Märchen als Produkte der jeweiligen Kultur?
1. Einleitung
Märchen gibt es schon seit frühester Zeit. Selbst im römischen, altägyptischen, also vorchristlichem, Erzählgut, das meist mit Sagen und Legenden in Verbindung gebracht wird, finden sich Märchenmotive, so z.B. in den babylonisch - assyrischen Gilgameschgeschichten (2. Jahrtausend v.Chr.: Tiermensch, Lebenskraut). Solche Märchenmotive in Erzählungen finden sich in allen Zeitaltern. Das Märchen als selbstständige Gattung taucht vereinzelt auch seit den frühesten literarischen Aufzeichnungen, etwa in der altägyptischen Literatur, etc. auf .
Die Gebrüder Grimm waren die ersten, die gezielt Märchen gesammelt und in Sammelbänden veröffentlicht haben. Sie haben den Anstoß für die Märchenforschung gegeben. Schließlich entwickelten sich verschiedene Theorien, die den Entstehungsprozeß von Märchen zu klären versuchen.
Der Entstehungsprozeß von Märchen ist ein wichtiger Aspekt bei der Frage, ob Märchen die jeweiligen Kulturen, in denen sie vorkommen, wiederspiegeln. Sind Märchen alle in einer Kultur entstanden und haben sich dann ausgebreitet oder sind sie unabhängig voneinander in den jeweiligen Kulturen entstanden? Gerade dies beinhaltet ja die Frage, ob Märchen Produkte ihrer jeweiligen Kultur sind und stellt damit den Hauptschwerpunkt dieser Arbeit.
Diese Arbeit soll verschiedene Theorien zur Entstehung von Märchen näher erläutern. Außerdem untersucht sie die unterschiedlichen Auswirkungen von geographischen, zeitlichen und soziokulturellen Unterschieden auf die Entstehung von Märchen und geht damit der Frage nach, ob Märchen wirklich die Kulturthemen ihrer jeweiligen Zeit und Ausprägung beinhalten oder ob sie allgemeingültig für alle Kulturen sind/waren.
2. Allgemeine Vorbemerkungen
Um die Entstehung von Märchen untersuchen zu können, muß erst der Terminus „Märchen“ geklärt werden.
Ein Märchen ist eine „phantastische, realitätsüberhobene, variable Erzählung, deren Stoff aus mündlicher volkstümlicher Traditionen stammt und bei jeder mündlichen oder schriftlichen Realisierung je nach Erzähltalent und - intention oder stilistischem Anspruch anders gestaltet sein kann: fest bleibt jeweils der Erzählkern (...)“.1 Das Märchen ist nahe verwandt mit den Erzähltypen Fabel, Legende, Sage und Mythos. Um sie davon abzugrenzen, „versteht die Forschung heute unter dem Begriff >Märchen< in der Regel das Zauber-Märchen“.2
Typische Kennzeichen eines Märchen sind die „Raum - und Zeitlosigkeit, die wie selbstverständlich wirkende Aufhebung der Natur - und Kausalgesetze (...), das Auftreten von Fabelwesen (...), Einschichtigkeit (...), Handlungsstereotypen (...),...“ und ein stereotyper Schluss.3
Mit der Forschung nach der Herkunft von Märchen beschäftigten sich als Erste die Gebrüder Grimm. Zu Beginn ihrer Arbeit waren Märchen noch „wunderliche Erzählungen, wie sie sich Mütter und Wärterinnen erdenken um damit die Kinder zu unterhalten. Es sind leichte, regellose Machwerke einer spielenden Einbildungskraft. Ein jeder kann dergleichen machen, welcher diese Kraft besitzt. Wenn sie aber gut erzählt werden, so können wohl auch Erwachsene daran Gefallen finden.“4 Dies war die damalige Meinung über Märchen, sie ist auch heute noch bei jenen Menschen, die sich nicht mit den Ergebnissen der Märchenforschung beschäftigen, weit verbreitet.
Im 19. Jahrhundert wurden schließlich aufgrund der Forschungen der Gebrüder Grimm, die die Basis aller weiteren Untersuchungen bilden, mehrere Theorien zur Entstehung von Märchen aufgestellt, die in den folgenden Kapiteln näher erläutert werden.
3. Theorien zur Entstehungsgeschichte von Märchen
Aufbauend auf den Forschungsergebnissen der Gebrüder Grimm (siehe nächstes Kapitel) teilten sich die verschiedenen Forscher in zwei Lager. Einmal waren dies die Forscher, die einen Hauptursprung und die Migration oder Wanderung als Verbreitungsprinzip und Ursache für Veränderung und Variantenbildung annahmen.
Dazu gehören die sogenannte Indische Theorie (siehe Kapitel 3.2.1.) und die Finnische Schule (siehe Kapitel 3.2.2.). Zum anderen gab es die Forscher, die Bedingungen annahmen, die auf der ganzen Erde ähnlich sind und jene Vielzahl an Varianten entstehen ließen (Polygenese und Evolution). Die Polygenese als Ursprungsprinzip nahmen z.B. die anthropologischen Theorien (siehe Kapitel 3.3.) an.
Bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts standen sich hauptsächlich zwei Gruppen von Theorien, aufbauend auf die Grimmschen Studien, gegenüber. Eine Gruppe favorisiert die Monogenese5 und anschließende Diffusion, die andere hält die Polygenese6 mit anschließender Evolution für bestimmend.
Die Entstehungsgeschichte der Märchen ist das stärkste Kriterium in der vorliegenden Untersuchung, ohne diesen Punkt kann die Frage der kulturellen Anpassung von Märchen nicht geklärt werden. Deshalb werden in den folgenden Kapitel die oben genannten Theorien ausführlich dargestellt und erläutert.
3.1. Die indogermanische Theorie: Auffassungen der Gebrüder Grimm (Basis aller Märchenforschungen)
Wilhelm (*1786, †1859) und Jacob (*1785, †1863) Grimm gelten als die Begründer der Märchenforschung. Sie sammelten, zunächst nur in Deutschland, später auch in ganz Europa, mündlich überlieferte Märchen und veröffentlichten sie in ihren „Kinder- und Hausmärchen“. Mit den Anmerkungen dazu, die ab 1923 in einem gesonderten Band erschienen, stellten die Grimms ein umfangreiches Nachschlage - und Vergleichswerk zusammen. In diesen Anmerkungen werden alle Varianten und Quellen aller abgedruckten Märchenfassungen wiedergegeben. Auch wiesen sie mit diesen Anmerkungen zu gleichen Motiven auf die stoffliche und motivische Verwandtschaft in der Volksdichtung und der Weltliteratur hin, welche sich in den Märchen besonders gut zeigte.7 Die Anmerkungen zu den „Kinder- und Hausmärchen“ (im folgenden KHM) bildeten die Grundlage für die vergleichende Märchenforschung und dienten dem weiteren Interesse an der Märchenforschung.
Den Brüdern Grimm ging es bei ihren ganzen Forschungen auf diesem Gebiet allerdings nicht um die Deutung der vorkommenden Motive und Symbole, sondern allein um die „historische Betrachtung der alten Texte“8. Im Zuge ihrer Sammlung der Märchen verfolgten sie daher die Stoff- und Motivgeschichte der europäischen Völker. Dennoch verfolgten sie noch ein weiteres Ziel mit ihrer Arbeit, was ihr Eingreifen in die Texte deutlich zeigt. „Angestrebte Wirkung der ´ungetreuen` Umarbeitungen war es dagegen, ein von sittlich und moralisch Anstößigem freies Familien- und Hausbuch herauszugeben sowie den Anschein historisch alter Literatur des Volkes zu wahren...“9 Ihr Eingreifen in die Rohfassungen der gesammelten Texte hatte eine unerwartete Folge: alle Märchen, die der Art und dem Stil der KHM entsprechen, werden heute der „Gattung Grimm“ zugewiesen.10
Sie formulierten im Laufe ihrer Forschung einige wichtige Aussagen, die den Kern ihrer Theorie zur Entstehung der Märchen bilden.
Diese Aussagen geben vereinfacht folgendes wieder:
1.) Märchen sind ein Erbe, das aus einem grundlegenden Mythos eines ursprünglich einheitlichen Volksstammes überliefert ist. Jacob Grimm sagte dazu folgendes: „ die älteste Geschichte jedwedes volks ist volkssage. jede volkssage ist episch, das epos ist alte geschichte, alte geschichte und alte poesie fallen nothwendig zusammen.“11 Die in der Gegenwart erzählten Geschichten schienen eine Verbindung zur Vergangenheit aufzubauen.
