BVerfGE96,375ff.


Seminararbeit, 2001

14 Seiten, Note: 8 Punkte


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis Seite:

Aufgabenstellung

Inhaltsverzeichnis

Literaturverzeichnis

1. Rekonstruktion der Argumentationsschritte des Gerichts

2. Problematik der Rechtsfortbildung

3. Kritik der Entscheidung aus der Perspektive der Interessenjurisprudenz

4. Definition des „tragenden Grundes“; Kontroverse zwischen Erstem Senat und Zweitem Senat

Literaturverzeichnis

Brecht Bertolt,

Der kaukasische Kreidekreis, Frankfurt am Main 1963

Justiz und Recht-Schriften der Deutschen Richterakademie,

Der Richter und 40 Jahre Grundgesetz, Heidelberg 1991

Koller Peter,

Theorie des Rechts, Eine Einführung,

2. Aufl., Wien;Köln;Weimar: Böhlau 1997

Rüthers Bernd,

Rechtstheorie, München 1999

Teubner Gunther (Hersg.),

Entscheidungsfolgen als Rechtsgründe,

1.Aufl., Baden-Baden 1995

1. Rekonstruktion der Argumentationsschritte des Gerichts

In der Entscheidung des Ersten Senats vom 12. November 1997 des Bundesverfassungsgerichts zur Arzthaftung bei fehlgeschlagener Sterilisation und fehlerhafter genetischer Beratung vor Zeugung eines Kindes argumentiert das Gericht wie folgt:

Die angegriffenen Entscheidungen durch die die Beschwerdeführer mit Schadensersatz und Schmerzensgeld verurteilt worden sind, wahren die Bindung des Richters an Gesetz und Recht, so dass eine Grundrechtsverletzung in diesem Sinne ausscheidet. Weiterhin überschreiten nicht die Auslegungen der zugrunde liegenden Vorschriften des zivilen Vertrags- und Deliktsrechts, die Grenzen richterlicher Entscheidungsbefugnis, die sich aus Art.20 Abs.2 und 3 GG ergeben. Weiterhin führt das Gericht aus, dass die Aufgabe des Richters sich darauf beschränkt, dass er den festgelegten Sinn und Zweck des Gerichts, auch unter gewandelten Bedingungen, diese möglichtst zuverlässig zur Geltung bringen soll. Ebenso im Sinne der Rechtsfortbildung liegt die Entscheidung über neue rechtliche Antworten bei gewandelten Verhältnissen, bei den Fachgerichten. Daher darf das Bundesverfassungsgericht diese Auffassung nicht durch seine eigene ersetzen. Hinsichtlich der vertraglichen Haftung für den Kindesunterhalt wie auch im bezug auf das Schmerzensgeld halten, die angegriffenen Entscheidungen diesem Maßstab stand. Der Bundesgerichtshof misst die vertragliche Haftung am Vertragszweck und beschränkt den Schutzbereich des Vertrages auf die Eheleute. Die Entscheidungen beruhen auf den entwickelten Grundsätzen zur allgemeinen Vertragshaftung. Außerdem erklärt das Gericht, dass durch ein Zuspruch über Schmerzensgeld gegenüber der Frau, keine richterlichen Grenzen der Rechtsfindung überschritten werden. Demnach sind bei den getroffenen Entscheidungen ihr sachlicher Gehalt mit dem Grundgesetz vereinbar.

Die Beschwerdeführer wenden sich dagegen, dass sie für den Unterhalt eines Kindes haften müssen, weil sie bei der Sterilisation ihre vertraglichen Pflichten nicht erfüllt haben. Folglich hätten die Eltern bei einer nicht fehlerhaft durchgeführten Beratung bzw. Behandlung auf ein sonst gewähltes Verhütungsmittel nicht verzichtet und demnach kein behindertes Kind gezeugt und geboren.

Von Verfassungs wegen kann man weder die Unterhaltspflicht der Eltern als Schaden im Sinne des Vertragsrechts noch die mit der Schwangerschaft und Geburt zusammenhängenden Beschwerden als Schaden im Sinne des Deliktsrechts bezeichnen.

