Mode und Zynismus


Hausarbeit, 2002

13 Seiten, Note: 1,5


Leseprobe


Gliederung

1. Einleitung
1. 1 Fragestellung: Wie entsteht Mode und wie wirkt sie auf die Gesellschaft und den Einzelnen?

2. Kritik an den einzelnen Modeerscheinungen
2. 1 Die Frauen
2. 2 Die Männer

3. Verschmähung allen Auffallens

4. Definitionen
4. 1 Die Tracht
4. 2 Die Mode
4. 3 Der Typus

5. 1 Voraussetzungen für das Entstehen von Mode bei Vischer
5. 2 Voraussetzungen für das Entstehen von Mode bei Simmel

6. Die Funktion des „Geheimen Regenten“ bei Vischer

7. Die Antinomie und ihre Lösung

8. Lösungsansätze für das Modediktat

9. Zusammenfassung und abschließende Betrachtungen

Quellenangaben

Dem Begriff Mode, der das Kernthema dieser Hausarbeit darstellt, begegnen wir im täglichen Sprachgebrauch auf unterschiedliche Weise. So spricht man z. B. von der Modebranche mit ihren Modezeitschriften, Modefotografen und Modehäusern. Daneben wird das Wort Mode auch oft abwertend verwandt, so beispielsweise in Modepüppchen, Modegeck, Modearzt oder Modekrankheit. Gleichzeitig aber wurde es auch idiomatisiert, so dass wir mit einem Modekarussel das Wiederaufleben vergangener Kleidermoden1 oder mit einem Modeschrei eine Modeneuheit2 bezeichnen. Oder wir sprechen einfach davon, dass jemand „nicht mehr Mode ist“3, also gesellschaftlich nichts mehr gilt.

Trotz der unterschiedlichen Verwendungen lassen sich diese Wörter auf den Ausdruck Mode und seine eigentliche Bedeutung zurückführen. Das Wort „Mode“ wurde erst relativ spät - im 17. Jahrhundert - aus dem Französischem in den deutschen Sprachgebrauch übernommen. Frankreich, dass in diesem Zeitraum vor allem kulturell über das Gebiet des heutigen Europas herrschte, diente als Vorbild für nahezu alle Bereiche des Lebens. Wollte man also in Mode sein, heißt in der Gesellschaft etwas gelten, so gab und kleidete man sich „a la mode“ oder „alamodisch“, nach der Art, wie es in Frankreich gerade üblich war. Ursprünglich allerdings wurde der Begriff, der den raschen Wechsel aller Ausdrucks- und Verhaltensweisen bezeichnet, von dem italienischen „al modo“ abgeleitet4.

Seltsam scheint nun, dass gerade ein Thema, das wie man meint ein weites Feld an Interpretationen und Untersuchungen bietet, eher selten und nur zu bestimmten Zeiten in der Philosophie behandelt wurde. Allerdings war schon Georg Simmel, der z. B. neben Friedrich Theodor Vischer, Werner Sombart oder Eduard Fuchs eine der interessantesten Theorien zu diesem Thema verfaßt hat, der Meinung, dass Mode immer ein Krisenthema ist. Oder um es mit seinen Worten zu sagen: „Der Bruch mit der Vergangenheit, [...] spitzt das Bewußtsein mehr und mehr auf die Gegenwart zu. Diese Betonung der Gegenwart ist ersichtlich zugleich Betonung des Wechsels [...].“5

Wenn sich aber Mode durch den ewigen Wechsel oder aber als Prinzip des ewig Neuen charakterisiert, wie entsteht sie dann bzw. nach welchem Prinzip wirkt sie dann in der Gesellschaft und auf den Einzelnen?

Mit dieser Frage, die ich der Hausarbeit voranstelle, möchte ich mich auf der Grundlage des Aufsatzes „Mode und Zynismus“ von Friedrich Theodor Vischer näher beschäftigen. Vergleichend ziehe ich den Aufsatz „Die Mode“ von Georg Simmel hinzu.

