Inhaltsverzeichnis
Einleitung
1. Die Todeserkenntnis als Intention
1.1 Einführung in das Thema und Aufgriff der Szene
1.1.1 Der Tod als die eigentliche Wahrheit und das Gericht als Weltgericht
1.1.2 Kafkas Verhältnis zur Gerechtigkeit
1.2 Der Proce ß als realistischer Roman?
1.2.1 Kafkas Auffassung von Dichtung und Literatur
1.2.2 Die Entlarvung der Welt und die Entlarvung des Lesers
1.2.3 Realismus im Irrealismus
2. Die Vieldeutigkeit
2.1 Aufgriff der Szene: die Rolle des Gerichtsmalers Titorelli
2.2 Der Proceß aus „medizinischer“ Sicht
Schlussbemerkung
Bibliographie
Einleitung
In dieser Hausarbeit möchte ich mich mit Franz Kafkas Roman Der Proce ß 1 beschäftigen und hierbei insbesondere auf das Phänomen der Todeserkenntnis eingehen. Zur Verdeutlichung werde ich mich auf eine Szene des Romans beschränken, die Schlussszene. Bei der Beschäftigung mit Sekundärliteratur zu diesem Thema stieß ich noch auf einen weiteren Aspekt, der mir in diesem Zusammenhang sinnvoll erschien, aber dennoch eine eigene Problematisierung erfordert: die Vieldeutigkeit in Kafkas Roman. So werde ich dies lediglich gegen Ende der Arbeit thematisieren, anhand der Szene mit dem Gerichtsmaler Titorelli erläutern und ansonsten ausführlicher die Bewusstwerdung der Todeserkenntnis diskutieren.
1. Die Todeserkenntnis als Intention
1.1 Einführung in das Thema „Todeserkenntnis“ und Aufgriff der Szene
Der Roman Der Proce ß handelt wie auch zwei weitere Texte Franz Kafkas (Die Verwandlung, Das Schlo ß) von der Bewusstwerdung der Todeserkenntnis. Dieses Bewusstsein wird dem Hauptprotagonisten Josef K. erst am Ende gegeben, es wird ihm gewissermaßen sogar aufgezwängt, da er sich seinem Schicksal nun nicht mehr entziehen kann und es statt dessen annimmt - mit seinen Folgen. Von Beginn an ist Josef K. im Unklaren darüber, wessen er angeklagt ist, wer oder was das Gericht ist und wie und ob er sich diesem Zustand entziehen kann. Die Kernstelle, die meinem Thema zugrunde liegt, ist der Schluss, in dem es zu einer Art Aufklärung kommt: Josef K. wird abgeführt und letztlich hingerichtet. Es heißt hier: „ [...] die Wertlosigkeit seines Widerstandes kam ihm gleich zu Bewußtsein. Es war nichts Heldenhaftes, wenn er jetzt widerstand, wenn er jetzt den Herren Schwierigkeiten bereitete, wenn er jetzt in der Abwehr noch den letzten Schein des Lebens zu genießen versuchte.“2 Auf diesen Gedanken Josef K.’s , die Bewusstwerdung der Todeserkenntnis, baut sich der Schluss des Romans fast ausnahmslos auf.