Die gestellten Entscheidungen sind nicht zu messen an Art.12 Abs.1 GG. Die zivilrechtlichen Folgen der Schlechterfüllung von Verträgen und die Haftung für Schäden, die aus unerlaubten Handlungen entstehen, treten unabhängig davon ein, ob die Haftungsvorraussetzungen bei Ausübung des Berufs erfüllt werden oder auch nicht. Die Verpflichtungen zum Schadensersatz können höchstens mittelbar Auswirkungen auf die Ausübung der beruflichen Tätigkeit haben, indem sie die Erwartung sorgfältiger Vertragserfüllung unterstreicht und auch auf den Umfang der gebotenen Haftpflichtversicherung auswirkt. Weiterhin erläutert das Gericht, dass als Prüfungsmaßstab für die Auferlegung von Geldleistungspflichten Art.2 Abs.1 GG verbleibt. Das Grundrecht ist nur im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung gewährleistet. Dazu zählen alle Rechtsnormen, die mit dem Grundgesetz vereinbar sind. Wenn bei der Auslegung und Anwendung solcher Normen gegen objektives Verfassungsrecht verstoßen wird, wird dadurch Art.2 Abs.1 GG verletzt. Demnach kritisieren die Beschwerdeführer einen Verstoß gegen Art.1 Abs.1 GG und damit gegen ein tragendes Konstitutionsprinzip und den obersten Grundwert der freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Bei zivilrechtlichen Wertungsfragen, werden diese durch die objektiven Grundsatzentscheidungen beeinflusst, welche im Grundrechtskatalog der Verfassung zum Ausdruck kommen. Von Verfassungs wegen sind demnach die Fachgerichte verpflichtet, bei der Auslegung und Anwendung zivilrechtlicher Vorschriften die Grundrechte als sogenannte Richtlinien anzusehen. Auf die verfassungsrechtlichen Grundentscheidungen zu achten, ist im besonderen bei der Auslegung von Generalklauseln und bei der Rechtsfortbildung. Falls die Gerichte dies übersehen bei der Entscheidung eines konkreten Falles, verletzen sie damit als Träger öffentlicher Gewalt die dadurch betroffene Prozesspartei in ihren Grundrechten. Das Bundesverfassungsgericht stellt in solchen Fällen eine Kontrollkompetenz dar.

Weiterhin erklärt das Gericht, was die Achtung der Menschenwürde im einzelnen erfordert, kann von den jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnissen nicht völlig gelöst werden. Eine Verletzung des Achtungsanspruchs kann nicht nur in der Erniedrigung, Brandmarkung, Verfolgung und Ächtung von Personen, sondern auch in der Kommerzialisierung menschlichen Daseins liegen.

Weiterhin wird erläutert, dass der Bundesgerichtshof in der Schadenfrage, keine Kommerzialisierung darstellt, die das Kind seines Eigenwerts beraubt. Menschen werden nicht zu Objekten, also zu vertretbaren Größen im Rahmen von vertraglichen oder deliktischen Beziehungen herabgewürdigt. Die zivilrechtlichen Vorschriften und ihre Auslegung durch die Rechtsprechung sind auf eine gerechte Lastenverteilung ausgelegt. Demnach haben sie nicht zur Folge, dass Persönlichkeitsbereiche kommerzialisiert werden. Ebenso beruht nicht die personale Anerkennung eines Kindes auf die Übernahme von Unterhaltspflichten durch die Eltern. Unterhaltspflicht und Elternschaft sind getrennt. Das Bürgerliche Gesetzbuch begründet schadensersatzrechtliche Beziehungen zwischen den zum Unterhalt verpflichteten Familienmitgliedern und einem Schädiger, ohne dass darin eine Herabsetzung oder Vergegenständlichung des Unterhaltsberechtigten zum Ausdruck käme. Verfassungsrechtlich ist allein von Belang, dass die vom Bundesgerichtshof angestrebte Lastenverteilung unter Einbeziehung der den Eltern erwachsenen gesetzlichen Unterhaltspflichten nicht gegen Art.1 Abs.1 GG verstößt. Die zum Schadensersatz verurteilten Ärzte haben freiwillig vertragliche Pflichten übernommen, die von der Rechtsordnung nicht missbilligt werden. Wenn es gegen die persönliche Überzeugungen eines Arztes ist, Sterilisationen durchzuführen, hat er die Möglichkeit davon Abstand zu nehmen. Die Schlechterfüllung einer freiwillig übernommen Vertragspflicht kann hierin keine Rechtfertigung finden.