Die Entstehung der Märchen aus einer gemeinsamen Quelle, dem Mythos, heraus, beschreibt Wilhelm Grimm so: „Gemeinsam allen Märchen sind die Überreste eines in die älteste Zeit hinauf reichenden Glaubens, der sich in die bildliche Auffassung übersinnlicher Dinge ausspricht. Dies Mythische gleicht kleinen Stücken eines zersprungen Edelsteins, die auf dem Gras und Blumen überwachsenen Boden zerstreut liegen und nur von dem schärfer blickenden Auge entdeckt werden.“12 Auch sein Bruder führt diesen Gedanken, neben der oben genannten Aussage, weiter aus. So schreibt er: „(...), als beruhen diese Stoffe auf läffischen, der betrachtung unwürdigen erdichtungen, da sie vielmehr für den niederschlag uralter, wenn auch umgestalteter und zerbröckelten mythen zu gelten haben, die von volk zu volk, jedem sich anschmiegend, fortgetragen (...)“13
2.) Märchen können in ihrer Gesamtheit über große Zeiträume hinweg gewandert sein und so weitergegeben und auch verändert worden sein. Diese Aussage formulierten sie so aber erst in den späteren Jahren ihrer Forschungen, nachdem sich auch andere mit dieser Thematik auseinandergesetzt hatten. Zunächst zogen sowohl Jakob und Wilhelm Grimm diese Möglichkeit jedoch nicht in Betracht. Dies zeigt sich deutlich in zwei Aussagen Wilhelm Grimms. So sagte er zum einen: „ Die Grenze (der Verbreitung der Märchen, deren Grundlage der gemeinsame Mythos ist, Anm. d. Verf.) wird bezeichnet durch den großen Volksstamm, den man den indogermanischen zu benennen pflegt, und die Verwandtschaft zieht sich in immer engeren Ringen um die Wohnsitze der Deutschen, etwa in dem Verhältnis, in welchem wir in den Sprachen der einzelnen dazu gehörigen Völkern Gemeinsames und Besonderes entdecken.“14. Zum anderen hat er es noch 1818 als unbestreitbare Tatsache angesehen, dass bei aller Ähnlichkeit der vielen Völker jedes so eigen ausgeprägt sei, dass „ein Abborgen und Herübernehmen auch höchst unwahrscheinlich ist, zumal da sie (die Märchen und Erzählungen, Anm. d. Verf.) nicht in Büchern, sondern in den Überlieferungen des Volkes leben und fortdauern.“15 Später räumt er dann die Möglichkeit der Wanderung ein, sagt aber, dass mit einzelnen Ausnahmen nicht der große Umfang und die weite Verbreitung des gemeinsamen Besitzes zu erklären sei.16
3.) Durch die allen Menschen gleichen grundlegenden Eigenschaften könnten Märchen auch an anderen Stellen entstanden sein und daher gleich Züge aufweisen. Wilhelm Grimm erkannte in den Märchen auch eine elementare soziale Funktion für die Menschen. So war er im Stande, die oben beschriebene Aussage zu formulieren und seinen Blick über die eigenen Forschungen hinweg zu öffnen. Dazu sagte er: „ Wie die Haustiere, das Getreide, Acker-, Küchen- und Stubengeräte, die Waffen, überhaupt die Dinge, ohne welches das Zusammenleben der Menschen nicht möglich scheint, so zeigen sich auch Sagen und Märchen, der befeuchtete Tau der Poesie, so weit der Blick reicht, in jener auffallenden und zugleich unabhängigen Übereinstimmung.“17 An anderer Stelle formulierte er diese Auffassung so: „ Es gibt aber Zustände, die so einfach und natürlich sind, dass sie überall wiederkehren, wie es Gedanken giebt, die sich wie von selbst einfinden, es konnten sich daher in den verschiedensten Ländern dieselben oder doch die ähnliche Märchen unabhängig von einander erzeugen: sie sind den einzelnen Wörtern vergleichbar, welche auch nicht verwandte Sprachen durch Nachahmung der Naturlaute mit geringer Abweichung oder auch ganz übereinstimmend hervorbringen“18.
Diese drei Aussagen bildeten die Basis für alle weiteren Forschungen im Bereich der Märchenkunde, wurden sozusagen Anknüpfungspunkte für spätere Theoriebildungen. Diese werden nun in den weiteren Kapiteln näher erläutert.
Für die vorliegende Untersuchung ist es hauptsächlich von Bedeutung, dass die Grimms von einem gemeinsamen Ursprung aller Märchen ausgehen. Für sie zeigen alle Märchen Symbole und Erzählstoffe aus der indogermanischen Mythologie. Meiner Meinung nach würden sie ihren Aussagen folgend die Frage, ob Märchen die Produkte ihrer jeweiligen Kultur sind, verneinen.
3.2. Die Wandertheorien
Die Wandertheorien basieren auf der Monogenese mit anschließender Diffusion als Entstehungsprinzip und der Migration19 als Verbreitungsprinzip von Märchen. Zu diesen Theorien gehören die Indische Theorie, begründet von Theodor Benfey (* 1809, † 1881) und die sogenannte Finnische Schule, die aus einem Bestreben Finnlands, mehr Eigenständigkeit zu erlangen, heraus entstanden ist.
3.2.1. Die Indische Theorie
Benfrey übersetzte das „Pantschatantra“, eines der berühmtesten Werke der indischen Literatur und veröffentlichte es 1859 mit Anmerkungen in zwei Bänden. Diese Übersetzung und seine ausführlichen Anmerkungen dazu hatten den weitreichendsten Einfluss auf die Wissenschaftsgeschichte.20
Das „Pantschatantra“ wurde von Benfey als eine Sammlung indischer Märchen, Fabeln und anderen Erzählungen aufgefasst, welche ursprünglich zu einem größeren Sanskritwerk gehörten. Um dessen ursprüngliche Gestalt, seine Entwicklung, Veränderungen und seine Herkunft zu bestimmen, benutze Benfey die Kenntnisse historischer Forschungen und ihm vorliegende Übersetzungen in mehreren Sprachen, die in unterschiedlichen Quellen zu finden waren. So versuchte er den Zeitpunkt seiner Entstehung näher zu bestimmen und grenzte ihn schließlich auf die Zeit zwischen dem 2. Jahrhundert v. Chr. und dem 6. Jahrhundert n. Chr. ein.21
Die wesentlichen Punkte der Theorie Benfreys bestehen in der Annahme, dass fast alle Märchen und Erzählungen des „Pantschatantra“ ursprünglich indisch und der buddhistischen Religion entsprungen seien. Die Grundthese der indischen Theorie umfaßt damit die Wanderung der Märchen und Erzählstoffe vom Ursprungsland Indien aus fast über die ganze Welt. Auf die Verwandtschaft und Übereinstimmung zwischen deutschen und indischen Märchen war schon vor Benfrey hingewiesen worden. Die Annahme jedoch, Indien sei der Ausgangsort fast aller Märchen, das war neu in der Märchenforschung.22
Benfrey ging davon aus , dass dieser Wanderungsprozeß vor dem 10. Jahrhundert nur in wenigen Fällen, hauptsächlich durch mündliche Überlieferung, der nach Westen ziehenden Kaufleute, Reisende, etc. vonstatten gegangen ist. Danach habe seit dem Einfall islamischer Völker in Indien die literarische Überlieferung wesentlich zugenommen. Mit den Übersetzungen ins Persische (Tuti-Nameh23 ) und Arabische und dem engen Kontakt des Islams bzw. des Abendlandes (v.a. durch die Kreuzzüge) zu Europa und Afrika fand eine weitere Ausbreitung über die christlich orientierte Welt statt.
Benfey glaubte, die inhaltlich - ideologisch Herkunft der ursprünglich indischen Gattungen in der buddhistischen Literatur erkannt zu haben. Daraus folgerte er, dass sich die Stoffe über die gemeinsame Religion auch auf die östlich und nördlich an Indien angrenzenden Gebiete ausgebreitet haben.24
Benfrey ging im allgemeinen davon aus, dass die Erzählungen und Märchen des „Pantschatantra“ sowohl literarisch als auch mündlich überliefert wurden und dass sich beide Formen gegenseitig beeinflussten.
Des weiteren nahm er an, dass die Grundformen der Märchen in Indien beheimatet seien und erst im Mittelalter auf schriftlichem Weg nach Westen gelangten, wo sie in das Erzählgut der Völker einging und erst in jüngerer Zeit gesammelt und niedergeschrieben wurden.
Für Benfrey bestand kein Zweifel über die literarischen, individuellen Entstehungen der Grundformen der Märchen. Dennoch setzte er sich mit der Möglichkeit der Polygenese als Verbreizungsprinzip auseinander und kam zu der Ansicht, dass gerade bei Märchen mit einem inhaltlichen Stoff, der bei allen Menschen auftritt, selbständige Fassungen entstanden sein könnten.
