Sozialdemokratie im Wandel - Das Jospin-Papier


Hausarbeit (Hauptseminar), 2002

28 Seiten, Note: 2+


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

1. Der Dritte Weg
1.1. Ursprung und Verlauf
1.2. Liberalismus und der Dritte Weg –Tony Blair und Gerhard Schröder

2. Die klassische Sozialdemokratie
2.1. Die Grundprinzipien der klassischen Sozialdemokratie
2.2. Die Veränderung der Werte – Die moderne Sozialdemokratie

3. Das Jospin-Papier – Hintergründe zur Entstehung

4. Die Rolle des Wohlfahrtsstaates
4.1. Die Zukunft des Wohlfahrtsstaates

5. Die neuen ökonomischen Herausforderungen
5.1. Jospins Haltung zum Kapitalismus
5.2. Der makroökonomische Lösungsansatz

6. Die Rolle der Globalisierung

7. Schlussbetrachtung

Einleitung

Zum Ende des letzten Jahrhunderts hin, begann eine neue Phase der Diskussion um die Richtung und die Zukunft der Sozialdemokratie in Europa; in der Presse und oft auch in der Literatur als der Kampf zwischen Traditionalisten und Modernisierern beschrieben. In diesem Zuge flammte auch die Diskussion über den Dritten Weg der Sozialdemokratie auf. Um die Debatte über die Zukunft der Sozialdemokratie im Zeitalter der Globalisierung deutlicher zu machen, möchte ich in den ersten beiden Kapiteln sowohl auf den Dritten Weg und auf den Wertewandel eingehen, als auch die Tradition in der Sozialdemokratie erläutern, dabei werde ich im Verlauf des zweiten Kapitels schon die einleitenden Worte Jospins mit einbeziehen, da sie die klassische Sozialdemokratie und den Wertewandel beschreiben. Im dritten Kapitel erläutere ich die Motivation, die hinter Lionel Jospins Aufsatz „Auf dem Weg zu einer gerechteren Welt“, das sogenannte Jospin-Papier steht. Die Frage, warum sich Politiker wie Jospin, Blair und Schröder damals und heute Gedanken über die Zukunft einer politischen Richtung machten, das versuche ich an Hand des Jospin-Papiers zu beantworten. Im vierten und fünften Kapitel gehe ich auf die Hauptargumente und Diskussionspunkte des Jospin-Papiers ein, die den Sozial- und Wohlfahrtsstaat und die Ökonomie betreffen, dabei werde ich auf die Frage der Lebensfähigkeit des Wohlfahrtsstaates und Jospins Lösungsansätze eingehen.

Im sechsten Kapitel erläutere ich Jospins Haltung zur Globalisierung und den damit verbundenen Problemen. Seine Vorschläge für eine globale Welt versuche ich in diesem Kapitel zu analysieren. Mit diesem Thema werde ich mich nicht so ausführlich beschäftigen, da die Schwerpunkte meiner Arbeit auf den Themen Wohlfahrtsstaat und neue Ökonomie liegen.

Das Schröder-Blair-Papier war der Grund, warum Jospin zu dem Zeitpunkt, nämlich am 10. November 1999 reagieren musste. Die 21. Sozialistische Internationale war dafür auch der passende Ort, denn Lionel Jospin appellierte an die Sozialdemokraten, sich ihrer Wurzeln und ihrer grundlegenden Werte wieder bewusst zu werden. Und er macht deutlich, dass sein Weg auch modern ist. Diese Punkte gehen auch gegen das Schröder-Blair-Papier, aber es war nicht der ausschlaggebende Grund für die Abfassung des Jospin-Papiers. In der Zusammenfassung werde ich auf diesen Punkt näher eingehen.

Auf Grund der Seitenbegrenzung und des Themenschwerpunktes, nämlich Ökonomie und Sozialstaat werde ich die Punkte Umwelt, Europa- und Parteipolitik nur weitestgehend anschneiden, beziehungsweise ganz auslassen. Ebenso nur im Zuge der Themen Vorsorgestaat und Ökonomie kann ich das Thema Bildung und Ausbildung behandeln. In gleicher Weise verfahre ich mit dem Thema Frau in Wirtschaft und Gesellschaft.

Methodisch werde ich größtenteils, neben der Analyse von einigen Details, vergleichend vorgehen. An entscheidenden Stellen werde ich das Jospin-Papier mit den Aussagen des Schröder-Blair Papiers und mit der realen französischen Politik unter Jospin vergleichen.

1. Der Dritte Weg

Es gibt viele Definitionen für den sogenannten Dritten Weg der Sozialdemokratie. Das liegt zum Einen daran, dass die Diskussion über den Dritten Weg schon längere Zeit im Gange ist, und zum Anderen hat es damit zu tun, dass sie nicht einheitlich geführt wird.