Weiterhin führt das Gericht aus, dass die in den Verfassungsbeschwerden vorgetragenen Argumente, dass das Kind psychische Schäden haben könnte, wenn es von der gewünschten Sterilisation erfährt, berührt nicht den Grundgedanken des Art.1 Abs.1 GG. Ob sich Schäden entwickeln, hängt nicht von der wirtschaftlichen Entlastung der Eltern, sondern von dem Eltern-Kind- Verhältnis nach der Geburt ab. Es kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Ärzte entgegen ihrem ethischen Selbstverständnis nur wegen der drohenden Haftung oder deren Auswirkung auf ihre Berufshaftpflichtversicherung zur Abtreibung raten. Weiterhin führt das Gericht aus, dass es nicht beabsichtigt ist, dass die Eltern wegen der wirtschaftlichen Belastungen durch ein weiteres oder ein behindertes Kind sich gegen das Kind entscheiden, aus finanziellen Beweggründen.

Aus der Sicht der Eltern verwirklicht die hier angegriffene Rechtsprechung vielmehr den notwendigen Schutz gegenüber Gefährdungen, die infolge ärztlicher Beteiligung an Sterilisation oder genetischer Beratung für das Persönlichkeitsrecht der Eltern drohen.

2. Problematik der Rechtsfortbildung

Für den Ersten Senat war es unumgänglich auf die Problematik der Rechtsfortbildung eingehen zu müssen, da die Rechtsfortbildung entweder eine Berichtigung oder auch eine Ergänzung der Rechtsvorschriften sein kann, je nachdem, ob die Entscheidung über deren Wortsinn hinausgeht, ohne ihm zu widersprechen ( praeter legem) , oder mit ihm im Widerspruch steht ( contra legem).

In der Entscheidung des Ersten Senats finden wir mehrfach den Verweis auf die Rechtsfortbildung, denn die Frage nach neu definierten Antworten bei gewandelten Verhältnissen obliegt den jeweiligen Fachgerichten. Einzig und allein zu beachten bei der Rechtsfortbildung ist, dass die jeweiligen Fachgerichte die gesetzgeberische Grundentscheidung respektieren und das sie weiterhin bei der Rechtsfortbildung den anerkannten Methoden der Gesetzesauslegung gefolgt sind.

Die typische Situation in der die Rechtsfortbildung erforderlich ist, ist das Vorliegen einer sogenannten Lücke im Recht. Unter einer sogenannten Lücke im Recht versteht man eine planwidrige Unvollständigkeit im positiven Recht. Demnach kann von einer Lücke gesprochen werden, wenn eine gesetzliche Regelung fehlt, die gemessen an ihrem telelogischen Hintergrund des Rechts oder allgemein anerkannter Rechtsprinzipien als erforderlich erscheint. Folglich ist in den Entscheidungen vom Ersten Senat von einer Lücke im Recht zu sprechen.

Rechtsentscheidungen, die sich nicht auf die Autorität des Gesetzes stützen können, weil sie über den möglichen Wortsinn gesetzlicher Vorschriften hinausgehen, unterliegen einem erhöhten Begründungsbedarf. Solche Entscheidungen gelten nur dann als zulässig, wenn zureichende Gründe ein Abweichen von den bestehenden Vorschriften rechtfertigen1. Genau diesem Maßstab werden die angegriffenen Entscheidungen gerecht; denn auf der einen Seite halten sie hinsichtlich der vertraglichen Haftung für ein Kindesunterhalt dem Maßstab stand und auch ebenso im bezug auf das Schmerzensgeld für die Mutter, wegen der ungewollten Schwangerschaft und Geburt. Bei der Bemessung des Umfangs der Schadensersatzpflicht musste der Bundesgerichtshof rechtsfortbildende Einschränkungen zwangsläufig als erforderlich ansehen, da bei dem vorliegenden Fall das Zivilrecht auf neue Einwirkungs- und Steuerungsmöglichkeiten der Fortpflanzungsmedizin angemessene Antworten finden musste. Demnach waren die getroffenen richterlichen Entscheidungen in ihrem sachlichen Gehalt durch ihre Auslegung und Rechtsfortbildung mit dem Grundgesetz vereinbar.