Da die asiatischen und auch die europäischen Märchen den indischen sehr ähnlich sind, setzt Benfey die indischen an den Anfang der Entwicklung. Falls jedoch auch andere Märchenfassungen entstanden seien, so wären diese so „schwach“ gewesen, dass die indischen sie sozusagen absorbiert hätten und ihre Motive in sich aufgenommen hätten. Einen weiteren Hinweis auf Indien als Ursprungsland der Märchen und ihre Wanderung von dort aus, glaubte Benfey in der Art der Erzählungen gefunden zu haben. So sagte er: „ Durch ihre innere Vortrefflichkeit scheinen die indischen Märchen alles, was etwa Aehnliches bei den verschiedenen Völkern zu denen sie gelangten, schon existiert hatten absorbiert zu haben; kaum dass sich die einzelnen Züge in die rasch angeeigneten und nationalisierten fremden Gebilde gerettet haben mögen.“25
Durch die mündliche Weitergabe kam es zu einer Vergrößerung des Märchenfundus im Volksmund. Benfey reduziert nun diese große Anzahl von Märchen auf einige Grundformen. Es hätten sich also durchaus auch in anderen Gegenden Märchen entwickeln können, aber aufgrund ihrer Vollkommenheit hätten die indischen Märchen die anderen in sich aufgenommen.
Zusammengefasst kann man sagen, dass Benfey davon ausging, dass alle Märchen in Indien entstanden sind und sich von dort aus über die anderen Völker verbreitet hatten. Da alle Menschen meist die gleichen Wünsche, Hoffnungen und Erwartungen an das Leben richten und ihnen allen gleiche Eigenschaften eigen sind, hätten auch in anderen Gegenden Märchen entstehen können, diese wären aber beim Zusammentreffen mit dem indischen Märchengut von diesem aufgrund seiner Vollkommenheit absorbiert worden.
In der Märchenforschung gilt Benfey heute als Begründer der vergleichenden Märchenkunde.26 Zu diesem Ruf gelangte er durch seine Untersuchungen am „Pantschatantra“ und der Verbreitung des darin enthaltenen Erzählguts. Benfey untersuchte mehrere Fassungen einer Erzählung und versuchte, ihre ursprüngliche, also älteste Form zu bestimmen. Eine Fassung war dann für ihn jüngeren Datums, wenn ein Gedanke in mehreren Ausdrücken beschrieben wird oder wenn den „Helden“ der Erzählungen neuere Hilfsmittel zu Verfügung standen (zum Beispiel ein Boot anstatt eines Vogels oder eines fliegenden Wagens) und damit eine Rationalisierung innerhalb der Erzählung erkennbar war.
Mitunter erklärte er Abweichungen auch durch lokaltypische Einflüsse, da die lokalen Gegebenheiten die ursprüngliche Form oft umgestalteten.
Nachdem er alle Fassungen auf verschiedene Kriterien hin hinuntersucht hatte, konnte er jeweils eine Art Stammbaum für das Märchen bzw. die Erzählung erstellen.27 Damit wurden historische Verbindungen zwischen den Fassungen einer Geschichte hergestellt.
Benfey war einer der stärksten Vertreter der Wandertheorie und führte mit seinen Forschungen die schon bei den Brüdern Grimm auftretende These von der Wanderung von Märchenelementen oder sogar ganzer Märchen fort und weitete sie aus.
Er wandte sich entschieden gegen die indogermanische Theorie28 der Brüder Grimm, wiederlegte sie jedoch nicht völlig, da der mythische Gehalt zumindest einiger Erzählungen unbestritten waren.
Bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts war Benfeys Theorie besonders unter Philologen die favorisierte. Beim heutigen Stand der Märchenforschung lehnt man die von Benfey vertretene Theorie ab, da weitergehende Forschungen, zum Beispiel das Auftauchen von Märchenspuren im alten Ägypten und in der griechischen Theorie, die alleinige Herkunft der Märchen aus Indien und dem Buddhismus widerlegten.29 Dennoch gesteht man ihm zu, dass zumindest einige, wenn eben auch nicht alle, Märchenmotive ihren Ursprung in Indien und im Buddhismus haben.
Auch hier ist für die Untersuchung das wichtigste Kriterium, dass Benfey, ähnlich wie die Grimms, ein Ursprungsland für die Entstehung der Märchen annimmt. Aber er erkennt auch lokale Umformungen an. Wahrscheinlich würde er die Frage, ob Märchen die Produkte ihrer jeweiligen Kultur sind, dennoch verneinen, da er sehr von seiner Theorie eingenommen war und keine andere Möglichkeit in Betracht zog.
3.2.2. Die Finnische Schule
Wie oben schon erwähnt entstand die später sogenannte Finnische Schule aus einem Bestreben Finnlands nach mehr Eigenständigkeit heraus. Um dies besser zu verstehen, ist es nötig, die politische Situation Finnlands bis dahin zu erläutern.
Finnland wurde erst im Jahr 1917 die staatliche und damit kulturelle Souveränität zuerkannt. Zuvor hatte es unter schwedische und ab 1808/1809 (Schwedisch- russischer Krieg) unter russischer Herrschaft gestanden und dadurch keine Möglichkeit, eine eigenständige Sprache und Kultur zu entfalten. Jacob Grimm (und andere deutsche Romantiker) hatte die Sprach- und Kulturnation als eine Voraussetzung zur nationalstaatlichen Identität und als spätere Einheit benannt.30 In Anlehnung daran hatten auch die Verfechter der finnischen Unabhängigkeitsbewegung ein großes Interesse an der Ausbildung einer eigenen Sprache und Literatur, die bis dato nur aus Übersetzungen der Bibel und anderen geistlichen Texten ins Finnische bestand. 1846 wurde ein erstes Ziel mit der Gleichstellung der finnischen neben der schwedischen Sprache als Amts-, Literatur- und Schulsprache erreicht. Um eine eigene finnische Kultursprache zu etablieren wählte man den Weg über die finnische Volksdichtung, „als der einzig vorhandenen, wenn auch außerhalb des Volkes wenig bekannten finnischen Literatur in mündlicher Tradition“31.
Die herausragenden Forscher auf diesem Gebiet, die schließlich auch die geographisch-historische Methode entwickelten und anwandten, waren vor allem Julius Krohn (*1802, †1888), sein Sohn Kaarle Krohn (*1863, †1933) und dessen Schüler Antti Aarne (*1867, †1925). Die Methode der Finnischen Schule wurde durch die Untersuchungen von Julius Krohn am Kalevala (finnisches Nationalepos, auch Kalevalalieder; Anm. d. Verf.), sowohl am Text des „Alten Kalevala“ (1835) als auch am Text des „Neuen Kalevala“ (1845, aufbauend auf dem ersteren) entwickelt. Kaarle Krohn wandte die geographisch-historische Methode zum erstenmal auf die Märchenforschung an. Durch die Arbeit von Antti Aarne wurde die geographisch- historische Methode eine anerkannte Methode in der europäischen Volksliteratur.32
Julius Krohn entwickelte, wie oben schon erwähnt, anhand der Kalevalalieder die Arbeitsweise der Finnischen Schule. Das Prinzip, die Siedlungsgeschichte für den Nachweis der werstöstlichen Wanderwege zu nutzen, bildete die dabei Grundlage für die Forschungen. Julius Krohn versuchte neben der Heimat der Erzählungen auch die Urform (ähnlich wie Theodor Benfey) der gesammelten Liedern des Kalevala zu bestimmen. Dazu untersuchte er ihren Verbreitungsweg und den Prozess ihrer Veränderung.
Die Grundauffassung , auf der die Arbeitsweise der Finnischen Schule aufbaut, lässt sich so formulieren:
„ Man nimmt also an, dass die Varianten eines Elements aus einer bestimmten Zeit und einem bestimmten Ort einander entsprechen, dass aber während der Veränderung der beiden Determinanten Ort und Zeit allmählich bestimmte Wandlungen der Stoffe erfolgen. Einander in Ort und Zeit näher stehende Varianten gleichen sich dementsprechend in größerem Maße. Da vorausgesetzt wird, dass bestimmte Gesetzmäßigkeiten des Denkens und der Phantasie existieren, wäre die Möglichkeit, diese Veränderungen wissenschaftlich nachzuvollziehen, gegeben. Der Grad der Veränderung eines volkstümlichen Stoffes hängt nach dem bei Aarne zusammengestellten Prinzipien von der Länge des zurückgelegten Weges ab; ein größerer Verbreitungsraum ließe auf einen längeren Wanderungszeitraum schließen. Während dieser ausgedehnten Zeit wirke eine größere Zahl äußerer Einflüsse auf das volkstümliche Material. Jede Gegend könne zur Variation beitragen.“33
Mit einer komparatistischen Methode versuchten die Forscher die ursprüngliche Form einer Erzählung festzulegen. Dabei wurde zuerst die geographische Ordnung und dann die historische Einteilung ermittelt. Danach lag die Urfassung in inhaltlicher Form vor. Die Rekonstruktion der Urfassung verfolgte den Zweck, Aussagen über das Herkunftsgebiet, die Nationalität und die Verbreitungswege der Texte zu formulieren. Im folgenden werden nun Kriterien genannt, die zur Feststellung der ursprünglichen Form dienen. Dazu zählen: der Umfang des Verbreitungsgebietes, die Verbreitungswege, die allgemeine Beschaffenheit einer Variante, die Natürlichkeit eines Zuges (sehr subjektiv), die Folgerichtigkeit innerhalb einer Form und die Ähnlichkeit bestimmter Züge.34
Zur Bestimmung eines Entstehungsortes nennt Aarne in seinen Ausführungen drei Kriterien, auf die die Form der Erzählung hin untersucht werden sollte: „die Häufigkeit des Auftretens einer bestimmten Variante, damit verbunden ihr Verbreitungsgebiet, die Beschaffenheit eines Märchens in den verschiedenen Gegenden und sein Inhalt“35. Aarne war der Meinung, dass nach der Bestimmung des Entstehungsortes die Wanderwege leicht erkennbar waren. Er unterschied 3 Hauptwanderwege der Märchenformen.
