1. Das Problem der Wahrnehmung
Von Zeit zu Zeit sind wir verwirrt ob der sonderbaren Dinge, die uns unsere Sinne scheinheilig offerieren. Ein eben noch musterhaft gerader Stab tritt diese Eigenschaft mit dem Eintauchen in Wasser ab, um sich damit das Prädikat `gebrochen` einzuhandeln, welches wir ihm wieder entziehen, sobald wir den Stab unter Wasser befühlen oder ihn aus dem Wasser herausziehen. Vor uns auf dem Tisch liegt eine kreisrunde Münze, doch wir kommen nicht umhin, ihren Umriß, den wir mit dem Finger auf sie gerichtet in die Luft zeichnen, elliptisch zu nennen. Die Wasserstelle, Ziel unseres jämmerlichen Dahin- kriechens durch die Wüste, entpuppt sich als Fata Morgana und jede weitere Anstrengung als vollkommen überflüssig.
Es ist ganz gleich, ob solcherlei Merkwürdigkeiten eine ignorierbare Nebensache darstellen oder aber den Anfangspunkt einer hitzigen akademischen Debatte: Die Ertrinkende findet sich erschöpft und zusammen mit einem unversehrten Rettungsinstrument am Ufer wieder, der Ladenbesitzer verweigert uns nicht voller Mißtrauen angesichts der Münze den Tausch mit einem seiner liebevoll handgearbeiteten Keramikteller, und eine überanstrengte Wüstenreisende kann ihrem ebenso überanstrengten Gefährten nicht so ohne weiteres klammheimlichen Wasserdiebstahl vorwerfen.
Es bedarf offensichtlich keiner intellektuellen Überbegabung oder Unbesonnenheit, um den Kern der Sache zu benennen: Das eine ist halt die Wirklichkeit, und das andere ist nur Schein, wobei materielle Dinge und tatsächliche Qualitäten die wirkliche Welt aus- machen, Täuschungen bzw. bloße Erscheinungen dagegen die scheinbare Welt. Der Stab ist in Wirklichkeit gerade und scheint nur gebrochen zu sein; die Münze sieht tatsächlich elliptisch aus, ist aber eigentlich rund; und die scheinbare Fata Morgana existiert im Grunde überhaupt nicht.
Damit haben wir natürlich noch kein Wort darüber verloren, was es überhaupt ist, das wir da jedesmal wahrnehmen. Denn die Objekte unserer Wahrnehmung können keine materiellen Dinge sein, da wir sie ja nicht mit ihren ´echten´ Eigenschaften wahrnehmen. Trotzdem nehmen wir irgendetwas wahr. Dieses irgendetwas nennt sich `Sinnesdatum`, wurde ad hoc eingeführt und treibt beständig, ausgesät in lebensbejahenden Geistern, die bewundernswertesten Blüten. Den Nährboden hierfür geben Fragen ab, die unweigerlich auf die Behauptung von Sinnesdaten folgen, und der Philosoph Alfred Ayer hat eine Rei- he von ihnen aufgezählt: Wenn Sinnesdaten eine Funktion der materiellen Dinge sind, „how they perform this function, and what ist their relation to the material things [?] [...] There is dispute also about the properties of sense-data, apart from their relationship to material things: whether, for example, they are each of them private to a single observer; whether they can appear to have qualities that they do not really have, or have qualities that they do not appear to have; whether they are in any sense `within` the percipient`s mind or brain.”1
Unterschiedliche und durchaus phantasievolle Antworten konnten diese Fragen erhei- schen, jede zumindest eitel genug, sich einen ausgezeichneten Namen zuzulegen: Da gibt es zum einen den Naiven Realismus, der freiweg behauptet, die Sinne würden uns etwas über die Dinge erzählen, welche außerhalb und unabhängig von uns existieren. Ein weni- ger naiver Abkömmling dieser Theorie, der Wahrnehmungsrealismus 2 , führt zusätzlich den Aspekt der kausalen Relation ein: „The field, by reflecting light, causes me to have the visual experience that is part of my seeing the very field.“ (Audi: 1998, S. 28). Mit weit mehr Fingerspitzengefühl und Argwohn zieht die Erscheinens-Theorie (s. Audi: 1998, S. 30) zu Felde; zu sagen, daß jemand etwas wahrnimmt, heißt zu sagen, daß ihm etwas so und so erscheint. Da nicht behauptet wird, Dinge hätten wirklich die jeweiligen Eigenschaften, lassen sich mit dieser Theorie auch Sinnestäuschungen erklären. Zudem lehnt sie jegliche Konzession an eventuelle kausale Relationen ab, gerät dadurch jedoch in Schwierigkeiten, sobald es um die Frage der Halluzinationen geht, denn die halluzi- nierten Erscheinungen sind nicht Erscheinungen von etwas, sondern gerade von etwas nicht Existentem. Die adverbiale Theorie der Wahrnehmung (s. Audi: 1998, S. 37) nimmt Abstand von der allseits beliebten Zergliederung der Wahrnehmung in ein (wahrgenom- menes) Objekt und diejenige Person, die es wahrnimmt. Stattdessen analysiert sie Wahr- nehmung als eine Art und Wiese, Dinge wahrzunehmen, welche in uns eine Erfahrung be- stimmter Qualität verursachen: „`seeing a parallelogram` (in illusional and hallucinatory cases) can be a term for ascribing a certain visual experience.“ (Audi: 1998, S. 37). An- ders als die Erscheinens-Theorie schafft sie es sogar, Halluzinationen zu erklären: Sie be- streitet nämlich, daß wir in diesen Fällen die Sinneserfahrung eines Objektes haben; sol- cherlei Erfahrungen stellen für sie überhaupt keine Art der Wahrnehmung dar.
Eine Zurückweisung aller dieser Arten von direktem Realismus kommt von den Sin- nesdaten-Theorien: Das Einzige, was Gegenstand unserer Wahrnehmung genannt zu wer- den erlaubt ist, sind Sinnesdaten. Trotzdem wird die Existenz von materiellen Dingen nicht rundweg abgestritten, aber wir nehmen sie höchstens indirekt, vermittels der Sin- nesdaten, wahr: Deshalb wir diese Art von Theorie zuweilen als indirekter, repräsentati- ver Realismus bezeichnet. Es gibt allerdings eine Art der Sinnesdaten-Theorie, die einen Kompromiß zwischen der eben genannten und der adverbialen Theorie darstellt. Letztere könnte man, da sie das Gewicht in erster Linie auf die Erfahrung und nicht auf das erfah- rene Objekt legt, als Theorie sensorischer Erfahrung bezeichnen, erstere dagegen, da sie dem Objektbegriff einen angemessenen Platz einräumen möchte, als Theorie wahrneh- mender Erfahrung (s. Audi: 1998, S. 40). Nun läßt sich aber die Notwendigkeit von Sin- nesdaten aufrechterhalten, auch wenn wir Verfechter der sensorischen Erfahrung sind: Wir schließen, wenn wir etwas wahrnehmen, direkte Bekanntschaft mit Sinnesdaten.
Einen direkten Irrealismus stellt der sogenannte Phänomenalismus dar: Wir brauchen nicht verzweifelt nach beeindruckenden empirischen Beweisen für die Existenz materiel- ler Dinge zu suchen. Es genügt völlig, unsere Ä ußerungen zu zerlegen, und zwar derart, daß materielle Dinge und ihre Qualitäten bezeichnende Ausdrücke darin nicht mehr vor- kommen, dafür jedoch eine Reihe von Sinnesdatenausdrücken; ja, materielle Dinge sind nicht anderes als ein Set von Propositionenüber Sinnesdaten. Neben diesem Sinnesda- ten-Phänomenalismus findet sich der adverbiale Phänomenalismus: Materielle Dinge werden allein anhand der sensorischen Erfahrung, nicht aber der Sinnesdaten, konstruiert, ohne ihnen in irgendeiner Weise Realität zuzusprechen. Beide Spielarten des Phänomena- lismus streiten die unabhängige Existenz materieller Dinge vollkommen ab; diese sind „not metaphysically real: things that are `out there`, which are the sort of things we think of as such they would exist even if there were no perceivers.” (Audi: 1998, S. 43).
Alfred Ayer hat sich in The Foundations of Empirical Knowledge mit den diversen Wahrnehmungstheorien beschäftigt. Auf den folgenden Seiten werde ich Ayers Ausfüh- rungen skizzieren. Den Anfangspunkt bildet das Argument from illusion, an das sich eine Darstellung der faktischen Auffassung einerseits und der sprachlichen Auffassung ande- rerseits anschließt. Ausgehend von dieser Grundlage, soll Ayers Sinnesdatenbegriff vorgestellt werden. Ayer ist zwar in gewisser Hinsicht ein Verteidiger einer Sinnesdaten- theorie, vor allem gegen andere Theorien der Wahrnehmung, aber er wendet sich auch gegen Sinnesdatentheoretiker selbst: Er möchte die Sinnesdatentheorie als sprachlich und entgegen anderer Meinungen nicht als faktisch zu interpretierende Theorie verstanden wissen. Abschließend wird der Auseinandersetzung Ayers mit dem Phänomenalismus ein eigenes Kapitel gewidmet werden.
