Analphabetismus


Facharbeit (Schule), 2000

12 Seiten, Note: sehr gut m


Leseprobe


Analphabetismus

INHALT

THEMA SEITE

1. Einleitung

2. Hauptteil

- 2.1 Thema
- 2.2 Biographie von Sue Torr
- 2.3 Problem von Sue Torr
- 2.4 Biographie von Hanna Schmitz
- 2.5 Problem von Hanna Schmitz
- 2.6 Vergleich der Biographien

3. Schluss

- 3.1 Das generelle Problem der Analphabeten
- 3.2 Die heutige Gesellschaft und der Analphabetismus

4. Anhang

- Verwendete Literatur

- Erklärung

EINLEITUNG

In meiner Hausarbeit über die auf dem Titelblatt gestellte Aufgabe soll es inhaltlich um das Thema Analphabetismus gehen. Hierbei dienen die Biographien der beiden Analphabetinnen Sue Torr (England) und Hanna Schmitz (Figur aus dem Buch „Der Vorleser“ von Bernhard Schlink) als Veranschaulichung dieses gesellschaftlichen Problems. Unter Analphabetismus versteht man die „Unfähigkeit einzelner Menschen oder ganzer Bevölkerungsgruppen, sich der Schriftsprache als Kommunikationsmittel zu bedienen.“1 Unterschieden wird hierbei zwischen dem primären (natürlichen) Analphabetismus, der im allgemeinen in Ländern ohne oder mit gering ausgebauter Schulbildung anzutreffen ist, und dem sekundären Analphabetismus, bei dem zwar eine Schulbildung vorliegt, diese aber durch mangelnde Übung wieder verlernt wurde. Warum aber ist das Problem des Analphabetismus in Deutschland, einem sozial abgesicherten Land mit Schulpflicht und kostenloser Bildung, überhaupt ein Thema? Die Zahlen geben uns hier eine Auskunft. Weltweit gibt es etwa 950 Millionen Analphabeten. Dies wäre somit etwa jeder sechste Mensch, also etwas mehr als 15%. In Deutschland ist die Analphabetenrate 6%, also deutlich unter dem Welt-Durchschnitt, in dem auch Entwicklungsländer ohne geregeltes Schul- und Bildungssystem eingerechnet sind. Man geht aber davon aus, dass 14% aller Erwachsenen Schwierigkeiten mit Lesen und Schreiben haben. Die Dunkelziffer ist hier auch ein Faktor, den man nicht unterschätzen sollte. 7% aller Kinder haben Lernschwierigkeiten und sind auf dem besten Weg zum sekundären Analphabetismus. Diese Zahlen beweisen, dass der Analphabetismus ein nicht unerhebliches Problem in Deutschland ist und immerhin jeden 17. Bundesbürger betrifft! In der Bundesrepublik und anderen Industrieländern stoßen wir oft auf den funktionalen Analphabetismus, der wie folgt definiert wird: „Funktionale Analphabeten sind Menschen, die aufgrund fehlender, unzureichender oder unsicherer Beherrschung der sich stets wandelnden Schriftsprache und aufgrund der Vermeidung schriftsprachlicher Eigenaktivität nicht in der Lage sind, Schriftsprache für sich und andere im Alltag zu nutzen.“2 Der moderne Analphabet lernt also erst Lesen und Schreiben und verlernt es dann wieder.

HAUPTTEIL

2.1 THEMA

Die Frage, die auf den folgenden Seiten beantwortet werden soll, ist die, warum es Analphabetismus in Deutschland gibt, wie die Betroffenen damit umgehen und was diese Problematik mit unserer Gesellschaft zu tun hat. Außerdem sollen die Biographien von Hanna Schmitz und Sue Torr diese Problematik beispielhaft erläutern. Die Entwicklung der beiden Persönlichkeiten in der Zeit ihres Analphabetismus zeigt die Probleme und Komplexe, die hierbei entstehen. Außerdem zeigen die Unterschiede und Gemeinsamkeiten den Unterschied zwischen unumgänglichen und individuellen Lösungsmöglichkeiten. Natürlich muss man berücksichtigen, dass Hanna Schmitz im Gegensatz zu Sue Torr eine erfundene Figur aus dem Roman „Der Vorleser“ ist.