Friedrich Theodor Vischer, der bereits 1859 einen ersten Aufsatz zum Thema Mode mit dem Titel „Vernünftige Gedanken über die jetzige Mode“ veröffentlichte, möchte dem Leser keinen Zweck für seinen zweiten Aufsatz von 1879 nennen. Lediglich einen Grund gibt er an, weil alles einen Grund hat. Obwohl die Schrift in ihren Grundtendenzen negativ scheint, denn „wer über Mode schreibt, wäre ein Narr, wenn er meinte, auch nur das geringste zur Heilung ihrer Verrücktheit beitragen zu können“6, glaubt Vischer an spätere, klügere Generationen, denen er mitteilen möchte, dass immer ein Bewußtsein für Mode bestanden hat.

Kritik an den einzelnen Moderescheinungen

Die Frauen

Vischer scheint insbesondere die Frauen in seiner Schrift kritisieren zu wollen, denn er nennt die Kleidermode vorherrschend weiblich. Bereits hier verweist Vischer auf das Modediktat aus Frankreich, auf das ich später noch genauer eingehen möchte. Kurz beschreibt die Krinoline, den Nachfolger des Reifrocks, die er noch in seinem ersten Aufsatz für ein Symbol des zweiten Kaiserreiches in Frankreich hielt. Seinen Worten läßt sich entnehmen, dass er mit dem Fall des Reiches auch auf den Fall des Diktats hoffte. Von seinen Erwartungen enttäuscht, geht er dazu über die neue Mode zu kritisieren.

Keine Gnade findet in seinen Augen die Art und Weise, Kleider zu schneidern, die, wie er zynisch formuliert, über den Bauch spannen. Während er meint, bei der Jugend könne man diesen unvorteilhaften Schnitt noch hinnehmen, wird er dem Alter gegenüber regelrecht ausfallend: „nun, ich frage, wer sieht es nicht hundertmal des Tages mit Ekel, wenn so ein vorgewölbter tuchüberspannter Bauch vor ihm aufschwillt!“7 Vischer bringt noch andere Modeerscheinungen zur Sprache, die interessanter sind weil sie auch bei anderen Autoren wie z. B. Georg Simmel Aufmerksamkeit finden.

Betrachtet man nun die Ballmode, das heißt den „offenen Busen und Rücken“8, so bemerkt Vischer gegenüber den Damen, dass die anwesenden Herren ihren Reizen nicht nur mit „reinem Bildhauerauge“9 gegenüberstehen. Und selbst wenn die Herren es wären, fragt er die Damen: „Möchten sie denn so vielen Bildhauern Modell stehen?“10 Simmel hingegen beschreibt dieses reduzierte Schamgefühl mit den Worten: „viele Frauen würden sich genieren, in ihrem Wohnzimmer und vor einem einzelnen fremden Mann so dekolletiert zu erscheinen, wie sie es in der Gesellschaft, in der als solcher die Mode dominiert, vor dreißigen oder hundert tun.“11

Die Männer

Fast ebenso vehement tadelt Vischer die Männer. Neben der nahezu „farblosen“ Mode, die nicht dazu imstande ist „phantastische Abweichungen von der organischen Form“12 erträglich zu machen, fokussiert er insbesondere das „Verbrechen“ der Hutmacher als Hauptkritikpunkt.

Die These „Hutmacher seien Ungeheuer“, die er bereits in seinem ersten Aufsatz mit Beispielen belegte, mündet an dieser Stelle in einen Beweis. „Obersatz (major): wer dem Individuum nicht erlauben will, Individuum zu sein, bestreitet ein wesentliches Grundrecht des Menschen, stößt hierdurch sich selbst aus der Menschheit aus, ist Unmensch, Ungeheuer. Unter- oder Mittelsatz (minor): nun wollen aber die Hutmacher dem Individuum nicht erlauben, Individuum zu sein. Schlußsatz (conclusio): Also sind die Hutmacher Ungeheuer. Erläuterung des minor.“13

Mit diesem Beweis lassen sich auch die anderen Beispiele, die Vischer so in Rage versetzten gut erklären. So wie kein Kopf dem anderen gleicht und dennoch die Hutmacher nur Modeschablonen hervorbringen, so gleicht auch kein Körper in seinen Proportionen dem Anderen. Und in dem Maß wie Vischer die Hutmacher für ihre Eigenwilligkeit und Uneinsichtigkeit tadelt, in diesem Maß sind auch die anderen Modeschöpfer, die z. B. die Frisuren der Frauen, deren Schuhe oder Kleider entwerfen, zu verurteilen. Wie bereits an anderer Stelle erwähnt, kritisiert Vischer diese Moden eben genau aufgrund ihrer Unvorteilhaftigkeit für den größten Teil der Träger.

