Inter-System-Beziehungen der Publizistik zu anderen gesellschaftlichen Funktionssystemen


Hausarbeit (Hauptseminar), 1999

27 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

I. EINLEITUNG:

II. PUBLIZISTIK ALS SYSTEM:

III. FUNKTIONALE DIFFERENZIERUNG, SYSTEMDIFFERENZIERUNG:
1. CHARAKTERISTIKA FUNKTIONAL DIFFERENZIERTER GESELLSCHAFTEN:
2. UMSTELLUNG DER DIFFERENZIERUNGSFORM:
3. PUBLIZISTIKENTWICKLUNG, BINNENDIFFERENZIERUNG:

IV. INTERSYSTEMBEZIEHUNGEN DER PUBLIZISTIK:
1. ZUR BEDEUTUNG VON SELBSTREFERENZ UND AUTOPOIESE:
2. LEISTUNGSBEZIEHUNGEN:
3. RESONANZ:
4. INTERVENTION UND KONTROLLE:

V. SCHLUß:

VI. LITERATUR:

„ Zeitungen, besser Sagen der Zeit, so wie man Sagen der Vorzeit hat. (...) Zeitungen sind ö ffentliche Bl ä tter, worin die neuesten Begebenheiten so erz ä hlt werden, wie es sich f ü r Zeit und Umst ä nde des Orts, wo sie gedruckt werden, am besten schickt. (...) “

Georg Christoph Lichtenberg

Inter-System-Beziehungen zwischen Publizistik und anderen ge- sellschaftlichen Funktionssystemen

I. Einleitung:

„ Soziales Handeln wird, soll es sinnvoll sein, stets mit direkter oder indirekter Kommunikation verbunden. Damit ist Kommunikation als ein grundlegender sozialer Tatbe- stand zu verstehen, d.h. er ist intern wie extern jedem sozialen System eigen. Dar ü ber hinaus geh ö rt es zum spezi- fischen Zweck aller Systeme, (...) mit ihrer Umwelt zu kommunizieren. “

(Manfred Rühl: Systemdenken und Kommunikationswissenschaft in: Publizistik, 14.Jg., 2/1969, S.195)

Die Notwendigkeit von Kommunikation, von Sinnvermittlung letztlich, bestand für Systeme bereits, bevor es den Systembegriff und den damit implizierten theoretischen Überbau durch die Systemtheorie gab. Zeitlos ist der Zwang zu Konfliktlösung, Konsensaushandlung und Steuerung in einem prinzipiell unbegrenzten Ereignisraum bei mehr als einem Akteur.

In der Aussage Rühls aus der „Vor-Luhmann-Zeit“ klingt bereits an, um welch grundlegenden Sachverhalt es bei Kommunikation im Zusammenhang mit Systemen geht: um das „Fundament“, ja den Zweck von Sozialsystemen überhaupt! Dazu zählt auch und gerade die Kommunikation mit der Umwelt, genauer gesagt mit Systemen in der Umwelt und davon soll auch diese Arbeit handeln, wenn von „Intersystembeziehungen“ die Rede ist.

Dabei erscheint es sinnvoll , zunächst zu klären, was Publizis- tik als System ist und ausmacht. Die Fragen von Entstehung, Umwelt, Grenzen sind unter anderem zu erörtern. Danach soll auf die funktionale Differenzierung eingegangen werden, um sich dann den eigentlichen Intersystembeziehungen zu widmen. Grundlage der systemtheoretischen Betrachtung der Publizistik soll hierbei der Ansatz von Marcinkowski sein.

II. Publizistik als System:

Bevor die Publizistik als System betrachtet werden kann, einige kurze Ausführungen zum Systembegriff im allgemeinen. In der Umgangsprache begegnet man dem Systembegriff recht häufig, diese Allgegenwärtigkeit weist zugleich aber eine große Unspezifität auf. Der Fremdwörterduden bietet als Übersetzung „ Zusammenstellung, Prinzip, Ordnung, Plan “ an, was wohl am e- hesten jenem Alltagsverständnis entspricht. Zusätzlich wird jedoch auch auf den Gefügecharakter verwiesen, auf „ (...) eine Menge von Elementen, zwischen denen bestimmte Beziehungen be stehen (...) “ (Duden, 1982, S.745).

Eine Bestimmung, die schon etwas tiefer schürft, jedoch zu weit gefaßt erscheint, um den Systembegriff in sozialwissenschhaftlichem Kontext zu erfassen.

Das „Lexikon zur Soziologie“ (dass., 1988, S.764) füllt mit Einträgen zum Stichwort System sieben Seiten, ein besonderes Augenmerk muß sich also auf bestimmte Formen von Systemen richten, um den Begriff hinreichend zu klären.

Sozialsysteme sind die Kategorie, um die es hier und im Zusam- menhang mit Publizistik geht. Eine mögliche Definition liefert Willke, wenn er vorschlägt, als System einen ganzheitlichen Zu- sammenhang von Teilen zu bezeichnen, deren Beziehungen unter- einander intensiver und produktiver sind, als ihre Beziehungen zu anderen Elementen (Willke, 1993, S.282). Er verweist damit schon auf den Grundtatbestand, daß es wo es Systeme gibt, auch so etwas wie Nicht-Systeme geben muß; etwas, das anders ist. Die Besonderheit sozialer Systeme liegt nun darin, nicht ding- haft-räumlich zu sein, sondern symbolisch-sinnhaft. Somit kann man sagen, ein soziales System ist ein Sinnzusammenhang von aufeinander verweisenden sozialen Handlungen, die sich von ei- ner Umwelt abgrenzen (Kneer/Nassehi, 1997, S.46).

Dadurch, daß der Sinn eine Orientierung des Handelns ermög- licht, vollbringt er eine wichtige Selektionsleistung: Sinnlo- ses wird von Sinnvollem geschieden. Die andere wichtige Leis- tung ist die der Differenzierung zwischen Innen und Außen, zu- gehörig und nicht-zugehörig, womit sich das System als „Sinn- provinz“ begrenzt und konstituiert. Sinn als Steuerungskriteri- um begrenzt und ordnet, ist mithin eine Ordnungsform der Welt, eine Verarbeitungsform von Weltkomplexität, die Grenzen schafft (Willke, 1993, S.43; Kneer/Nassehi, 1997, S.80).

Demzufolge ist die Systemgrenze neben der Unterscheidungsfunktion zugehörig/nicht-zugehörig, zunächst die Markierung eines Komplexitätsgefälles, denn die Umwelt ist stets komplexer als das System (Kneer/Nassehi, 1997, S.41).