2. Ayer und das Problem der Sinnesdaten
2.1. Das Argument from illusion
Das Argument from illusion stellt den Ausgangspunkt von Ayers Ausführungen dar. Deshalb soll es an dieser Stelle kurz vorgestellt werden.
Zu Beginn des Arguments wird die Feststellung getroffen, daß ganz gewöhnliche und durchaus nicht angsteinflößende Gegenstände unterschiedliche Eigenschaften aufzuwei- sen imstande sind, und zwar abhängig von der Anzahl der Beobachter oder von den je- weiligen Bedingungen, unter denen die Gegenstände beobachtet werden. Dabei ist es vorerst gleichgültig, welcher Art die Erscheinungen speziell sind: Es kann sich sowohl um Qualitäten von Gegenständen handeln, wie in dem Beispiel des in Wasser gebroche- nen Stabes oder der elliptisch aussehenden Münze, als auch um die Existenz von Dingen, wie im Falle der Fata Morgana.
Ayer favorisiert im Laufe seiner Argumentation das Beispiel des in Wasser getauchten Stabes: Wir halten in unseren Händen einen Stab, dem wir die Eigenschaft `gerade` nicht verweigern würden. Nun tauchen wir ihn in Wasser - und sind konfrontiert mit folgen- dem Problem: Der Stab sieht aus, als wäre er gebrochen, aber wir wissen ziemlich genau, daß ihm auf dem Weg von der Luft ins Wasser kein Leid angetan worden ist, und auch das Wasser selbst hat sich in keiner Weise aggressiv dem Stab gegenüber verhalten. Zu- dem, wenn wir mit unserer Hand den Stab unter Wasser befühlen, so spüren wir, daß er nach wie vor eine stolze gerade Form hat. Während wir also mit Gewißheit davon ausge- hen, daß der Stab gerade ist, so sehen wir ihn doch als gebrochenen Stab. „Then it fol- lows that at least one of the visual appearances of the stick is delusive; for it cannot be both crooked and straight.” (FEK, S. 4).
Indem wir eine der beiden Erscheinungen zu einer Täuschung erklären, haben wir zwar einen Widerspruch aus dem Weg geräumt, aber trotzdem müssen wir zugestehen, daß wir immer noch irgendetwas wahrnehmen. Dieses irgendetwas, das weder ein Nichts noch etwas Wirkliches genannt werden konnte, taufte man auf den Namen `Sinnesdatum`. In ihrer Verwendung sind Sinnesdaten (und wie könnten sie es nicht sein, da sie ja ad hoc eingeführt worden sind) außerordentlich praktisch: Man nimmt Sinnesdaten wahr, „which are similar in character to what he would be experiencing if he were seeing a real oasis, but are delusive in the sense that the material thing which they appear to present is not actually there.“ (FEK, S. 4).
Noch sind wir unversehrt und nicht gezwungen, Maßnahmen zur Verteidigung unserer verstaubten und bewährten Festung, die sich Alltagssprache nennt und die Existenz mate- rieller Dinge `sicherstellt`, zu ergreifen. Denn wir haben keinen Grund anzunehmen, es würde überhaupt keine Fälle geben, in denen wir materielle Dinge wahrnehmen. Es gibt allerdings Philosophen, die genau das tun: Nach ihnen nehmen wir immer nur Sinnes- daten, niemals dagegen materielle Dinge wahr. Ihr Argument klingt prima facie recht plausibel: Es findet sich nämlich, so sagen sie, keine intrinsische Differenz zwischen den täuschenden und den veridischen Wahrnehmungen. Wenn ich einen Stab wahrnehme, „which is refracted in water and so appears crooked, my experience is qualitatively the same as if I were looking at a stick that really was crooked.” (FEK, S. 6). Unter Mißach- tung der Tatsache, daß die Bedingungen beider Arten der Wahrnehmung verschieden sind und daß wir oft wissen, daß wir es mit einer Täuschung zu tun haben, läßt sich freilich sa- gen, daß wir die täuschenden und die veridischen Wahrnehmungen nicht voneinander un- terscheiden können. Doch auch wenn wir beide Fälle zu trennen fähig sind, so liegt der Grund für diese Trennung nicht in der Qualität der Wahrnehmungen selbst.
Ayer formuliert zwar das Argument from illusion derart, daß der Eindruck erweckt wird, er selber befände sich im Einklang mit der radikalen Auffassung, materielle Dinge seien aus den genannten Gründen nicht wahrnehmbar, er wendet jedoch ein, daß die soeben gemachten Feststellungen einer weiteren Überprüfung bedürfen.
2.2. Ein grundlegender Fehler und seine Richtigstellung
2.2.1. Kritik an der faktischen Auffassung
Zuerst und vor allem geht es, so Ayer, um folgende Frage: Wenn wir uns den Kopf darüber zerbrechen, ob wir nun Sinnesdaten wahrnehmen oder materielle Dinge, versu- chen wir dann etwas Faktisches oder etwas Sprachliches in den Griff zu bekommen? Es kann gleich vorweg gesagt werden, daß Ayers Herz nicht gerade für diejenigen Philoso- phen schlägt, die der ersten Variante ihr Plazet geben. Sie schlußfolgerten aus dem Ar- gument from illusion, „not merely that it is linguistically inconvenient, but that it is false to say that we are ever directly aware of a material thing.“ (FEK, S. 11f.).
Was jedoch bedeutet es eigentlich, eine bestimmte Sache als entweder faktische oder sprachliche Angelegenheit aufzufassen? Nun, im ersten Fall glaubt die jeweilige Apolo- getin, mit den geäußerten Sätzen auf etwas `in der Welt` Bezug zu nehmen, das empirisch nachgewiesen werden könnte. Damit besteht natürlich die Möglichkeit zu zeigen, daß das, was wir bis dato völlig arglos zum besten gegeben haben, nicht den Tatsachen ent- spricht. Wer dagegen etwas als sprachliches Problem begreift, hat weder Interesse noch ein Auge für die schrecklich gewöhnlichen Dinge ringsherum; von Belang sind allenfalls die Sätze, in die wir diese Dinge `fassen`. Selbige lassen sich auch nicht beweisen oder widerlegen, denn über die Fakten wird gar nicht debattiert. Was aufs Tapet gebracht wird, ist die Verwendungsweise von Sätzen; eine entsprechende Analyse soll lediglich die Be- dingungen der betreffenden Sätze herausstellen, was schließlich unter Umständen zu ei- ner Neubeschreibung der betreffenden Sätze führt. Kurz gefasst bettet der Vertreter der faktischen Auffassung das, worüber er redet, in kausale Zusammenhänge ein, die Ver- treterin der sprachlichen Auffassung dagegen versucht (begriffs-)logische Zusammen- hänge herzustellen.
Zurück zu den oben erwähnten Philosophen, die das Argument from illusion als ein auf Fakten bezogenes Argument verstehen. Die Sätze des Argumentes sollen sich nach ihnen auf etwas beziehen, das in der Welt entdeckt werden kann; die in den Sätzen vor- kommenden Ausdrücke sollen tatsächlich existierende Entitäten bezeichnen. O b sie tat- sächlich existieren, steht dabei noch offen, aber es besteht zumindest der Anspruch dar- auf; ebenso wenig ist vorerst ihre Beschaffenheit geklärt. Die Verfechter dieser Auffas- sung nehmen zum Beispiel die Schlußfolgerung des Arguments, daß wir nämlich nie ma- terielle Dinge, sondern immer nur Sinnesdaten wahrnehmen, für bare Münze: Egal, ob wir die unabhängige Existenz materieller Dinge grundsätzlich bestreiten oder sie zuge- stehen, unsere eigene Wahrnehmung spielt bei dieser Frage keine Rolle, da das einzige, was wir jemals real erblicken und ertasten und schmecken können, in Raum und Zeit vor- findbare einzelne Dinge namens Sinnesdaten sind.
Hier noch einmal die Schritte des Arguments from illusion in Kürze: Erstens sind täuschende und veridische Wahrnehmungen qualitativ ununterscheidbar, zweitens glauben wir im Falle der täuschenden Wahrnehmungen zwar (manchmal), materielle Dinge oder wirkliche Qualitäten wahrzunehmen, was aber nicht stimmt. Da wir drittens im Falle einer Täuschung bloße Sinnesdaten wahrnehmen, folgt demnach aus allen drei Prämissen, daß wir es auch im Falle der veridischen Wahrnehmung lediglich mit Sinnesdaten und niemals mit materiellen Dingen zu tun haben.3
Auf den ersten Blick scheint es nicht so, als könnten wir diese makellose Kugel eiser- ner Logik an irgendeiner Stelle aufknacken. Das Argument ist zweifellos schlüssig. Oder vielleicht doch nicht? Ayer findet das Argument nämlich nicht sehr überzeugend. Er meint, daß die Schlußfolgerung seitens der `Fakten-Philosophen` nur unter gewissen Vor- aussetzungen gezogen werden kann; und es sind diese Bedingungen, die anzuerkennen er nicht bereit ist. Der Unterschied zwischen Ayers Bedingungen, die ihm die genannte Schlußfolgerung verbieten, und denen, die die Gegenseite verlangt, kann nur von be- griffsanalytischer Art sein: Aus aussagenlogischer Sicht ist nämlich an dem Argument nichts auszusetzen. Allerdings spazieren wir in ein aussagenlogisches Problem hinein, so- bald wir die innere Struktur der Aussagen durch eine Analyse der Begriffe verfeinern.