Dennoch findet er hier auch lobende Worte. Der eben erläuterten Theorie entsprechend, ist es dem Mann nun z. B. gestattet, die Bartmode seinen individuellen Proportionen anzupassen.

Verschmähung allen Auffallens

Gemeinsam ist männlicher und weiblicher Mode jedoch die „Verschmähung allen Auffallens“, die Vischer als einen Grundsatz für die Mode gekennzeichnet hat.

Von dieser Formulierung, die scheinbar Unauffälligkeit propagiert, sollte man sich nicht fehlleiten lassen. Für die Frauen läßt sich die Vorgabe auf eine einfache Formel zusammenfassen: „du sollst nicht auffallen, indem du in gewissen, jetzt unerbittlich vorgeschriebenen Grundformen, Hauptstücken von allen anderen abweichst, diese Grundformen, Hauptstücke selbst mögen noch so auffallend sein!“14 Während nun also den Frauen ein Rahmen vorgegeben wird, der durchaus nicht schlicht zu sein hat, gilt bei den Männern „Scheinlosigkeit“. Dennoch schließt weder der Rahmen noch die Schlichtheit die „Satisfaktion der Eitelkeit für den Einzelnen“15 aus. Den Frauen wird dabei nur jede erdenkliche Freiheit gegeben, sich innerhalb der festgelegten Form von den anderen abzuheben. Den Männern hingegen, die schon durch ihre Züge, Haltung oder Taten für sich gelten sollen, wird nur die Wahl gewisser Partien oder der Farbe freigegeben.

Interessant erscheint an dieser Stelle, dass auch Simmel, in seinem Aufsatz „Die Mode“, die unterschiedliche Bedeutung der Mode für Frauen und Männer herausgearbeitet hat. Auch er ist der Meinung, dass Männer keinesfalls eine aufregende oder stark wechselhafte Mode benötigen, um sich in der Gesellschaft zu behaupten. Er begründet diese Theorie durch die mangelnde bzw. schwächer ausgeprägte Treue beim Mann, die er durch die Beständigkeit der Wahl seiner Mode ausgleichen kann. Den Ausgleich durch den lebhaften Wechsel allerdings benötigen die Frauen, denen er im Allgemeinen eine größere Treue zuschreibt16. Gleich Vischer erkennt auch er die Bedeutung der Mode als Ventil für Individualität. Kennzeichnend für diese These ist das Beispiel der Modeentwicklung im 14. und 15. Jahrhundert. Während in Italien die Frauen ähnlich Männern Möglichkeiten hatten, sich geistig zu entfalten, waren die deutschen Frauen in deutliche Schranken gewiesen. Ausgleichend entwickelte sich in Deutschland eine extravagante weibliche Mode, wohingegen in Italien keine besonderen Moderscheinungen zu verzeichnen waren17. Deutlich wird dieser Prozeß auch in der Bewegung des Feminismus, bei dem sich die Frauen zugunsten ihrer - sich den Männern annähernden - Individualität bewußt gleichgültig gegenüber der Mode zeigten.

Die Tracht

Obwohl die Tracht in ihren äußeren Merkmalen, d. h. der Wechselhaftigkeit, denen der Mode gleicht, ist es üblich die Begriffe Mode und Tracht voneinander abzugrenzen.

Während die Tracht auf den ersten Blick vom Instinkt diktiert zu sein scheint, ist die Mode vermutlich von der reinen Willkür geprägt. Die Tracht, die durch die Mode auf das Land verbannt wurde18, ist konstant und konservativ. Dennoch darf man nicht dazu übergehen, sie als ewig zu bezeichnen, denn auch sie ist dem Wechsel der Zeiten und Völker unterlegen, für die sie charakteristisch ist. Die Tracht wechselt im Gegensatz zur Mode nur „unwesentlich im kleinen, bis die Zeit reif ist, im Großen zu verändern“19, d. h. erst wenn ein Bruch mit dem Ganzen stattfindet, wird auch die Tracht sich verändern.