Die Aussage „ Der Sinn von Grenzen liegt in der Begrenzung von Sinn. “ (Willke, 1993, S.44), deutet darauf hin, daß es sich bei den Systemgrenzen in erster Linie um prozedurale Selektionsmechanismen handelt, die eine erste Reduktion leisten und so durch Stabilisierung der bestehenden Innen-/Außen-Differenz der System-Umwelt-Relation das System erhalten. Diese Reduktion von Komplexität durch Systemgrenzen führt zwangsläufig dazu, daß, gemessen an den jeweils spezifischen Selektionskriterien, nur bestimmte Umwelten systemrelevant sind.

Für die Publizistik als gesellschaftliches Teilsystem auf Mak- ro-Ebene läßt sich Erreichbarkeit als theoretisches Abgren- zungskriterium ausmachen. Diese Erreichbarkeit leistet das The- menrepertoire. Themen ordnen die Ereignishaftigkeit der Welt zu überschaubaren Erwartungskomplexen (Ronneberger/Rühl, 1992, S.130).

Diese koordinierende Selektion begründet gleichzeitig das Prin- zip operativer Geschlossenheit, beruhend auf Selbstreferenz innerhalb des durch die Systemgrenzen eingeschlossenen Bereichs (Willke, 1993, S.63).

Selektionsmechanismus ist dabei der binäre Code des sozialen Systems. Gemeint ist eine strikte, zweiwertige Unterscheidung, wobei die Alternativen einander komplementär sind und Drittes ausschließen (Kneer/Nassehi, 1997, S.132). Diese binären Codes sind nicht Teil des Systems oder seiner Grenze, sie sind die eigentlichen Konstituenten eines Teilsystems als soziales Sys- tem (dies., ebd.).

„ In bezug auf seinen Code operiert das System als geschlossenes System, (...) indem jede Wertung (...) immer nur auf den je- weils entgegengesetzten Wert desselben Codes und nie auf ande- re, externe Werte verweist. “ (Luhmann, zit.n. Kneer/Nassehi, 1997, S.133).

Für die Publizistik als soziales System identifiziert Marcin- kowski den binären Code öffentlich/nicht-öffentlich (ders., 1993, S.147). Dieser Code, zusammengenommen mit der über Themen begrenzten (= relevanten) Umwelt und einem an diese Themen und ihre Aufbereitung und Darbietung (= Beitrag) gebundenen Publi- kum, konstituiert Publizität. Publizität ist das symbolisch ge- neralisierte Kommunikationsmedium des Sozialsystems Publizis- tik, Marcinkowski nennt es die „Währung“ des Systems (ders., ebd.), Willke spricht von „Innenskeletten“ der Systeme (Willke, 1993, S.282).

Die Umwelt, genauer die System-Umwelt, ist nun schon in ver- schiedenen Zusammenhängen erwähnt worden, ohne dabei selbst nä- her umrissen zu werden. Grundsätzlich kann gesagt werden, daß Umwelt jeweils das ist, was nicht zu einem bestimmten System gehört (Willke, 1993, S.283), also Um-welt schlicht als die Welt um ein Etwas herum. Daß diese jeweils spezifisch ist, meint der Relevanzbegriff, denn nicht alles außerhalb eines Systems ist für dieses auch von Bedeutung (ders., ebd. S.58).

Jedoch ist der Umweltbegriff dabei nicht dinglich-räumlich auf- zufassen, sondern vielmehr als ein Zustand anzusehen.

Natürlich realisiert sich publizistische Tätigkeit in und auf dieser Welt, hat somit auch die Publizistik eine physikalische Umwelt. In bezug auf die Funktionsweise sozialer Systeme innerhalb des Theorieansatzes ist dies jedoch nebensächlich. Entscheidend ist hierbei vielmehr, daß die Umwelt keine operationfähige Einheit ist, somit das System nicht beeinflussen kann (Marcinkowski, 1993, S.134), dies ist nur anderen Systemen in der Umwelt möglich, doch dazu später.

Die Umwelt ist zunächst nur Stoff: Information, die der Selektion harrt, Themen und Beiträge, für die sich keine Aufmerksamkeit einfangen läßt, die kein Publikum in Kontakt bringen (ders., ebd., S.134, S.147/148).

Die System-Umwelt-Beziehung ist also eine informatorische des Beobachtens und Wahrnehmens, die von der Beziehung zu anderen Systemen in der Umwelt klar zu trennen ist.

Wichtig erscheint die Tatsache, daß jedes soziale System sich mindestens zwei verschiedenen Umwelten gegenüber sieht (Willke, 1993, S.60). Das liegt daran, daß die Mitglieder eines sozialen Systems als Personen zu dessen Umwelt gehören und nur in be- stimmter Hinsicht dem System selbst zugehörig sind (ders., ebd., S.59).

Diese besondere Zugehörigkeit zu einem System liegt für die Publizistik etwa in Rollen, wie der des Journalisten oder der des Publikums, aber auch in Aufmerksamkeit. Die von und durch Mitglieder eines Systems gebildete Umwelt nennt Willke „Innen- welt“, womit die Relationen des Systems mit seinen Mitgliedern bezeichnet werden (Willke, 1993, S.59). Marcinkowski meint den- selben Sachverhalt, wenn von der „inneren Umwelt“ spricht und in diese Sphäre das Publikum des Journalismus verortet (Marcin- kowski, 1993, S.78).

„Außenwelt“ umfaßt demnach die externen Relationen des Systems, also alle Input- und Output-Beziehungen, die sich nicht auf die

Mitglieder des Systems beziehen (Willke, 1993, S.61). Hierbei sind drei Dimensionen zu unterscheiden:

„ Erstens die Relationen zu anderen (Teil-)Systemen eines umfassenden Gesamtsystems (horizontale Au ß enrelationen); zweitens die Beziehungen zum umfassenden Gesamtsystem (vertikale Au ß en relationen); und drittens die Relationen zu anderen Systemen, mit denen das fokale System in einem sekund ä ren systemischen Gesamtkontext steht (laterale Relationen). “

(ders., ebd.)

Vor dem Hintergrund dieser Aussage tut sich nun eine Welt vol- ler Systeme und Teilsysteme auf, die Beziehungen zu- und mit- einander unterhalten. Doch zunächst soll dieses Differenzie- rungsphänomen eingehender betrachtet werden, da es die Voraus- setzung für zwischensystemische Interaktionen erst schafft.

III. Funktionale Differenzierung, Systemdifferenzierung:

1. Charakteristika funktional differenzierter Gesellschaften:

„ Das dominante Paradigma sozialer Differenzierung wird heute von der Systemtheorie repr ä sentiert, (...) “

(Mayntz, 1988, S.11).

Luhmann unterscheidet drei Typen sozialer Systeme, denen sich auch Ebenen steigender Komplexität zuweisen lassen. Auf Mikroebene sind dies Interaktionen, die auf die Präsenz und Kopräsenz von Personen angewiesen sind.