2.2 BIOGRAPHIE VON SUE TORR

Die gebürtige Britin Sue Torr wuchs in Plymouth auf. Sie war eines von acht Kindern in einer Arbeiterfamilie. Der Vater arbeitete als Tapezierer und Maler, die Mutter als Haushaltshilfe. Der Alltag war also von Stress gekennzeichnet. Es blieb daher keine Zeit für Bücher und dergleichen. Sue ging zwar zur Schule wie auch ihre Geschwister, aber im Gegensatz zu den anderen Kindern nahm sie das Lernen des Alphabetes nicht so ernst. Sie stufte es als langweilig ein, und bekam von Zuhause auch keine gegensätzlichen Anregungen, da dort andere Probleme an der Tagesordnung waren und man seine Aufmerksamkeit als Elternteil durch acht teilen musste. Die Lehrer reagierten nicht mit Maßnahmen auf Sues Lernverhalten. Sie stuften sie erst als „etwas langsam“ und später dann als hoffnungslosen Fall ein. So bekam Sue auch von dieser Seite keinen Ansporn ihr Lernverhalten zu ändern. Sie vollendete ihre Schullaufbahn, ohne lesen und schreiben zu können, und setzte sich nun als einzige Aufgabe die Geheimhaltung ihres Analphabetismus. Die vorher geplante Stelle in einer Modeboutique musste sie aufgrund ihres Makels verwerfen und sich nach Jobs umgucken, in denen Lesen und Schreiben nicht Grundvoraussetzung war. Doch auch in ihrem Job als Kellnerin stieß sie immer wieder auf die „verhassten“ Buchstaben und Zeichen und musste ständig Ausflüchte für ihre Irrtümer auf diesem Gebiet suchen. Mit der Zeit lernte und standardisierte sie einige Entschuldigungen und Ausflüchte um glaubwürdiger unerkannt zu sein. Sie musste vom Zeitpunkt nach dem Schulabschluss an ein „Lügenleben“ führen, und dies erforderte ständige Aufmerksamkeit und Vorsicht. Mit sechzehn Jahren verliebte sich Sue dann in einen Marinesoldaten und bekam von diesem in dessen Abwesenheit auf See Liebesbriefe, die sie nicht lesen konnte. Sie musste sie sich von ihrer Schwester vorlesen lassen und merkte sich wichtige Stellen für die schriftliche Antwort. Diese stellt das größere Problem dar, da die einzige Möglichkeit für sie dazu das Abschreiben von Zeichen war, deren Sinn sie aus irgendeinem Grund zu erahnen glaubte. Natürlich erntete sie für die auf diese Weise entstandenen Briefe nicht gerade viel Lob! Trotzdem heiratet sie den Soldaten später. Mit der Zeit erst lernte Sue, dass sie nicht die Alleinschuld an ihrem Analphabetismus trug. Die Lehrer hatten sie betrogen und somit war ihr Schicksal keine Schande mehr für sie. Diesen Gedanken zum Motiv fing Sue an zu ihrem Makel zu stehen und erhielt somit die Möglichkeit, das Lesen und Schreiben zu lernen. Als sie dies mit 42 Jahren endlich konnte, verfasste sie über das Problem ihrer Lebensgeschichte ein Stück und erhielt dafür eine bedeutende Auszeichnung.