Die Mode

Bezeichnet man Mode und Tracht als „Schwestern“, wie es Vischer aufgrund ihrer Erscheinungen tut, dann ist die Mode zweifellos die Jüngere der Beiden. Erstmalig kann man von Mode erst im 14. Jahrhundert sprechen, „um dessen Mitte der Narrentanz des Weibes Mode in ganz Europa zum ersten Mal seit dem Untergang des klassischen Altertums so recht los ging“20. Erklären läßt sich diese Entwicklung durch die Kreuzzüge, die Wechselberührungen über ganz Europa und Erscheinungen wie Glöckchen am Ellbogen sowie Knöcheln, Teilung des Rocks und Schnabelschuhe21 mit sich brachten. Kennzeichnend für die Mode ist ihre nivellierende Funktion, die sowohl Völker als auch Individuen angleicht. Auffälligstes Merkmal der Mode ist ihre Schnelllebigkeit. Vischer beschreibt dieses Merkmal als „mit allen Hunden der Neuerungssucht“22 gehetzt. Gleich ihm erkennt auch Simmel die Ursache für die zunehmende Schnelllebigkeit, die seit dem 18. Jahrhundert einen immer rascheren Wechsel der Moden bedingte, in dem Drang nach der Kürze aller Bewegungen des Lebens. Während Simmel diese Erscheinung durch den Ersatz der Zigarre durch die Zigarette belegt, weicht Vischer auf den Bereich der Sprache aus, indem er die ständige Vereinfachung bzw. Verkürzung der Worte benennt.

Besonders gilt noch hervorzuheben, dass Simmel gleich anderen Autoren die Unzweckmäßigkeit von Mode als eines ihrer hauptsächlichen Merkmale kennzeichnet. Dennoch kann man davon ausgehen, dass auch Vischer diese Eigenschaft bedacht haben muß, da er in seiner Unterscheidung von Mode und Typus darauf eingeht.

Typus

Neben Mode und Tracht nennt Vischer noch eine weitere „modische“ Erscheinungsform - den Typus - der seiner Meinung nach den „Rettungsweg [...] für die kleine Schar der Vernünftigen“23 darstellt. Der Typus, der ebenfalls durch Lebensbedingungen, Gewöhnungen oder den Sinn einer gewissen Periode geprägt wird, ist aber im Gegensatz zur Mode beständiger. Obwohl sich der Typus durch das Merkmal der Beständigkeit mit der Tracht vergleichen ließe, ist er doch eine Erscheinung der Mode. Als Beispiel nennt Vischer den Reitermantel, der als ein Kleidungsstück für alle Stände galt, sowie Frack und Zylinder.

Dabei fällt auf, dass dem Typus im Gegensatz zur Mode eine gewisse Zweckmäßigkeit anhaftet, die der Mode völlig fehlt. Während also ein Damenhut zwar der Mode entsprechend aber völlig durch Blumen überladen sein kann, existiert der Zylinder mit seiner breiten Krempe unter anderem durch die Notwendigkeit, damit zweckmäßig beim Grüßen den Hut abzunehmen.

Voraussetzungen für das Entstehen von Mode bei Vischer

Vischer nennt explizit nicht wirklich Voraussetzungen, die den Prozess der Modebildung bedingen könnten. Dennoch läßt sich herauslesen, dass für ihn ein zentralistisches Regierungssystem die Grundlage für die Entstehung einer einheitlichen, gleichmachenden Mode ist.

Die Verkörperung dieser Idee ist das Volk der Franzosen, die seit dem Beginn der Mode bestimmend waren. Im Gegensatz dazu nennt er die Völker der Deutschen, Engländer, Slaven, Ungarn, Italiener und Spanier, bei denen sich lediglich Trachten als Verkörperung einer Zeit herausbildeten. Dennoch verliert die Mode dadurch nicht ihre nivellierende Wirkung, denn „einer muß doch am Ende vorangehen, das Allgemeine zu schöpfen und durchzuführen“24. Wie bereits erwähnt, ist insbesondere das französische Volk, nicht zuletzt durch die Mischung von keltischem Temperament und aufgeimpftem Lateinischen, für diese Vorreiterrolle prädestiniert. Zudem spricht Vischer, trotz der Kritik an der Mode selbst, den Franzosen ein gewisses Etwas, Leichtigkeit und Talent für Eleganz zu: „Es ist etwas Hanswurstiges im französischen Blut, ein Rabelaisgeist, der auch dem Frechen ein Teil seines Stachels nimmt, so daß es mehr noch zum Lachen als zum Zürnen reizt. Bei uns wird das alles schwer, erdig, stoffartig, wird bleiernder Ernst und fordert den Ernst des ungetäuschten Urteils heraus.“ Und obwohl Vischer den Franzosen auf dem modischen Gebiet durchaus die Weltherrschaft zubilligt, kann er sich als Kind seiner Zeit die politische Spitze: „[...] werden wir überhaupt gerne zugeben, daß sie ein geistreiches Volk sind, und uns im übrigen nur verbitten, daß sie sich für das erste halten und in allen Dingen Weltherrscher sein wollen“25 nicht verkneifen.