Ayer bezweifelt die korrekte Auffassung der in dem Argument verwendeten Begriffe: Seine Analyse der Begriffe liefert Sätze, die sich von denen unterscheiden, die die Fakten-Philosophen als Ergebnis ihrer Begriffsanalyse behaupten würden.
In dem eben kurz umrissenen Argumentationsgang wurde als erste Prämisse die qua- litative Ununterscheidbarkeit zwischen veridischen und täuschenden Wahrnehmungen an- geführt. Nur wenn man diese Prämisse auf falsche Art und Weise auffaßt, kommt man zu Schlußfolgerungen wie der, daß wir nie materielle Dinge und immer nur Sinnesdaten wahrnehmen. Diese falsche Schlußfolgerung setzt ihrerseits einen Fehler voraus, nämlich qualitative Ununterschiedenheit als einen fehlenden Unterschied der Art zu interpretieren. Eine solche Interpretation wiederum kommt nicht von ungefähr; es bedarf dafür bestimm- ter Hilfsargumente, wie Ayer sie nennt. Der `Beweis` für die generische Ununterschie- denheit wird auf indirekte Weise erbracht: Das Gegenteil dessen, was bewiesen werden soll, wird angenommen, und anschließend werden nicht bzw. vermeintlich nicht akzep- table Konsequenzen (egal ob logischer oder faktischer Art) aus diesen Annahmen gezo- gen.
Mit folgendem Gedankengang versucht man uns von der fraglichen Behauptung zu überzeugen: Wären erstens beide Wahrnehmungsarten Wahrnehmungen generisch un- terschiedlicher Objekte, so müßten sich diese Objekte aufgrund ihrer Qualitäten unter- scheiden lassen; dies widerspricht jedoch bereits der ersten und einwandfreien Prämisse des Arguments from illusion. Zweitens ließe sich im Falle der generischen Verschieden- heit keine kontinuierliche Reihe mit ihnen bilden, was jedoch tatsächlich möglich ist4. Drittens müßten materielle Dinge in kausaler Unabhängigkeit von Beobachtern existieren und gewisse Qualitäten haben; dieser Behauptung würden zwar nicht alle Fakten-Philoso- phen zustimmen (zum Beispiel nicht die indirekten Realisten, da diese ja die kausale Un- abhängigkeit postulieren), trotzdem kann sie als ein gewichtiges Argument zugunsten der faktischen Interpretation gewertet werden.
Es scheint also, als könnte man nicht ohne Selbstwiderspruch behaupten, daß die Ob- jekte der veridischen und der täuschenden Wahrnehmung jeweils unterschiedlicher Art sind. Für Ayer sind die genannten Annahmen dagegen widerspruchsfrei zurückweisbar; d.h. wir sind in der Lage zu zeigen, daß die Behauptung, die Wahrnehmungsobjekte seien in beiden Fällen unterschiedlicher Art, nicht die von den Fakten-Philosophen ins Feld ge- führten Sätze impliziert und damit auch keine der gefürchteten Selbstwidersprüche ent- stehen. Er zeigt ziemlich schlüssig, daß die faktische Auffassung sich selbst widerlegt: Sie nimmt gewisse Dinge an, um unter Zuhilfenahme dieser Prämissen letztendlich ihre Negation zu schlußfolgern. Im Mittelpunkt stehen dabei nicht die beiden ersten von der Gegenseite unterstellten Implikationen (mit der Begründung Ayers, sie seien keines empi- rischen Beweises fähig), sondern die dritte.
Die Fakten-Philosophen warfen uns vor, unsere zur Debatte stehende Annahme, näm- lich daß wir in beiden Fällen der Wahrnehmung die Objekte als generisch unterschieden ansehen müssen, hätte die Behauptung zur Folge, materielle Dinge existierten mit ihren eigenen Qualitäten unabhängig von irgendeinem Beobachter. Um nun unsere infame Aus- gangsbehauptung zu entkräften, negieren sie diese Aussage; sie behaupten, etwas über materielle Dinge zu sagen heißt nicht mehr als hypothetische Sätze bezüglich unserer Sin- neserfahrung, die wir in gewissen Situationen haben, zu sagen. Ayer bemerkt an dieser Stelle zwar, daß wir uns die Tatsache klar machen sollten, daß wir zu solchen hypotheti- schen Urteilen nur durch Induktion kommen, womit er der Behauptung der unabhängigen Existenz materieller Dinge Vorschub leisten möchte, gleichzeitig begrenzt er aber seine eigene Argumentation: „Though this is perhaps the most natural way to interpret this pro- position, and the one that I shall adopt myself, it is not the interpretation that is required by the argument from illusion.“ (FEK, S. 12f.). Denn derartige Sätze können auch von Dingen wahr sein, die wir momentan wahrnehmen; somit ist es unzulässig, aus der Postu- lierung unabhängig existierender materieller Dinge als hypothetischer Sätze über unsere Sinneserfahrung, die sowohl wahr als auch unerfüllt sein sollen, zu folgern, daß wir im Falle aktueller Sinneswahrnehmung keine materiellen Dinge wahrnehmen. Wenn das aber logisch aus der Definition materieller Dinge in der genannten Art folgt, bedürfen wir kei- nerlei empirischer Beweise mehr, aber nach solchen muß der Fakten-Philosoph per defi- nitionem ja suchen. Somit hat sich die faktische Auffassung schon zum ersten Mal selbst ü berflüssig gemacht. Zum zweiten Mal muß sie sich in ihr Schicksal ergeben, wenn wir die Konsequenzen bedenken, die aus der Definition unabhängiger materieller Dinge fol- gen soll: Wenn sie unabhängig von uns sein sollen und wir sie nie in der uns geläufigen Art und Weise wahrnehmen können, dann dürfen wir die uns umgebenden Dinge nicht als materielle Dinge bezeichnen. Das führt uns jedoch insofern in eine Absurdität, als das Argument from illusion, welches sowohl unsere Grundlage als auch die der Fakten-Philo- sophen ist, immer von derartigen Dingen ausgegangen ist. Wer eine faktische Auffassung auf Grundlage des Arguments from illusion formulieren möchte, schleift durch die ge- samte Argumentation die Annahme materieller Dinge mit hindurch, um mit Hilfe unter anderem dieser Annahme die Existenz materieller Dinge zu bestreiten bzw. zu widerle- gen: Eine solche Argumentation bedeutet aber aussagenlogisch expliziert nichts anderes als einen schlichten logischen Widerspruch. Dies sollte uns nun aber nicht veranlassen, die Ausgangsannahme, nämlich daß es so etwas wie materielle Dinge gibt, zu negieren. Was geändert werden muß, ist die Art und Weise der Auffassung des Arguments from il- lusion.
Nach Ayer folgt keine der zu Beginn des Kapitels genannten Implikationen logisch aus der Behauptung, daß die Objekte unserer Wahrnehmung in beiden Fällen unterschied- licher Art seien. Erstens und zweitens folgen nicht, weil das voraussetzen würde, daß wir veridische und täuschende Wahrnehmungen von vornherein unterscheiden könnten, was nicht stimmen kann, da wir sonst auch nicht den Begriff der Täuschung hätten (denn die- ser macht uns glauben, wir nähmen etwas Wirkliches wahr). Ebenso folgt drittens nicht aus der Behauptung, obwohl Ayer selbst die Behauptung, es gäbe materielle Dinge, nicht ablehnt. Er definiert sie jedoch eigenständig: „It is in every instance a matter of our being able to establish a certain order among our experiences.” (FEK, S. 16). Zu sagen, die Exi- stenz materieller Dinge folge allein aus der Aussage, daß wir in beiden Fällen der Wahr- nehmung unterschiedliche Objekte vor uns haben, verlangt die Voraussetzung, daß wir es für einen Selbstwiderspruch halten, einem Ding unterschiedliche Eigenschaften zuzu- schreiben. „But here it may be objected that these contradictions cannot, in fact, be de- rived from the nature of our perceptions alone.” (FEK, S. 14). Widersprüche tauchen le- diglich dann auf, wenn wir den jeweiligen Gegenstand als ein in seinen Eigenschaften im- mer gleichbleibendes Ding verstehen wollen. Das tun wir für gewöhnlich aber nicht; wir können uns sehr wohl darauf verständigen, daß ein und dasselbe Ding für verschiedene Beobachter verschieden aussieht oder für denselben Beobachter zu verschiedenen Zeiten. Es ist die Einführung solcher impliziter Parameter, die die Widersprüche aufzulösen ver- mögen.
2.2.2. Die sprachliche Auffassung
Was aber soll es nun eigentlich heißen, das Argument from illusion und die damit ver- bundene Sinnesdaten-Sprache nicht, wie Ayer es ablehnt, faktisch, sondern sprachlich zu interpretieren? Eine Antwort hierauf verlangt die vorherige Beseitigung von Mißver- ständnissen.
