dem in ge- genwärtigen Perfekt oder sogar im Präsens gehaltenen Stil. Das fünfte Kapitel beginnt mit den Worten: „Jetzt sieht wieder alles anders aus...“, dann berichtet der Erzähler von seinen Erleb- nissen mit Leo. Doch die erzählte Realität wandelt sich in die erlebte Realität, der gesamte zweite Teil der Erzählung wird nun in erlebender Wirklichkeit unmittelbar im Präteritum er- zählt. Damit wird der rationale Versuch des Erzählers die Geschichte niederzuschreiben ver- worfen und die Geschichte, die Morgenlandfahrt, wird wieder erlebt. Die Wohnung als Ort des Schreibens wird auch nicht mehr betreten, sie wird gleich zu Anfang verlassen und somit wird auch der Versuch der Geschichte der Morgenlandfahrt zurückgelassen. Doch noch ist dieser Versuch nicht besiegelt, noch befindet er sich in der Luft, noch steht er zwischen dem Bund und dem Erzähler. Erst als dieser sein Geschriebenes im Bundesarchiv entdeckt und die Sinnlosigkeit seines Unterfangens erkennt, erst als sich die Seiten leeren, die Buchstaben zu spielerischen Formfragmenten auseinanderfallen, fällt die Rationalität von ihm ab, findet er wieder in den Bund. Erst dann ist er bereit für das wahre Urteil der Richter über ihn und seine Strafe.
4. Die Figurenkonstellation
In den Büchern Hermann Hesses erscheinen sehr oft zwei Figuren, die zwei Seiten ein und derselben Person zeigen sollen, als reinste Ausprägungen dieser Weltanschauuung, als ideal- typisches Bild. Das Zusammenfließen dieser beiden Personen oder das Schicksal, das sie am Ende erleiden, verdeutlicht auch die Einstellung des Autors zu diesen beiden Arten zu leben: Siddhartha, der seinen eigenen Weg sucht und die Erlösung findet, und Govinda, der den vor- gegebenen Pfad der Lehre Buddhas beschreitet - und doch treffen die beiden am Ende aufein- ander und Siddhartha offenbart Govinda seine Erkenntnis. Im Steppenwolf steht die Figur Harry Hallers zunächst Hermine entgegen, die ihn jedoch wie einen Schüler in der Kunst des Lebens unterrichtet. Auf der anderen Seite steht Pablo, der am Ende die Figuren des magi- schen Theaters in der Hand hält: Auf einem Schachbrett kann Harry alle Teile seiner Persön- lichkeit bewegen, gegeneinander spielen lassen - dies ist ein Sinnbild für die Vereinbarkeit der Gegensätze in einer einzelnen Person. Selbst Hermine ist bloß eine Figur auf diesem Schachbrett. Nach dieser Auflösung der scheinbaren Gegensätze schafft Hesse noch einmal ein deutlich konträres Paar: Narziß und Goldmund. Narziß, der die kontemplative Laufbahn in einem Kloster einschlägt, und Goldmund der Künstler, der seine Freiheit, seine Individualität auslebt, der jedoch am Ende wieder ins Kloster findet und dort sein künstlerisches Meister- werk, eine Madonna schafft, die perfekte Verkörperung aller Frauen. Durch diese Rückkehr wird hier das kontemplative Motiv bestärkt, das sich nun in das Motiv des Dienens wandelt. Die gegensätzliche Figurenkonstellation in der „Morgenlandfahrt“ wird erst im zweiten Teil des Buches nahegelegt, besonders der Schluß läßt auf solchen Gegensatz schließen, wobei er jedoch diese Polarität schon wieder auslöscht durch die Vereinigung der beiden in der Person des Erzählers. Im ersten Teil jedoch gibt es nur eine Person, die des Ich-Erzählers. Doch in dieser zeigt sich ein zeitlicher Gegensatz: Der gegenwärtige und der vergangene Erzähler.