Als Organisationen werden Sozialsysteme auf der Mesoebene bezeichnet, die durch Mitgliedschaften gekennzeichnet sind und sich über Entscheidungstechniken reproduzieren.

Auf der Makroebene findet sich schließlich Gesellschaft als um- fassendstes Sozialsystem, welches sowohl Interaktion, als auch Organisation in sich vereinigt (Kneer/Nassehi, 1997, S.111). Gesellschaft ist für Luhmann „ die Gesamtheit aller erwartbaren Kommunikationen “ (zit. n. dies., ebd.), also ein hyperkomplexes Potential von aneinander anschließenden Kommunikationen, oder Verflechtungen, wie Marcinkowski meint (Marcinkowski, 1993, S.136).

Die klassische Vorstellung von Differenzierung geht von einer Aufgliederung eines Ganzen in verschiedene Teile aus, was auch als Dekompositionsparadigma bezeichnet wird (Mayntz, 1988, S.14).

Als ursächlich für diesen Aufgliederungsvorgang sieht Luhmann die dadurch gegebene Möglichkeit, komplexere Systeme in einer komplexeren Welt zu stabilisieren (Willke, 1993, S.248). Der Komplexitätsbegriff bezeichnet den Umstand, daß es für eine be- stimmte Situation mehr als eine Alternative gibt. Das System steht unter Entscheidungszwang, es muß selegieren. Diesen Sach- verhalt der Einschränkung zulässiger Ereignisse auf ein bestimmtes Möglichkeitsintervall, meint der Kontingenzbegriff, ohne hier darauf näher eingehen zu können.

Jedoch sind durchaus unterschiedliche Grade von Komplexität auszumachen, die im System folglich unterschiedliche Bewältigungskapazitäten erfordern (Kneer/Nassehi, 1997, S.112).

Plastischer wird der Sachverhalt, wenn man den traditionellen Begriff der Arbeitsteilung auf den Differenzierungsprozeß über- trägt. Arbeitsteilung heißt in seiner einfachsten Form, dem Wortsinn nach: die Arbeit wird geteilt - nicht jeder macht al- les. Das gilt nicht nur für Arbeit, sondern für Funktionszusam- menhänge ganz allgemein. Hinsichtlich der funktionalen Bedeu- tung für Gesellschaften stellen diese Spezialisierungsprozesse eine leistungssteigernde evolutionäre Errungenschaft dar

(Mayntz, 1988, S.15).

Mayntz vermerkt, daß der Schlüsselbegriff der Differenzierung einen Bedeutungswandel hin zu Aus-Differenzierung vollzogen hat, womit weniger die Betrachtung des Ganzen, als vielmehr die Analyse einzelner Teile und somit Austauschrelationen im Vor- dergrund stehen. Sie sieht daher die Frage nach der Erfüllung zentraler Bestandsvoraussetzungen von Gesellschaften als er- kenntnisleitend für die Systemtheorie an (Mayntz, 1988, S.15).

Als primäre Differenzierung bezeichnet Luhmann diejenige Form der Differenzierung, die auf der bereits erwähnten Makroebene der Gesellschaft, für das Gesamtsystem charakteristisch ist (Kneer/Nassehi, 1997, S.114). Diese primäre oder dominante, weil die Strukturen beeinflussende Differenzierungsform, ist für moderne Gesellschaften die funfktionale Differenzierung. Funktion bedeutet zunächst allgemein, die Konsequenz eines so- zialen Sachverhalts. In systemtheoretischem Kontext und ange- lehnt an den mathematischen Begriffsgebrauch, ist unter Funkti- on eine Beziehung gemeint, die ein soziales (Teil-)System zum Gesamtsystem unterhält (Lexikon zur Soziologie, 1988, S.249). Es ist also die Bezüglichkeit auf das Ganze, was die Teile funktional differenzierter Gesellschaften ausmacht.

Um sich der funktionalen Differenzierung und über sie wiederum der Publizistik vor dem Hintergrund von Intersystembeziehungen anzunähern, wird nun auf die gesellschaftliche Evolution der Differenzierungsform und die einhergehende Entstehung der Publizistik eingegangen.

2. Umstellung der Differenzierungsform:

Unter dem Aspekt der Systemkapazität für Komplexitätsreduktion, unterscheidet Luhmann drei evolutionäre Stufen einer dominanten gesellschaftlichen Differenzierungsform (Willke, 1993, S.248. Kneer/Nassehi, 1997, S.122).

Die einfachste Stufe nennt er dabei segment ä re Differenzierung und versteht darunter ein in gleiche Teile differenziertes Ge- sellschaftssystem, wie es für archaische Gesellschaften typisch ist (Kneer/Nassehi, 1997, S.122). Die Grenzen der Teilsysteme einer segmentär differenzierten Gesellschaft bestehen in kon- kreten Handlungssituationen, die auf die Anwesenheit von Perso- nen angewiesen sind. Die Folge ist eine geringe Arbeitsteilung.

„ (...) die Variationsbreite des Bereichs des M ö glichen ist schon dadurch eingeschr ä nkt, da ß es durch Kopr ä senz und Koloka- lit ä t die kreative Kraft der Interaktion nicht geben kann (...) da jede kreative Interaktion sofort Gefahr l ä uf, den Struktur- rahmen der gesamten Gesellschaft zu bedrohen. “ (Kneer/Nassehi, 1997, S.123)

Der Komlexitätsgrad eines solchen Gebildes ist demnach recht niedrig, es bestehen kaum Variations- oder Selektionsmöglich- keiten. Da es an funktionaler Differenzierung fehlt, sind die anfallenden Systemoperationen zeitlich abfolgend organisiert, was langwierig ist und Problembewältigung erschwert (dies., ebd., S.124).

Erste Rollendifferenzierungen, wie etwa Geschlechterrollen und an sie geknüpfte Erwartungen, die sich in Arbeitsteilung nie- derschlagen, erhöhen langfristig die Komplexität archaischer Gesellschaften. Wächst der Komplexitätsdruck, so daß ungleiche

Sachverhalte nicht mehr in der gleichen Zeit zu bewältigen sind, drängt sich der Gesellschaft eine neue Differenzierungsform auf (Kneer/Nassehi, 1997, S.125).

Diese zweite Stufe nennt Luhmann stratifikatorische Differen zierung. Das entscheidende Einteilungsprinzip sind hier ungleichartige und ungleichrangige Teile. Hierarchische Beziehungen sind kennzeichnend für das Verhältnis der Teilsysteme untereinander. Die Leitdifferenz besteht in der Unterscheidung zwischen oben und unten (Kneer/Nassehi, 1997, S.126). Als Prototyp können höfische Gesellschaften angeführt werden, deren strikte Standesgrenzen ihre Kohäsion in einer religiös fundierten, also „gottgewollten“ Ordnung fanden.