2.3 DAS PROBLEM DER SUE TORR

Sue Torrs Biographie steht stellvertretend für einige ähnlich verlaufene Lebensgeschichten von Analphabeten. Dies ist wahrscheinlich mit ein Grund für den Erfolg ihres Stückes. Wie schon im Lebenslauf deutlich wurde, gehört Sue zu der Gruppe der sekundären Analphabetinnen. Obwohl sie eine Schulbildung erhalten hat, lernte sie nie Lesen und Schreiben. Sie nahm den Unterricht nicht war und verpasste so den Anschluss, was zu einer völligen Hilflosigkeit auf diesem Gebiet führte. Diese Entwicklung ist auf unterschiedliche Ursachen zurückzuführen:

1. Die Unlust am Unterricht. Wie viele Jugendliche verspürte Sue nicht den Drang nach Wissen und Lernen. Sie sah die Wichtigkeit der Dinge nicht ein, die ihr vermittelt wurden, und schenkte ihnen daher keine Aufmerksamkeit.

2. Die Eltern. Diese hatten weder Zeit sich um Sues Problem zu kümmern, noch sahen sie Wichtigkeit in Literatur und anderen Dingen, die das schulische Wissen außerhalb des Unterrichts förderten. Ihre Werte lagen in anderen Bereichen. Sue hatte von ihnen also keine Unterstützung zu erwarten.

3. Die Lehrer. Die Schule machte sich nicht gerade Mühe, Schüler wie Sue zu fördern. Wer nicht freiwillig am Unterricht teilnahm, der nahm seine Chance nicht wahr und war somit auch nicht würdig unterrichtet zu werden. Auf soziale Probleme nahm man keine Rücksicht. Die Lehrer hatten schließlich auch ihre Probleme.

Dies waren die Hauptfaktoren, die zum Analphabetismus von Sue Torr geführt haben. Ihre spätere Lebensweise verschlimmerte das Problem. Statt es zu lösen ging sie ihm aus dem Weg. Sie ging ihm ihr halbes Leben systematisch aus dem Weg, da sie sich schämte und sich als verantwortlich für ihren Makel ansah.

2.4 BIOGRAPHIE VON HANNA SCHMITZ

Hanna Schmitz ist neben Michael die 2. Hauptperson im Roman „Der Vorleser“ von Bernhard Schlink. Die Informationen über ihren Lebenslauf stammen aus dieser Lektüre.