Bei der Entstehungszeit eines Märchens waren die Forscher der Finnischen Schule nur in der Lage, den spätesten Zeitpunkt der Märchenentstehung anzugeben, da sie die literarischen Quellen nur als Bearbeitung von mündlicher Überlieferung verstanden. Ein Anhaltspunkt für die Bestimmung der Entstehungszeit kann der Inhalt des Märchens liefern, da bestimmte Kulturbegriffe bestimmten Zeiten zugeordnet werden können.
Neben der Entwicklung eines Kriterienkatalogs zur Bestimmung der Entstehung von Märchen äußert Aarne auch eigene Gedanken zu diesem Thema. So ist seiner Meinung nach jedes Märchen „ursprünglich eine feste Erzählung, die nur einmal an bestimmter Stelle und zu bestimmter Zeit entstanden ist“36, ebenso wie sie „wahrscheinlich schon von Anfang an zum größten Teil mit der Absicht Vergnügen zu bereiten abgefasst worden“37 sind.
Die Rückführung der Märchen in die primitivsten Zeiten der Völker (wie von den Vertretern der anthropologischen Theorien angenommen, die im nächsten Kapitel näher erläutert werden) als Entstehungszeit der Erzählungen hält er für falsch. Dazu sagt er: „ Der ganze Bau der Märchen beweist, dass sie sich nicht in allerprimitivsten Verhältnissen gebildet haben, sondern Erzeugnisse der geschichtlichen Zeit sind. Es seien z.B. viele in ihnen vorkommende spätere Begriffe, kulturelle Tiere u.a. bemerkt. Ich meine natürlich die der Erzählung ursprünglich angehörenden Züge und nicht die später hinzugekommenen oder durch Modernisierung eines alten Begriffes oder Gegenstandes entsprechende Bildungen, die hier keine Bedeutungen haben“38.
Aarne äußert sich auch zum Entstehungsort der Märchen. Für ihn ist es unwahrscheinlich, dass die Märchen überall auf der Welt entstanden sind. Er glaubt, dass bestimmte Völker besondere Voraussetzungen für das Schaffen von Märchen hatten. So vertritt er die Meinung, dass Indien einen großen Anteil an der Schöpfung der Märchen hat, auch wenn er den Fundus der Erzählungen der indischen Märchenliteratur nicht wie Benfey aus der buddhistischen Literatur ableitet.39 Der Anteil der verschiedenen Völker an der Märchenschöpfung wird sich laut Aarne erst dann aufklären, „wenn zuerst die Schicksale und der Entstehungsort jedes einzelnen Märchens durch Spezialuntersuchungen bestimmt worden sind“40. Neben den besonders kreativen Völkern existieren für Aarne auch besonders kreative Zeitepochen. Für Europa setzt er hierbei das Mittelalter an, da der „abergläubische Geist (...), das Geheimnisvolle und der Mystizismus“41 in dieser Zeit ein fruchtbarer Boden für die Entstehung von Märchen gewesen sind.
Aarne, als Vertreter der Finnischen Schule, würde sich zur Frage nach den kulturellen Eigenheiten von Märchen wahrscheinlich nur ungern äußern, da er sich bewusst ist, dass die Märchenforschung noch nicht sehr weit vorangekommen ist. Ich denke, dass er sich mit dieser Frage auch nicht im Besonderen beschäftigen würde, da er an einer wissenschaftlichen Untersuchung der Entstehung interessiert ist und den eigentlichen Inhalt als solchen eher vernachlässigt bzw. nur als Mittel zum Zweck seiner Untersuchung sieht.
3.3. Die anthropologischen Theorien
Die anthropologischen Theorien wurden im Gegensatz zu den oben genannten Theorien nicht von einem Forscher (bzw. von einer kleinen Forschergruppe) allein entwickelt. Man rechnet heute mehrere Wissenschaftler, die aus unterschiedlichen Wissenschaftsgebieten kommen, zu dieser Gruppe. In diesem Kapitel werden nur zwei dieser Forscher genannt, da eine umfangreichere Auseinandersetzung mit diesem Thema den Umfang dieser Arbeit sprengen würde.
Ebenso wie Benfey und die Vertreter der Finnischen Schule bauen auch die Vertreter der anthropologischen Theorien auf den Untersuchungen der Gebrüder Grimm auf. Besonders der bei Wilhelm Grimm ausgesprochene Gedanke, „das es Zustände gebe, die so einfach und natürlich sind, dass sie überall wieder kehren und sich daher in den verschiedenen Ländern dieselben oder sehr ähnliche Märchen unabhängig voneinander erzeugen“42 fand in den anthropologischen Theorien eine weitgehende Erweiterung und Präzisierung. Bei diesem Gedanken geht es hauptsächlich darum, die weltweiten menschlichen Gemeinsamkeiten zu erkennen, die die Grundlage für zahlreiche, einander ähnliche Märchen bilden sollten. Anders formuliert: aus einer gemeinsamen Grundschicht der Menschheit oder gleich wirkenden Basiselementen hätten sich unabhängig voneinander an den verschiedenen Orten der Erde Märchen herausgebildet, die daher übereinstimmende Merkmale trügen; aufgrund anthropologischer Charakteristika vollzog sich die polygenetische Entstehungsgeschichte mit anschließender Evolution. Die Grundlagen dieses theoretischen Prinzips hatte der Philosoph Theodor Waitz erarbeitet. Die Anwendung dieser Gedanken aus der Anthropologie in der Märchenforschung ist zuerst in den Werken von Edward Burnett Taylor und Andrew Lang zu finden. Sie knüpften an Waitz an und gingen von gleichen Entwicklungsstufen der Völker aus. Tylor führte den bis heute in der volkskundlichen Märchenforschung bedeutsamen Begriff „Survival“ oder „Überbleibsel“ in die Forschung ein, „der die einzelnen Elemente unterschiedlichen Alters im schichtenhaften Aufbau von überlieferten Stoffen der Völker, zu denen die Märchen gehören, bezeichnet“43.
In den anthropologischen Theorien finden sich Vertreter aus verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen, dazu zählen die Anthropologie (Waitz), die Ethnologie/ Völkerkunde (Bastian, Tylor, Lang), die Volkskunde (Mannhardt) und die Psychologie (Freud, Jung)44.
Die Anthropologen Tyler und Lang
Edward Burnett Tylor (*1832, †1917) baute mit seinen Theorien auf den Forschungen von Waitz und Bastian auf, hatte aber etwas differenziertere Auffassungen über die Mythen als Allegorien.45 Für Tylor waren mündliche, über Generationen auf diesem Weg überlieferte Erzählungen die ältesten Geschichten der Welt.
Tylor behandelte das Problem der Entstehung kultureller Elemente bzw. deren Übereinstimmungen auf der ganzen Welt unter Betrachtung der historischen Aspekten. „Entsprechend seiner Prämisse suchte er die Ursachen für die Unterschiede zwischen den Völkern(...) in ihrer Entwicklung und nicht in ihrer Abstammung. Die Stufen der Entwicklung seien bei den verschiedenen Rassen gleich und kehrten an verschiedenen Orten zu verschiedenen Zeiten wieder.“46 Darauf aufbauend erklärte Tylor, dass es drei Möglichkeiten gäbe, wie eine Kenntnis an eine bestimmten Fundort gelangen kann: „durch selbständige Erfindung, durch Erben von Vorfahren in einer entfernten Region und durch Transmission von einer Rasse zu einer anderen.“47 Tylor selbst bevorzugte die erste dieser Möglichkeiten.
Bei den Entstehungsmöglichkeiten war sich Tylor anscheinend nicht ganz sicher, ob er lieber der Monogenese oder der Polygenese den Vorzug gab. Schließlich entschied er sich, Märchen als Ganzes der Monogenese zuzuschreiben, hingegen einzelne Märchenmotive und Mythen polygenetisch zu erklären.