Deutlich wird dieser aber erst, als sich die Perspektive vom Berichtenden zum Erlebten um- kehrt, als deutlich wird, das die Morgenlandfahrt nicht gescheitert ist, sondern nur der Erzäh- ler an ihr. Das zeigt sich auch an der Person Leos, anfangs nur eine Randfigur, nur der Diener, zu dem der Bericht des Erzählers jedoch immer wieder zurückkehrt, ohne genau zu wissen warum. Er hatte die Rolle Leos unterschätzt, ihn für einen Diener gehalten, doch als dieses Dienen verschwand kam die andere Seite des Dienens hervor: Das Herrschen. Doch was herr- schen will, ist zum Untergehen bestimmt. Das Wiederauftauchen Leos in der realen Welt of- fenbart die Veränderung des Erzählers. Der Gegenwärtige ist in dieser Welt gefangen, hat seine Violine ohne Not verkauft, hat die Musik, das Bundesgeheimnis, sein eigenes hohes Ziel vergessen. Sein persönliches Ziel der Morgenlandfahrt war, die Prinzessin Fatme zu se- hen, die Verkörperung der Liebe zu finden. Und die Fahrt war schon sein Ziel, denn „Ninon, als die Ausländerin bekannt [...] war ja doch wahrscheinlich selber Fatme, ohne es zu wis- sen.“2 Er spielte nicht nur Violine, sondern er komponierte sogar und leitete die Chöre. Er war ein Meister der Musik. Sein Wandel wird besonders an dieser Stelle deutlich, er spricht über alle seine Träume, sein Liebe, über sein großes Können, über sein Künstlertum, und bricht es mit den Worten ab: „Doch nicht davon will ich berichten.“3 Er hat damit abgeschlossen und erkennt sich selbst auch nicht mehr in dieser Person, sieht sie nicht mehr als Ideal seiner selbst. Seine Trauer findet nur Ausdruck in dem Schreiben über die Morgenlandfahrt selbst, über das Scheitern, das er mit dem Diener Leo in Verbindung bringt, der hier das erste Mal genannt wird. Er ist die Weiterführung des Motivs des vergangenen Erzählers und wird nun zum Gegensatz des gegenwärtigen Erzählers, der sich nicht mit seiner eigenen Vergangenheit auseinandersetzen will und statt dessen lieber, das allgemeine Scheitern der Morgenlandfahrt an dem Diener Leo zeigt. Doch Leo ist nur ein Symbol für den Erzähler selbst, für dessen Träume, Wünsche und Ziele, die er mit der Morgenlandfahrt verbunden hat, und sein Ver- schwinden symbolisiert den Verlust des Glaubens an die Musik, an die Liebe, an die Morgen- landfahrt selbst. Sein Wiederauftreten in der Gegenwart des Erzählers, gefunden durch den Bekannten im Telefonbuch, zeigt das Vorhandensein dieser Träume auch in der Wirklichkeit. Er lebt die Morgenlandfahrt, die somit nicht mehr nur eine reale Reise von Ort zu Ort und Zeit zu Zeit ist, sondern auch in dieser Realität stattfinden kann, im Kopf, in der Phantasie jedes einzelnen Menschen.
Leo wird nun vom Symbol der Morgenlandfahrt zu einer realen Figur, die durch ihre Gegen- wart den Erzähler an alle seine Ideale, an seine Morgenlandfahrt erinnert. Dieses Erinnern geschieht jedoch nicht auf einer äußeren Ebene, es wird im Innern des Erzählers vollzogen.
Dadurch das Leo sich nicht an ihn erinnert, die ganze Morgenlandfahrt vergessen zu haben scheint, muß sich der Protagonist diese wieder vor Augen führen, muß Leo von deren Wirklichkeit überzeugen. Diese ironische Umkehrung verdeutlicht die Ebene auf der sich der Erzähler bisher an die Morgenlandfahrt erinnert hat: An die Feste, an die großen Feiern und letztendlich an den Zerfall des Bundes. Doch diese allgemeine Erinnerung kann die Morgenlandfahrt nicht zeigen, geschweige denn belegen, daß der Erzähler wirklich daran teilgenommen hat. Diesen Beweis erbringt erst das hoffnungslose Niederschreiben aller Verzweiflung, aller Selbstanklagen, das Aufzeigen, das hinter all dieser rationalen Fassade noch der Morgenlandfahrer verborgen ist. Das individuelle Zeugnis bewirkt, daß Leo am nächsten Morgen in seinem Zimmer sitzt und ihn zum Bund bringt.