1.1.1 Der Tod als die eigentliche Wahrheit und das Gericht als „Weltgericht“
Bruno Hillebrand schreibt in seinem Buch Theorie des Romans, in dem er einen Aufsatz dem Kafkaschen Roman widmet, die Tatsache des Todes sei die eigentliche Wahrheit, das Leben nur eine Überdeckung dieser Grundtatsache, es produziere nur Scheinmanöver und sei daraus folgernd bloß eine große Lüge.3 Bezieht man diese Aussage nun auf Kafkas Proce ß, so stellt man Analoges fest. Das Leben ist eine Lüge; für Josef K. ist besonders sein letztes Lebensjahr eine Lüge, denn hier wird er konfrontiert mit einem Gericht, das in Wirklichkeit gar nicht existiert und doch gleichermaßen überall und alles ist. Erst am Ende des Romans erkennt Josef K. diese Paradoxie. „Wer war es? [...] War es ein einzelner? Waren es alle? Wo ist das hohe Gericht [...]?“4 K. erkennt die Lüge und stellt sich nun Fragen, die er sich schon im Laufe seines Lebens hätte stellen müssen. Allerdings darf man nicht vergessen, welche Folgen diese Erkenntnis hat. Ehe K. seine Gedanken wirklich zu einem Schluss bringen kann, wird er von zwei Männern - zwei Männern vom Gericht - hingerichtet. Ist es nicht möglich, dass diese „eigentliche Wahrheit“, der Tod, ihn schon eher erreicht hätte, wäre K. diese Erkenntnis schon früher gekommen? Hillebrand spricht in diesem Zusammenhang vom Gericht des Romans als „Weltgericht“, etwas, das überall ist und dem niemand entfliehen kann.5 Dazu ein kurzer Blick auf eine Szene, in der dieser Ausdruck mehrfach verifiziert wird, die Begegnung K.’s mit dem und dem niemand entfliehen kann.6 Dazu ein kurzer Blick auf eine Szene, in der dieser Ausdruck mehrfach verifiziert wird, die Begegnung K.’s mit dem Gerichtsmaler Titorelli. Zwei Dinge fallen hier in besonderem Maße ins Auge. Zum einen das Atelier des Malers und zum anderen die Mädchen, die die gesamte Zeit über vor der Türe dieses Ateliers sitzen und warten. Titorelli, der K. seine Hilfe anbietet, beschreibt beides als dem Gericht zugehörig mit dem Satz: „Es gehört ja alles zum Gericht.“7 Alles gehört zum Gericht, alle gehören zum Gericht, und der Einzelne ist angeklagt. Alle scheinen freundlich, doch niemand kann sich dem Gericht wirklich entziehen. Theodor W. Adorno schreibt in diesem Zusammenhang, Kafka benutze zur Verdeutlichung seines Anliegens das Zumausdruckbringen der Negativität des Positiven.8 Die Hilfe der Mitmenschen führe im Endeffekt also doch zu nichts anderem als der „eigentlichen Wahrheit“. Beispielhaft der Schluss des Kapitels und gleichzeitig des ganzen Romans. Obgleich die beiden Herren anfangs noch sehr menschlich wirken und sie es Josef K. so einfach und angenehm wie möglich machen wollen, so stoßen sie doch letztendlich skrupellos zu und bohren sogar noch nach, bohren tiefer in die Wahrheit hinein. Ein Schock für den Leser schließlich die Reaktion der Herren, der Mörder K.’s: „Mit brechenden Augen sah noch K. wie nahe vor seinem Gesicht die Herren Wange an Wange aneinandergelehnt die Entscheidung beobachteten.“9 Es scheint sie nicht zu stören, sie nicht zu berühren, dass sie soeben einem Menschen das Leben genommen haben. Eher im Gegenteil laben sie sich an einem solch würdelosen Tod des Mitmenschen. Solche „Schocks“ greift auch Adorno in seiner Theorie auf und sagt, die „kontemplative Geborgenheit“ vom Gelesenen würde zerstört; statt dessen entwickle sie sich zu blankem Hohn.10 Der Leser erkennt die permanente Bedrohung, die ihm wiederum die Möglichkeit verwehrt, als bloßer Zuschauer, als Unbeteiligter, das Geschehen zu verfolgen.