Hanna Schmitz wurde am 22. 10.1922 (Ort unbekannt, Deutschland) geboren. Über ihre Jugend und Kindheit sind keine Angaben im Buch gemacht. Es wird auch nichts darüber berichtet, ob Hanna eine Schulausbildung hatte bzw. wie sie zum Analphabetismus gekommen ist. Tatsache ist, dass sie bis kurz vor ihrem Tod weder lesen noch schreiben konnte. Auch Hanna Schmitz war mit 17 Jahren darauf bedacht, ihren Beruf so zu wählen, dass ihr Makel nicht auffallen würde. Sie nahm 1939 eine Arbeit bei Siemens an. Dort fiel ihre Schwäche nicht auf. Als man sie allerdings befördern wollte, war ihr klar, dass auf der nächst höheren Stufe auch Lesen und Schreiben gebraucht würden. Daher wechselte sie im Herbst 1943 ihren Beruf und ging zur SS. Dort wurde sie Aufseherin in einem Lager in Auschwitz. 1944/45 wechselte sie nach Krakau. Die dort zu verrichtende Arbeit verlangte nicht nach Fähigkeiten, die sie nicht besaß. Da die Gefangenen ihr schutzlos ausgeliefert waren, ließ sie sich vereinzelt von diesen vorlesen. Sie holte dazu besonders schwache Mädchen zu sich, bevor diese auf den Weg in den Tod geschickt wurden, damit ihr Lebensgeheimnis nicht verraten werden konnte. 1945 flohen die Aufseher mit den gesamten Gefangenen vor der Roten Armee nach Westen. Dabei kam es zu einer Brandkatastrophe bei einer Übernachtung in einer Kirche. Die Gefangenen verbrannten fast alle, da ihr Quartier verriegelt war und die Aufseherinnen ohne dies zu ändern vor den Flammen flohen. Nach ihrem Aufenthalt bei der SS zog Hanna nach Kassel und wohnte seit 1945 dort und an anderen Orten. Sie verdiente sich den Lebensunterhalt durch Gelegenheitsjobs. 1950 zog Hanna in die Stadt um, in der auch Michael wohnte, die Hauptperson des Buches, und nahm dort einen Job als Straßenbahnschaffnerin an. Im Herbst 1950 begegnete sie zum ersten Mal dem 15 jährigen Michael und begann im Februar 1959 eine Beziehung mit diesem. Sie ließ sich von dem minderjährigen Michael immer wieder Geschichten vorlesen und verhielt sich ihm gegenüber sehr dominant. Von ihrem bisherigen Leben erzählte sie ihm nichts. Im April 1959 machten die Beiden zusammen eine Fahrradtour, in der Michael erste Anzeichen von Hannas Analphabetismus auffielen. Er sprach sie aber nicht weiter darauf an, da sie ihn immer wieder abwimmelte. Im Sommer 1959 verließ Hanna auf einmal ohne jede Erklärung oder Ankündigung die Stadt. Michael hörte die nächsten Jahre nichts mehr von ihr. Hanna wurde dann im Frühjahr 1966 vor Gericht geladen. Sie wurde aufgrund der Brandkatastrophe auf der Flucht 1945 zusammen mit einigen anderen ehemaligen Aufseherinnen angeklagt. Dort sah Michael sie, nahm aber keinen Kontakt auf. Im Juni 1966 flog sie zur Anhörung von Zeugen mit dem Gericht nach Israel. Während des Prozesses lud Hanna mehr und mehr Schuld auf sich, da die anderen von ihrer defensiven Haltung, aufgrund der Vorsicht nicht als Analphabetin erkannt zu werden, profitierten. Aufgrund von Anklagen, die sie zum Teil wegen ihres Analphabetismus gar nicht begangen haben konnte, wurde Hanna Ende Juni 1966 zu lebenslanger Haft verurteilt. Im Gefängnis erhielt Hanna 1974 eine Kassette mit aufgenommenen Vorlesetexten von Michael. Dieser folgten nach und nach weitere. Schließlich sah Hanna keinen Sinn mehr in ihrem Versteckspiel und lernte Lesen und Schreiben während ihrer Haftzeit. Allerdings entschied sie sich für die Methode des Selbststudiums, da sie weiterhin nicht erkannt bleiben wollte, und machte den Prozess dadurch schwieriger. 1978 schrieb sie dann den ersten Brief an Michael. Aufgrund guter Führung wurde Hanna im Jahre 1984 begnadigt. Sie traf sich im Gefängnis mit Michael, der als einziger Angehöriger galt. Er und die Gefängniswärterin hatten noch die Resozialisierung Hannas besprochen, als diese sich in ihrer Zelle erhängte. In ihrem Abschiedsbrief erwähnte Hanna lediglich die Überbringung ihres Vermögens an eine jüdische Stiftung für Analphabeten.