Angesichts des Arguments from illusion stellt sich uns die Frage, ob wir nicht unsere alltägliche Sprache einer Generalwartung unterziehen sollten; denn wie wir gesehen ha- ben, stoßen wir mit ihr an gewisse Grenzen, wenn es darum geht, veridische und täu- schende Wahrnehmungen voneinander zu unterscheiden. In beiden Fällen reden wir da- von, daß wir etwas `wahrnehmen`, obwohl wir doch jeweils etwas ganz anderes meinen, d.h. die Bedingungen sind in beiden Fällen vollkommen verschieden. Und es scheint, die- ses Problem läßt sich nur durch Einführung eines neuen Begriffes, den des Sinnesdatums nämlich, zügeln.
Bleiben wir bei unserer gewöhnlichen Auffassung des Wortes `wahrnehmen`: Falls al- so `wahrnehmen` impliziert, daß das wahrgenommene Objekt immer auch existiert bzw. mit dieser oder jener Eigenschaft ausgestattet ist, so müssen wir konsequenterweise ent- weder abstreiten, daß es Täuschungen gibt, oder es als einen Fehler bezeichnen zu sagen, die wahrgenommenen Objekte seien in den meisten Fällen materielle Dinge bzw. daß sie meistens die behaupteten Eigenschaften hätten. Tatsächlich und glücklicherweise jedoch scheitern wir nicht allzu oft an der Halsstarrigkeit unserer Sprache; sie verhält sich sogar ausgesprochen benevolent. „Thus, to return to the familiar examples, if I say that I am seeing a stick which looks crooked, I do not imply that anything really is crooked, or if [...] I say that I am perceiving two pieces of paper, I need not be implying that there really are two pieces of paper there.” (FEK, S. 20f.). Doch das scheint nur eine Ablenkung er- heischende Wortspielerei zu sein, denn uns kann immer noch vorgehalten werden, daß wir ja trotz allem etwas wahrgenommen haben, das in irgendeinem Sinne also existieren muß.
Der Fehler besteht, so Ayer, darin, dem Wort `wahrnehmen` eine Existenz-Implika- tion zu unterstellen. Ich kann jedoch völlig konsistent behaupten, ich hätte zwei Stück Papier gesehen, ohne damit zu unterstellen, daß wirklich zwei Stück Papier existierten. Sollten wir uns jedoch dafür entscheiden, das Wort `wahrnehmen` mit einer Existenz- Implikation auszustatten, so geraten wir freilich in Unstimmigkeiten, wenn wir im Falle von Täuschungen von `wahrnehmen` reden. Deshalb ist es uns dann zum Beispiel nur möglich zu sagen, wir hätten gedacht, da ß wir zwei Stück Papier sahen. An dieser Stelle zu fragen, was wir denn nun wirklich wahrgenommen hätten, heißt anzunehmen, daß wir nach überprüfbaren Fakten fragen. Es gibt allerdings nichts, was wir überprüfen könnten; das einzige, was sich in den Rang eines Disputgegenstandes erheben ließe, sind die ver- schiedenen Arten der Beschreibung von Fakten, über die wir uns ihrerseits grundsätzlich einig sind und von denen wir nicht wüßten, wie über sie zu streiten wäre.
Ob wir uns in Widersprüche verstricken oder nicht, hängt ganz von unserer Bestim- mung der Bedeutung, die wir bestimmten Begriffen zulegen, ab. Soll Wahrnehmung Exi- stenz implizieren, so ist es nicht korrekt zu sagen, ich hätte zwei Stück Papier wahrge- nommen; ich habe entweder nur ein Stück oder, im Falle einer vollständigen Halluzina- tion, gar kein Stück Papier wahrgenommen. „I was indeed having an experience that could properly be described as perceptual in one sense of the word.” (FEK, S. 22). Diese Art der Wahrnehmung läßt sich aber nicht in Begriffen der Wahrnehmung, wenn diese mit der Existenz-Implikation versehen wurden, beschreiben. Für gewöhnlich gebrauchen wir in diesen Fällen den Begriff des `Erscheinens` (`appearing`) in Abgrenzung vom Be- griff des `Seins` (`is` ), und zwar sowohl dann, wenn es um die Qualitäten eines Gegen- standes, als auch dann, wenn es um seine Existenz geht. Wenn ein Ding uns so oder so `erscheint`, dann sagen wir, daß wir etwas wahrnehmen, aber nicht, daß die und die Ei- genschaft oder gar der Gegenstand selbst existieren; wir können sogar sagen, daß wir etwas `sehen`, ohne damit etwas `Wirkliches` implizieren zu wollen: Es ist „not ordi- narily a source of confusion to us, because we are able to tell from the context what is the sense in which such words are intended to be understood [Hervorhebung von mir].“ (FEK, S. 24).
Da wir nun aber nicht immer in der Lage sind, die Umstände genau zu benennen und dementsprechend zwischen veridischen und täuschenden Wahrnehmungen zu unterschei- den, wurde der Begriff des Sinnesdatums eingeführt. Das heißt gleichzeitig auch, wie wir am Argument from illusion gesehen haben, daß wir in beiden Fällen der Wahrnehmung Sinnesdaten wahrnehmen, da sie qualitativ ununterscheidbar sind. Die Behauptung, wir nähmen in beiden Fällen Sinnesdaten und keine materiellen Dinge wahr, ist zuweilen sehr nützlich und kann solange als akzeptabel bezeichnet werden, als wir sie nicht faktisch auffassen (siehe Kapitel 2.2.1.).
Im Falle einer faktischen Auffassung der gezogenen Schlußfolgerung müßten Auswir- kungen derart beobachtet werden können, daß gewisse unserer bis dahin unabstreitbaren Sätze sich plötzlich als falsch herausstellen. D.h., der Fakten-Philosoph hätte uns das frei- lich zu zeigen, wozu er jedoch nicht in der Lage sein wird, eben weil wir es hier nicht mit einem Streit um empirisch überprüfbare Fakten zu tun haben, sondern lediglich mit dem Gebrauch unserer Sprache und einer Analyse derselben. Die Sinnesdaten-Sprache erfüllt nach Ayer einfach einen bestimmten Zweck: „it is useful for us to have a terminology that enables us to refer to the contents of our experiences independently of the material things that they are taken to present. And this the sensedatum language provides.”(FEK, S. 26).
2.3. Ausführungen zum Problem der Sinnesdaten
2.3.1. Der Sinnesdatenbegriff
Klarheit herrscht innerhalb der Philosophie nicht einmal über den grundlegenden Begriff des Sinnesdatums. Die unterschiedlichen Weisen, ihn zu verstehen, führen jedoch nicht unmittelbar in eine bestimmte Art von Wahrnehmungstheorie, sondern umgekehrt ist die jeweilige Auffassung des Sinnesdatenbegriffes nichts anderes als Ausdruck eines gewissen Verständnisses von Wahrnehmung.
Das ist auch bei Ayer so, und er gibt folgende Definition für den Begriff `Sinnesda- tum`: „ A is sensing a sense-datum s, which really has the quality x, and which belongs to M.“ (FEK, S. 58). Je nachdem, ob wir das Wort `wahrnehmen` mit einer Existenz-Impli- kation ausstatten oder nicht, müssen wir der Definition eventuell eine Einschränkung hin- zufügen: Soll keine Existenz des materiellen Dinges oder der Eigenschaft(en) impliziert werden, so sagen wir, daß A annimmt, s würde zu M gehören, womit die Möglichkeit of- fen bleibt, daß M nicht bzw. nicht mit diesen Eigenschaften existiert. Sätze, in denen ich meine Sinneserfahrung mitteile, sind also, auch wenn die Gegenstände oder Eigen- schaften Objekte einer täuschenden Wahrnehmung sind, zumindest manchmal wahr.
Es gibt nun Philosophen, die dem Begriff des Sinnesdatums eine vollkommen andere Bedeutung zulegen: Sie halten Sinnesdaten für etwas, dessen der Beobachter direkt ge- wahr wird. Auf den ersten Blick erscheint eine solche Definition unproblematisch, doch tatsächlich gibt es hier einen Haken. Denn nicht nur sollen wir die Dinge, derer wir ge- wahr werden, als Sinnesdaten bezeichnen, wir sollen vielmehr jegliches Objekt, dessen wir gewahr werden können, ein Sinnesdatum nennen. Das hat aber folgende unangeneh- me Konsequenz: „There is no accepted meaning of the expression `direct awareness` by reference to which it can be made clear without further explanation what is to be meant by the word `sense-datum`.” (FEK, S. 60). Das Problem lautet: Zirkelschluß. Wir können den Begriff des Sinnesdatums nicht anhand eines Begriffes, nämlich den des direkten Ge- wahrseins, definieren, da dieser selbst mit Hilfe des Sinnesdatenbegriffes definiert wird.
Ayer schlägt daher vor, direktes Gewahrsein so zu verstehen, daß der Glaube an die Existenz des jeweiligen Objektes auf Sinneserfahrung beruht und nicht dadurch zustande kommt, daß wir aus Sinnesdaten auf den Gegenstand schließen. Das bedeutet dann natülich wiederum, daß wir materieller Dinge direkt gewahr sind.