Voraussetzungen für das Entstehen von Mode bei Simmel

Auch Georg Simmel sieht Paris - also Frankreich - als Führungsrolle in der Mode, von der sie sich allerdings auch abhebt: „der Individualismus, die Anpassung an das persönliche Kleidsame, ist viel tiefer als in Deutschland; aber [...], so daß die einzelne Erscheinung nie aus dem allgemeinen herausfällt, aber sich immer aus ihm heraushebt.“26

Anders allerdings als Vischer benennt Simmel zwei grundsätzliche Voraussetzungen für die Entstehung von Mode, die seiner Theorie vom Dualismus des Lebens geschuldet sind. Laut Simmel bedarf alles im Leben zweier Seiten, die einander konträr gegenüberstehen und sich dennoch ausgleichen. So wie der Mensch Ruhe und Bewegung oder Produktivität und Rezeptivität benötigt, hat er gleichzeitig ein Bedürfnis nach Zusammenschluß und Absonderung.

Diese beiden Bedürfnisse bilden die Grundlage für die Mode, die seiner Meinung nach die „Nachahmung eines gegebenen Musters“ ist. Während das Bedürfnis nach sozialer Anlehnung durch den Zusammenschluß mit Gleichgestellten verwirklicht wird, befriedigt der Ausschluß einer anderen Gruppe das Absonderungsbedürfnis.

Diese These untermauert Simmel durch zwei kleine Anekdoten aus dem 14. Jahrhundert: „In Florenz soll es um das Jahr 1390 deshalb keine vorherrschende Mode der männlichen Kleidung gegeben haben, weil sich jeder auf besondere Weise zu tragen suchte. Andererseits: die venezianischen Nobili [...] hätten keine Mode gehabt, da sie sich alle infolge eines Gesetzes schwarz zu kleiden hatten, um nicht die Kleinheit ihrer Zahl den unteren Massen gar zu anschaulich zu machen.“27

Diese Anekdote findet sich in ähnlicher Art - diesmal zu Zeiten Kaiser Neros - bei Mathias Eberle, der in dem Aufsatz „Wesen und Funktion der Mode“ ebenfalls die beiden Bedürfnisse nach Abgrenzung und Zusammenschluß als entscheidend für das Entstehen von Mode kennzeichnet.

Die Funktion des „Geheimen Regenten“ bei Vischer

So vage Vischer Voraussetzungen für die Entstehung angibt, desto präziser bezeichnet er ihren Ursprung.

„Die ganze Mode-Narrenwelt meint nach Belieben nur ihrer geschmacklosen Eitelkeit zu fröhnen und gehorcht in Wahrheit unbewußt einem unsichtbaren Regenten, der sie nötigt, den inneren Charakter einer Zeit, ihre Stimmung, Gesinnung, Auffassung, Sitte symbolisch im Äußeren, im Kleide darzustellen.“28 Bereits bei der Definition der Begriffe „Tracht“ und „Mode“ habe ich erwähnt, dass sie vom Instinkt diktiert zu sein scheinen. Vischer ist der Meinung, dass dieser Instinkt - mehr ein dunkler Trieb - den Angriffspunkt für den „Regenten“ bildet, der die Menschen dadurch zwingen kann, über ihre Kleidung ihre Stimmung zu enthüllen.

Vischer geht dazu über diese Regentschaft als Theokratie, d. h. Gottesherrschaft zu bezeichnen, womit er in seinen Erklärungen in den mystischen Bereich übergeht.

Da aber eine religiös legitimierte Herrschaftsform auf Inspiration beruht, ergibt sich folglich, dass alle Moderegulative Orakel und alle Modeschöpfer - unter ihnen die bereits erwähnten Modeschöpfer und Hutmacher - die priesterlichen Organe sein müssen.