2.5 DAS PROBLEM VON HANNA SCHMITZ

Bei Hanna Schmitz ist wenig über ihren Weg zum Analphabetismus bekannt. Somit kann man auch wenig über die Faktoren sagen, die dazu führten. Doch über ihr Leben mit dem Analphabetismus, den sie bis kurz vor ihrem Tod bei sich „versteckte“, wird von Schlink einiges berichtet. Die Berufswahl Hannas war stark durch ihre Schwäche bestimmt. Dies war auch der Grund für ihr plötzliches Verschwinden ohne die Benachrichtigung Michaels und die sonstigen häufigen und unerklärlichen Berufs- und Wohnsitzwechsel. Hanna lebte auch unter der ständigen Angst „geoutet“ zu werden und floh auf diese Weise vor dieser Angst. Die Beziehung zu Michael war eine Situation in Hannas Leben, die von gewöhnlichen Zuständen abweicht. Sie war einmalig und insofern unberechenbar. Aus diesem Grund erkannte Michael und zwarnurMichael, was Hanna als Lebenslüge mit sich führte. Zuerst erkannte er nur, dass etwas mit ihr nicht stimmte. Er erkannte dann, dass sie etwas verbarg, das sie „müde“ machte, im Sinne von „bedrückt“. Dass er ihr vorlesen musste, machte Michael nachdenklich. Hanna dachte, sie könne mit Michael umspringen wie mit den jüdischen Häftlingen. Michael führte aber (aus seiner Sicht) eine Liebesbeziehung zu Hanna. Zuerst nur aus seiner Sicht. Hanna sah das ganze vorerst als einen Tausch zwischen Sex und Vorlesestunde an. Mit der Fahrradtour beging sie dann einen Fehler. Diesen hätte sie in ihrer ängstlich-vorsichtigen Lebenseinstellung mit dem Ziel unerkannt zu bleiben nie begangen. Bei diesem Ausflug war sie nämlich 24 Stunden am Tag mit dem Jungen zusammen und ihm musste da etwas auffallen. Dies war auch der Fall. Der Zettel, den Hanna angeblich nicht gefunden haben sollte, die Reiserouten, die er allein heraussuchen sollte... Hier wurde Michael skeptisch und hieraus schloss er letztendlich, dass Hanna Analphabetin war. Hanna hätte dies vermeiden können, und weil sie es nicht tat, musste auch sie etwas für Michael empfunden haben. Obgleich es auch nicht gereicht hat um bei Michael zu bleiben, geschweige denn ihm die Lebenslüge anzuvertrauen.

Hier lag das Problem Hannas. Ihr Makel bedrückte sie so sehr, dass sie am Ende sogar die lebenslange Haftstrafe auf sich nahm, nur um nicht entblößt zu werden. In ihr gab es so etwas wie eine Sperre der Scham. Hanna hätte mit der Energie (Worte Michaels), die sie zur Vertuschung ihres Makels benötigte, schon 1000mal Lesen und Schreiben lernen können. Sie maß nicht mehr realistisch die Relation von Gewinn und Verlust ab, wenn sie ihre Schwäche vertuschte. Sie war nicht mehr darauf bedacht diese zu beseitigen. Sie hatte in sich nur noch den Mechanismus der Vertuschung.

Hannas Lebenseinstellung ließ also nicht zu, dass sie gegen ihr Problem ankämpfte. Ihre spätere Einsicht erfolgte mehr aus der Resignation, als aus der Einsicht. Hanna hatte absolut überhaupt nichts mehr zu verlieren und wusste nicht mehr was sie noch tun sollte. Gleichzeitig war Lesen und Schreiben nicht mehr für sie notwendig. Einerseits ist es Ironie des Schicksals, dass sie gerade jetzt beginnt dies zu lernen. Andererseits ist es vielleicht die Last, von der sie befreit ist, die ihr diesen Schritt letztendlich ermöglicht hat. Doch als die Last zurückzukehren drohte (die Entlassung in die Welt der Schriftzeichen), floh Hanna ein letztes Mal vor ihr (indem sie sich das Leben nahm), und befreite sich somit von dieser.

2.6 VERGLEICH DER BIOGRAPHIEN

Sowohl die Lebensläufe, als auch die darin dominierenden Probleme in Hinsicht auf den Analphabetismus sind nun ausreichend analysiert worden. Es soll jetzt darum gehen diese Probleme in individuelle und generelle, situationsunabhängige Probleme zu sortieren.