Tylor konnte zur Klärung des Problems des Ursprungs von Märchen keine Regeln aufstellen, dazu sei seiner Meinung nach erst eine Klassifizierung der Mythen notwenig.
Einen wichtigen Aspekt seiner Arbeit stellt die Einführung des Begriffes „Survival“ (=Überbleibsel) in die Märchenforschung dar. Dieser Begriff bezeichnet fortan bestimmte, „ aus älteren Kulturen überlebende Kulturelemente, die sich als isolierte Reste in jüngeren Kulturen erhalten haben“48.
Die Frage, ob Märchen die Produkte ihrer jeweiligen Kultur sind, könnte meiner Meinung nach Tylor nicht direkt beantworten, da er zwar die Polygenese befürwortet, aber dennoch in Einzelfällen zwischen Monogenese und Polygenese abwägt.49
Andrew Lang (*1844. †1912) wendete die von Tylor entwickelten Thesen und die vergleichende Methode auf die Märchen aller Nationen an, ohne sie auf räumliche und zeitliche Gegebenheiten festzulegen. Er ist der Meinung, dass die Märchen ein sehr hohes Alter besitzen und unter Anpassung an die christlichen Vorstellungen in unserem Kulturkreis überlebt hätten.50
Lang entwickelte nach eigener Beschreibung eine Methode, die auf einer doppelten Hypothese aufbaut. „Sie beinhaltet zum einen, dass man ausreichende Zeugnisse für die geistigen Bedingungen der niedrigen und rückständigen Völker erhalten kann. Zum anderen nimmt er an, dass die zivilisierten Rassen entweder den überlieferten Status des Denkens und Handelns durchlebten oder reichlich aus diesem Entwicklungsstadium entlehnten.“51 Der zweite Punkt bildet bei Lang die Grundlage für seine weiteren Ableitungen.
Lang geht davon aus, dass innerhalb verschiedener Völker die gleichen geistigen Bedingungen zu gleichen Bräuchen und ebenso zu den gleichen Erzählungen entstehen. Diese sind unabhängig von der Identität der Rasse.
Lang stützt sich bei seinen Forschungen vor allem auf zwei Punkte: Er setzte übereinstimmende geistige Konstellationen der Völker und ihre parallel geistige Entwicklung voraus.
Zum Ursprung der ´Volksmärchen` äußerte sich lang dahingehend, dass seiner Meinung nach kein Ursprungszentrum festzulegen sei, ebenso wenig die Urfassung einer Erzählung.
Ich bin der Ansicht, dass Lang die Frage nach dem ´Kulturmonopol` auf Märchen verneint hätte.
4. Kriterien zur unterschiedlichen Entstehung von Märchen
Nachdem ich mich mit den oben genannten Theorien zur Entstehung von Märchen beschäftigt hatte, konnte ich mir immer noch keine eigene Meinung zu der Frage, ob Märchen die Produkte ihrer jeweiligen Kultur sind, bilden. Deswegen habe ich beschlossen auch selbst verschiedene Märchen auf verschiedene Kriterien hin zu untersuchen.
Diese Kriterien sind:
- allgemeiner Aufbau der Erzählung
- Übereinstimmen mit den typischen Kennzeichen eines Märchens (s. Kap. 2)
- Übereinstimmungen mit dem Vergleichstext innerhalb
- den Kulturthemen (wie z.B. Religion/Aberglaube)
- den handelnden Personen
Für die Untersuchung habe ich vier Märchen ausgewählt, die ich jeweils zu zwei Themengebieten zusammengefasst habe. Diese sind:
- Märchen in unterschiedlichen Geographieräumen in der selben Zeit
- Märchen im selben Geographieraum in unterschiedlicher Zeit
Im folgenden werden nun die beiden Themengebiete einzeln untersucht und bewertet.
4.1. Entstehung von Märchen in unterschiedlichen Geographieräumen in der selben Zeit
4.1.1. Vergleich chinesischer und altägyptischer Märchen
Zum Vergleich habe ich ein altägyptisches Märchen (Der verwunschene Prinz, siehe Anlage Text 1, im folgenden mit I gekennzeichnet) aus der Zeit um 1350 v. Chr. (etwa 18. Dynastie) und ein chinesisches Märchen ( Der neunköpfige Vogel, siehe Anlage Text 2, im folgenden mit II gekennzeichnet) aus mündlicher Überlieferung ausgewählt. Ich habe diese beiden ausgesucht, weil sie sich in einigen Inhalten entsprechen und teilweise die selbe Thematik behandeln.
Im folgenden werden nun die beiden Texte auf die oben genannten Kriterien hin untersucht. Die Ziffern in Klammern stehen für eine Zeile des im Anhang angefügten Textes, auf die sich meine vorherige Aussage bezieht.
allgemeiner Aufbau der Erzählung
Text I ist nur in Fragmenten erhalten, d.h. der Schluß fehlt. Die Erzählung ist bis dahin schlüssig in sich aufgebaut und hat schon früh ein erstes Happy End (47), welches normalerweise am Schluß erfolgt.
Text II stammt aus mündlicher Überlieferung, wurde also früher nicht schriftlich fixiert. Die Erzählung ist in sich schlüssig aufgebaut, alle Seitenstränge werden im Laufe der Handlung miteinander verknüpft.
Übereinstimmen mit den typischen Kennzeichen eines Märchens (s. Kap. 2)
Text I ist zeitlos, aber ortsgebunden (Wüste) (9). Die Naturgesetze werden aufgehoben (36), aber es gibt keine Fabelwesen in der Erzählung. Als Handlungsstereotypen findet man: der Held ist ein Prinz, seine Auserwählte ist ebenfalls von adliger Abstammung und er muß eine Aufgabe lösen, um sie zu bekommen. Text I erfüllt einige der typischen Kriterien eines Märchens. Text II ist zeit- und ortsungebunden, es treten Fabelwesen auf und der Schluß ist ein für ein Märchen typisches Ende. Text II erfüllt alle Merkmale eines Märchens, was auch damit zusammen hängen mag, dass die Erzählung aus mündlicher Überlieferung stammt und über die Zeit immer mehr den Vorstellungen eines typischen Märchens angepasst worden ist.
Übereinstimmungen mit dem Vergleichstext innerhalb
- den Kulturthemen (wie z.B. Religion/Aberglaube)
In beiden Texten kommen die jeweiligen religiösen bzw. abergläubischen Vorstellungen zum Ausdruck. In Text I treten Tiere als Schicksalsboten auf, die im alten Ägypten als heilig galten (6), des weiteren werden die Hathoren genannt (5). Als weiteren Ausdruck für die Glaubensrichtung werden in der gesamten Erzählung keinerlei magischen Gegenstände benutzt, wie sonst in vielen Märchen üblich. Dies begründet sich in der Angst vor Kefti (=böse Geister). Auch in Text II gibt es diese Entsprechungen zum Glauben der damaligen ( und auch heutigen ) Zeit. So finden sich Drachen und weitere Fabelwesen in der Erzählung (34) (3) (14), ebenso wie magische Gegenstände, die als Glücksbringer funktionieren (39) (53). Ein weiteres Kulturthema, das im Text I behandelt wird, ist die unter Echnaton (18. Dynastie) praktizierte Heirat von königlichen Familienmitgliedern unter ihresgleichen. Echnaton wollte damit die Reinheit des königlichen Blutes bewahren. Diese Überzeugung spiegelt sich in dem Einsperren der Fürstentochter in dem fenster- und türlosen Turm wider (30) (36).
den handelnden Personen
In beiden Texten sind sowohl der Held der Geschichte als auch die Heldin von adliger Abstammung (wie in den meisten Märchen üblich). Der Unterschied besteht jedoch darin, dass in Text I die Prinzessin nicht nur im Hintergrund steht, sondern auch aktiv handelt (41), im Gegensatz zu Text II (23). In beiden Erzählungen ist die Prinzessin eine Art Preis, den es zu gewinnen gibt, nachdem man eine Aufgabe erfüllt hat (I/30 und II/6), auch wenn die Aufgabe aus unterschiedlichen Motivationen heraus gestellt werden (I: Versuch, eine Heirat zu verhindern; II: Rettungsversuch nach Entführung).
Zusammenfassung der Ergebnisse
Bei den beiden vorliegenden Märchen gibt es viele Übereinstimmungen und viele Unterschiede. Diese Unterschiede spiegeln aber meistens die jeweiligen Vorstellungen der damaligen Zeiten und Kulturen wider.
Meiner Meinung nach sind diese beiden Märchen Produkte ihrer jeweiligen Kultur. Text II könnte aber mit einigen kleinen Veränderungen auch zu den Grimmschen Märchen zählen, d.h. es ist viel allgemeingültiger angelegt als Text I. Dies könnte aber auch daran liegen, dass die Erzählung aus mündlicher Überlieferung stammt und sich im Laufe der Zeit sicherlich verändert hat.