1.1.2 Kafkas Verhältnis zur Gerechtigkeit
In diesem Zusammenhang ist es erforderlich, noch einmal auf Hillebrand zurück zu greifen, welcher sich nicht ausschließlich mit der Theorie „Der Tod als die eigentliche Wahrheit“, sondern auch mit dem Autor Franz Kafka selbst beschäftigte. Kafka, so Hillebrand, empfinde nämlich die Welt als dynamisches Erlebnisphänomen und gleichermaßen das Erleben als Ekstase. Er sagt, sein persönliches Recht zu leben sei, die innerlich gestaute Welt in Sprache umzusetzen. Dichtung tendiere für ihn zum Gebet. Er selbst habe sich ausschließlich auf sein Schreiben konzentriert und dabei andere Dinge wie Sexualität, Musik, Essen und Trinken deutlich in den Hintergrund gestellt. Er sagte: „Wenn ich die Literatur verlasse, lebe ich nicht mehr.“11 Kafka lebte also in seinen Werken und mit seinen Werken. Aus diesem Zusammenhang heraus versteht man, wenn Hillebrand in seinen Erörterungen sagt, Angst und Leid seien die „Einheitlichkeit der Menschheit“, und man dann den Roman Der Proze ß betrachtet. Man ist hier entweder Gericht oder Angeklagter. Josef K. sieht sich allerdings bis zum Schluss, kurz bevor er hingerichtet wird, nicht als Opfer, sondern glaubt an die Gerechtigkeit. Für Kafka gibt es diese Gerechtigkeit nicht. Er schreibt allein auf der Grundlage, dass der Mensch auf „schwachem oder gar nicht vorhandenem Boden“ lebt. Dieser schwache Boden ist im letzten Kapitel des Romans nicht ausschließlich bei Josef K. deutlich erkennbar, sondern genauso bei den beiden Herren, die ihn zur Hinrichtung führen. Als Beispiel sei die Szene mit dem auftretenden Polizisten genannt. Hier stocken die Herren, als der Polizist sie ansprechen will. Hätte K. sie nicht von ihm weg gezogen, hätte ihnen vermutlich ein sinnvolles und effektives Reaktionsvermögen gefehlt. Denn es scheint hier fast, als seien sie sich selbst nicht ganz sicher, ob das, was sie tun, richtig ist. Das Gericht, für das sie arbeiten, scheint doch nicht ganz rechtens zu sein, denn sonst hätten sie keinerlei Grund gehabt, vor einem Polizisten, einem Mann des Gesetzes zu flüchten. Hat es Josef K. also seiner eigenen Dummheit zu verdanken, dass er zu Tode kommt? Ein weiteres, wenn auch kleines Beispiel für ihre Zweifel ist die Art und Weise, wie sie versuchen, sich auf die freundlichste Art die unangenehmen Arbeiten gegenseitig zuzuschieben. „Wieder begannen die widerlichen Höflichkeiten, einer reichte über K. hinweg das Messer dem andern, dieser reichte es wieder über K. zurück.“12 Vielleicht tun sie dies, weil eben der „Boden unter ihren Füßen“ zu schwach ist, dass sie Gefahr laufen, ihn gänzlich zu verlieren und womöglich selber am Ende als Angeklagte vor dem „Weltgericht“ zu stehen, falls sie einen Fehler machen. Adorno beschreibt die gleiche Sache, den „schwachen Boden unter den Füßen“, etwas anders, es läuft aber im Endeffekt auf das selbe hinaus. Er spricht davon, dass der Roman für Kafka eine Möglichkeit sei, die universale Entfremdung und die Selbstentfremdung beim Namen zu nennen.13