„ Die Komplexit ä tsschranken dieses Differenzierungstyps liegen in der Notwendigkeit der Hierarchisierung der Ungleichheit. “

(Luhmann zit.n. Kneer/Nassehi, 1997, S.128)

Grob vereinfachend gesagt ist es das allmähliche Zerbrechen der religiösen Herrschaftslegitimation, die den Übergang zu dem nächstkomplexeren Differenzierungstyp bewirkt. Temporalstruktu- ren werden umgebaut, Zukunft und Welt als gestaltbar und verän- derbar begriffen (Blöbaum, 1994, S:270). Das Entstehen einer Differenz zwischen Religion und Politik an der Schwelle der Neuzeit bedingt eine Reflexion der Politik auf sich selbst, die zu Selbstreferenz anstelle von Fremdreferenz führt. Es ist also nicht nur die bloße Zunahme von Komplexität, die den Übergang zu einem neuen Differenzierungstyp bedingt, sondern zusätzlich deren neue Handhabung im Sinne eines Zwanges aus sich selbst heraus (Kneer/Nassehi, 1997, S.130).

Dieser neue, nunmehr funktionale Differenzierungstyp, hat sich bis spätestens zur Mitte des 19. Jahrhunderts etabliert (dies., ebd., S.131) und ist gekennzeichnet durch Teilsystembildungen, als gleichzeitige innere Ausdifferenzierungen der Gesellschaft.

„ Systemdifferenzierung ist mit anderen Worten eine Wiederholung der Ausdifferenzierung im Innern von Systemen. “ (Marcinkowski, 1993, S.78)

Es sind im wesentlichen Entkoppelungsprozesse mit der Heraus- bildung jeweils spezifischer Codes, die eine Autonomisierung der verschiedenen gesellschaftlichen Teilsysteme zur Folge ha- ben. Wichtig ist, daß die Teilsysteme nicht mehr durch eine allen gemeinsame Grundsymbolik integriert werden können

(Kneer/Nassehi, 1997, S.131). Die Ausbildung monokontexturaler Strukturen über spezifische Codes bedingen eine geschlossene Operationsweise der Teilsysteme, die diese Integration verhin- dert.

Damit ist die offen-geschlossene Systemkonzeption etabliert, deren Umweltbeziehungen in Kategorien der Autonomie zu beschreiben sind, bei gleichzeitiger operativer Geschlossenheit (Marcinkowski, 1993, S.134).

Eine weitere bedeutsame Unmöglichkeit besteht für die Teilsys- teme in ihrer gegenseitigen Nicht-Substituierbarkeit

(Kneer/Nassehi, 1997, S.131. Marcinkowski, 1993, S.134). „ Da ß ein Teilsystem f ü r eine bestimmte Art von Handeln in der Ge- sellschaft prim ä re Zust ä ndigkeit besitzt, geh ö rt zwar schon zur Minimaldefinition des Begriffs, aber es gibt deutliche Unter- schiede im Grad der Monopolisierung (...) “ (Mayntz, 1988, S.22).

Wichtig ist, wie weit es gelingt, die Exklusivität der Zustän- digkeit für einen bestimmten Bereich durchzusetzen. Eine gewis- se Indifferenz kann hier jedoch bestehen bleiben, beispielswei- se im Bereich „Erziehung“, wie bei Mayntz angedeutet (dies., ebd., S.22). Über die exklusive Zuständigkeit der Erziehung von Kindern läßt sich eben trefflich streiten. Ein unstreitiges Beispiel von Nicht-Zuständigkeit nennt Marcinkowski, wenn er sagt: „ Die Publizistik kann eben keine kollektiv bindenden Ent- scheidungen f ä llen. “ (Marcinkowski, 1993, S.135), diese Aufgabe käme unserem Verständnis nach nur dem Politischen System oder allenfalls noch dem Rechtssystem zu.

Als exemplarische Reihe funktionaler Teilsysteme identifiziert Blöbaum Wirtschaft, Politik, Wissenschaft, Recht, Erziehung, Sport, Literatur und Journalismus (Blöbaum, 1994, S.80). Die zugeschriebene Funktion des letzteren sei dabei, Themen zur öffentlichen Kommunikation her- und bereitzustellen (Rühl, zit.n. Blöbaum, 1994, S.80).

„ Man sieht jetzt deutlich, da ß die Funktionssysteme sich nicht nur ü ber eigene Kriterien des Richtigen (...) ausdifferenzie- ren, sondern da ß dies prim ä r ü ber bin ä re Codes geschieht. “

(Luhmann zit.n. Kneer/Nassehi, 1997, S.132)

Erst gesellschaftliche Teilsysteme, die diese Stufe des Ausdif- ferenzierungsprozesses erreicht haben, werden von den Gesell- schaftsmitgliedern selbst als eigenständige und recht problem- los abgrenzbare Systeme wahrgenommen (Mayntz, 1988, S.23).

Das zentrale Spezifikum der funktionalen Differenzierung ist die sinnhafte Spezialisierung (dies., ebd., S.19). Diese be- steht in Verengung des Wahrnehmungshorizonts durch codemäßige Selektion. Zum anderen durch Intensivierung, da eine Funktions- erbringung für das Gesamtsystem nun exklusiv und damit anstelle und stellvertretend für alle anderen Teile geleistet wird.

„ Funktionale Spezialisierung meint nicht weniger, als den voll- st ä ndigen Abbau aller multifunktionalen Redundanzen (...) “

(Marcinkowski, 1993, S.134/135).

Das Zusammenwirken, die Beziehungen von verschiedenen Funktionssystemen bei vielen gesellschaftlichen Problemlagen ist somit nicht trotz, sondern gerade wegen der funktionalen Differenzierung unverzichtbar (Marcinkowski, 1993, S.134).

„ The master trend of differentiation identified the replacement of multifunctional institutions and roles by more specialized units as one of the most theoretically and empirically signifi- cant aspects of modern social change. “ (Colomy, zit.n. Blöbaum, 1994, S.78)

Dieses Zusammenwirken und die Herstellung des Bezuges zum Ganzen ist die Primärfunktion von Publizistik durch Ermöglichung der Selbst- und Fremdbeobachtung der gesellschaftlichen Teilsysteme (ders., ebd., S.148).