4.2. Entstehung von Märchen im selben Geographieraum in unterschiedlicher Zeit
4.2.1. Vergleich der Märchen der Gebrüder Grimm als Beispiel für europäische Volksmärchen und des neuen Märchenzyklus „Harry Potter“ als Beispiel für Moderne Märchen
Zu dieser Untersuchung habe ich die Märchen der Gebrüder Grimm (Sammlung und Veröffentlichung im 19. Jahrhundert) und den Märchenzyklus „Harry Potter“ (1998- 2000) herangezogen. Beide Märchenbände stammen aus dem europäischen Kulturraum, jedoch aus unterschiedlichen Zeiten. Im Laufe der Geschichte hat sich die europäische Kultur stark verändert. Es soll untersucht werden, ob sich diese Veränderungen auch in den Märchen widerspiegeln.
Im folgenden werden die Grimmschen Märchen mit KHM und der Märchenzyklus „Harry Potter“ mit HP abgekürzt.
allgemeiner Aufbau der Erzählung
Die KHM sind meist kurze Erzählungen, die ursprünglich für Erwachsene geschrieben wurden. Die einzelnen Geschichten sind logisch aufgebaut und steigern sich zum Happy End.
HP dagegen ist, wie obern schon erwähnt ein „moderner“ Märchenzyklus, von dem bisher 4 Bände erschienen sind und noch 3 weitere folgen sollen. Diese Geschichte ist für Kinder und Jugendliche geschrieben worden. Die einzelnen Bände sind aufeinander aufgebaut und haben jeweils kurz vor Ende der Erzählung ein Happy End, das aber wieder geschmälert wird durch die Rückreise des Helden zu den bösen Verwandten.
Übereinstimmen mit den typischen Kennzeichen eines Märchens (s. Kap. 2)
Diese Überprüfung entfällt bei den KHM, da die Kennzeichen eines Märchens meiner Meinung nach anhand eben diesen KHM aufgestellt wurden.
Bei den Geschichten von HP gibt es eine Bindung an eine bestimmte Zeit und an einem bestimmten Ort. Dass die Naturgesetze außer Kraft gesetzt werden, gehört zum Kern der Erzählung um einen Zauberschüler. Die Geschichten sind sehr vielschichtig, die Seitenstränge werden aber logisch miteinander verknüpft. Der Schluß ist an sich stereotypisch aufgebaut, bis auf die schon obern erwähnte Einschränkung des Happy Ends.
Übereinstimmungen mit dem Vergleichstext innerhalb
- den Kulturthemen (wie z.B. Religion/Aberglaube)
Da die Kulturthemen in beiden untersuchten Texten den Rahmen dieser Untersuchung sprengen würden, beschränke ich mich auf die Ansicht über Hexen und Zauberer und die mit ihnen in Zusammenhang stehenden Dinge (Aberglaube). In den KHM sind Hexen böse alte Frauen, die die Helden der Geschichte quälen oder mit Flüchen belegen (Beispiele hierfür sind „Hänsel und Gretel“ und „Dornröschen“). In der Zeit in der die meisten Märchen der KHM meiner Meinung nach entstanden sind, hatten die Menschen Angst vor Hexen, was schließlich im späten Mittelalter zu den Hexenverfolgungen und - prozessen führte. Die Hexen sind in den Märchen „überirdische Wesen“, d.h. sie haben keinerlei menschliche Züge, sondern entsprechen ganz den existierenden Vorurteilen. Es wird unterschieden zwischen Hexen (=böse) und Feen (=gut), die Wünsche erfüllen und sehr positive Figuren sind.
Bei HP sind fast alle Protagonisten Hexen oder Zauberer, das Image ist komplett umgedreht. Die „normalen“ Menschen sind die mit am unsympathischsten gezeichneten Figuren der Erzählungen. Aber auch hier wird unterschieden zwischen guten und bösen Hexen und Zauberern, aber im Gegensatz zu den KHM findet kein Eingriff in die Welt der „normalen“ Menschen statt. Es gibt eine klare Ebenentrennung. Das überwiegend positive Image der Hexen und Zauberer spiegelt die seit mehreren Jahren wieder aufkommende Belebung von mythischen Ritualen, etc. und die hohe Beliebtheit von Fantasy und Science Fiction Literatur wieder.
Beide Textvorlagen stellen also die jeweilig vorherrschende Meinung der Gesellschaft über Hexen und Zauberer dar.
- den handelnden Personen
In den KHM sind die Protagonisten meist junge Erwachsene, die man in zwei Gruppen einteilen kann. Entweder sind sie adliger Herkunft (Prinz, Prinzessin) oder stammen aus der Arbeiterschicht, werden am Ende der Geschichte aber auch in den Adelsstand erhoben
(Beispiel: Der gestiefelte Kater). In den mir bekannten Märchen erleben die Protagonisten immer ein Happy End mit dem Partner ihrer Wahl und erhalten eine große Zusatzbelohnung (meist die Hälfte des Königreichs). Sie müssen Abenteuer bestehen und oft gegen böse Ungeheurer kämpfen. Durch die Beschreibung der Figuren entsteht eine klare Rollenverteilung und Sympathieverteilung. In HP sind die Hauptprotagonisten Kinder und Jugendliche. Die Geschichten beschreiben jeweils ein Jahr im Leben von Harry Potter, d.h. mit jedem Band wird er älter und erlebt die selben Dinge wie andere Jugendliche in seinem Alter. Das Happy End besteht in der Beseitigung einer Gefahr, wird aber am Ende jeder einzelnen Geschichte durch Harrys Rückkehr zu seinen Verwandten geschmälert. Die Protagonisten erleben dass, was sich viele Kinder in ihrer Phantasie vorstellen. In der Hinsicht, dass beide Themenkomplexe die Wunschvorstellungen der Menschen wiedergeben, sind sie gleich. Durch das unterschiedliche Denken und die verschiedenen Voraussetzungen innerhalb der Kulturen, in denen sie entstanden sind, haben die Geschichten auch verschiedene Handlungen.
Zusammenfassung der Ergebnisse
Wie schon bei dem ersten Vergleich zeigen, meiner Ansicht nach, die beiden Themenkomplexe die Vorstellungen und Denkensarten ihrer jeweiligen Entstehungszeit auf.
Dies bedeutet, dass auch sie die Produkte ihrer jeweiligen Kultur sind. Besonders deutlich wird dies in den Herrschaftsstrukturen und der Nutzung der zur Verfügung stehenden technischen Errungenschaften.
5. Sind Märchen Produkte ihrer jeweiligen Kultur?
In meiner eigenen Untersuchung wurde deutlich, dass die von mir benutzten Märchen Produkte ihrer jeweiligen Kultur sind.
Dennoch kann ich für mich persönlich, auch unter Berücksichtigung der oben genannten Theorien zur Entstehung von Märchen die Frage nicht richtig beantworten. Meiner Meinung nach sind die Märchen als Gattung gesehen allgemeingültig und nicht an eine Kultur gebunden, da sie immer die Wünsche, Hoffnungen und Vorstellungen aller Menschen wiederspiegeln. Viele Menschen wünschen sich berühmt zu sein, aus ihrem Elend „erlöst“ zu werden und der Held einer Geschichte zu sein.
Wenn man sich aber die Märchen genauer betrachtet, fallen v.a. Unterschiede in den Kulturthemen auf. So gesehen sind Märchen sehr wohl die Produkte ihrer jeweiligen Kultur.
Während der Diskussion nach meinem Referat habe ich diese Meinung auch geäußert und eine meiner Mitstudentinnen berief sich auf die „Märchen aus 1001 und einer Nacht“ als Beispiel für die kulturelle Eigenständigkeit der Märchen. Gerade an diesen Märchen lässt sich gut verdeutlichen, was ich mit meiner oben getroffenen Aussage meine: Die „Märchen aus 1001 und einer Nacht“ scheinen gar nicht in unseren christlich geprägten europäischen Kulturkreis zu passen, dadurch dass sie zu viele Eigenheiten aus der arabischen Welt beinhalten. Ersetzt man aber „Kalif/Schah“ durch „König“ und „Kamel“ durch „Reittier“, werden die Geschichten allgemeingültig für alle Orte und alle Zeiten.
Ich beantworte (für mich) die Frage, ob Märchen die Produkte ihrer jeweiligen Kultur sind, mit den folgenden Punkten:
1.) Märchen im großen Rahmen betrachtet sind allgemeingültig für alle Kulturen in jeder Zeitepoche an jedem Ort der Welt. Sie beinhalten immer die gleichen Kulturthemen wie z.B. Religion, Sitten und Gebräuche, Erziehung, technische Errungenschaften, etc.