1.2 Der Proceß als realistischer Roman?
1.2.1 Kafkas Auffassung von Dichtung und Literatur
Hier stellt sich nun die Frage, ob der Roman dem Realismus zuzuordnen ist oder doch eher nicht. Zunächst ist fest zu stellen, dass es im Roman keine wirkliche Wahrheit gibt außer dem Tod, so wie es auch Hillebrand trefflich beschrieben hat.14 Kafka sagt von sich selber, er habe Schuldkomplexe, da sein Schreiben, sein exzentrisches Schreiben, auf nichts anderes abziele als auf das eigene Seelenheil oder -unheil. Er unterscheidet aber zwischen zwei Dingen. Auf der einen Seite stehe die Dichtung, die für ihn die Essenz, die Verdichtung, die Wirklichkeit darstelle, und auf der anderen Seite die „Flucht vor der Wirklichkeit“, das Genussmittel, das Narkotikum, das sich in der Literatur widerspiegle. Leider kann man Kafka nicht mehr persönlich fragen, wozu er sein Werk Der Proce ß zählt. Hillebrand fand in einem Schriftstück des Schriftstellers eine Aussage, die den Aphorismus Kafkas deutlich macht und annähernd sagte, die Welt böte sich zur Entlarvung an, wenn man nur lange genug wartete.15 Auf eine gewisse Weise muss der Roman also zum Realismus gehören, wenn man sich auch die konkrete Situation, in der Josef K. sich befindet, nicht wirklich vorstellen kann und will.
1.2.2 Die Entlarvung der Welt und die Entlarvung des Lesers
Hillebrand bedient sich in seiner Theorie der Gedanken zweier berühmter Philosophen, Platon und Nietzsche, die zwei verschiedene Aussagen über den Begriff „Kunst“ machten. Platon sah in der Kunst etwas, das um die Wahrheit herum schweift, die hier und da berührt, aber nie wirklich trifft. Nietzsches Auffassung über Kunst vermittelt uns, dass sie uns über die Wahrheit, über das Unangenehme, hinweg hilft und uns in einer besseren „Schein“-Welt leben lässt. Hillebrand möchte und wird beiden Denkern zustimmen. Im Sinne Kafkas sieht er den Roman als „Entlarvung der Welt“. Kafka entlarvt durch seine Erzählstruktur jedoch nicht bloß seinen Romanhelden Josef K., sondern auch den Leser. Der Autor schreibt aus der Sicht K.’s, so dass der Blick des Lesers gleich von Anfang an beschränkt ist. D.h. natürlich, dass durch diese Nähe fast ausgeschlossen wird, eine rationale Beurteilung von Verhalten und Erleben des Josef K. hervorrufen zu können. Der Leser hält das, was K. denkt, fühlt und tut, immer für richtig. Im letzten Kapitel des Romans wird das an einer Stelle ganz besonders deutlich: zunächst möchte K. sich gegen die Verschleppung durch die beiden Herren wehren, doch seine Sicht relativiert sich, als er das Fräulein Bürstner entdeckt und plötzlich doch keinen Sinn mehr in seinem Widerstand sieht, da es ihm nicht sehr „heldenhaft“ erscheint. Bei jedem Leser wird eine Relativierung seiner Sicht durch diese neue Meinung K.’s erkennbar sein. Niemand wird wohl von sich behaupten können, dass er an irgendeiner Stelle mit Josef K. uneins gewesen wäre, was den Prozeß angeht. Durch diese von Kafka geschickt eingebrachte Nähe, ich benutze bewusst nicht den Ausdruck „Identifikation“, bleibt es nicht aus, dass auf der anderen Seite die weiteren Charaktere des Romans nur aus der Distanz betrachtet werden. Es ist wohl nicht sehr abwegig zu behaupten, durch diese Distanz und gleichzeitige heftige Gefühlsregungen in K. würde die Sicht auf die Wahrheit versperrt.