Gleichermaßen kann man bei der Rechtstheorie von Ronald Dworkin (geb. 1931 in Massachusetts, USA) feststellen, dass das Rechtssystem nicht nur aus Regeln, sondern auch aus Prinzipien und politische Zielsetzungen bestehen sollte. Dworkin belegt durch viele Beispiele, dass Prinzipien im Rahmen des juristischen Entscheidens eine wichtige Rolle spielen, und dass viele Prinzipien, die in bestimmten Einzelfällen relevant wurden, im positiven Recht nicht enthalten waren. Infolgedessen plädiert er dafür, dass Prinzipien gleiche rechtliche Geltung besitzen wie Regeln und dass sie daher immer dann, wenn sie für eine Entscheidung Bedeutung haben, herangezogen werden müssen. Demnach würden Prinzipien ebenso zum Recht gehören wie Regeln2. Dworkin formuliert dies sogar noch etwas extremer, indem er soweit geht und sagt, dass ein Richter, der keine eigenen Prinzipien hat und an diese gebunden ist folglich wohl auch keine anderen Regeln für sich selbst als bindend definieren

kann3. Weiterhin begründet er dieses Argumente indem er ein Beispiel aus der Praxis macht, denn nicht selten werden in den meisten amerikanischen Staaten und auch in England bestehende Regeln verworfen durch die höheren Gerichte. Selbst Regeln, die durch frühere Gerichtsentscheidungen aufgestellt wurden, wie z.B. im Common Law werden in gegebenen Situationen direkt außer Kraft gesetzt und durch neue Entscheidungen oftmals auch ihrem Inhalt nach, wesentlich verändert. Folglich ist zu sagen, auch in Hinsicht auf den Ausgangsfall, dass gesetzliche Regeln Interpretationen und ebenso Neuinterpretationen unterworfen sind. Dworkin schließt hieraus auf die Unhaltbarkeit der Annahme, Richter hätten innerhalb des Rahmens, der durch die positiven Rechtsregeln gesteckt ist, bei der Entscheidung einzelner Fälle freies Ermessen4.

Bei Dworkin lassen sich sehr viele Gemeinsamkeiten zu dem Ausgangsfall erkennen, denn auch in der Entscheidung des Ersten Senats, wurde an mehreren Stellen mit der Rechtsfortbildung argumentiert. Bei der Rechtsfortbildung ist, wie auch in der Entscheidung des Ersten Senats angemerkt, im besonderen Maße auf die verfassungsrechtlichen Grundentscheidungen zu achten. Sollten die Gerichte deren Bedeutung bei einer Entscheidung verletzen, verletzen sie als Träger öffentlicher Gewalt die dadurch betroffene Prozesspartei in ihren Grundrechten. Jedoch sind bei den vorliegenden Entscheidungen keine Auslegungsfehler seitens der Gerichte zu erkennen.

Die Aufgabe der verfassungsgemäßen Rechtsanwendung besteht bei einschneidendem Wandel der Fakten und der Wertmaßstäbe darin, die alten Normen daraufhin zu prüfen, ob sie auf die veränderten Lebenssachverhalte noch passen oder nicht. Haben diese sich grundlegend gewandelt, so fehlt in Wirklichkeit eine Regelung, weil die Gesetzgebung die gewandelten Strukturen nicht kannte und, wären sie erkannt gewesen, anders geregelt hätte5. Aus diesem Grund meinte der Erste Senat, das er auf die Rechtsfortbildung eingehen musste, denn in der vorliegenden Entscheidung kommt zum Ausdruck, dass durch den wissenschaftlich- technischen Fortschritt geschaffene Handlungs- oder Einwirkungsmöglichkeiten der veränderten, neuartigen Bedingungen die Rechtsfortbildung große Bedeutung bekommt.

Richterliche Änderungen der Gesetzes- oder Rechtslage unterliegen einem Abwägungsgebot. Vor jeder richterlichen Normzweckkorrektur ist eine Abwägung der Rechtsänderungsinteressen gegen die Interessen der Rechtssicherheit erforderlich. Es ist davon auszugehen, dass jede richterliche Änderung oder Ablehnung von Gesetzen die Vorhersehbarkeit der Rechtslage für den Rechtsverkehr beeinträchtigt. Für den Betroffenen des konkreten Verfahrens bewirkt sie in der Regel eine unvorhersehbare, für sie rückwirkende Änderung der Rechtslage. Sie gefährdet insoweit das rechtsstaatliche Gebot der Rechtssicherheit, das bei Gesetzen die nachteilige Rückwirkung generell ausschließt, die Stabilitätsinteressen der Rechtsgemeinschaft und besonders die der Betroffenen. Eine Abänderung der Gesetzeslage oder des Richterrechts darf der Richter daher nur vornehmen, wenn dafür schwerwiegende Gründe ( Bedürfnisse des Rechtsverkehrs, Zweckmäßigkeits- und Gerechtigkeitsargumente) vorliegen6. Daher ist in der Entscheidung des Ersten Senats von einem der schwerwiegenden Gründe zu sprechen, nämlich dem Gerechtigkeitsargument.