Die Gegenseite wirft hier ein, wir könnten ausschließlich Sinnesdaten und nie mate- rielle Dinge wahrnehmen, und zwar deshalb, weil wir uns immer in unserer Wahrneh- mung irren können. Diese Argumentation setzt nun aber voraus, direktes Gewahrsein der- art zu verstehen, daß es die Existenz eines materiellen Dinges bzw. die behaupteten Ei- genschaften impliziert. Und um dem Vorwurf zu entgehen, es würde die Existenz nicht vorhandener Dinge oder Eigenschaften postuliert, führten sie den Sinnesdatenbegriff ein, der genau die gewünschte Bedingung erfüllt, nämlich zwar die Existenz von ´etwas` zu- zugeben, ohne selbiges in den Rang der ´Wirklichkeit` zu erheben. „That is to say, the ex- pressions ´direct awareness` and ´sense-datum` are to be regarded as correlative [...], it is not satisfactory merely to define one in terms of the other.”(FEK, S. 61). Weder der eine noch der andere Begriff kann also durch den jeweils anderen Begriff definiert werden; beide bedürfen einer voneinander unabhängigen Weise des Verstehens.
Sinn und Zweck des Sinnesdatenbegriffes war es, Wahrnehmungen ausdrücken zu können, ohne dabei die Last der Existenzimplikation auf sich nehmen zu müssen; dadurch sind wir fähig, sowohl zu sagen, wir hätten etwas wahrgenommen, als auch, daß diese Wahrnehmung täuschend war. Die Unterscheidung zwischen ´Erscheinung` und ´Reali- tät` dürfen wir nun ihrerseits nicht auf die Sinnesdaten selbst anwenden. Für den Fall, daß wir es doch tun, „the terminology of sense-data becomes superfluous.“ (FEK, S. 69). Denn die Sinnesdatensprache wurde eingeführt, um gerade die Differenz zwischen Reali- tät und Erscheinung ignorieren zu können; sie ist grundlegend anderer Art als die Spra- che, in der wir tatsächlich auf materielle Dinge Bezug nehmen. Das heißt in der Konse- quenz: Es ist eine hinreichende Bedingung für die Existenz eines Sinnesdatums, daß es gerade wahrgenommen wird, denn es stellt sich ja nicht die Frage, ob wir es hier mit einer veridischen oder täuschenden Wahrnehmung zu tun haben. Aber ist es umgekehrt auch so, daß, wenn wir die Existenz eines Sinnesdatums behaupten, wir daraus schlußfolgern müßten, wir nähmen es gerade wahr? Dann hätten wir allerdings nicht mehr die Möglich- keit, über mögliche Sinnesdaten zu sprechen. Damit jedoch, so die Gegenseite, gingen wir der Fähigkeit verlustig, Propositionen über materielle Dinge zu analysieren, da wir hier nicht nur Berichte über unsere aktuelle Wahrnehmung anbringen, sondern auch hypotheti- sche Sätze Erwähnung finden. Allerdings, so Ayer, läßt sich eine solche Vorgehensweise schwerlich auf Sinnesdaten anwenden. Wir wollten ja eben nicht die Existenz von Sinnes- daten anhand derselben Kriterien definieren wie der materiellen Dinge. Anstatt mehrerer hypothetischer Sätze dürfen wir im Falle der Existenz von Sinnesdaten nur einen einzigen hypothetischen Satz als Kriterium der Existenz angeben; „and in that case we shall be able to express no more by asserting that the sensibile exists than we are already able to express by asserting the hypothetical proposition in question.“ (FEK, S. 71). Wenn nun aus dem bestimmten hypothetischen Satz (als Kriterium der Existenz) die Existenz des Sinnesdatums folgt, und wenn die Existenz nichts über diesen hypothetischen Satz Hin- ausgehendes behaupten soll, dann läßt sich zunächst folgern, daß umgekehrt aus der Exi- stenz des Sinnesdatums dieser eine hypothetische Satz folgt. Da nun weiterhin aus dem hypothetischen Satz nichts anderes folgen kann als die aktuelle Wahrnehmung eines Sin- nesdatums, ergibt sich durch das Prinzip der Transitivität, daß die Existenz eines Sinnes- datums die aktuelle Wahrnehmung impliziert. Und das heißt wiederum, daß diese eine notwendige Bedingung jener darstellt: Aktuelle Wahrnehmung und Existenz eines Sin- nesdatums implizieren sich demnach wechselseitig. Ayer schlägt vor, daß wir deshalb ausschließlich mit Bezug auf gerade wahrgenommene Sinnesdaten von ihrer Existenz sprechen sollten, nicht dagegen, wenn wir von möglichen Sinnesdaten reden.
Eine kurze Betrachtung ist die Frage wert, ob wir bezüglich der Sinnesdaten von ei- nem `Wissen´ reden können. Wenn, so Ayer, das Objekt unseres Wissens unabhängig von uns existieren soll, so sind Sinnesdaten nichts Wißbares, „for I have made it a necessary and sufficient condition of the existence of sense-data that they should in fact be experi- enced.” (FEK, S. 78f.). Er wendet jedoch an Ort und Stelle ein, daß die Unabhängigkeit des zu wissenden Objektes keine notwendige Bedingung des Wissens ist: Denn den Wis- sensbegriff wenden wir sowohl auf die Fälle propositionaler Wahrheit an, welche tatsäch- lich die gefragte Unabhängigkeit voraussetzen, als auch auf die Bekanntschaft mit Einzel- dingen, die diese Unabhängigkeit nicht implizieren. Es stellt sich nun allerdings die Frau- ge, ob wir eine solche Bekanntschaft mit Wissen gleichsetzen dürfen: Bekanntschaft mit einem Sinnesdatum zu schließen bedeutet das direkte Gewahrsein eines Sinnesdatums; da sich nun aber Wissen auf Propositionen bezieht, Gewahrsein selbst jedoch keine Proposi- tion darstellt, läßt sich der Ausdruck `Wissen´ nicht auf das Gewahrsein von Sinnesdaten anwenden. Das Verhältnis zwischen dem Gewahrsein von Sinnesdaten einerseits und Pro- positionen bzw. Wissen andererseits ist an dieser Stelle ein noch unbearbeitetes Thema.
2.3.2. Erscheinungen und Propositionen
Sehen wir uns noch einmal das Argument from illusion an: Die Schlußfolgerung, daß wir sowohl bei der veridischen als auch bei der täuschenden Wahrnehmung Sinnesdaten wahrnehmen, wurde aufgrund eines offensichtlichen Widerspruches gezogen. Dieser er- gibt sich aus der Behauptung qualitativ identischer Wahrnehmungen in beiden Fällen, während gleichzeitig feststeht, daß nur im Falle der veridischen Wahrnehmung tatsäch- lich ein materielles Ding vorhanden ist. Der Sinnesdatenbegriff mußte hier eingeführt werden, da nichts in unserer Erfahrung bzw. Wahrnehmung den Widerspruch auflösen kann; der Widerspruch kam durch eine Beschreibung zustande und kann scheinbar auch nur durch eine solche wieder beseitigt werden.
Allerdings gibt es Philosophen, die den Widerspruchsbegriff auf die Erscheinungen selbst anwenden: Widersprüche werden nicht für ein sprachliches Problem gehalten, son- dern es wird ihnen ein faktischer Status zugesprochen. Mit dem Ergebnis, „that our ideas of secondary qualities are not resemblances of any real qualities of material things” (FEK, S. 28). Wenn ein und dasselbe Ding sich widersprechende Qualitäten haben soll bzw. anscheinend tatsächlich hat, dann dürfen diese Qualitäten den jeweiligen materiellen Dingen nicht wirklich zukommen.
Ayer fragt sich jedoch, ob wir eine derartige Behauptung aufzustellen berechtigt sind. Erscheinungen gehören nicht zu der Art von Dingen, die sich gegenseitig widersprechen könnten. Man kann das, was Ayer hier kritisiert, einen Kategorienfehler nennen. Der kommt aber nur dann zustande, wenn wir die Rede von den Erscheinungen faktisch verstehen: Ein Stab ist jetzt noch gerade, aber schon im nächsten Moment, mit dem Eintauchen ins Wasser, sieht er gebrochen aus. Das Dilemma, daß der Stab nun zwei unvereinbare Eigenschaften haben soll, versucht man nun zu lösen, indem man diese Eigenschaften zu eigenständig existierenden Entitäten, die sich gegenseitig widersprechen, erklärt, und sie dem materiellen Ding, dem Stab, hinterher abspricht.
Nach Ayer begehen die Verfechter dieser These den Fehler, Erscheinungen die Mög- lichkeit zuzusprechen, sich widersprechen zu können. Aber - „they simply occur.” (FEK, S. 29). Widersprüche treten erst dann auf, wenn Erscheinungen als Teilausdrücke in Pro- positionen verwendet werden, doch ist es nicht einmal jetzt eine notwendige Bedingung, daß wir mit Widersprüchen konfrontiert sind. Die Gegenseite mag daraufhin erwidern, daß der Grund, daß wir nicht in Widersprüche geraten müssen, darin liegt, daß wir die Erscheinungen nicht, wie wir es eigentlich sollten, als Realitäten behandeln; wenn wir dies tun würden, so ergäben sich ihrer Meinung nach sehr wohl Widersprüche, da ein Ding, wie Bradley sagt, in sich selbst konsistent sein muß und daher keine widersprüchli- chen Eigenschaften haben kann. Auch diesen Einwand weist Ayer zurück: Eine Sprache, die keinerlei Unterschiede zwischen Erscheinungen und Realitäten macht, impliziert nicht unbedingt Widersprüche, „provided that the language also contained suitable criteria, which would, of course, be different from the criteria that we now employ, for determi- ning when a thing changed its qualities and when two appearances were appearances of the same thing.” (FEK, S. 31).