Das aber wiederum führt zu der einzig logischen Schlußfolgerung, dass Mode nur auf dem Zwang, den Charakter einer Zeit in ihren Formen auszudrücken, beruht. Beweisen läßt sich dieser Zwang durch das Betrachten und Vergleichen zurückliegender Moden und Zeiten, die dadurch ihren unmittelbaren Zusammenhang offenbaren. Die Erscheinungen der Zeiten lassen sich aber nur als das „Resultat einer unendlichen Verflechtung von Naturbedingungen, Zufällen, Entwicklungen aus gegebenen Tatsachen und freien, der sittlichen Zurechnung unterworfenen Handlungen einzelner Menschen“29 verstehen. Aber selbst diese angeblichen freien Handlungen erscheinen im Licht dieser Theorie als vorgegeben.

Alles in allem wäre der Mensch also unfrei und allem Gegebenem, so auch der Mode, unterworfen. Ist das aber möglich?

Die Antinomie und ihre Lösung

Die angeblich logische Konsequenz: „Der Mensch ist unfrei“, die Vischer aus der vorangegangen Beweisführung zieht, scheint jedoch der Logik zu widersprechen, denn letztendlich beruht der Charakter der Zeit u. a. auf freien Taten.

Um dieses Problem zu lösen, zieht Vischer Kant, der den Begriff der Antinomie prägte, heran. Als Antinomie bezeichnet man einen in sich widersprüchlichen und dennoch wahren Satz oder zwei Sätze, die einander auschließen und dennoch den gleichen Wahrheitsanspruch haben.

Trotz oder vielleicht auch gerade wegen ihrer Unlösbarkeit - frei und doch unfrei - behilft sich Vischer durch eine Plattheit, die es ihm gestattet zwei einfache Sätze aufzustellen, die nicht anzuzweifeln sind.

So kommt er zu dem Schluß, dass erstens die Mehrheit aller Menschen sich so dem allgemeinen Geschmack anpaßt, dass es der Mühe gar nicht wert ist zu erkunden, ob sie überhaupt je Willensfreiheit besessen haben. Die zweite Gruppe, die Minderheit, die sich dem „Schafherdencharakter“30 nicht anpaßt, ist dem Gesetz nicht unterworfen. Trotzdem sind aber auch diese Menschen nicht frei, denn ein völliges Sich-Abheben von den Mehrheit wird von der Gesellschaft nicht zugelassen.

Vischer sieht die Lösung dieses Problems im bereits weiter vorn erwähnten Typus, der zwar durchaus modisch ist aber nicht zu den Übertreibungen der Mode neigt. Auch Simmel hat sich mit der Gruppe der „feinen und eigenartigen Menschen“31 beschäftigt, deren Rettung er aber in der „Maskierung“ - der Reservierung der eigenen Empfindungen und des individuellen Geschmacks hinter der Maske Mode- sieht.

Letztlich sind aber sowohl bei Vischer als auch bei Simmel die Grenzen zwischen den verschiedenen Gruppierungen fließend. Vergleichend läßt sich feststellen, dass die Antinomie auch durch Simmels Ansatz nicht lösbar ist.

Lösungsansätze für das Modediktat

Simmel prägt in seinem Aufsatz den Begriff des „Schamgefühls“, dass auf dem Sich-Abheben von der Masse beruht und im Besonderen bescheidene und schwache Persönlichkeiten betrifft. Interessant erscheint dabei, dass auch Sich- Differenzieren im positiven Sinne - das Hervorheben von der Masse - als beschämend empfunden wird. Im Bereich der Mode läßt sich dieser Konflikt durchaus lösen, da ein Hervorheben im - wie bereits mehrfach erwähnten Rahmen - als durchaus positiv empfunden wird. Als zweite Konsequenz dieser Massenbewegung läßt sich ein Sinken bis Auslöschen des Schamgefühls feststellen, dass bereits im Bereich der Ballmode belegt wurde.

Auf das Sinken des Schamgefühls durch eine Massenbewegung bezieht sich auch Vischer in seinen abschließenden Worten.

Entgegen aller Vorsätze - und eigentlich auch der Theorie vom „Geheimen Regenten - offenbart er einen Vorschlag, um in den Prozeß der Modebildung einzugreifen und geschmacksbildend auf sie einzuwirken. Er ist der Meinung, wenn nun eine große Gruppe, die durch die Beratung wirklicher Experten eine neue Mode geschaffen hat, gemeinsam dem Schamgefühl und dem Hohn der Gesellschaft trotzen würde, könne es nur eine Frage von Tagen sein, bis die „Affentracht“ verschwände und die neue Mode etabliert wäre.