1.1.3 Realismus im Irrealismus
Die Frage nach dem Realismus des Romans ist weiter ungeklärt. Adornos Definition ist eindeutig: der realistische Roman müsse auf den Realismus verzichten, der der Fassade bei ihrer Täuschung hilft. Dies ist in diesem Roman nicht der Fall, denn die Realität, die Todeserkenntnis und das lange Leben, das nur ein Ziel hat, den Tod, wird bloß durch die Situation „Prozeß“ umschrieben und nicht wirklich klar zum Ausdruck gebracht. Das einzig wirklich Realistische am Roman ist der letzte Satz: „’Wie ein Hund!’, sagte er, es war, als sollte die Scham ihn überleben.“16 Es ist wichtiger für den Menschen, wie er stirbt als dass er überhaupt stirbt. Weil Kafka dem Leser Josef K. so nahe gebracht hat, verursacht er den letzten Schock, denn K. stirbt „Wie ein Hund!“, und er kann nichts dagegen tun, denn „das Gericht ist überall“!
2. Die Vieldeutigkeit
2.1 Aufgriff der Szene: die Rolle des Gerichtsmalers Titorelli
Der Maler Titorelli eröffnet K. drei Möglichkeiten, sich aus dem Prozeß zu befreien, und bietet ihm seine Hilfe an. Im Gegensatz zum Advokaten Huld bedeutet diese Hilfe nicht, Berichte oder ähnliches zu schreiben, sondern ihn konkret zum Schauplatz, zur wichtigsten Person des Prozesses, dem Richter, zu führen. Titorelli ist also eine Schlüsselfigur in K.’s Prozeß. K. seinerseits vertraut ihm, er fühlt sich in Titorellis Gegenwart freier und nicht mehr überwacht. Ihn überzeugt die Position, die Titorelli im Gericht innehat, ein „Vertrauensmann des Gerichts“. Wir wissen, dass sein Atelier direkt an die Kanzleien anschließt, dass dort also eine ebenso stickige Luft herrscht. Wir wissen auch, dass er als Maler die Befugnis hat, die Richter zu porträtieren. Diese Befugnis erlaubt ihm eine enge und persönliche Beziehung zu den Richtern und räumt ihm die Möglichkeit ein, diese Richter zu beeinflussen. Da Titorelli andererseits nicht an das Gericht gebunden ist, ist er ebenso ein Privatmann. Allein diese Tatsache macht es K. leichter, ihm zu vertrauen, denn er sieht sich einem ebenbürtigen Menschen gegenüber, der sich ihm offen darbietet. Titorelli berichtet K. nun von den drei Möglichkeiten der Freisprechung, die K. allerdings nicht wirklich überzeugen können. Er entdeckt Widersprüche in dem, was Titorelli eben sagte, zu dem, was er noch zu Beginn der Unterhaltung gesagt hatte. Titorelli nimmt diese „Anschuldigung“ verblüffend gelassen auf. Fast scheint es, als hätte er diese Widersprüche bewusst hervor gebracht, um K. auf die richtige Spur zu lenken, nämlich, dass der Prozeß, das Gericht, in sich ein Widerspruch ist; er spielt hier auf die Beeinflussbarkeit der Richter an. So erklärt er K. den Unterschied zwischen dem Gesetz und der Realität am Beispiel der ersten möglichen Freisprechung, der wirklichen Freisprechung. Noch bevor Titorelli näher darauf eingeht, schließt er sie aus: „Unzählbare Processe habe ich in wichtigen Stadien angehört und, soweit sie sichtbar sind, verfolgt, und - ich muß es zugeben - nicht einen einzigen wirklichen Freispruch erlebt.