Worüber kein Vergleich stattfinden kann, ist die Situation, die zum Analphabetismus führt. Ich denke, dass dieser Punkt aber auch noch zu den individuelleren Problemen gehört. Trotzdem sind die Hauptprobleme der Sue Torr (Lehrer, Eltern, Unlust am Unterricht) häufig auftretende Faktoren. Wenn man die Probleme betrachtet, die Sue und Hanna im Laufe ihres Lebens verfolgen, so stellt man doch sehr beeindruckende Parallelen fest. Die bei Hannas Problemanalyse beschriebenen Faktoren, die Sperre der Scham und der Mechanismus der Vertuschung, sind ganz klar auch bei Sue Torr zu erkennen. Diese beiden Faktoren sind im Doppelpack eine unüberwindbare Barriere, die für Hanna auch unüberwindbar blieb. Sie schaffte es erst sich zu ihrer Schwäche zu bekennen, als es keinen Nutzen mehr hatte. Vorm Eintritt in die Gesellschaft hatte sie dann aber soviel Angst, dass sie sich das Leben nahm. Die Überwindung der Barriere scheiterte endgültig. Sue Torr hat es im Gegensatz zu Hanna geschafft. Eine innere Beklemmung, die eingeredete Selbstverschuldung an ihrem Analphabetismus, wurde überwunden und löste bei ihr die Sperre der Scham, denn nun gab es nichts mehr, für das sie sich hätte schämen müssen. Doch für diese Überwindung musste einen Moment lang der Mechanismus der Vertuschung in Frage gestellt werden. Dies musste erst einmal geschafft werden und dann konnte auch selbiges mit der Selbstverschuldung getan werden. Ob bei Hanna diese Selbstverschuldung einfach stärker ausgeprägt war, weiß man nicht. Was man aber weiß ist, dass die automatische Vertuschung und die Hemmung vor der Entblößung unheimlich extrem bei ihr vorhanden waren. Diese beiden Faktoren sind also bei beiden Frauen anzutreffen. Natürlich ist auch eine Ähnlichkeit in der Umstrukturierung der Lebensgewohnheiten zu erkennen. Beide suchten ihre Jobs ihrer gemeinsamen Schwäche entsprechend aus und beide fliehen vor den höheren Anstellungen. Beide entwickelten Taktiken der Vertuschung und Entschuldigung und beide lebten in der Angst mit ihrem Versteckspiel aufzufliegen.

3. SCHLUSS

3.1 DAS GENERELLE PROBLEM DER ANALPHABETEN

Bei dem Vergleich der beiden Biographien stellten sich einige Probleme heraus, die generell für Analphabeten von Bedeutung sind. Wie man zum Analphabetismus kommt ist individuell unterschiedlich, aber es gibt einige Kategorien von Wegen dorthin. Der Weg der Sue Torr ist einer, den sehr viele sekundäre Analphabeten gehen mussten. Bei primären Analphabeten muss man sich über einen „Weg“ zum Analphabetismus nicht unterhalten. Funktionale Analphabeten gelangen meist auch über ähnliche Muster zu ihrem Problem. Funktionale Analphabeten sind in Deutschland nicht selten geworden. Sie entwickeln sich vor allem aus Legasthenikern und anderen Menschen, die gravierende Probleme mit Rechtschreibung und Lesen haben. Diese Menschen vermeiden die Schriftsprache im Alltag und verlernen das, was sie ohnehin nur ansatzweise anwenden können. Diese Wege führen schließlich zum Analphabetismus. Unterschiedlich ausgeprägt ist bei den meisten Menschen die Hemmschwelle, die das Zugeben einer solchen Schwäche nicht zulässt, doch sie ist bei fast allen vorhanden. Es entsteht eine Sackgasse:

Der Makel soll nicht veröffentlicht werden und wird somit vertuscht. → Mit der Vertuschung wird der Makel verschlimmert. → Es entsteht Angst vor der Entblößung.

→ Die Vertuschung wird systematisiert.

→ Es stellen sich Schamsperre und Vertuschungsautomatik ein. → Der Makel muss gebilligt werden.

Das Modell lässt sich auf fast jeden individuellen Fall von Analphabetismus anwenden.

3.2 DIE HEUTIGE GESELLSCHAFT UND DER ANALPHABETISMUS

Das Problem ist also bekannt: Analphabeten befinden sich in einer selbstgebauten Sackgasse. Selbst wieder herauszufinden ist schwierig und oft (siehe Hanna) gar nicht möglich. Warum also haben es Analphabeten gerade bei uns so schwer und wie können wir diesen Leuten helfen?