3. Publizistikentwicklung, Binnendifferenzierung:

Der Begriff der Binnendifferenzierung bezieht sich auf die Wie- derholung eines Differenzierungsvorgangs im Innern eines (Teil- )Systems, welches selbst erst durch Differenzierungsprozesse der Gesamtgesellschaft entstanden ist. Binnendifferenzierung ist somit Subsystembildung oder anders ausgedrückt, die Bre- chung gesellschaftlicher Differenzierung auf einem geringeren Komplexitätsniveau, denn sie findet innerhalb eines Systems statt, das seinerseits bereits eine Insel geminderter Komplexi- tät darstellt. Es geht also um jene Mesoebene, auf der die schon skizzierten Organisationen angesiedelt sind (sieh II.1)). Gleichzeitig gewinnt das System dadurch an Komplexität und er- hält größere Kapazitäten für die Verarbeitung von Umweltkomple- xität.

Die Frage der Publizistikentwicklung ist die Frage nach dem wann und wie des Ausdifferenzierungsprozesses dieses Funktionssystems aus der Gesellschaft. Binnendifferenzierung und Publizistikentwicklung sind aufs Engste miteinander verwoben, weshalb sie hier gemeinsam behandelt werden.

„ Es gibt keinen Konsens dar ü ber, mit welchem Datum oder welchen Daten der Anfang von Journalismus zu fixieren ist. “ (Blöbaum, 1994, S.86)

Da es hier um das Kriterium der Ausbildung von Publizistik als gesllschaftlichem Funktionssystem geht, kann jedenfalls gesagt werden, daß es des Entwicklungsstadiums einer funktional differenzierten Gesellschaft bedarf, wodurch der zeitliche Rahmen ungefähr einzugrenzen ist (sieh II. 2)).

Unabdingbar für den Teilsystemcharakter sind für Blöbaum vier Strukturmerkmale:

Entstehung einer Berufsrolle; Entstehung einer Publikumsrolle unter Einbeziehung großer Teile der Bevölkerung; Entstehung spezifisch journalistischer Organisationsformen und Entstehung spezifisch journalistischer Kommunikationsformen (Blöbaum, 1994, S.87).

Es lassen sich grob zwei Phasen ausmachen, von denen die erste als eigentliche Systembildungsphase der Ausdifferenzierung von Publizistik zu einem gesellschaftlichen Teilbereich aufgefaßt werden kann (ders., ebd., S.88). Blöbaum spricht von „Take-Off“ des Journalismus und weist darauf hin, daß dies als Prozeß und nicht als Zeitpunkt aufzufassen ist (ders., ebd.). Daher ordnet er diesen von der zweiten Hälfte des 18. bis zur ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein.

Marcinkowski sieht darin im wesentlichen „ die gesellschaftliche Etablierung und Expansion des Prinzips Ö ffentlichkeit “ und da- mit gleichzusetzen die Code-Entstehung „geheim/öffentlich“ (Marcinkowski, 1993, S.147). Er geht dabei vom 18. Jahrhundert aus.

Die zweite Phase der Publizistikentwicklung ist beschreibbar als Binnendifferenzierung durch Subsystembildung und damit Verselbständigung des Systems (Blöbaum, 1994, S.88). Die oben genannten Strukturmerkmale prägen sich aus, wobei als wichtigstes Charakteristikum festzuhalten ist, daß die Erbringer publizistischer Leistung als journalistische Organisationen formal strukturiert sind, wohingegen die Leistungsabnehmer, ihre Publika nur Erwartungsstrukturen aufweisen, jedoch keine formale Organisation (Marcinkowski, 1993, S.88).

Auf weitere Dimensionen interner Strukturierung des publizistischen Systems kann hier ebensowenig eingegangen werden, wie auf die Kommunikation innerhalb der Publizistik - die Komplexität des Themas erfordert eine (Sinn-)Begrenzung auf die Beziehungen zu anderen Teilsystemen, nachdem nun holzschnittartig umrissen wurde, was der Gegenstand ist.

IV. Intersystembeziehungen der Publizistik:

Als Verdichtung der bisher gewonnenen Zusammenhänge kann festgestellt werden:

Die exklusive Primärfunktion von Publizistik - im Sinne eines Ausschlusses aller anderer Funktionssysteme - besteht in der Vermittlung von Informationen in einer Gesellschaft, in der an- gesichts verdichteter Kommunikation der Bedarf an Vermittlungs- leistung insbesondere zwischen Funktionssystemen ständig steigt. „ Diese Funktion nimmt kein anderes soziales System wahr. “ (Blöbaum, 1994, S.261)

1. Zur Bedeutung von Selbstreferenz und Autopoiese:

Die Begriffe der Selbstreferenz und Autopoiese zur Kennzeich- nung des publizistischen Systems sind etwas irreführend in be- zug auf Inter-System-Beziehungen, unterstellen sie doch auf den ersten Blick nicht zwingend die Notwendigkeit von Kontakten. Jedoch versteht die offen-geschlossene Systemkonzeption dies nicht als Gegensatz: Die Publizistik kommuniziert öffentlich und dennoch autopoietisch. Sie re-produziert sich zirkulär in und durch Öffentlichkeit. Das Neue entsteht durch ständiges Um- bauen von Altbekanntem, Bewahrtem (Rühl, 1999, S.62). Die Ent- scheidungen der Publizistik sind Publikationsentscheidungen, die dem Code öffentlich/nicht-öffentlich oder aktuell/nicht- aktuell gehorchen. Selbstreferentiell sind diese Entscheidun- gen, weil sie auf Entscheidungen von Vorperioden beruhen, ein Rückgriff auf das soziale Gedächtnis des Systems darstellen.

Die autopoietische Komponente liegt in der Selbsterhaltung durch Reproduktion der Elemente des Systems aus sich selbst. Damit sind Umweltkontakte nicht mehr Vorraussetzung bestandserhaltender Reproduktion, vielmehr ist die Selbstreferentialität die „ (...) vorgelagerte Voraussetzung f ü r grenz ü berschrei tende Interaktion. “ (Marcinkowski, 1993, S.134)

Rühl beschreibt Publizieren daher treffend als „ (...) sinnhis- torisches Publizistik/Gesellschaft-Verh ä ltnis(...) “ (Rühl, 1999, S.63). Dieses Verhältnis zur Gesellschaft ist Umweltkontakt, der in Kategorien der Autonomie, bzw. partieller Autonomie zu beschreiben ist (Marcinkowski, 1993, S.134).