Leo wird zum Ideal des Erzählers, ihm soll er sich annähern am Ende. Im ersten Teil, in dem Bericht der Morgenlandfahrt wird er als „natürlich, so rotbäckig gesund und freundlich an- spruchslos“ charakterisiert, er könne mit Tieren sprechen und sie zähmen. Doch nicht das ist es, was ihn im zweiten Teil so bedeutend macht, denn dies ist nur sein persönliches Ziel der Morgenlandfahrt gewesen, den salomonischen Schlüssel für die Sprachen der Tiere zu finden. Wobei sich an den Tieren aber auch die Einheit einer Person zeigt, wie sich an der Ablehnung des Erzählers durch den Wolfshund Necker dessen kaputtes Wesen offenbart. Im Gegensatz dazu ist Leo selbst in dieser Welt natürlich und der Wolfshund, eine Mischung aus wilder Natur und gezähmter Menschlichkeit, läßt sich von ihm sogar kraulen. Doch nicht diese Na- turverbundenheit ist es die dem Erzähler Ideal sein sollte, denn sie ist das persönliche Ziel Leos, so wie die Musik das persönliche Ziel des Erzählers war - sondern Leo vereint die scheinbaren Gegensätze in seiner Person: Die Morgenlandfahrt und die Realität, das Herr- schen und das Dienen. Sein ganzes Leben und Sein strahlt die Morgenlandfahrt in diese trau- rige Realität des Erzählers hinein und offenbart die Möglichkeit sie in der Phantasie weiterzu- führen. Doch nicht nur im Kopf, sondern sie auch zu leben, was den schwierigeren nächsten Schritt darstellt. Leo gelingt dies spielend, denn in den schönsten Momenten, ist das Leben auch nur ein Spiel. Und so kann er auch der Oberste Vorsitzende des Bundes und gleichzeitig ein Diener sein. Obwohl das scheinbar dem Gesetz des Dienens, das er selbst formuliert hat, widerspricht: „Was lange leben will, muß dienen. Was aber herrschen will, das lebt nicht lan- ge.“4 Doch er will nicht herrschen, der Wille, das Streben danach zerstört die Menschen. Um herrschen zu können, muß man auch dienen können, erst wenn man beide Pole abgeschritten hat, kann man sie in sich vereinen.
Erst an der Gestalt des Leo wir dem Erzähler schrittweise, die Existenz und sein Irrglauben bewußt. Als Leo an seinem Bett sitzt, erkennt er das der Bund noch existiert, als Leo sich als oberster Vorsitzender des Bundes offenbart, wird ihm klar, daß es nur an seinem eigenen Zweifeln gelegen hat, das der Bund die ganze Zeit weiter bestand und nur er seine „Mitglied- schaft“ aufgekündigt hatte, durch das Verraten der eigenen Ziele und Vergessen der eigenen Träume. Durch Leo erkennt der Erzähler sich selbst. Und so fließt die schwarze Masse am Ende, von dem schwächlichen, sterbenwollenden Etwas des Erzählers zur hellen blühenden Gestalt Leos über. Auch hier vollzieht sich die Erkenntnis des Bildes erst schrittweise durch die beiden Kerzen in der Schublade. Nach der ersten Kerze erkennt er, das sie beide zusam- mengehören, miteinander verwachsen sind, also nur die ausformulierten Gegensätze ein und derselben Person.