2.) Untersucht bis ins kleinste Detail zeigen sich aber Unterschiede auf, die nur eine Entstehungszeit und einen Entstehungsort hinweisen, was bedeutet, dass Märchen nur in ihrer jeweiligen Kultur richtig interpretiert und verstanden werden können.
Letztendlich muß jeder Leser von Märchen diese Frage für sich selbst entscheiden, weswegen ich auch keine „offizielle“ Beantwortung geben kann und will. Im theoretischen Teil dieser Arbeit wurden die unterschiedlichen Meinung zum Thema erläutert und es wurde klar, dass auch die Wissenschaft noch nicht zu einem klaren Ergebnis gekommen ist.
Literaturverzeichnis
Aarne, Antti, Ursprung der Märchen; in: Wege der Märchenforschung (Hrsg. F. Karlinger); Darmstadt 1973; Wissenschaftliche Buchgesellschaft
Brunner-Traut , E., Altägyptische Märchen; Düsseldorf/Köln 1963; Eugen Diederichs Verlag
Lüthi, Max, Märchen; 9. Auflage; Stuttgart 1996; Metzler Verlag
Pöge - Alder, Kathrin, Märchen als mündlich tradierte Erzählungen des Volkes ?; Europäische Hochschulschriften; Frankfurt a.M. 1994; Peter Lang Verlag
Rowling, Joanne K., Harry Potter; Bd. 1-4; Hanburg 1999-2000 (dt. Ausgaben); Carlsen Verlag
Schmidt, Sigrid, Aschenputtel und Eulenspiegel in Afrika; Afrika erzählt; Köln 1991; Rüdiger Köppe Verlag
Wilhelm, R., Chinesische Märchen; Düsseldorf/Köln 1958; Eugen Diederichs Verlag
Anlagenverzeichnis
Text 1 aus: Brunner-Traut , E., Altägyptische Märchen; Düsseldorf/Köln 1963; Eugen Diederichs Verlag; S. 24-28
Text 2 aus: Wilhelm, R., Chinesische Märchen; Düsseldorf/Köln 1958; Eugen Diederichs
Verlag; S.14-17
Text 1
Der verwunschene Prinz
(1) Es war einmal ein König, sagt man, dem kein Sohn geboren war. Da erbat sich Seine
(2) Majestät bei den Göttern seiner Zeit einen Jungen, und sie befahlen, dass ihm einer
(3) geboren würde. Er schlief mit seiner Frau in derselben Nacht, und siehe, sie wurde
(4) schwanger. Als sie ihre Monate der Geburtserwartung vollendet hatte, wurde ihr ein
(5) Sohn geboren. Da kamen die Hathoren (Schicksalsgöttinnen) , um ihm sein Schicksal
(6) zu bestimmen. Sie sagten: „ Er stirbt durch das Krokodil oder durch die Schlange oder
(7) durch den Hund.“ Das hörten die Leute, die bei dem Kinde waren und erzählten es
(8) Seiner Majestät. Da wurde das Herz Seiner Majestät überaus traurig. Und Seine
(9) Majestät ließ ihm in der Wüste ein Haus aus Stein bauen, das mit Leuten und lauter
(10) schönen Sachen des Palastes ausgestattet war. Das Kind ging niemals hinaus.
(11) Als der Knabe groß geworden war, steig er einmal hinauf auf des Hauses Dach und
(12) erblickte einen Windhund, wie er einem erwachsenem Mann folgte, der auf dem Weg
(13) vorbeiging. Er sagte zu seinem Diener, der neben ihm stand: „ Was ist das, was hinter
(14) dem Mann hergeht, der auf dem Weg daherkommt?“ Er antwortete ihm: „ Das ist ein
(15) Hund.“ Da sagte der Knabe zu ihm: „ Man bringe mir auch einen solchen.“ Da ging der
(16) Diener und berichtete es Seiner Majestät, und Seine Majestät sprach: „ Man bringe ihm
(17) einen kleinen Zappler, damit sich sein Herz nicht betrübe“, und man brachte ihm den
(18) Hund.
(19) Und viele Tage danach war der Knabe von Kopf bis Fuß erwachsen und wandte sich
(20) folgermaßen an seinen Vater: „ Was soll dabei herauskommen, dass ich so herumsitze?
(21) Sieh, ich bin nun einmal den drei Schicksalen befohlen. Drum laß mich nach meiner
(22) Neugierde handeln, bis der Gott tut, was er im Sinne hat.“
(23) Da schirrte man ihm einen Wagen an, mit jeder Art von Waffen ausgerüstet, und gab
(24) ihm einen Diener als Gefolgsmann. Man setzte ihn auf das Ostufer über und sagte zu
(25) ihm: „ Zieh nun aus nach deinem Belieben!“ Sein Hund war bei ihm.
(26) (...)
(27) Aber viele Tage danach sagte er zu den Jünglingen: „ Was macht ihr da eigentlich,
(28) schöne Jünglinge?“ Sie antworteten ihm : „ Es geht schon drei volle Monate lang, dass
(29) wir hier die Zeit verbringen hochzuspringen. Denn derjenige, welcher das Fenster der
(30) Tochter des Fürsten von Naharina erreicht, dem wird sie zur Frau gegeben.“ Da sagte
(31) er zu ihnen: „ Ah, wären doch meine Füße nicht so krank, so würde ich gehen um mit
(32) euch hinaufzuspringen.“ Dann gingen sie hochspringen wie es ihre tägliche
(33) Beschäftigung war, indes der Jüngling abseits stand und zusah. Dabei ruhte das Auge
(34) der Tochter des Fürsten von Naharina auf ihm.
(35) Und viele Tage danach kam der Jüngling, um auch mit den Söhnen der Fürsten zu
(36) springen. Er sprang - und erreichte das Fenster der Tochter des Fürsten von Naharina.
(37) Sie küsste und umarmte ihn von Kopf bis Fuß. Man ging, um das Herz ihres Vaters mit
(38) der Nachricht zu erfreuen, und sagte zu ihm: „ Einer der Leute hat das Fenster deiner
(39) Tochter erreicht.“
(40) (...)
(41) Aber die Tochter hielt ihn fest und schwor bei Gott: „ Bei Re-Harachte! Reißt man ihn
(42) von mir los, so werde ich nicht mehr essen, werde ich nicht mehr trinken und werde ich
(43) augenblicks sterben.“
(44) (...)
(45) Ihr Vater ließ den Jüngling und seine Tochter vor sich holen. Der Jüngling trat vor ihn,
(46) und seine Erlauchtheit durchdrang den Fürsten. Da umarmte er ihn und küsste ihn von
(47) Kopf bis Fuß, dann sprach er zu ihm: „ Sage mir, wie es um dich steht. Denn sieh, du
(48) bist jetzt für mich wie ein Sohn.“
(49) (...)
(50) Und viele Tage danach sagte der Jüngling zu seiner Frau: „Ich bin drei Schicksalen
(51) überantwortet, dem Krokodil, der Schlange und dem Hund.“ Sie sagte darauf zu ihm:
(52) „ Dann laß den Hund töten, der dir folgt.“ Er aber sagte zu ihr: „ Wie töricht! Ich lasse
(53) doch meinen Hund nicht töten, den ich selbst aufgezogen habe, als er klein war.“ So
(54) begann sie, ihren Gatten sorgfältig zu pflegen und ließ ihn niemals allein ausgehen.
(55) (...)
Text 2
Der neunköpfige Vogel
(1) Vor langer lebten einmal ein König und eine Königin, die hatten eine Tochter. Eines
(2) Tages ging die Tochter im Garten spazieren. Da erhob sich plötzlich ein sehr großer
(3) Sturm, der sie mit sich führte. Der Sturm aber kam vom neunköpfigen Vogel. Der
(4) raubte die Prinzessin und brachte sie in seine Höhle. Der König wusste nicht, wohin
(5) seine Tochter verschwunden war. So ließ er im ganzen Lande ausrufen: „ Wer meine
(6) Tochter, die Prinzessin, wiederbringt, der soll sie zur Frau haben.“ Ein Jüngling hatte
(7) den Vogel gesehen, wie er die Königstochter in seine Höhle trug. Die Höhle aber war
(8) mitten an einer steilen Felswand. Man konnte von unten nicht hinauf und von oben
(9) nicht hinunter. Wie er nun um den Felsen herumging, da kam ein anderer, der fragte,
(10) was er da tue. Er erzählte ihm, das der neunköpfige Vogel die Königstochter geraubt
(11) und in seine Berghöhle gebracht habe. Der andere wusste Rat. Er rief seine Freunde
(12) herbei, und sie ließen den Jüngling in einem Korb zur Höhle hinunter. Wie er zur Höhle
(13) hineinging, da sah er die Königstochter dasitzen und dem neunköpfigen Vogel seine
(14) Wunde waschen; denn der Himmelhund hatte ihm den zehnten Kopf abgebissen, und
(15) die Wunde blutete immer noch. Die Prinzessin aber winkte dem Manne zu, er solle
(16) sich verstecken. Das tat er auch. Der Vogel fühlte sich so wohl, wie die Königstochter
(17) ihm die Wunde wasch und verband, dass alle seine neun Köpfe einer nach dem anderen
(18) einschliefen. Da trat der Mann aus dem Versteck und hieb mit einem Schwert alle seine
(19) Köpfe ab. Dann führte er die Königstochter hinaus und wollte sie in dem Korb hinauf-
(20) ziehen lassen. Die Königstochter aber sprach: „ Es wäre besser, wenn erst du
(21) hinaufstiegest und ich nachher.“ „ Nein“, sagte der Jüngling. „ Ich will hier unten
(22) warten, bis du in Sicherheit bist.“ Die Königstochter wollte anfangs nicht; doch ließ
(23) sie endlich sich überreden und stieg in den Korb. Vorher aber nahm sie einen Haarpfeil,
(24) brach ihn in zwei Teile, gab ihm den einen und steckte die andere Hälfte zu sich. Auch
(25) teilte sie mit ihm ihr seidenes Tuch und sagte ihm, er solle beides wohl verwahren. Als
(26) aber jener andere Mann die Königstochter heraufgezogen hatte, da nahm er sie mir sich
(27) und ließ den Jüngling in der Höhle, wie er auch rief und bat.