Zusammenfassung und abschließende Betrachtungen

Um abschließend wieder auf die Ausgangsfrage „Wie entsteht Mode und wie wirkt sie auf die Gesellschaft und den Einzelnen?“ zurückzukommen, ist es notwendig beide Theorien noch einmal kurz zusammen zu fassen und einander gegenüber zu stellen.

Vischer verlagert seine Theorie bzw. die Ursprung einer Modeerscheinung in den Bereich des Mystischen. Durch den „Geheimen Regenten“ wird die Mode auf den Instinkt und eine übergeordnete Macht verwiesen. Im realen Bereich aber, ist die „Massenerscheinung Mode“ bzw. ihr ausgleichender Charakter durch ein zentralistisches Regierungssystem bedingt. Das Nivellierende verweist zudem auf die Wirkung von Mode auf die Gesellschaft und den Einzelnen. Eine Gesellschaft mit ihren Erscheinungen ist zugleich immer Träger als auch Produzent einer Mode, die wiederum den Charakter der Zeit widerspiegelt. Der Einzelne hingegen ist einer Mode ausgeliefert und hat dem Diktat „Verschmähung allen Auffallens“ zu folgen. Sein einziger Ausweg besteht entweder im Typus, der langlebiger, zweckmäßiger und dennoch modisch ist oder aber in der Heraushebung aus dem vorgeschriebenen Rahmen.

Simmels Theorie ist durch die Betonung auf Bedürfnisse und Nachahmung eher dem Psychologischen zuzuweisen.

Anders als Vischer sieht er die Ursache einer Modeerscheinung im Dualismus, der sowohl das Bedürfnis nach Absonderung als auch nach Zusammenschluß zuläßt. Eine Moderscheinung kann bei ihrer Entstehung beide Bedürfnisse befriedigen. Obwohl Simmels Theorie zur gleichen Konsequenz für die Gesellschaft und den Einzelnen führt, muß unterschieden werden: Einerseits unterscheidet Simmel nach Klassen, deren Ziele - Abgrenzung nach unten oder außen und Bestrebungen nach oben - nur durch Moderescheinungen erreicht werden können während Vischer von einer Erscheinung der ganzen Gesellschaft spricht. Andererseits betont Simmel den Niedergang einer Mode, der schon in ihrer Entstehung festgelegt ist. Wie auch Vischer kennt er den nivellierenden Charakter der Mode, den es laut dem Bedürfnis nach Absonderung zu vermeiden gilt, und folgerichtig ist eine Mode nur während des Verbreitungsprozesses als eine solche zu bezeichnen.

Letztlich läßt sich feststellen, dass beide Theorien unterschiedliche Ansätze zur Erklärung der Entstehung und Verbreitung von Mode liefern und sich dennoch an einigen Punkten überschneiden. Beide betonen, wenn auch mit unterschiedlicher Gewichtung, den Wunsch des Einzelnen, sich in eine Masse einzufügen und sich trotzdem aus ihr herauszuheben. Ein zu starkes SichAbheben hingegen wird durch das Schamgefühl verhindert. In beiden Theorien finden sich sowohl Ansätze, die zunehmende Schnelllebigkeit der Zeit und damit auch ihrer Erscheinungen zu erklären als auch die Betonung der Vormachtsstellung Frankreichs auf dem Gebiet der Mode.

Und während Vischer die Mehrheit der Leute als nicht der Mühe wert erachtet, „zu fragen, zu untersuchen ob sie eine Willensfreiheit besitzen oder nur nicht gebrauchen“32 bezeichnet Simmel die Mode als den eigentlichen „Tummelplatz für Individuen [...], welche innerlich unselbstständig und anlehnungsbedürftig sind [...]“33.

Für mich selbst erscheinen beide Positionen durchaus schlüssig, wobei ich bemerken muß, dass es Simmel weitaus besser gelungen ist, in einer sachlichen Argumentation zu verbleiben.