5. Das Ende - Der Dichter (Hesse)
Soweit sind die meisten Romane Hermann Hesses geführt, daß sich die Gegensätze, die Wi- dersprüche der Personen auflösen, dadurch, daß sie nur innerhalb eines Menschen bestehen, der sie nur ordnen, sie ausspielen, sie aufstellen muß, auf dem Schachbrett seiner ganzen Per- sönlichkeit. Doch „die Morgenlandfahrt“ führt hier noch weiter, es gibt noch ein zweites Licht, das der Erzähler entzündet und durch das er die fließende Masse im Inneren der Figur erkennt. An dieser Stelle zeigt die Erzählung wieder ihren autobiographischen Charakter.
Eigentlich sollte man das nicht behaupten, eigentlich sollte man den Ich-Erzähler nicht mit dem Autor verwechseln, dies stellt den schlimmsten Fehler dar, den man im Deutschunterricht, aber auch im Germanistikstudium begehen kann. Ich will dies hier trotzdem ausführen, da sämtliche Werke von Hesse, Bewältigungen seiner persönlichen Krisen darstellen, nur dadurch leben, atmen seine Werke. Das gibt ihnen die Nähe zum Publikum. Auch sind in dieser Erzählung die Parallelen unverkennbar.
Das beginnt bei den Figuren, die in der Morgenlandfahrt auftreten: Klingsor, Goldmund, Ni- non, Sancho Panza... Es werden fiktionale und reale Figuren vermischt, so wie die Morgen- landfahrt selbst diese Grenzen auslöscht und der Phantasie freien Raum läßt. Auch die Figur des Ich -Erzählers läßt auf solche Parallelen schließen, er selbst wird im zweiten Teil immer wieder mit „H.H.“ angesprochen, wobei Hesse diese eigenen Initialen oft für seine Charakte- re, als indirekte Anspielung auf die geistige Verwandtschaft, verwendet: Hermann Heilner, Harry Haller. Doch hier wird dies nun noch direkter getan durch die fehlende Variation der Initialen. Dies ist wohl auch eine Anspielung auf Kafkas „Der Prozeß“, in dem die Figur „K“ angeklagt wird. Die Ähnlichkeit des zweiten Teils der Erzählung ist groß, beginnend beim Auftreten Leos im Zimmer des Erzählers, über das Archiv im Dachgeschoß, und die Anklage.
Im Grunde jedoch ist die Morgenlandfahrt anders betont, anders ausgestaltet, sie führt zur Selbsterkenntnis des Erzählers.
Auffällig ist auch die starke Selbstreflexion des Erzählers über das Schreiben. Im ersten Teil ist das natürlich durch den Versuch bedingt, die Geschichte der Morgenlandfahrt erzählen zu wollen. Doch auch in der Schilderung der Erlebnisse des Erzählers, der eigentlich auf der Fahrt Musiker und Komponist ist, finden sich solche das Fiktionale betreffende Passagen. Die wichtigste ist die Beobachtung des Erzählers, das die Gestalten der Dichter oft lebendiger erscheinen als ihre Schöpfer selbst.5 Das liege an dem Gesetz des Dienens, antwortet ihm Leo daraufhin. Diese Antwort verstand der Erzähler zu dem damaligen Zeitpunkt jedoch nicht. Wie könnte er das Gesagte überhaupt verstehen, wenn er doch selbst keine Gestalten geschaf- fen hat, wie Hesse dies sein Leben lang tat. Doch hier wird auch nur von einer Beobachtung des Erzählers gesprochen, der dies an anderen Dichtern und Künstlern beobachtet. Die Erzäh- lung wandelt somit auf dem Grat zwischen fiktionalem Erzähler und der Person Hesses, ge- nauso wie sie auf dem Grat zwischen Realität und Traum wandelt. Jeder grobe Versuch der Interpretation wird sie nun zu einer der beiden Seiten hinabstürzen und es steht die Frage bleibt offen, ob sie dies überlebt. Auf jeder der beiden Seiten liegt ein Flügel begraben, um mit beiden vereint vom Grat der Erzählung abzuheben.