Außerdem schützt uns die Auffassung der Erscheinungen als bloßer Erscheinungen gar nicht vor Selbstwidersprüchen: Einem Gegenstand ohne Erwähnung bestimmter pas- sender Umstände sowohl veridische als auch täuschende Eigenschaften in Form von Er- scheinungen zuzuschreiben bringt uns ebenso wie die Behandlung der Qualitäten als Rea- litäten in eine mißliche Lage, da wir sie einem Ding unterschiedslos zusprechen. Auf sol- che Art und Weise faßt Ayer Eigenschaften aber nicht auf: „What we actually do is to de- fine the real qualities of a material thing in terms of the qualities of certain privileged ap- pearances.” (FEK, S. 31). Privilegiert sind sie insofern, als wir ihnen den Status von Ob- jekten veridischer Wahrnehmung zuschreiben, die es deshalb sind, da sie laut Ayer unter gewissen Standardbedingungen vorfallen.
Bradley hatte, wie bereits kurz erwähnt wurde, verlangt, daß zur Definition materieller Dinge Konsistenz bezüglich ihrer Eigenschaften gehört. Da nun jedoch die Tatsachen bocken und ein und dasselbe Ding sich uns einmal so, einmal anders präsentiert, je nach den Umständen der Situation und den Beobachtern, so schloß er, daß diese Eigenschaften nicht wirklich zu dem materiellen Ding gehören. Ayer erteilt dieser Argumentation eine klare Absage: Für ihn lassen sich die Eigenschaften eines Dinges in Ausdrücken der Er- scheinungen definieren, wobei das Ding selbst nichts von seinen Erscheinungen Getrenn- tes darstellt; die Frage, wie diese Erscheinungen zustande kommen, taucht hier gar nicht auf. Bradley will das Zustandekommen nämlich kausal verstanden wissen, und zwar in Abhängigkeit von den äußeren Bedingungen und den Zuständen des Beobachters. Eine Art von Abhängigkeit läßt sich sogar zugestehen, ohne daß wir gezwungen wären zu sa- gen, daß die Eigenschaften eines Dinges nicht seine wirklichen Eigenschaften sind: So müssen gewisse Bedingungen erfüllt sein, um bestimmte Erscheinungen wahrnehmen zu können. Deswegen sind wir aber noch nicht berechtigt zu behaupten, daß diese Eigen- schaften dann keine wirklichen wären; dies gilt auch dann, wenn die fraglichen Bedin- gungen im Moment nicht erfüllt sind und die jeweiligen Erscheinungen also nicht beo- bachtet werden können. Denn „all that this involves is that the hypothetical propositions, which assert that the appearances would be manifested if the conditions were fulfilled, re- main true even when their protases happen not to be realized.” (FEK, S. 35f.).
Daneben taucht eine viel fundamentalere Frage auf: Inwiefern nämlich ist es uns mög- lich, `Wissen von Sinnesdaten´ zu haben? Im vorigen Kapitel wurde der Unterschied zwi- schen Wissen und Bekanntschaft kurz angeführt: Wißbar sind nur Propositionen; Objekte unserer Bekanntschaft im Sinne direkten Gewahrseins können ausschließlich Sinnesdaten sein. Doch sind Sinnesdaten logisch primär gegenüber den Propositionen: „Whenever we are directly aware of a sense-datum, it follows that we know some proposition which de- scribes the sense-datum to be true.” (FEK, S. 80). Diese empirischen Propositionen, die sich auf Sinnesdaten beziehen, erklärt Ayer nun für `unbezweifelbar´. Sätze lassen sich jedoch auf verschiedene Art und Weise nicht bezweifeln, und es fragt sich, welchen spe- ziellen Sinn Ayer hier im Auge hatte: Da gibt es zum Einen analytische Aussagen, die dem Zweifel deshalb entzogen sind, da die Behauptung ihres Gegenteils einen Selbstwi- derspruch erzeugen würde; dieser Fall trifft nicht auf die empirischen Propositionen zu, da es möglich ist, je nach den Umständen eine Aussage oder ihre Negation zu behaupten. Ayer lehnt auch die psychologische Deutungsweise der Unbezweifelbarkeit ab, da dies dann ebenso für Propositionen über materielle Dinge gelten müßte, von denen Propositio- nen über Sinnesdaten ja gerade verschieden sein sollen. Was hier gemeint ist, ist die logi- sche Unbezweifelbarkeit derartiger Sätze: „We imply, not merely that our belief in the truth of such proposition is not, in fact, mistaken, but that it could not conceivably be mi- staken. And it is this view that is sometimes expressed by the assertion that such proposi- tions are `indubitable´ or `incorrigible´.” (FEK, S. 80). Wenn ich hier überhaupt einen Fehler machen kann, so ist dieser Fehler verbaler Art und bezieht sich als solcher auf die Art der Beschreibung des jeweiligen Sinnesdatums, welche als Fehlbeschreibung dadurch zustande kommt, daß ich einen Ausdruck, den ich für auf dieses oder jenes Sinnesdatum anwendbar halte, eben doch illegitim, entgegen den Regeln der jeweiligen Sprache, ver- wende. Fehler können mir auch in Bezug auf Sätze über materielle Dinge unterlaufen, nämlich dann, wenn ich gewisse weitere Sinnesdaten angenommen habe, die im folgen- den aber nicht erfüllt wurden. Eine unkorrigierbare Proposition dagegen „is completely verified by the existence of the sense-datum it describes; and so it is inferred that to doubt the truth of such a proposition is not merely irrational but meaningless; for it is only sig- nificant to doubt where there is a logical possibility of error [Hervorhebung von mir].” (FEK, S. 83). Es bedarf, um die Wahrheit dieser Proposition festzustellen, keiner weite- ren, hypothetischen Sätze über Sinnesdaten; außerdem implizieren sie selbst keine wie- teren Sätze. Das eben Gesagte gilt sogar, obwohl es freilich eine faktische Angelegenheit ist, ob ein Satz über ein Sinnesdatum wahr oder falsch ist. Was bestritten werden soll, ist, daß diese Entscheidung auf dieselbe Art und Weise gefällt werden kann wie in den Fäl- len, in denen wir über die Existenz eines materiellen Dinges zu entscheiden haben.
2.4. Ayers Kritik am Phänomenalismus
Es sind unter anderem die Phänomenalisten, die sich zu den Verfechtern einer fakti- schen Auslegung des Arguments from illusion zählen lassen. Da gibt es zum einen die Sinnesdaten-Phänomenalisten, die zwar materielle Dinge für wißbar halten, diese jedoch mit den Sinnesdaten identifizieren: „Our only genuine, certain knowledge of perceptibles is restricted to what directly appears to us and would be as it is even if we should be hal- lucinating.” (Audi: 1998, S. 42). Der Grund für diese Behauptung scheint darin zu liegen, daß wir uns für gewöhnlich materielle Dinge als `außerhalb` der Sinnesdaten liegende Entitäten vorstellen, ein simpler Gedankengang uns aber hier eines Besseren belehren will: „If you imagine substracting the book`s sensory properties one by one - its color, shape, weight, and so on - what is left on it? [...] It is like stripping layer after layer from an onion until nothing remains.” (Audi: 1998, S. 42).
Die zweite, allerdings wenig verbreitete Spielart ist der adverbiale Phänomenalismus, der die Wahrnehmung materieller Dinge als das Haben einer bestimmten Erfahrung inter- pretiert; wir brauchen nicht einmal Sinnesdaten, lediglich einen `Wahrnehmenden` und die Art und Weise, wie er etwas wahrnimmt, um von Sinneserfahrung reden zu können.
Doch bleiben wir bei der erstgenannten Art des Phänomenalismus. Materielle Dinge und ein jeweiliges Set an Sinnesdaten-Sätzen sind für ihn, wie gesagt, identisch. Ayer gibt zwar zu, daß es sowohl materielle Dinge als auch Sinnesdaten gibt, bestreitet aber, daß wir nach einer Art innerer Beziehung zwischen diesen beiden Objektklassen suchen können. Letztendlich vollführt der Phänomenalismus keine andere Prozedur als diese, selbst wenn er im Ergebnis die Existenz materieller Dinge verneint und die einzelnen Ausdrücke, die für materielle Dinge stehen sollen, als gleichbedeutend mit Sinnesdaten setzt.