Sicherlich ist verständlich, dass Vischer als „Geistesmensch“ seiner Zeit die Auswüchse der Mode kritisiert. Trotzdem glaube ich, dass Vischer an einigen Stellen eher seinem Unmut Luft macht, anstatt sich selbst an seine einleitenden Worte „wer über Mode schreibt, wäre ein Narr, wenn er meinte, auch nur das geringste zur Heilung ihrer Verrücktheit beitragen zu können“ zu halten. Unter diesen Worten möchte ich auch seinen abschließenden Vorschlag zur Verbesserung des Geschmacks betrachten.

Zum einen birgt dieser Vorschlag meiner Meinung nach eine gewisse Naivität, denn angesichts des „Geheimen Regenten“, dem er doch beinahe göttliche Züge zuspricht, erscheint eine Gruppe von zweihundert Personen, die gegen den inneren Instinkt etwas Neues schaffen will, reichlich gering. Zum anderen widerspricht dieser Vorschlag der eigenen Theorie, der zufolge eine Mode den Charakter einer Zeit widerspiegeln soll und auch durch sie entsteht.

Dennoch birgt sein Aufsatz auch viele interessante, durchaus vertretbare Positionen wie beispielsweise die Bedeutung des zentralistischen Regierungssystems. Ich denke, insbesondere vor dem heutigen Hintergrund der Globalisierung, wird deutlich wie stark ein einheitliches gesellschaftliches System zu der Verbreitung einer Mode beitragen kann.

Quellenangaben:

Eberle, Mathias: Wesen und Funktion der Mode in Kritik der Alltagskultur. Herausg. Meurer, Bernd und Vinçon, Hartmut. Ästhetik und Kommunikationsverlag GmbH. Berlin 1979

Simmel, Georg: Die Mode in Die Listen der Mode, Herausg. Bovenschen, Silvia. Suhrkamp. Frankfurt am Main 1986

Vischer, Theodor Friedrich: Mode und Zynismus in Die Listen der Mode, Herausg. Bovenschen, Silvia. Suhrkamp. Frankfurt am Main 1986

Wörterbuch der deutschen Umgangssprache. Herausg. Küpper, Heinz. Klett, Verlag für Wissen und Bildung. Stuttgart 1993

[...]


1 Wörterbuch der deutschen Umgangssprache, S. 541. Ernst Klett Verlag für Wissen und Bildung, Stuttgart 1987

2 ebd. S. 541

3 ebd. S. 541

4 Eberle, Mathias: Wesen und Funktion der Mode S. 97 in Kritik der Alltagskultur, Herausg. Meurer, Bernd und Vinçon, Hartmut. Berlin 1979

5 Simmel, G., Die Mode, S. 189 in: Die Listen der Mode. Herausg. Bovenschen, Silvia, Frankfurt 1986

6 Vischer, Mode und Zynismus S. 33 in Die Listen der Mode. Herausg. Bovenschen, Silvia, Frankfurt 1986

7 Vischer, S. 37

8 Vischer, S. 39

9 ebd.

10 ebd.

11 Simmel, Die Mode S. 198

12 Vischer S. 51

13 Vischer S. 53

14 Vischer S. 65

15 Vischer S. 65

16 Simmel S. 195

17 ebd.

18 Vergl. dazu auch Eberle, Mathias,S. 99

19 Vischer S. 59

20 Vischer S. 34

21 siehe dazu Simmel S. 183 „wie eine Laune [...] eine Mode enstehen ließen - so die mittelalterlichen Schnabelschuhe aus dem Wunsch eines vornehmen Herrn, für einen Auswuchs an seinem Fuß eine entsprechende Schuhform zu finden [...]“

22 Vischer S. 60

23 Vischer S. 69

24 Vischer S. 64

25 ebd.

26 Simmel S. 185

27 Simmel S. 187

28 Vischer S. 59

29 Vischer S. 67

30 Vischer S. 68

31 Simmel S. 197

32 Vischer S. 68

33 Simmel S. 190

Ende der Leseprobe aus 13 Seiten

Details

Titel
Mode und Zynismus
Hochschule
Universität Leipzig
Note
1,5
Autor
Jahr
2002
Seiten
13
Katalognummer
V107059
ISBN (eBook)
9783640053346
Dateigröße
404 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Vergleich der zwei Aufsätze
Schlagworte
Mode, Zynismus
Arbeit zitieren
Claudia Behnke (Autor:in), 2002, Mode und Zynismus, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/107059

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