„ Ein autonomes System ist mithin ein System, das auf der Grund- lage autopoietischer Selbststeuerung spezifische, durch seine leitenden Selektionskriterien und seinen Operationsmodus vorgezeichnete Umweltbeziehungen unterh ä lt. “ (Willke, zit.n. Marcinkowski, 1993, S.134)

2. Leistungsbeziehungen:

Kennzeichnend ist für moderne Gesellschaften ein permanentes Spannungsverhältnis zwischen partieller Autonomie der Teilsys- teme einerseits und notwendigem Zusammenspiel andererseits (Marcinkowski, 1993, S.135). Als ursächlich hierfür können das Prinzip funktionaler Differenzierung gelten (sieh II. 1)), so- wie das entgegengesetzte Prinzip operativer Geschlossenheit (sieh I. und II. 2)). Einhergehend weitet sich für alle Funkti- onssysteme der Wahrnehmungshorizont auf den gesamten Ereignis- raum der Gesellschaft aus (ders., ebd., S.135). Blöbaum wird deutlicher, wenn er von „Inklusion“ spricht und darunter die „ Einbeziehung der Gesamtbev ö lkerung in die Vollz ü ge eines Funk- tionssystems. “ versteht (Blöbaum, 1994, S.308). Diese Inklusi- onsprozesse als Strukturkonsequenz der Spezialisierung führen dazu, daß die Funktionssysteme den gesamten Raum möglicher Er- eignisse kontinuierlich auf spezifische Relevanzen hin beobach- ten müssen (Marcinkowski, 1993, S.135).

Dabei besteht für die anderen Funktionssysteme die Leistung der Publizistik darin, daß sie Journalismus benutzen, um sich selbst und ihre Umwelt zu beobachten (Blöbaum, 1994, S.307). Für die Publizistik ihrerseits entsteht eine Leistung durch die anderen Funktionssysteme dadurch, ständig Ereignisse zu produ- zieren (ders., ebd., S.307). Die Ereignishaftigkeit der Welt ist schließlich an konkrete Bezüge und Sachverhalte geknüpft. Journalismus entwickelt also zu einigen Funktionssystemen der Gesellschaft besonders intensive Leistungsbeziehungen. Deutlich ausgeprägt sind diese dort, wo eine ausgesprochen starke Publi- kumsorientierung vorherrscht. Zu nennen wären hierbei Politik, Wirtschaft, Kultur und Sport. Alle diese Teilsysteme sind hochgradig informationsabhängig und für ihre Vollzüge auf große Publika angewiesen. Deshalb bringen sie der Publizistik größte Aufmerksamkeit entgegen (ders., ebd., S.307). Auf der Subsys- temebene der verschiedenen Arbeitsorganisationen kommt diese Aufmerksamkeit, die der Publizistik entgegen gebracht wird, in „geronnener“ Form von Pressestellen zum Ausdruck. Sie sollen Öffentlichkeit „herstellen“ - gemeint ist, die Wahrscheinlich- keit zu erhöhen, Aufmerksamkeit geschenkt (!) zu bekommen. Auf der Seite der journalistischen Leistungserbringer stehen diesen die Redaktionen und Ressorts gegenüber (Marcinkowski, 1993, S.99).

3. Resonanz:

Ausgehend von der Tatsache, daß Systeme überhaupt nur durch Kommunikationen störbar sind (ders., ebd., S.136) kann man da- von ausgehen, daß moderne Gesellschaften, die durch ihren hohen Spezialisierungsgrad sehr stark verflochten sind, auch zahlrei- che Irritationen infolge von Kommunikationen erfahren. Im Zu- sammenhang mit „Öffentlichkeit“ spricht Blöbaum hier von der „ Verdichtung von Kommunikation. “ (Blöbaum, 1994, S.122) Das Er- gebnis ist die hochwahrscheinliche Störanfälligkeit, die „Ge- fahr“ von Intersystemkommunikation (Marcinkowski, 1993, S.136). Diese Störanfälligkeit von Funktionssystemen nennt Luhmann die Gefahr von „ zuviel Resonanz “ (Luhmann, zit.n. Marcinkowski, 1993, S.136).

Resonanz ist ein Begriff aus der Physik, der soviel wie „ Mit- schwingen eines schwingungsf ä higen Systems, “ zum Teil aber auch „ Verst ä ndnis, Wirkung “ bedeutet (Fremdwörterduden, 1982, S.666).

Für die Publizistik ist der Schlüssel zu Resonanz im Bereich des Publikums zu suchen. Resonanz ist „ (...) der Umschaltpunkt zwischen systeminterner und grenz ü berschreitender Kommunikation

(...) “ (Marcinkowski, 1993, S.136). Dieser Umschaltpunkt ist in der inneren Umwelt (sieh II. 3)) der Publizistik zu verorten.

Die Ableitung von Information für andere Funktionsrollen als der des Publikums, kann zu Anschlußkommunikation führen. Diese muß nicht unmittelbar folgen, es reicht aus, daß sie aus der Rezeption publizistischer Kommunikation vorbereitet wird.

Es bestehen also zwei Möglichkeiten der Anschlußkommunikation: Entweder es bleibt bei systeminterner Kommunikation, dann bleibt ein Publikum weiter im Kontakt, d.h. es wird weitergelesen-, gehört- oder gesehen. Oder es kommt durch Vornahme einer je anders codierten Kommunikation zum Grenzübertritt und damit zu einer Intersystembeziehung (ders., ebd, S.137).

Genauer gesagt: Entgegen dem Alltagssprachgebrauch findet eine publizistische Darbietung nur und nur dann „Resonanz“ bei einem in Kontakt befindlichen Publikum, wenn es gerade nicht „nur“ weiter medial konsumiert, sondern aufgrund eben dieser Rezepti- on eine Kommunikation in einem anderen funktionalen Teilsystem tätigt.

Eine anders codierte Kommunikation eines anderen Funktionssystems wäre etwa, wenn man in bezug auf das Wirtschaftssystem eine Zahlung vornimmt oder nicht vornimmt (Morel, 1995, S.207/208), also z.B. etwas kauft (oder nicht kauft). Und dies als selektive (also individuelle) informatorische Konsequenz einer publizistischen Beobachtung von Wirtschaft.

„ Damit liegt die Quelle von Resonanz, (...) im System, die m ö gliche Anschlu ß kommunikation, wenn sie denn zustande kommt, aber jenseits der Grenzen. “ (Marcinkowski, 1993, S.137)

4. Intervention und Kontrolle:

Wenn die These von der Entgrenzung der Publizistik stimmt, also die öffentliche Kommunikation expandiert (ders., ebd., S.137), so bleibt es nicht aus, daß die publizistisch verursachten Ir- ritationen in anderen Funktionssystemen anwachsen. Die Publi- zistik ist somit für seine Umweltsysteme nicht nur Basis ihrer Gesellschafts- und Selbstbeobachtung, sondern auch Hauptstör- quelle. Als Beispiel dafür sei das politische System genannt, das, wie einige Autoren feststellen, geradezu „medienbestimmt“ sei und nahezu jede publizistische Kommunikation als relevant liest (ders., ebd., S.138).