“17 Ob der Angeklagte schuldig oder nicht schuldig ist, spielt also überhaupt keine Rolle. Das einzige, wovon Titorelli weiß, ist die große Beeinflussbarkeit der Richter. Zwar gab es wohl in der Vergangenheit einige wirkliche Freisprüche. Aber Titorelli geht so engagiert darüber hinweg - abschließende Entscheidungen seien nicht veröffentlicht worden, man kann sie glauben oder nicht, er selbst habe schöne Bilder gemalt -, dass sich in K. bald das Bild fest setzt, Legenden hätten keine Bedeutung; darauf zurück zu greifen sei sinnlos. So bittet er Titorelli um die Erläuterung der anderen beiden Möglichkeiten. Doch scheint es ein wenig, als wolle Titorelli hier ein wenig an Zeit hinauszögern. So z.B. als er sieht, dass K. unter der schlechten Luft ein wenig leidet. Dem Aufruf Titorellis jedoch, sich den Rock auszuziehen, folgt K. nur zögernd, da er eigentlich nicht vorgehabt hatte, sehr lange zu bleiben. Angenehmer wäre für ihn das Öffnen eines Fensters gewesen. Hier aber erfährt er, dass dies nicht möglich sei; die einzige Möglichkeit zu lüften, bestünde darin, beide Türen zu öffnen. Auf der Suche nach jener zweiten Türe scheint es einmal, als redeten Titorelli und K. aneinander vorbei: „Er schlug leicht [...] ’[...] Doppelfenster.’“18 Fast scheint es wieder, als rede Titorelli nur, um Zeit zu schinden. Denn in Wirklichkeit interessiert K. das Fenster doch überhaupt nicht. Bleibt die Frage, warum er das tut. K. jedoch drängt auf die Erläuterung der anderen beiden Möglichkeiten. Zunächst spricht er die scheinbare Freisprechung an, die allerdings merklich nicht in seinem Sinne ist. Titorelli möchte K. scheinbar diese Möglichkeit gleich ausreden. Er legt wohl nicht sehr großen Wert darauf, für jemanden, von dem er noch nicht einmal sicher weiß, ob er unschuldig ist, eine Bürgschaft abzulegen. Er bringt auch weitere Negativseiten hervor: mancher Richter möge ihm vielleicht nicht glauben, was mit viel Arbeit für K. verbunden wäre. Dennoch ist die gute Absicht Titorellis erkennbar, K. wirklich helfen zu wollen, da er ihn in einem solchen Falle direkt mit dem Richter bekannt machen müsse und K. die Möglichkeit habe, auf direktem Wege etwas für seine Freisprechung zu tun. Der größte Nachteil ist allerdings ist die Tatsache, dass K. nicht wirklich frei wäre, sondern nur für einen Zeitraum von der Anklage losgelöst. Das hieße also, dass jederzeit das Obere Gericht auf die Akten zurückgreifen und eine erneute Verhaftung veranlassen könnte. Insgesamt ist diese Art der Freisprechung nur eine vage Versprechung. Titorelli, erfreut, dass K. nicht überzeugt ist, erläutert die dritte, die beste Möglichkeit. Er tut dies, indem er von den Vorteilen besonders positiv und von den Nachteilen weniger negativ spricht. Denn zwar müsse der Prozeß immer in Gang gehalten werden, der Angeklagte müsse des öfteren zu Untersuchungen und Verhören gehen, er könne ja aber auch einmal nicht hingehen oder mit dem Gericht einen Termin ausmachen. Die Aufgabe des Helfers liegt bei dieser Möglichkeit darin, in guter persönlicher Beziehung zum Gericht zu bleiben. Zielt Titorelli womöglich auf ein möglichst geringes Maß an Arbeit seinerseits ab? Durch seine Arbeit als Maler bei Gericht steht er sowieso schon in engem Kontakt zu den Richtern. Ein sonderlich großer Aufwand, dies weiterhin zu tun, wäre es also nicht. Ich möchte aber Titorellis Vorhaben, K. helfen zu wollen, nicht anzweifeln. Er ist eine große Hilfe für ihn. Wer sagt denn, dass er, sollte K. sich für die scheinbare Freisprechung entscheiden, nicht mitmachen würde? Er bindet ihn nicht an sich; fast entsteht so etwas wie eine Freundschaft, was man vom Verhältnis zwischen K. und dem Advokaten Huld nicht sagen konnte. Ihm fehlte dort ein sichtbares Vorankommen, die richtigen Aussagen, der richtige Mensch, den er nun in Titorelli scheinbar gefunden hat.