In der rechtsfortbildenden Entscheidung, wurde nach anerkannten Gerechtigkeitsvorstellungen geurteilt, weiterhin hat diese Entscheidung eine Lücke im Gesetz geschlossen und war frei von Willkür. Dies sind die Grundvoraussetzungen für die Zulässigkeit der Rechtsfortbildung durch den Richter. In der Entscheidung durch den Ersten Senat konnte unmöglich auf den Aspekt der Rechtsfortbildung verzichtet werden, da die Rechtsfortbildung für die Argumentation des Ersten Senats eine tragende Wirkung hatte.

3. Kritik der Entscheidung aus der Perspektive der Interessenjurisprudenz

Die Interessenjurisprudenz, deren maßgebliche Vertreter Philipp Heck,

Heinrich Stoll und Rudolf v. Jhering waren, sieht das Recht als „Interessenschutz“. Es geht ihr um ein Primat der Lebensforschung und Lebenswertung7. Sie stellt also die im Entscheidungsfall zutage tretende Interessenkollision der Beteiligten in den Vordergrund. Es geht der Interessenjurisprudenz also um die Bewältigung der in den konkreten Lebenszusammenhängen zutage tretenden Konfliktentscheidungen. Dabei sind die Vertreter der Interessenjurisprudenz keinem einseitig wertungsfreien Ansatz verpflichtet. Unbeschadet der Betonung der Interessenkollision werden auch gesetzliche Wertungen hervorgehoben, die auch in die konkrete Entscheidung einfließen. Ganz im Gegensatz zur Interessenjurisprudenz steht die vorherige Lehre der Begriffsjurisprudenz, sie beschränkte sich auf die logische Zuordnung der Sachverhalte unter die passenden Rechtsbegriffe.

Folglich wurde die Rechtsordnung als ein geschlossenes System hierarchisch geordneter Rechtsbegriffe gesehen. Entscheidend war ausschließlich die Lehre von der Kausalität der Rechtsbegriffe für die Rechtsnormen. Heck wandte sich gegen die Kausalitätsvorstellung. Er formulierte seine eigene Kausalitätsthese: „ Die Gesetze sind die Resultanten der in jeder Rechtsgemeinschaft einander gegenübertretenden und um Anerkennung ringenden Interessen materieller, nationaler, religiöser und ethischer Richtung. In dieser Erkenntnis besteht der Kern der Interessenjurisprudenz“8. Demnach sind nach Heck die Interessen der Grund der Rechtsgebote. Die Rechtsnormen versteht Heck als normativ verfestigte, verbindlich gewordene Interessenbewertung regelungsbedürftiger Lebensverhältnisse und Interessenkonflikte durch die Gesetzgebung9. Die bloße Interessenbewertung vermag es den Einzelstreit zu entscheiden und im sozialen Leben eine große gestalterische Aufgabe zu übernehmen. Für Heck maßgebend ist, die praktische Rechtswissenschaft und die Einwirkungen der Rechtswissenschaft auf das Leben, also war es für ihn unumgänglich, dass ebenfalls die idealen Interessen bei der Rechtsbildung mit einzubeziehen sind. Logischerweise kam es bei dieser Auslegung der Interessenjurisprudenz häufig zu Missdeutungen und selbstverständlich auch zu Kritik, denn Heck unterschied nicht scharf genug zwischen den real konkurrierenden Interessen und den gesetzlich normierten Werturteilen.

Die Interessenjurisprudenz war der letzte von sechs großen rechtstheoretischen Denkansätzen des 19. Jahrhunderts. Zu nennen sind, die historische Rechtsschule, Begriffsjurisprudenz, marxistische Rechtslehre, gesellschaftliche Rechtswissenschaft Lorenz v. Steins, juristischer Positivismus uns wie bereits genannt die Interessenjurisprudenz.

Ein sehr oft zitiertes Stück ist „Der kaukasische Kreidekreis“ von Bertolt Brecht. Der wichtigste Charakter in diesem Stück ist die volkstümliche, kulinarische Gestalt des Azdak. Azdak ist ursprünglich ein Dorfschreiber. In einer chaotischen Zeit, wird er zufälligerweise zum neuen Richter für zwei Jahre gewählt. Während dieser Zeit revidiert er die Gesetze zugunsten der armen Leute, und schafft etwas, das der Gerechtigkeit nahe steht. In diesem Stück kann man einen sehr großen Bezug zur Interessenjurisprudenz sehen, denn es wird auf die besondere Interessenlage der Beteiligten, in dem Fall der armen Leute, Rücksicht genommen.