Gegen diese Gleichsetzung sagt Ayer: „The term `material thing` is not synonymous with any term or set of terms that stand for species of sense-data.” (FEK, S. 229). Die Be- ziehung `Wahrnehmung von Sinnesdaten` und `Wahrnehmung eines materiellen Dinges` verläuft nur in eine Richtung subjunktional, nämlich von der Wahrnehmung eines materiellen Dinges zu der Wahrnehmung von Sinnesdaten: Wann immer wir sagen, daß wir ein materielles Ding wahrnehmen, implizieren wir, daß wir auch Sinnesdaten wahr- nehmen, aber nicht umgekehrt. Grund dafür ist die im Argument from illusion angeführte qualitative Ununterscheidbarkeit zwischen veridischen und täuschenden Wahrnehmun- gen; und ein fehlender Unterschied in den Qualitäten bedeutet einen fehlenden Unter- schied in den wahrgenommenen Sinnesdaten, die uns selbst keinerlei Auskunft darüber geben, ob wir es mit einer Täuschung zu tun haben oder nicht. Es können noch so viele und sicher erscheinende Sinnesdaten gegeben sein: „Whatever the strength of this evi- dence may be, it will always be logically compatible with the hypo-thesis that this mate- rial thing is not in all respects what it appears to be, or even that it does not exist at all.” (FEK, S. 230). Doch nicht nur ist immer noch eine Täuschung möglich, auch wird sich unsere Evidenz bezüglich der zur Frage stehenden materiellen Dinge nie auf etwas ande- res als auf weitere Sinnesdaten beziehen, da wir ja keinen Schluß von den beobachtbaren Sinnesdaten auf die prinzipiell unbeobachtbaren materiellen Dinge machen dürfen: „All that the evidence in question will be evicence for or against is the possible occurence of further sense-data still.“ (FEK, S. 231). Wenn wir nun jedoch über materielle Dinge spre- chen, müssen sich derartige Sätze immer in Sätze über Sinnesdaten übersetzen lassen, da unsere Rede ansonsten keinen Sinn ergibt. Und von hier aus wird anschließend geschluß- folgert, daß materielle Dinge nichts anderes sein können als Sammlungen aktueller und möglicher Sinnesdaten.
Gegen diese phänomenalistische Art der Analyse sind Einwände gemacht worden, die allerdings deshalb als unhaltbar angesehen werden müssen, weil sie von der gleichen und falschen Grundannahme ausgehen wie der Phänomenalismus. Der Fehler besteht darin, die Rede über materielle Dinge und über Sinnesdaten als ein faktische Rede aufzufassen, d.h. die hervorgebrachten Einwände „are founded upon the mistaken assumption that a material thing is supposed to consist of sense-data, as a patchwork quilt consists of different coloured pieces of silk.“ (FEK, S. 232). Es wird befürchtet, daß die Reduktion materieller Dinge auf ein Set von Sinnesdaten einen nicht hinnehmbaren Raub an ihrer Substantialität und Einheit darstelle, den es zu verhindern gilt.
Beide Seiten aber, die Phänomenalisten und ihre Kritiker, lassen sich zu der Annahme einer folgenreichen Bedingung hinreißen. Zwar nimmt auch Ayer die Unterscheidung zwischen materiellen Dingen und Sinnesdaten in sein philosophisches Repertoire auf, „but the purpose of making this distinction was simply to increase the utility and clarity of the sense-datum language by ensuring that its sentences should not be of the same lo- gical form as those that refer to material things.” (FEK, S, 232f.). Zu sagen, daß beide Satzarten, also solche, die sich auf materielle Dinge und solche, die sich auf Sinnesdaten beziehen, dieselbe logische Form haben, heißt zu sagen, daß sie sich wechselseitig zu er- setzen vermögen. Das mag noch erträglich sein, solange es sich um die bloße Benennung von Gegenständen handelt, wird aber zum Problem, sobald wir die Austauschbarkeit an- hand praktischer und alltäglicher Sätze vorführen wollen: „To say, for example, that this was being written with a `pennish` group of sense-data, instead of saying that it was being written with a pen, would be neither true nor false but nonsensical.“ (FEK, S. 233).
Der Versuch mancher Philosophen, die Austauschbarkeit zu proklamieren und mate- rielle Dinge als bloße `logische Konstruktionen` anzusehen, ist demnach fehlgeschlagen; ein Satz über ein materielles Ding kann nicht in ein endliches Set von Sinnesdaten-Sätzen übersetzt werden, ohne dabei einen Bedeutungswandel zu erfahren. Und wieder schreitet die Gegenseite ungeniert in die Fußspuren der Phänomenalisten, die jene genauso in die Irre führen wie diese: Ganz nach faktischer Fasson bestreitet sie die phänomenalistische Behauptung, wir würden ausschließlich Sinnesdaten wahrnehmen, und setzt dem entge- gen, daß wir sehr wohl materielle Dinge wahrnehmen, freilich ohne zu bestreiten, daß wir im Falle täuschender Wahrnehmung nur Sinnesdaten wahrnehmen. Fälschlicherweise nehmen beide Seiten an, daß sie über etwas reden würden, was sich beweisen oder wider- legen läßt; tatsächlich aber unterscheiden sie sich einzig in der Art ihrer Sprache bezüg- lich der Sinneswahrnehmungen.
Das eigentliche Problem ist jedoch, folgen wir Ayer, ein anderes. Schauen wir zurück auf das Argument from illusion: Es wurde formuliert, weil es Fälle gibt, in denen wir zwar etwas, nämlich ein Sinnesdatum, aber kein materielles Ding wahrnehmen. D.h., wenn wir einen Satz aufstellen, in welchem wir das Objekt unserer Wahrnehmung in Form von Sinnesdaten benennen, so folgt daraus nicht, daß wir wirklich ein materielles Ding vor uns haben, auch wenn das möglich ist. Umgekehrt aber folgt aus der Behaup- tung, wir nähmen ein materielles Ding wahr, daß wir auch Sinnesdaten wahrnehmen. Es wäre demnach anmaßend und leichtsinnig, Sinnesdaten-Ausdrücke in bestimmten Sätzen einfach durch Ausdrücke, die materielle Dinge bezeichnen, zu ersetzen.
Dazu gesellt sich ein zweites Problem: Wer behauptet, Sätze über materielle Dinge ließen sich durch Sätze über Sinnesdaten ersetzen, wer also eine zwischen ihnen beste- hende Ä quivalenz behauptet, muß zeigen, daß sich beide Satzarten gegenseitig implizie- ren. Gerade das ist aber, so Ayer, nicht möglich. „For when we try to reproduce the con- tent of a statement about a material thing by specifying the empirical situations that would furnish us with direct tests of its validity, we find that the number of these possible tests is infinite.” (FEK, S. 239). Sollte also jemand versuchen, die Existenz eines mate- riellen Dinges anhand seiner gegenwärtigen Sinneserfahrung zu verifizieren, so kann er zwar eine Kette von Sinnesdaten-Sätzen bilden und sie durch weitere Sinnesdaten-Wahr- nehmungen beliebig verlängern; aber die Hoffnung, irgendwann an einen Punkt zu gel- angen, an dem die Möglichkeit einer entgegengesetzten und alle vorher erbrachten Verifi- kations-Sätze zu Fall bringenden Sinneswahrnehmung ausgeschlossen ist - diese Hof- fnung trügt. „He will never be in a position to demonstrate that he will not subsequently have experiences that will entitle him to conclude that his original statement was false after all.” (FEK, S. 239f.).
Keine noch so lange Aneinanderreihung von Sinnesdaten-Sätzen reicht also hin, um die Existenz eines materiellen Dinges legitimerweise zu implizieren. Umgekehrt folgt aus einem Satz über ein materielles Ding auch kein endliches Set an Sinnesdaten-Sätzen. Es folgt allerdings auch nicht ü berhaupt kein Satz über Sinnesdaten; wäre das so, bräuchten wir uns nicht mit dem Versuch der Unterscheidung zwischen Täuschungen und veridi- schen Wahrnehmungen herumschlagen. „But there is no set of statements about the oc- currence of particular sense-data of which it can truly be said that precisely this is entailed by a given statement about a material thing.” (FEK, S. 240). Das Vorliegen eines mate- riellen Dinges impliziert eine Menge verschiedener Sinnesdaten-Sätze, je nach den Um- ständen, in denen es wahrgenommen wird; ihre Anzahl ist letzten Endes unendlich.
Aus all dem darf nun nicht der auf einer faktischen Auffassung beruhende Schluß gezogen werden, daß über materielle Dinge zu reden hieße, über etwas `anderes` als über Sinnesdaten zu reden, oder ausschließlich über Sinnesdaten und weiter `nichts anderes`. Es ist nach Ayer doch noch möglich, materielle Dinge in Ausdrücken von Sinnesdaten zu analysieren; was nicht versucht werden sollte, ist, „to seek in any such analysis a means of distinguishing one material thing from another.“ (FEK, S. 242).
3. Fazit
Ayer sitzt zwischen den Stühlen. Er nähert sich gewissen Positionen an und macht jeder einige Zugeständnisse, lässt sich aber bei weitem nicht von ihnen absorbieren. Auffallend ist an seiner Argumentation die rege Auseinandersetzung mit möglichen Einwänden der Gegenseite und allgemein seine Beschäftigung mit gegnerischen Auffassungen. Es scheint, als würde er sich an ihnen abarbeiten, um zu einem eigenen Standpunkt zu finden. Für die Leserin schält sich seine Auffassung somit erst nach und nach heraus; mitunter bringt Ayer merkwürdig anmutende Bemerkungen hervor, die sich jedoch immer wieder konsistent in seine Option einflechten lassen.