In den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts wurde der Begriff des „tredje vägen“, also des dritten Weges von Olof Palme, dem damaligen Ministerpräsidenten Schwedens, in der sozialdemokratischen Arbeiterpartei Schwedens geprägt[1]. Seitdem gibt es viele unterschiedliche Interpretationen und Definitionen darüber, was eigentlich der Dritte Weg der Sozialdemokratie ist. Ich werde in diesem Kapitel auf die wichtigsten Definitionen des Dritten Weges eingehen und auch auf einige Inhalte, um die Aussage des Jospin-Papiers zu differenzieren.

Die Diskussion über den Dritten Weg zeigt ein Grundproblem der europäischen Sozialdemokratie, nämlich dass es kein gemeinsames Konzept gibt. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass bei essentiellen Themen, wie der Zukunft der Sozialdemokratie, die Meinungen der einzelnen Parteien weit auseinander gehen.

Auch das unterschiedliche Staatsverständnis in Europa trägt dazu bei, dass es differente Ansichten über die Rolle und Funktion des Regierungsapparates gibt.

1.1 Ursprung und Verlauf

Einfach gesagt, ist der Dritte Weg ein Reformmodell der Sozialdemokratie. Das gilt für die meisten Versionen des Dritten Weges. Es gibt unterschiedliche Vorstellungen darüber, was der Dritte Weg ist. Ist er wirklich ein Mittelweg, oder lehnt er sich an den Neoliberalismus an, hat er noch Parallelen zur traditionellen Sozialdemokratie, oder hat er sich von ihr abgewandt?

Ein Ansatz in der Literatur ist die Version des Mittelweges. Der Dritte Weg im wirtschaftlichen Sinne zwischen dem ungebremsten Kapitalismus und dem keynesianischen Interventionismus, einer klassischen Tradition der Sozialdemokratie. Sein Ziel ist die „faire Gesellschaft“ (Amitai Etzioni), in der der Staat die Wirtschaft so weit wie möglich allein agieren lässt. Dieses Prinzip hat die SPD auch in ihr Godesberger Programm genommen, wo es heißt: „Wettbewerb so weit wie möglich - Planung soweit wie nötig“. So sind die Marktkräfte für die Sozialdemokraten zum Synonym für den natürlichen Lauf der Dinge geworden[2].

Die für die Diskussion um das Schröder-Blair Papier und in dem Zusammenhang auch um das Jospin-Papier wichtigste Definition des Dritten Weges, ist die von Anthony Giddens aus seinem Buch „Der Dritte Weg. Die Erneuerung der sozialen Demokratie“, denn auf seinen Argumenten basiert diese Debatte grundsätzlich.

Für ihn hat der Dritte Weg nicht nur das Ziel der „fairen Gesellschaft“, sondern übergreifende Ziele, nämlich die Bewältigung von Globalisierung, den Veränderungen des persönlichen Weges, der sozialen Gerechtigkeit und der Beziehung zur Natur[3]. In diesen Punkten unterscheidet sich der Dritte Weg nach Giddens Definition nicht sonderlich von den Vorschlägen, die Jospin zum Problem der Zukunft der Sozialdemokratie macht, denn auch er beschäftigt sich mit diesen neuen Problemen der modernen Zeit.

Aber das Verständnis der oben aufgezählten Problematiken ist durchaus different. Der Dritte Weg, so Giddens, bejaht die Globalisierung und sieht sie nicht als Gefahr der nationalen Gesellschaft. In Bezug auf soziale Gerechtigkeit geht der Dritte Weg davon aus, dass Gleichheit und individuelle Freiheit in Konflikt zueinander stehen können. Nach dieser Auffassung „will die Politik des Dritten Weges ein neues Verhältnis von Individuum und Gesellschaft herbeiführen, Rechte und Pflichten neu bestimmen“[4]. Durch die Zunahme der Individualisierung in der heutigen Zeit muss es auch eine Zunahme der individuellen Verpflichtungen geben, so Giddens.

Die Reform des Wohlfahrtsstaates ist nach Giddens Ansicht dringend nötig, da er ihn für undemokratisch hält, denn er beruhe auf einer Umverteilung von oben nach unten. Des Weiteren werde die individuelle Freiheit durch den Schutz und die Fürsorge des Wohlfahrtsstaates eingeschränkt. Außerdem sei er leicht auszunutzen und nicht sensibel genug für Entwicklungen der heutigen Zeit. Der Dritte Weg hat deshalb ein anderes sozial sicherndes Modell ausgearbeitet, den sogenannten positiven Wohlfahrtstaat, an dem sich neben dem Staat auch jeder Einzelne beteiligen muss, um allgemeinen Wohlstand zu schaffen. Die Lösung soll also die Investition in den Menschen sein, statt direkte Zahlung an den Menschen[5].