Aus der Perspektive der Interessenjurisprudenz kann man eindeutig einige Kritikpunkte bezüglich des Urteils, des BverfGE96, 375ff. erkennen. In der Interessenjurisprudenz war eine nicht genügende Unterscheidung zwischen Interessen und gesetzlich normierten Werturteilen bezogen. Dies hat schlicht zur Konsequenz, dass z.B. geschützte Rechtsgüter, wie Meinungsfreiheit und Mutterschutz unter den selben Begriff fallen wie, die miteinander konkurrierenden Interessen, wie z.B. Landwirte, Ärzte und Gewerkschaften. Der Begriff „Interesse“, von dem die Interessenjurisprudenz ausgeht, wird von Heck in einem umfassenden Sinn verstanden. Heck sah eine Beschränkung nur auf die privaten Interessen als ein schweres Missverständnis an10. Diese Auffassung der Interessenjurisprudenz steht im Gegensatz zu der unseren Rechtsauffassung und demnach auch selbstverständlicherweise im Gegensatz zu dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts. Zu kritisieren von Seiten der Interessenjurisprudenz wäre folglich im besonderen die Beschränkung auf die privaten Interessen.

Für die Interessenjurisprudenz ist die Interessenlage entscheidend und nicht nur die Übereinstimmung mit dem Recht, der den Maßstab für die Richtigkeit einer Norm trägt. Weiterhin hatte der Richter nicht die Aufgabe die Wertungen des Gesetzgebers zu prüfen oder zu korrigieren. Dies wäre ein weiterer Kritikpunkt an dem Urteil des Bundesverfassungsgericht, denn für die Interessenjurisprudenz gab es keine anerkannte gesetzgeberische Rechtsfortbildung. Bei der Rechtsfortbildung darf der Richter sich allerdings nicht dem Gesetzgeber festgelegten Sinn und Zweck des Gesetzes entziehen. Seine Aufgabe beschränkt sich darauf, diesen unter gewandelten Bedingungen möglichst zuverlässig zur Geltung zu bringen. Handelt es sich bei den veränderten Bedingungen um neuartige, durch den wissenschaftlich- technischen Fortschritt geschaffene Handlungs- oder Einwirkungsmöglichkeiten, so wird die Rechtsfindung in der Regel in einer Ausweitung des Anwendungsfeldes einer bereits geläufigen Auslegung bestehen. Da auch die Rechtsfortbildung das einfache Recht betrifft, obliegt die Beantwortung der Frage, ob und in welchem Umfang gewandelte Verhältnisse neue rechtliche Antworten erfordern, ebenfalls den Fachgerichten11. Also wäre eine Rechtsfortbildung aufgrund von gewandelten Verhältnissen aus der Sicht der Interessenjurisprudenz nicht möglich. Der Richter kann sich zwar in dem vorliegenden Urteil der Rechtsfortbildung bedienen, doch darf dennoch nicht von den Gesetzen als solches losgelöst sein. In seiner Argumentation muss er den festgelegten Sinn des Gesetzes berücksichtigen.

Eine fehlende richterliche Eigenbewertung durch das Bundverfassungsgericht, könnte seitens der Interessenjurisprudenz ein weiterer Kritikpunkt sein. In der Interessenjurisprudenz hatte der Richter zwar nicht die Möglichkeit einer sogenannten Rechtsfortbildung in der Form, wie wir es kennen; jedoch hatte der Richter bei der Interessenjurisprudenz die Option in fraglichen Situation, sogenannten Gesetzeslücken diese durch Eigenwertung auszufüllen. Bei dieser Eigenwertung machte sich der Richter buchstäblich zum „Gehilfen des Gesetzgebers“12.

Heck erkannte, dass der Richter im „Lückengebiet zur wertenden Gebotsbildung“ und soweit gesetzliche Werturteile völlig fehlen, auch zur richterlichen „Eigenwertung“ berufen und auch verpflichtet sind13.

Abschließend ist zu bemerken, dass eine Rechtsprechung wohl kaum aus einer konservativen Zuordnung der Sachverhalte unter die passenden Rechtsbegriffe bestehen darf. Eine kontinuierliche Weiterentwicklung der Rechtsauslegung, gemessen an den wirtschaftlichen Fortschritten ist die Aufgabe der Juristen.