Sachverhalte dieser Art nennt Luhmann strukturelle Kopplung (früher: Interpenetration, Anm. d.V.). Es handelt sich um Ab- hängigkeitsverhältnisse von Systemen, die aufeinander angewie- sen sind und zugleich füreinander Umwelt bleiben (Kneer/Nassehi, 1997, S.63).

„ Es ist (...) eine der ‘ strukturellen Eigent ü mlichkeiten ’ sogenannter moderner Kommunikationsgesellschaften, da ß Publizistik st ä ndig zuviel oder zuwenig Resonanz in den Systemen seiner Umwelt auszul ö sen vermag. “ (Marcinkowski, 1993, S.141)

Im Falle der Publizistik bedeutet dies, daß es zu regelrechten Interventionen in andere Funktionssysteme kommt. Durch die Ermöglichung der Selbst- und der Fremdbeobachtung konstruiert die Publizistik vorselegierte, künstliche Realitäten (ders., ebd.) und gerade darin besteht, wie Willke es nennt, die „Kunst der Intervention“: fremde Systeme mit einer anderen Weltsicht, als der normalerweise durch sie wahrgenommenen zu konfrontieren (Willke, zit.n. Marcinkowski, 1993, S.141).

„ Brauchbare Intervention konfrontiert das intervenierte System mit der Kontingenz seiner ‘ normalen ’ Weltsicht. “ (Willke, zit.n. ders., ebd.) Das Ergebnis dieses gezielten „Sich-beeinflussen-lassens“ mag eine Handlungsalternative darstellen

- auch ohne daß Steuerungsabsichten intentional waren - gleich- wohl ist es mehr, als eine übliche Irritation.

Umgekehrt ist natürlich auch die Publizistik durch andere Funktionssysteme störbar. Dies dürfte heute hauptsächlich durch das Wirtschaftssystem geschehen. In diese Richtung zielt etwa der ARD-Vorsitzende Peter Voß, wenn er von „ Gef ä hrdung des demokratischen Diskurses durch die Kommerzialisierung. “ spricht (Me- dia-Perspektiven, 6/99, S.319).

Theis verweist mit Blick auf die Organisationen-Ebene und unter Bezugnahme auf Giddens darauf, daß Handeln ein aktives Eingrei- fen in den Strom der Ereignisse darstellt und immer gewisser Autonomiespielräume bedarf (Theis, 1992, S.27). Dies gilt ins- besondere für Inter-Organisations-Beziehungen des publizisti- schen Systems zu anderen auf der Ebene interpersoneller Kontak- te, sprich: zwischen Pressesprechern und Medienjournalisten.

Aus der Organisationsperspektive heraus stellt Öffentlichkeits- arbeit daher entgegen traditionellem Verständnis, in erster Li- nie ein Mittel der Umweltkontrolle dar (dies. ebd.). Das „Herstellen“ von Öffentlichkeit erscheint im Lichte einer systemtheoretischen Publizistikbetrachtung ohnehin als ein fruchtloses Unterfangen, kann Aufmerksamkeit doch nicht einfach „produziert“ werden wie ein sonstiges knappes Gut, sondern be- darf der publikumsseitigen Gunst des Schenkens! Allenfalls sind für Öffentlichkeitsarbeit durch Übernahme journalistischer Ar- beitsroutinen und Darbietungsweisen, Wahrscheinlichkeiten der Aufmerksamkeitsgewinnung zu erhöhen. Somit ist der Kontrollge- sichtspunkt von Public Relations hochplausibel! Theis betont, daß sich der Kontrollaspekt lediglich darauf bezieht, daß Orga- nisationen mit ihren relevanten Umwelten in Interaktion eintre- ten. Diese Umweltrelationen sind nicht gegeben, sondern ständig im Aufbau oder in Reproduktion begriffen (dies., ebd., S.30).

„ Der prinzipiell ungewisse Verlauf der Medienberichterstattung und ihrer Effekte (...) macht Massenmedien selbst zu einer be sonders wichtigen Ungewi ß heitsquelle in der Organisationsum welt. “ (dies., ebd.)

Das darauf begründete Machtgefälle zu Lasten der Organisatio- nen, trachten diese auszugleichen, indem sie Strategien des Publizistik-Umgangs entwickeln, die geeignet sind, das Verhält- nis zum Umweltsegment Publizistik zu stabilisieren. Theis nennt das „ Kontingenzmanagement. “ (dies., ebd.) Die Etablierung von Pressesprechern, Pressestellen, ja Informationsministerien, al- so das „auf Dauer stellen“ einer Beziehung fällt in diese Kate- gorie.

Sie erfüllen eine Rolle, die man nur als janusköpfig bezeichnen kann: einerseits die bereits kritisierte „Herstellung von Öffentlichkeit“ also der Versuch, andere, eben publizistische Einheiten, dazu zu bringen, Aussagen über sie zu treffen, andererseits gerade nichts zu berichten, wenn dies aus Organisationsperspektive unerwünscht ist; gleichzeitige Selbstdarstellung und Nicht-Darstellung, ein „ sophisticated mechanism for mana ging secrecy “ (dies., ebd., S.31).

Gerade die Lebensmittelskandale der Gegenwart (britisches Rind- fleisch, belgisches Cola, Anm. d.V.) verdeutlichen diesen Ver- such der Wahrung „organisationaler Privatheit“ für Unternehmen des Wirtschaftssystems: „ Coca-Cola schweigt sich in PR-Debakel. Dilettantische Krisen-PR des Konzerns nach dem Vergiftungsskan- dal steigert das Image-Debakel. “ (w&v-news, 25/1999). Schlag- zeilen dieser Art machen deutlich, wie sehr der Umstand von Ge- heimhaltung Ähnlichkeit mit dem Code „geheim/öffentlich“ des publizistischen Systems hat und wie riskant ein solches Unter- fangen aufgrund der Anfälligkeit der Publizistik dafür allemal ist. Zumal wie hier bei Konzernen der Foodbranche praktisch bei jedem publizistischen Publikum in Kontakt Resonanz in Form von „Nicht-Kaufen“ ausgelöst werden kann, da die Verbraucherrolle prinzipiell für jeden Rezipienten gegeben ist.

V. Schluß:

Niklas Luhmann hat einmal auf die Frage nach einem besseren Zu- stand der Gesellschaft gesagt: „ Ich finde, da ß unsere Gesell- 23 schaft mehr positive und mehr negative Eigenschaften hat als jede fr ü here Gesellschaft zuvor. Es ist also heute zugleich besser und schlechter. “ (Luhmann, zit.n.Kneer/Nassehi, 1997, S.11)

Man könnte ergänzen, daß wir von allem mehr haben, weil sich mehr ereignet. Doch führt das nicht vielleicht in die Irre? Hat sich früher weniger ereignet oder hat man früher nur von weniger Ereignissen gewußt?