Die Werte des Dritten Weges sind nicht immer unterschiedlich zu denen des klassischen Sozialismus, den ich im weiteren Verlauf noch erläutern werde. Gleichheit, Freiheit, Schutz und Solidarität spielen auch beim Dritten Weg eine große Rolle, er verlangt aber mehr Leistung des Individuums und mehr Liberalität, vor allem in der Wirtschaft. Der Dritte Weg möchte die sogenannte gemischte Wirtschaft, die die Balance hält zwischen öffentlichen und privaten Sektoren, Deregulierung und Regulierung und dem ökonomischen und nicht ökonomischen Bereich der Gesellschaft. In der Politik gibt es die Forderung nach mehr Transparenz und mehr Öffentlichkeit. Die Bevölkerung soll wieder stärker eingebunden werden ins politische Geschehen, auch das ist in Jospins Interesse, mit feinen Unterschieden.

Festzuhalten bleibt, das der Dritte Weg versucht, die Sozialdemokratie zukunftsfähiger in Bezug auf Globalisierung und globale Wirtschaft zu machen. Dasselbe Interesse haben aber auch andere Reformer wie Lafontaine, Fischer oder Jospin. Das Mittel das der Dritte Weg anwendet, egal wie er nun definiert wird, ob nach Giddens oder anders, ist die Liberalisierung der Ökonomie und das ist auch der Punkt an dem es zu Streitigkeiten mit anderen Linien innerhalb der Sozialdemokratie Europas kommt.

1.2. Liberalismus und der Dritte Weg – Tony Blair und Gerhard Schröder

Tony Blair und New Labour und das Schröder-Blair Papier arbeiten auf der Grundlage die auch Giddens in seinem Buch beschreibt, das liegt daran, dass Tony Blair und Anthony Giddens eng zusammengearbeitet haben. Die Themengewichtung ist allerdings die gleiche, Ökonomie und Wohlfahrtsstaat sind die Stichworte, bei denen es auch die meisten Differenzen zu Jospin gibt.

Schlagworte des eher liberalen Papiers sind, flexible Märkte, Leistung und Erfolg, Eigenverantwortung und Unternehmergeist. Das Höchstmaß an Freiheit und Flexibilität soll das Kapital haben[6]. Dazu kommen noch im gesellschaftlichen Bereich die Stärkung des Zusammenhalts und Förderung der Familie. Im Bereich der Politik werden Dezentralisierung, verstärkte Einbeziehung der Öffentlichkeit und Machtverlagerung gefordert[7].

Nach der Veröffentlichung dieses Papiers wurde schnell Kritik laut. Das Papier wurde nicht ernst genommen, da es zu schnell verfasst worden sei, deshalb auch nicht inhaltsstark. Kein Ziel sei erkennbar und im Grunde genommen sei es nur die Weiterführung des Neoliberalismus im Stile Margret Thatchers[8]. Auch die Kritik, die schon am eigentlichen Dritten Weg geäußert wurde, wurde wieder laut: „Der Dritte Weg ist auf der Handlungsebene politischer Pragmatismus“[9], Pragmatismus, der versucht, entscheidungsschwache Politik zu kaschieren[10].

Tony Blair realisiert sein neoliberales Konzept seit seiner Amtsübernahme mit Überzeugung. Und dieses Modell scheint trotz des öffentlichen Widerstandes aus Frankreich („Wir gehen als moderne Linkspartei einen anderen eigenen Weg“, Lionel Jospin[11]) auch dort zu funktionieren. Trotz des starken Staates wird Jospin vorgeworfen, in seiner realen Politik links zu blinken und rechts abzubiegen. In der Anfangsphase seiner Regierungszeit schien auch er dem Dritten Weg zu folgen, auch wenn er dies öffentlich dementierte. Auch in Frankreich hielt der Staat sich immer mehr aus der Wirtschaft raus, was an Hand von verstärkter Privatisierung deutlich wurde.

Erst als die Globalisierungsdebatte richtig in Gang kam, gab es in der Regierung Jospin einen „Linksruck“. Der Markt schien undurchschaubar, undemokratisch und ungerecht und musste wieder reguliert werden[12].