4. Definition des „tragenden Grundes“; Kontroverse zwischen Erstem und Zweitem Senat

In dem Beschluss des Zweiten Senats vom 22.Oktober 1997 werden „tragende Gründe“ bei Entscheidungen als tragend definiert, wenn sie für das Entscheidungsergebnis essentiell wichtig sind. Mit anderen Worten, wenn ohne diesen Grund der Sinn der Entscheidung verfälscht wird, die Entscheidung also nicht mehr nachvollziehbar ist, spricht man von einem „tragenden Grund“, also ein Grund der das Entscheidungsergebnis trägt.

Demnach sind „tragende Gründe“, die Entscheidungsgründe, die für den Inhalt der Entscheidung, der maßgebliche Grund ist. Sie sind notwendiger Bestandteil des Urteils.

Demnach ist bei der Aussage einer Entscheidung des anderen Senats, ob ein „tragender Grund“ vorliegt, von dem objektiven Gehalt in der niedergelegten Begründung auszugehen. Folglich ist eine Rechtsauffassung dann tragend, wenn sie grundsätzlich und einen allgemeinen Geltungsanspruch erhebt. Es kommt nicht darauf an, ob dem jeweiligen Richter eine bestimmte Auffassung als wichtig erscheint, sondern es kommt darauf an, ob sie erkennbar im Begründungszusammenhang für die jeweilige Entscheidung erheblich ist. Wann eine Rechtsauffassung, entscheidungstragende Bedeutung hat, richtet sich folglich nach der in der Entscheidung zum Ausdruck gekommenen Begründung des Senats, der die Entscheidung getroffen hat; also ist dessen Lösungsweg maßgebend. Nicht „tragende Gründe“ sind Rechtsausführungen, die außerhalb des Begründungszusammenhangs zwischen der Rechtsregel und der konkreter Entscheidung stehen.

Das Bundesverfassungsgericht musste über die Verfassungsbeschwerden der Ärzte entscheiden, die zur Zahlung von Schadensersatz an von ihnen behandelte Eltern verurteilt worden waren. Mit ihren Verfassungsbeschwerden rügten die verurteilten Ärzte die Annahme der Zivilgerichte, bei dem durch ein unerwünschtes Kind verursachten Unterhaltsaufwand handele es sich um einen Schaden im rechtlichen Sinne. Diese Annahme sei mit der Menschenwürdegarantie nicht zu vereinbaren.

Bei den beiden Beschlüssen des Ersten Senats und Zweiten Senats kann man unmissverständlich eine gegenteilige Interpretation des „tragenden Grundes“ feststellen. Auf der einen Seite wird bei der Argumentation des Ersten Senat erläutert, dass die Rechtsprechung über die Unterhaltspflicht für ein Kind, keine Kommerzialisierung darstellt und, dass das Kind auch nicht seinem Eigenwert beraubt wird. Weiterhin erklärt der Erste Senat, dass auch das Haftungsgefüge des Zivilrechts auch dort nicht die Menschenwürde berührt, wenn es bei einem Schadensersatzanspruch unmittelbar an die Existenz eines Menschen, in dem Fall des Kindes, anknüpft. Nicht das Kind wird hierbei als Sache herabgewürdigt. Die Rechtsprechung ist einzig und allein in diesem Fall auf eine gerechte Lastenverteilung ausgerichtet. Zwar stimmt der Erste Senat dem Zweiten Senat zu, dass auf Grund von Art.1 Abs.1 GG ein Kind niemals als Schaden zu sehen ist, doch können die mit der Geburt des Kindes verbundenen Unterhaltsbelastungen für die Eltern im strafrechtlichen Sinne sehr wohl als Schaden ausgelegt werden. Der Erste Senat unterscheidet strikt zwischen der Geburt des Kindes und der damit verbundenen finanziellen Belastungen für die Eltern. Weiterhin geht der Erste Senat soweit, dass er weitere Beispiele aus anderen Bereichen nennt. Unter anderem wird an dieser Stelle der Ausgleichsgedanke beim Produkt-, Umwelt- und Verkehrshaftungsgesetzen genannt. Denn laut des Ersten Senats ist auch die Einbeziehung des nasciturus in die Unfallversicherung keine Entwürdigung des Kindes, wenn die Unterhaltsverpflichteten eine Teilentlastung erfahren würden. Der Zweite Senat hingegen führt diese Trennung nicht durch und spricht lediglich davon, dass die Unterhaltspflicht für ein Kind nie als Schaden anzusehen ist. Diese Ansicht des Zweiten Senats muss laut des Ersten Senats nicht notwendigerweise einheitlich für Verträge über Schwangerschaftsabbrüche und für rechtmäßige Verträge über genetische Beratung und Sterilisation sein.