Wenn also heute entweder mehr geschieht oder wir nur mehr In- formation von einem an sich konstanten Strom von Ereignissen haben: was nützt uns das? Was der Gesellschaft? Oder welche Nützlichkeit haben die Lieferanten all dessen, was sich für uns zur Welt zusammenpuzzelt? Ist die Fülle der Darbietungen und Informationen, die die Ereignishaftigkeit dieser „Welt da drau- ßen“ abbilden sollen, nicht nur medialer „Redundanzen-Salat“?

Fragen über Fragen, die keineswegs sofort eindeutig mit „Ja“ oder „Nein“ zu beantworten sind, tun sich auf, wenn man die Me- dienlandschaft und das Geschehen in ihr kritisch betrachtet und diskutiert.

Schnell wird klar - einfach ist das Thema nicht: sprechen wir über das Mediensystem, also die Publizistik, so geht es ans „Eingemachte“. Das heißt an eine Sphäre, die aufs Engste mit uns selbst, unserer Sozialität verknüpft ist. Es fällt bei sol- chen Betrachtungen schwer, den Blick nur auf Publizistik zu fo- kussieren - man braucht ein Weitwinkelobjektiv. Und so kommt man zwangsläufig auf andere Bereiche, wie Recht, Politik, Wirt- schaft, Geschichte, ja sogar Privates zu sprechen.

Man erkennt intuitiv, das alles irgendwie zusammenhängt, ohne jedoch so etwas wie „die große Linie“ dahinter zu sehen. In einem Alltagsdiskurs über Publizistik kommt wohl auch viel Plattheit vor, in publizistischen Erzeugnissen aber auch! Und das führt zu der Erkenntnis, das Publizistik all das verarbei- tet, was sie vorfindet - „garbage in, garbage out!“ Gilt also doch das Zitat von Prutz aus dem Jahr 1845, von Jour- nalismus als dem Selbstgespräch der Zeit über sich selbst? Ich meine, es ist ein recht modernes Verständnis von Publizistik und zumindest kein Widerspruch zu den hier erörterten system- theoretischen Zugängen.

Mit Hilfe der Theorie sozialer Systeme und hier besonders des publizistikbezogenen Ansatzes von Marcinkowski gelingt es, die alltäglich wahrgenommene, etwas unscharfe „Verwobenheit“ zu durchleuchten, zu erhellen, in einen logischen Zusammenhang zu stellen und damit zu klären. Diese theoretische Fundierung weist dabei gleichzeitig eine Allgemeinheit und Offenheit auf, die es wohl erlauben wird, Weltwandel und Erkenntnisfortschritt in einer Theorieversion für das vor uns liegende Jahrhundert einzubauen. Und gerade in dieser Universalität liegt meiner Meinung nach die Güte dieser Zugangsweise, jenseits meßbarer empirisch quantifizierbarer Zahlenklauberei begründet.

Was nun die Intersystembeziehungen angeht, so sollten diese im Rahmen dieser Arbeit vom theoretischen Verständis her beschrie- ben werden. Hochspannend ist nun die Frage nach dem Transfer dieser Modellvorstellung in die Praxis. Und hierbei wäre nicht nur Journalismus zu thematisieren - eine Integrierung der gro- ßen, öffentlich-kommunikativen Bereiche Journalismus-Werbung- Public Relations, scheint mir eine interessante Herausforderung zu sein. In diesem Rahmen kann das allerdings nicht geleistet werden.

VI. Literatur:

Blöbaum, Bernd: Journalismus als soziales System. Ausdifferen- zierung und Verselbständigung, Opladen: Westdeutscher Verlag 1994.

Dudenredaktion (Hg): Duden. Das Fremdwörterbuch, Mannheim, Wien, Zürich: Dudenverlag 1982.

Kneer, Georg/Nassehi, Armin: Niklas Luhmanns Theorie sozialer Systeme. Eine Einführung, 3.Aufl., München: UTB 1997.

Lexikon zur Soziologie (Hg) Werner Fuchs u.a., 2.Aufl., Opladen: Westdeutscher Verlag 1988.

Lichtenberg, Georg Christoph: Aphorismen, Stuttgart: Reclam 1994.

Marcinkowski, Frank: Publizistik als autopoietisches System, Opladen: Westdeutscher Verlag 1993.

Mayntz, Renate u.a.(Hg): Differenzierung und Verselbständigung. Zur Entwicklung gesellschaftlicher Teilsysteme, Frankfurt, New York: Campus 1988.

Morel, Julius u.a.(Hg): Soziologische Theorie. Abriß der Ansät- ze ihrer Hauptvertreter, 4.Aufl., München, Wien: Oldenbourg 1995.

Ronneberger, Franz/Rühl, Manfred: Theorie der Public Relations. Ein Entwurf, Opladen: Westdeutscher Verlag 1992.

Rühl, Manfred: Systemdenken und Kommunikationswissenschaft in: Publizistik, 14.Jg., 2/1969.

Rühl, Manfred: Publizieren und Publizistik - kommunikationswis-

senschaftlich beobachtet in: Publizistik, 44.Jg., 1/1999.

Theis, Anna Maria: Inter-Organisations-Beziehungen im Mediensystem. Public Relations aus organisationssoziologischer Sichtweise, in: Publizistik, 37.Jg., 1/1992.

Voß, Peter in: Media-Perspektiven, 6/1999. w & v, werben und verkaufen, news: „Coca-Cola schweigt sich in PR-Debakel“, Nr.25, 25.6.1999.

Willke, Helmut: Systemtheorie. Eine Einführung in die Grundprobleme einer Theorie sozialer Systeme, 4.Aufl., Stuttgart, Jena: UTB 1993.

Ende der Leseprobe aus 27 Seiten

Details

Titel
Inter-System-Beziehungen der Publizistik zu anderen gesellschaftlichen Funktionssystemen
Hochschule
Otto-Friedrich-Universität Bamberg
Veranstaltung
Hauptseminar
Note
1,7
Autor
Jahr
1999
Seiten
27
Katalognummer
V107387
ISBN (eBook)
9783640056606
Dateigröße
562 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Die Arbeit hat neue, offen-geschlossene Systemkonzeptionen der Publizistik und ihre Kontakte mit anderen gesellschaftlichen Systemen zum Thema.
Schlagworte
Inter-System-Beziehungen, Publizistik, Funktionssystemen, Hauptseminar
Arbeit zitieren
Oliver Dehn (Autor:in), 1999, Inter-System-Beziehungen der Publizistik zu anderen gesellschaftlichen Funktionssystemen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/107387

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