Am Ende nun erinnert sich der Erzähler an dieses Gespräch, an das Gesetz des Dienens. Der Schöpfer Leos wird müde und schläfrig, nachdem er seiner Gestalt all seine Energie, all seine Kraft überlassen hat. Der Dichter will herrschen, will schaffen und dadurch geht er zugrunde. Doch seine Figuren, die ihm nur dienen, die nur Form seiner Phantasie sind, in die diese sich ergießt, leben und strahlen und überdauern den Dichter selbst. Sie sind auch in einer Welt gefangen, die sie selbst nicht mitgestaltet, die sie nicht geformt haben. Und doch ist ihre Posi- tion eine andere als die des Dichters, denn sie sind in diese Welt hineingeschrieben, sie fügen sich dort ein. Sie stehen entweder im Einklang oder im Gegensatz zu dieser Welt, sie wissen um ihr Weltbild, um ihren Standpunkt. Der Dichter jedoch sucht ihn erst und versucht sich ihm mit jeder neuen Dichtung mit jeder neuen Figur weiter anzunähern. So war dies bei Hesse jedenfalls, der seinen Weg durch seine Werke beschritt, der seine Krisen dort bewältigte. Und doch sind die Figuren wirklicher als er selbst. Weil sie zeitlos sind, sie leben in ihrer be- schränkten Zeit des Buches, ihre Gegenwart bleibt die Welt des Buches. Der Dichter lebt in der ständig voranschreitenden Zeit, ohne je einen Abschluß zu wissen. Somit bedeutet für ihn die Reise in das zeit- und raumfreie Land der Phantasie eine Morgenlandfahrt. Hier können alle Grenzen der Realität überwunden werden, hier kann die gesamte Kraft des Dichters sich schöpferisch in Gestalten ergießen.
Und doch erscheint dieses Schaffen nur wie das des Erzählers der Morgenlandfahrt: Zuerst endet es an dessen Beschreiben, an dem Versuch es in Worte zu pressen, ohne dabei den wahren Sinn zu vergessen - dann jedoch führt es zu der Frage warum nicht in der Gegenwart, diese schöpferische Kraft, diese Morgenlandfahrt gelebt werden kann. Bedeutet nicht das Hinüberfließen des Erzählers in die Gestalt Leos und die damit verbundene Müdigkeit, eine Aufgabe dieser Realität und Flucht in die Welt des Morgenlandes.
Doch ist Leo auch die Verdeutlichung der Morgenlandfahrt in der realen Welt des Erzählers. Das Übergehen symbolisiert somit auch die Erkenntnis der realen Morgenlandfahrt und deren Wagnis in Gestalt Leos, dessen Beschreibung des Lebens, eine neue Sicht darauf, eine neue Freiheit ermöglicht: „Aber gerade das ist es ja, das Leben, wenn es schön und glücklich ist: Ein Spiel!“6
6. Literaturliste
Primärliteratur:
Hesse, Hermann: Die Morgenlandfahrt, Suhrkamp Taschenbuch, Frankfurt/Main, 1982
Sekundärliteratur:
Freedman, Ralph: Hermann Hesse. Biographie, Suhrkamp Taschenbuch, Frankfurt/Main, 1999
Mühlberger, Josef: Die Morgenlandfahrer In: Dank an Hermann Hesse. Reden und Aufsätze, Suhrkamp, Frankfurt/Main, 1952
Carlsson, Anni: Dichtung als Hieroglyphe des Zeitalters. Hermann Hesses „Morgenlandfahrt“. In: Dank an Hermann Hesse. Reden und Aufsätze, Suhrkamp, Frankfurt/Main, 1952
Zimmermann, Werner: Hermann Hesses „Morgenlandfahrt“. In: Zimmermann, Werner: Deutsche Prosadichtung der Gegenwart, 1956, S.224-244
Middleton, J.C.: Hermann Hesses „Morgenlandfahrt“. In: Germanic Review 32, 1957, S. 299-310
[...]
1 Hesse, Hermann: Die Morgenlandfahrt, S.73
2 Ebd. S.25
3 Ebd. S.26
4 Ebd. S.34
5 Ebd. S.32 ff
6 Ebd. S.63
- Arbeit zitieren
- Norbert Krause (Autor:in), 2001, Hermann Hesse - Die Morgenlandfahrt, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/106957