2.2 Der Proceß aus „medizinischer“ Sicht
In dem Buch „Franz Kafka aus Prager Sicht“19 sind 27 Diskussionsbeiträge aufgeführt, die am 27./28. Mai 1963 in Liblice bei einer anläßlich des 80. Geburtstages Kafka gewidmeten Konferenz gehalten wurden. Unter anderem ein Beitrag von Petr Rákos, der über eben das Phänomen der Vieldeutigkeit in Kafkas Werk spricht. Er berichtet von dem Erlebnis, als er „Der Prozeß“ zum ersten Mal las, „die juristische Terminologie durch die medizinische Fachsprache ersetzen zu können.“ Danach könne man also mit Beibehaltung des Titels „Der Prozeß“ einige Wörter durch andere ersetzen, z.B. statt Richter Arzt, statt Schuld Krankheit, statt Verhör Untersuchung, statt Gerichtsdiener Krankenpflegerin, statt Angeklagter Patient, statt Freispruch Heilung usw. Obwohl es ein wenig paradox klingt, könnte man einiges konkret auf diese Bedeutung übertragen, ohne dass der Roman an Sinn und Einstellung verlieren würde. z.B.: „Es gibt drei Möglichkeiten, nämliche die wirkliche Heilung, die scheinbare Heilung und die Verschleppung. Die wirkliche Heilung ist natürlich das Beste, nur habe ich nicht den geringsten Einfluß auf diese Art der Lösung.[...] Eine scheinbare Heilung gibt dem Patienten die Ruhe nicht zurück, denn die Krankheit schwebt auch weiterhin über ihm. [...] Von außen gesehen kann es manchmal den Anschein bekommen, daß alles längst vergessen, die Krankengeschichte verloren und die Heilung eine vollkommene ist, daß der Kranke ebenso gesund ist wie die, denen nie etwas gefehlt hat. [...] Die Verschleppung besteht darin, daß die Krankheit stets im niedrigsten Stadium gehalten wird. [...] Das bringt natürlich gewisse Unannehmlichkeiten für den Patienten mit sich, die man sich aber wiederum nicht zu schlimm vorstellen darf. Ein Röntgenbild beispielsweise ist nur ganz kurz...es handelt sich im Wesen nur darum, daß man, da man Patient ist, von Zeit zu Zeit bei seinem Arzt sich meldet.[...]“ Man kann diese Art von Text beliebig fortsetzen und wird kaum etwas finden, was die Bedeutung des selben streitig machte. Nun fragt man sich, ob es Kafkas Absicht war, eine solche Vieldeutigkeit zu schaffen. Bekannt ist, dass Kafka noch nicht krank war, als er den Roman zu schreiben begann. Ob er sich in die Rolle eines Schwindsüchtigen hineinleben konnte / wollte, ist fraglich. Ich zitiere Rákos: „Die Möglichkeit einer so weitreichenden und dabei sinnvollen Auswechselbarkeit bestätigt mir eher, daß in der grundsätzlichen Situation im Prozeß mehrere Bedeutungen einbezogen sind. Diese Bedeutungen [...] ergänzen sich [...]. Die Bilder des Autors bedeuten - was schon Max Brod erkannte - immer etwas mehr als nur sich selbst, dabei aber immer gleichzeitig wörtlich auch sich selbst.“ So kann man den Begriff „Vieldeutigkeit“ besser durch „Allgemeingültigkeit“ ersetzen. Der Sinn Kafkas Werks ist also keinesfalls wirklich und konkret erkennbar. So schließe ich mit einem Zitat Rákos’: „Wenn der Schwede Harry Järv alle Pseudodeuter Kafkas ablehnt, die behaupten, Kafka habe an nichts Bestimmtes gedacht, muß hinzugefügt werden, daß ‘an nichts Bestimmtes denken’ nicht gleichbedeutend ist mit ‘viele bestimmte Dinge auf einmal denken’.“20