Schwer haben es Analphabeten gerade in Europa, weil dieses Land einfach von einer normalen, abgeschlossenen Schulbildung ausgeht. Der anspruchsvolle Alltag ist auf Lesen und Schreiben fixiert und lässt sich nicht umgehen. Dennoch versuchen die Analphabeten es und machen sich das Unmögliche zur Aufgabe. Neue Medien, allen voraus der Computer, bauen auf Schrift und Zeichen auf. Auch wenn immer ausgefeiltere Soundsysteme entwickelt werde, so ist die Schrift immer noch ein unverzichtbares Mittel der Kommunikation. Wenn man sich vor Augen führt, dass es selbst in Deutschland sehr viele Analphabeten gibt, so muss man einen Weg finden, diesen zu helfen. Als erstes muss man den Analphabeten ihre Selbstverschuldung ausreden und ihnen das Schamgefühl nehmen. Am besten geht das durch eine Veröffentlichung des Problems. So wissen die Analphabeten, dass sie nicht allein sind, und somit sehen sie ein, dass es nicht ihr individuelles Problem ist. Der nächste Schritt besteht in Hilfeleistungen für die Analphabeten. Kurse für das Wiedererlernen von Lesen und Schreiben müssen angeboten werden, ohne dass ihre Besucher sich dafür schämen müssen diese zu besuchen.

Diese Idee ist bereits in die Tat umgesetzt worden. Es gibt den Tag der Alphabetisierung am 8. September3, der als Ziel, die Alphabetisierung der 4 Millionen Menschen in Deutschland, die weder lesen noch schreiben können, hat. Als Mensch, der nicht direkt von diesem Problem betroffen ist, sollte man aber nicht die Augen davor verschließen. Dem Problem des Analphabetismus liegt das Problem der Unlust am Schulunterricht zu Grunde. In Deutschland bekommt jederJugendliche eine Schulausbildung. Was er daraus macht, ist ihm überlassen. Dieses Problem stellt immer eine Schwächung der Wirtschaftskraft eines Landes dar. Leute mit niedriger Qualifikation können entweder nicht viele oder gar keine Steuern zahlen. Sie können auch von Sozialhilfe leben und somit von Steuergeldern. Jeder in diesem Land lebende Mensch sollte also daran interessiert sein diesen Missstand zu beheben. Es würde uns auch vor weiteren beschämenden Fakten bewahren, wie der PISA Studie.

VERWENDETE LITERATUR:

Schlink, Bernhard „Der Vorleser“ Diogenes Verlag Zürich 1997

„Ich will herausschreien,...“ in „DER SPIEGEL“ Nr. 43, 1994 S. 216-220

„Immer mehr Erwachsene“ in „Westdeutsche Allgemeine Zeitung“ vom

9.9.1999

„Königs Erläuterungen“ zu „Der Vorleser“, C. Bange Verlag

Internet:

http: //www.111er.de/lexikon/begriffe/analphab.htm) Datum: 30.05.02

http://www.uni-hannover.de/en/aktuell/pressein/2001/2001presseinfo76.htm

[...]


1Zitat: http : //www.111er.de/lexikon/begriffe/analphab.htm) Datum: 30.05.02

2 Zitat: http://www.111er.de/lexikon/begriffe/analphab.htm) Datum: 30.05.02

3 Quelle: http://www.uni-hannover.de/en/aktuell/pressein/2001/2001presseinfo76.htm

Ende der Leseprobe aus 12 Seiten

Details

Titel
Analphabetismus
Note
sehr gut m
Autor
Jahr
2000
Seiten
12
Katalognummer
V107513
ISBN (eBook)
9783640057764
Dateigröße
493 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Analphabetismus
Arbeit zitieren
Markus Peters (Autor:in), 2000, Analphabetismus, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/107513

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