Was er mit den Sinnesdatentheorien teilt, ist die Überzeugung, die Rede von Sinnesda- ten sei sinnvoll. ´Sinnesdaten` lösen auch nach Ayer das Problem, wie wir im Falle täu- schender Wahrnehmung noch von Wahrnehmung sprechen dürfen. Doch vollzieht er nicht den entscheidenden Schritt der Sinnesdatentheoretiker, im Falle der veridischen Wahrnehmung die Wahrnehmung ebenfalls auf bloße Sinnesdaten zu beschränken. Viel- mehr münzt er den Begriff des Sinnesdatums um und erklärt ihn zum Hilfsmittel bei der Analyse von Sätzen, die sich auf materielle Dinge beziehen. D.h., er bestreitet keines- wegs, daß wir materielle Dinge wahrnehmen. Er bestreitet lediglich, daß aus der Analyse von Propositionen über materielle Dinge in Form von Sätzen über Sinnesdaten folgt, daß wir diese materiellen Dinge nicht wahrnehmen. Ayer insistiert beständig auf der Unter- scheidung zwischen der sprachlichen und der faktischen Auffassung des Arguments from illusion, welches ja den Anlaß darstellte, eine ´Sinnesdatensprache` einzuführen. Eine faktische Auffassung kann nur dahin führen, entweder abzustreiten, daß wir materielle Dinge wahrnehmen, bzw. die Existenz von materiellen Dingen überhaupt in Frage zu stellen. Daneben produziert diese Position Probleme bezüglich der Unterscheidung zwi- schen veridischer und täuschender Wahrnehmung, da beide Wahrnehmungsformen einan- der angeglichen werden und wir erneut ein Differenzierungsproblem haben. Fassen wir das Argument from illusion und die Sinnesdatensprache dagegen sprachlich auf, so kön- nen wir nach Ayer sowohl die Existenz der materiellen Dinge anerkennen und gleichzei- tig die Probleme hinsichtlich der Unterscheidung zwischen täuschender und veridischer Wahrnehmung lösen. Wir können sie, da Ayer an mehreren Stellen von Standardbedin- gungen bei der Identifizierung von materiellen Dingen spricht, nicht einmal ohne diese Anerkennung materieller Dinge lösen.
Literaturverzeichnis
Audi, Robert. Epistemology. A Contemporary Introduction to the Theory of Know- ledge. New York 1998
Ayer, Alfred J. The Foundations of Empirical Knowledge. London 1964
[...]
1 Ayer, Alfred J. The Foundations of Empirical Knowledge. London 1964, S. 2. (Im Folgenden werden die zitierten Stellen aus The Foundations of Empirical Knowledge durch in Klammern gesetzte Paragraphen im laufenden Text angegeben; The Foundations of Empirical Knowledge wird dabei abgekürzt durch „FEK“, es folgt die jeweilige Seitenzahl.)
2 Möglicherweise klingt dieser Begriff etwas gekünstelt; das liegt daran, daß er eine mehr oder weniger willkürli- che Übersetzung des englischen Begriffes perceptual realism darstellt, der in Audi, Robert. Epistemology. A Contemporary Introduction to the Theory of Knowledge. New York 1998, S. 28 zu finden und mir nicht weiter bekannt war.
3 Eine ausführlichere und aufschlußreiche Darstellung des `arguments from hallucination` findet sich in Audi 1998, S. 31ff.
Häufig gestellte Fragen
Was ist das Problem der Wahrnehmung, wie im Text "Das Problem der Wahrnehmung" beschrieben?
Der Text beginnt mit der Feststellung, dass unsere Sinne uns manchmal täuschen. Beispiele sind ein im Wasser gebrochen aussehender Stab, eine elliptisch aussehende Münze oder Fata Morganas. Dies führt zur Unterscheidung zwischen Wirklichkeit und Schein, wobei materielle Dinge und tatsächliche Qualitäten die wirkliche Welt ausmachen und Täuschungen bzw. bloße Erscheinungen die scheinbare Welt.
Was sind Sinnesdaten und warum werden sie im Kontext der Wahrnehmung diskutiert?
Sinnesdaten sind das, was wir wahrnehmen, wenn wir keine materiellen Dinge mit ihren "echten" Eigenschaften wahrnehmen. Der Begriff wurde eingeführt, um zu erklären, was wir in Fällen von Täuschungen oder Halluzinationen wahrnehmen. Die Natur und Funktion von Sinnesdaten sind Gegenstand philosophischer Debatten, z.B. ob sie privat sind oder ob sie Eigenschaften haben können, die sie nicht wirklich haben.
Welche unterschiedlichen Wahrnehmungstheorien werden im Text vorgestellt?
Der Text stellt verschiedene Wahrnehmungstheorien vor, darunter:
- Naiven Realismus: Die Sinne erzählen uns etwas über Dinge, die außerhalb und unabhängig von uns existieren.
- Wahrnehmungsrealismus: Fügt den Aspekt der kausalen Relation hinzu, d.h. die Wahrnehmung eines Objekts wird durch Licht verursacht, das von diesem Objekt reflektiert wird.
- Erscheinens-Theorie: Sagt, dass jemandem etwas so und so "erscheint".
- Adverbiale Theorie der Wahrnehmung: Analysiert Wahrnehmung als eine Art und Weise, Dinge wahrzunehmen, die in uns eine Erfahrung bestimmter Qualität verursachen.
- Sinnesdaten-Theorien: Das Einzige, was Gegenstand unserer Wahrnehmung genannt werden darf, sind Sinnesdaten.
- Phänomenalismus: Materielle Dinge sind nichts anderes als ein Set von Propositionen über Sinnesdaten.
Was ist das "Argument from illusion" und welche Rolle spielt es in Ayers Argumentation?
Das "Argument from illusion" besagt, dass gewöhnliche Gegenstände unterschiedliche Eigenschaften aufweisen können, abhängig von den Beobachtungsbedingungen. Ein Stab, der gerade ist, sieht im Wasser gebrochen aus. Da der Stab aber tatsächlich gerade ist, ist die visuelle Erscheinung im Wasser eine Täuschung. Daraus wird gefolgert, dass wir nicht immer materielle Dinge wahrnehmen, sondern manchmal nur Sinnesdaten. Ayer benutzt dieses Argument als Ausgangspunkt, kritisiert aber die faktische Interpretation des Arguments und plädiert für eine sprachliche Auffassung.
Was bedeutet es, das Argument from illusion faktisch versus sprachlich zu interpretieren?
Eine faktische Auffassung betrachtet die Frage, ob wir Sinnesdaten oder materielle Dinge wahrnehmen, als eine Frage, die empirisch beantwortet werden kann. Die Sätze des Arguments beziehen sich auf etwas, das in der Welt entdeckt werden kann. Eine sprachliche Auffassung dagegen betrachtet die Frage als eine Frage der Verwendungsweise von Sätzen und der Analyse der Bedingungen, unter denen wir bestimmte Ausdrücke gebrauchen. Die sprachliche Auffassung argumentiert, dass wir durch das Einführen des Sinnesdatenbegriffs in die Lage versetzt werden, über das zu sprechen was wahrgenommen wird, selbst wenn eine Illusion vorliegt.
Wie definiert Ayer den Begriff "Sinnesdatum"?
Ayer definiert ein Sinnesdatum als: "A ist sensing a sense-datum s, which really has the quality x, and which belongs to M." Die Bedeutung dieser Definition kann je nachdem variieren, ob wir das Wort "wahrnehmen" mit einer Existenz-Implikation ausstatten oder nicht.
Was ist Ayers Kritik am Phänomenalismus?
Ayer kritisiert den Phänomenalismus dafür, materielle Dinge mit Sinnesdaten zu identifizieren. Er argumentiert, dass der Begriff "materielles Ding" nicht synonym mit einem Begriff oder einer Menge von Begriffen ist, die für Arten von Sinnesdaten stehen. Er betont auch die Asymmetrie in der Beziehung zwischen der Wahrnehmung eines materiellen Dinges und der Wahrnehmung von Sinnesdaten. Die Wahrnehmung eines materiellen Dinges impliziert die Wahrnehmung von Sinnesdaten, aber nicht umgekehrt.
Was ist die Schlussfolgerung von Ayers Ausführungen über Wahrnehmung?
Ayer bezieht eine vermittelnde Position. Er akzeptiert die Rede von Sinnesdaten als sinnvoll, um das Problem der Täuschung zu lösen. Allerdings begrenzt er ihre Rolle auf die Analyse von Sätzen, die sich auf materielle Dinge beziehen, und lehnt die Auffassung ab, dass wir grundsätzlich keine materiellen Dinge wahrnehmen. Er betont die Unterscheidung zwischen der sprachlichen und der faktischen Auffassung des Arguments from illusion. Durch die sprachliche Interpretation des Arguments vom Illusion, wir werden ermöglicht die Existenz von materiellen Dingen anzuerkennen und gleichzeitig die Probleme hinsichtlich der Unterscheidung zwischen täuschender und veridischer Wahrnehmung lösen.
- Arbeit zitieren
- Grit Wagner (Autor:in), 2002, Der Sinnesdatenbegriff bei Alfred Ayer, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/107440