Laut §14 BVerfGG (Zuständigkeit der Senate) ist der Zweite Senat zuständig für das Normenkontrollverfahren. Diese sogenannten Normenkontrollanträge betreffen Kernvorschriften des Beratungsmodells. Der Zweite Senat hat geprüft, ob ein nach sozialer Beratung vorgenommener Schwangerschaftsabbruch ungeachtet seiner Rechtswidrigkeit straffrei sein darf. Der Zweite Senat ist zu dem Ergebnis gekommen, dass von einer Strafdrohung nur in bestimmten Fällen abgesehen werden darf, wenn verfassungsrechtlich ausreichende Schutzmaßnahmen anderer Art getroffen sind und das grundsätzliche Verbot des Schwangerschaftsabbruchs auf andere Weise in der Rechtsordnung unterhalb der Verfassung zum Ausdruck gebracht wird. Jedoch hat der Zweite Senat daraus gefolgert, dass es möglich ist zu einem Schutzkonzept überzugehen. Dieses Schutzkonzept ist gedacht, für die Frühphase der Schwangerschaft und hat den Sinn bei Schwangerschaftskonflikten im Sinne des ungeborenen Lebens durch eventuelle Beratungen, das Leben des Embryo zu schützen. Durch die eventuelle Wirksamkeit dieses Schutzkonzepts, bzw. dieser Beratung, wird auf eine Strafdrohung verzichtet.

Nach §16 BVerfGG obliegt es dem Ersten Senat das Plenum einzuberufen, da lediglich der Senat, dem das Verfahren anhängt das Plenum einberufen kann. Über ein anhängiges Verfahren befinden nur die hierzu nach Gesetz und Geschäftsverteilung berufenen Richter. Das gilt auch für die Frage, ob eine Aussage in einer Entscheidung des anderen Senats zu den tragenden Gründen gehört14.

Der Erste Senat lehnt jedoch ab, sich mit der Stellungnahme des Zweiten Senats förmlich zu befassen.

Der Zweite Senat ist der Ansicht, falls der Erste Senat durch seine abweichende Rechtsauffassung, im bezug auf die Haftung für fehlerhafte ärztliche Beratung und fehlergeschlagener Sterilisation, bei der Entscheidung, ob eine Entscheidung tragende Bedeutung hat, dass Plenum nach §16 BVerfGG befinden lassen müsste.

[...]


1 Koller, Theorie des Rechts, S.230.

2Koller, Theorie des Rechts, S.174.

3Koller, Theorie des Rechts, S.175.

4Koller, Theorie des Rechts, S.175.

5 Rüthers, Rechtstheorie, S.525.

6Rüthers, Rechtstheorie, S.528.

7 Rüthers, Rechtstheorie, S.305.

8Rüthers, Rechtstheorie, S.306.

9 Rüthers, Rechtstheorie, S.307.

10Rühers, Rechtstheorie, S.308.

11 BVerfGE 96,394ff.

12Rüthers, Rechtstheorie, S.307.

13 Rüthers, Rechtstheorie, S.307.

14 BVerfGG 96,403.

Ende der Leseprobe aus 14 Seiten

Details

Titel
BVerfGE96,375ff.
Hochschule
Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main
Veranstaltung
Rechtstheorie
Note
8 Punkte
Autor
Jahr
2001
Seiten
14
Katalognummer
V107158
ISBN (eBook)
9783640054336
Dateigröße
413 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
BVerfGE96, Rechtstheorie
Arbeit zitieren
T. Tourney (Autor:in), 2001, BVerfGE96,375ff., München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/107158

Kommentare

  • Noch keine Kommentare.
Blick ins Buch
Titel: BVerfGE96,375ff.



Ihre Arbeit hochladen

Ihre Hausarbeit / Abschlussarbeit:

- Publikation als eBook und Buch
- Hohes Honorar auf die Verkäufe
- Für Sie komplett kostenlos – mit ISBN
- Es dauert nur 5 Minuten
- Jede Arbeit findet Leser

Kostenlos Autor werden