Schlussbemerkung
Kafkas Roman ist aktueller denn je. Er weist Komponenten auf wie sie heute in allen Situationen anzutreffen sind. Kafka entlarvt den Leser als einen denkenden und fühlenden Menschen. Der Tod, das Ziel des Lebens, spielt hierbei die größte Rolle und macht den Menschen zu einem Gefangenen seiner selbst. Kafkas Werk trifft den Geist der Zeit oder wie Bruno Hillebrand es besser auszudrücken wusste: „Das Werk spiegelt in extenso die Situation des denkenden, Grundsatzfragen des Daseins bedenkenden Menschen. Das Buch als Faustschlag auf den illusionsgeladenen Schädel, auf ein träges Hirn, als Axt gegen die innere Verfestigung muß dabei allerdings als ein spezifisches Wirkungsverfahren der Kafkaschen Schreib-Monomanie gesehen werden. Es ist eine literarisch- ästhetische Wirkungsmöglichkeit unter anderen - vielleicht die erkenntniskritisch gravierendste.“21
Bibliographie
Kafka, Franz : Der Proceß. Roman. In der Fassung der Handschrift. Fischer Taschenbuch Verlag. Frankfurt/M. 1994.
Ders.: Tagebücher. Band 2 (1912-1914) & Band 3 (1914-1923). Fischer Taschenbuch Verlag. Frankfurt/M. 1994.
Adorno, Theodor W.: Noten zur Literatur. Suhrkamp Verlag. Frankfurt/M. 1958.
Dietz, Ludwig: Franz Kafka. Realien zur Literatur. 2., erweiterte und verbesserte Auflage. J.B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung. Stuttgart 1990.
Hillebrand, Bruno: Theorie des Romans. Band II. München 1972.
Pasley, Malcolm: Die Schrift ist unveränderlich... Essays zu Kafka. Fischer Taschenbuch Verlag. Frankfurt/M. 1995.
Rákos, Petr u.a.: Franz Kafka aus Prager Sicht. Voltaire Verlag. Verlag der Tschechoslowakischen Akademie der Wissenschaften. 1965.
[...]
1 Franz Kafka: Der Proceß. Roman. In der Fassung der Handschrift. Fischer Taschenbuch Verlag. Frankfurt/M. 1994.
2 Franz Kafka: Der Proce ß. S. 238.
3 Bruno Hillebrand: Theorie des Romans. Band II. München 1972. Seiten 133-144.
4 Franz Kafka: Der Proceß. S. 241.
5 Bruno Hillebrand: Theorie des Romans.
6 Bruno Hillebrand: Theorie des Romans.
7 Franz Kafka: Der Proceß. S. 158.
8 Theodor W. Adorno: Noten zur Literatur. Suhrkamp Verlag. Frankfurt/M. 1958.
9 Franz Kafka: Der Proceß. S. 241.
10 Theodor W. Adorno: Noten zur Literatur.
11 Bruno Hillebrand: Theorie des Romans.
12 Franz Kafka: Der Proceß. S. 241.
13 Theodor W. Adorno: Noten zur Literatur.
14 Bruno Hillebrand: Theorie des Romans.
15 Ebd.
16 Franz Kafka: Der Proceß. S. 241.
17 Franz Kafka: Der Proceß. S. 161f.
18 Franz Kafka: Der Proceß. S. 163.
19 Petr Rákos u.a.: Franz Kafka aus Prager Sicht. Voltaire Verlag. Verlag der Tschechoslowakischen Akademie der Wissenschaften. 1965.
20 Petr Rákos u.a: Franz Kafka aus Prager Sicht.
21 Bruno Hillebrand: Theorie des Romans. S. 144
- Arbeit zitieren
- Martina Quade (Autor:in), 1999, Die Todeserkenntnis und Vieldeutigkeit in Kafkas Roman Der Prozeß, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/107069
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