(28) Der Jüngling ging nun in der Höhle umher. Da sah er viele Jungfrauen, die hatte alle
(29) der neunköpfige Vogel geraubt, und sie waren hier des Hungers gestorben. An der
(30) Wand hing eine Fisch, der war mit vier Nägeln angenagelt. Als er den Fisch berührte,
(31) verwandelte der sich in einen schönen Jüngling. Er dankte ihm für seine Rettung. Sie
(32) schlossen Brüderschaft fürs Leben. Allmählich bekam er grimmigen Hunger. Er trat vor
(33) die Höhle, um Nahrung zu suchen, aber da waren überall nur Steine. Da sah er plötzlich
(34) einen großen Drachen, der an einem Stein leckte. Das tat der Jüngling auch, und alsbald
(35) hatte er keinen Hunger mehr. Nun fragte er den Drachen, wie er von dieser Höhle
(36) fortkommen könnte. Der Drache neigte seinen Kopf zum Schwanz und deutete ihm an,
(37) dass er sich darauf setzen solle. Er stieg nun auf den Schwanz des Drachen, und im
(38) Umdrehen war er unter der Erde, und der Drache war verschwunden. Er ging nun
(39) weiter, da fand er eine Schildkrötenschale voll schöner Perlen. Es waren aber
(40) Zauberperlen. Wenn man sie ins Feuer warf, so hörte das Feuer auf zu brennen; wenn
(41) man sie ins Wasser warf, tat sich das Wasser auf, und man konnte hindurchgehen. Er
(42) nahm die Perlen aus der Schildkrötenschale heraus und steckte sie zu sich. Nicht lange
(43) danach kam er an den Strand des Meeres. Er warf eine Perle hinein; da teilte sich das
(44) Meer, und er erblickte den Meerdrachen. Der rief: „ Wer stört mich hier in meinem
(45) Reich?“ Der Jüngling sprach: „ Ich habe Perlen gefunden in einer Schildkrötenschüssel
(46) und habe sie ins Meer geworfen, da hat sich das Wasser aufgetan.“ „ Wenn das so ist“,
(47) sagte der Drache, „ So komm zu mir ins Meer, da wollen wir miteinander leben.“ Da
(48) erkannte er , dass es derselbe Drache war, den er in jener Höhle gesehen. Auch der
(49) Jüngling war da, mit dem er Brüderschaft geschlossen. Es war des Drachen Sohn.
(50) „ Du hast meinen Sohn gerettet und mit ihm Brüderschaft geschlossen, so bin ich dein
(51) Vater“, sagte der alte Drache. Und er bewirtete ihn mit Wein und Speisen.
(52) Eines Tages sagte sein Freund zu ihm: „ Mein Vater wird dich sicher belohnen wollen.
(53) Nimm aber kein Geld, auch keine Edelsteine, sondern die kleine Kürbisflasche dort; mit
(54) der man herzaubern kann, was man will.“ Richtig fragte ihn der alte Drache, was er zum
(55) Lohn haben wolle, und er sprach zu ihm: „ Ich will kein Geld und auch keine
(56) Edelsteine, ich will nur die kleine Kürbisflasche.“ Erst wollte sie der Drache nicht
(57) hergeben. Endlich gab er sie ihm doch. Dann ging er vom Drachenschloss weg.
(58) (...)
(59) Als jener Mann die Königstochter zurückgebracht hatte, da sollte Hochzeit sein. Die
(60) Königstochter aber wollte nicht und sprach: „ Das ist doch nicht der Retter. Mein Retter
(61) wird kommen, er hat die Hälfte meines Haarpfeils und die Hälfte meines seidenen
(62) Tuchs zum Zeichen.“ Als der Jüngling aber so lange nicht kam und der andere den
(63) König drängte, da wurde der ungeduldig und sagte: „ Morgen soll die Hochzeit sein!“
(64) Die Königstochter ging betrübt durch die Straßen der Stadt und suchte und suchte, ob
(65) sie ihren Retter nicht finde. An jenem Tag gerade kam die Sänfte an. Die Königstochter
(66) sah das halbe Tuch in der Hand des Jünglings. Voll Freuden nahm sie ihn mit zu ihrem
(67) Vater. Er musste den halben Haarpfeil zeigen, der passte genau zur anderen Hälfte. Da
(68) glaubte der König, dass es der Rechte sei. Der falsche Bräutigam wurde bestraft, und
(69) man feierte Hochzeit, und sie lebten vergnügt und glücklich bis an ihr Ende.
[...]
1 Metzler Literatur Lexikon; Stuttgart 1990; S. 292
2 ebenda
3 ebenda
4 Aarne A.; Darmstadt 1973, S. 42
5 Monogenese: biologische Theorie von der Herleitung jeder gegebene Gruppe von Lebewesen aus je einer gemeinsamen Urform (Stammform)
6 Polygenese: biologische Theorie von der stammesgeschichtlichen Herleitung jeder gegebener Gruppe von Lebewesen aus jeweils mehreren Stammformen
7 vgl. Pöge-Alder, K.; 1994; S. 26
8 ebenda
9 ebenda
10 vgl. Pöge-Alder, K.; 1994 S. 27
11 Pöge-Alder, K.; 1994; S. 30
12 Lüthi, M.; 1996; S. 63
13 ebenda; S. 31f
14 Aarne, A.; 1973; S. 43
15 ebenda; S. 33
16 vgl. ebenda
17 Pöge-Alder, K.; 1994; S. 33
18 Aarne, A.; 1973; S. 46
19 Migration: Wanderung, Bewegung von Individuen oder Gruppen im geographischen Raum, die mit einem Wechsel des Wohnsitzes verbunden ist
20 vgl. Pöge-Alder, K.; 1994; S. 49
21 vgl. Pöge-Aldeer, K.; 1994; S. 50
22 vgl. Pöge - Alder, K.; 1994; S. 50f
23 Aarne, A.; 1973; S. 45
24 vgl. Pöge - Alder, K.; 1994; S. 50f
25 Pöge-Alder, K.; 1994; S. 52
26 vgl. ebenda; S. 55
27 vgl. Pöge-Alder, K.; 1994; S. 61
28 vgl. Kapitel 3.1.
29 vgl. Lüthi, M.; 1996; S. 69
30 vgl. Pöge-Alder, K.; 1994; S. 63
31 Pöge-Alder, K.; 1994 S. 63
32 vgl. Pöge-Alder, K.; 1994; S. 64
33 Pöge-Alder, K.; 1994; S. 65
34 vgl. Pöge-Alder, K.; 1994; S. 66f
35 Pöge-Alder, K.; 1994; S. 67
36 Aarne, A.; 1973; S. 52
37 Aarne, A.; 1973; S. 53
38 Aarne, A.; 1973; S. 52
39 vgl. Aarne, A.; 1973; S. 55
40 Aarne, A.; 1973; S. 56
41 ebenda
42 Aarne, A.; 1973; S. 46
43 ebenda; S. 84
44 vgl. Pöge-Alder, K.; 1994; S. 86
45 vgl. Pöge-Alder, K.; 1994; S. 96; Allegorie: rational fassbare Darstellung eines abstrakten Begriffs in einem Bild, oft mithilfe der Personifikation
46 ebenda
47 ebenda
48 Pöge-Alder, K.; 1994; S. 96
49 vgl. ebenda
50 vgl. ebenda, S. 98
51 vgl. ebenda
- Arbeit zitieren
- Eva Dauster (Autor:in), 2002, Märchen als Produkte der jeweiligen Kultur?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/107453