2. Die klassische Sozialdemokratie

Zum Verständnis der Diskussion möchte ich hier, in ebenso knapper Form, wie in den vorhergehenden Kapiteln die klassische Sozialdemokratie darstellen. Dabei werde ich auf ihren Ursprung eingehen und die Grundwerte aufzählen, ihre Haltung zu Ökonomie und Wohlfahrtstaat erklären und ihren Blick auf die Zukunft verdeutlichen. Damit versuche ich die Themen anzuschneiden, auf die ich schon in Kapitel eins eingegangen bin, um Unterschiede und auch Parallelen zu verdeutlichen.

Auch die heutige klassische Sozialdemokratie hat sich verändert. Sie ist nicht mehr wie die ursprüngliche, aber sie hält an den alten Werten und Grundprinzipien fest. Jospin ist ein Vertreter dieser Linie, der auf Reform Wert legt. Er besinnt sich auf alte Werte und fügt neue hinzu, um die Sozialdemokratie an die heutigen globalen Verhältnisse anzupassen. Das bedeutet aber nicht, dass diese Linie versucht, den Fortschritt aufzuhalten. Die moderne klassisch orientierte Sozialdemokratie beruft sich zwar auf althergebrachte Traditionen, sieht sich aber als fortschrittliche Richtung, die bereit ist Kompromisse einzugehen, um die Zukunft zu meistern.

2.1. Die Grundprinzipien der klassischen Sozialdemokratie

In der klassischen Sozialdemokratie war und ist der Staat, beziehungsweise die Regierung, die regulierende und ausgleichende Kraft eines Landes. Sie muss die eigenen Märkte durch Handel ausgleichen und sie muss Ungleichheit beseitigen. Wo immer jemand, gleich welchen Grundes, nicht mehr für sich selbst sorgen kann, muss der Staat handeln und Fürsorge leisten. Denn die Ziele des klassischen Wohlfahrts- beziehungsweise Sozialstaates sind die Schaffung einer gleichen Gesellschaft und die Sicherung des Individuums in den verschiedenen Lebensabschnitten[13].

Ökonomisch basiert die klassische Sozialdemokratie seit dem 20. Jahrhundert auf der Theorie John Maynard Keynes, dem sogenannten Keynesianismus. Keynes hält in einigen Punkten den Kapitalismus für irrational und höchst undemokratisch, er geht davon aus, anders als die Neoliberalen, dass sich die Wirtschaft nicht selbst heilen kann und dass man die zyklischen Hoch- und Tiefpunkte der Wirtschaft durch antizyklische Politik ausgleichen kann. Sein Rezept für die Steigerung der Wirtschaft, ist die Nachfragesteuerung des Staates, die die Seite des Arbeitnehmers entlastet durch Steuersenkungen und Erhöhung der Tariflöhne. Entsprechend favorisiert die klassische Sozialdemokratie kollektive Entscheidungsprozesse zwischen Regierung, Unternehmen und Gewerkschaften, die regulierend an die Stelle von Marktmechanismen treten[14]. Mit dieser Politik des kollektiven Entscheidungsprozesses und dem Keynesianismus will die Sozialdemokratie die Ausnutzung des Arbeitnehmers durch Wirtschaftskrisen verhindern. So fördert eine Wirtschaftsordnung die wirkliche, gleiche Freiheit[15].

Die Ziele der Sozialdemokratie, Freiheit, Gleichheit und Solidarität beziehungsweise Brüderlichkeit, die Grundsätze der französischen Revolution, wurden 1989 auf dem Stockholmer Kongress als Grundwerte der Sozialistischen Internationalen erklärt, weil sie das ausdrücken, was ich zu Beginn diese Kapitels versucht habe deutlich zu machen: Mit Hilfe der Regulierung der Wirtschaft durch den Staat soll ein gesellschaftliches Klima geschaffen werden, dass es dem Individuum in dieser Gesellschaft ermöglicht gleich, frei und solidarisch den anderen gegenüber zu handeln und behandelt zu werden, was ein humanistischer und aufgeklärter Denkansatz ist.

Deshalb sind die Themen Ökonomie und Wohlfahrtsstaat auch so zentral, denn hauptsächlich geht es darum, dass alle ihr Leben durch ihre Arbeit gestalten können und die Politik, die Wirtschaft und die Gesellschaft müssen dafür Sorge tragen, dass jeder die Möglichkeit hat, arbeiten zu gehen und das diese Arbeit, so möchte die klassische Sozialdemokratie es verwirklichen, gerecht verteilt ist, ebenso wie die daraus resultierenden Produkte und der Wohlstand[16].

Ein großes klassisches Ideal, das sehr wichtig ist im Jospin-Papier und auch in Jospins realer Politik, ist die Arbeitszeit. Die ursprüngliche Sozialdemokratie sieht ein hohes Maß an Freizeit für den Arbeiter vor, damit dieser sich der privaten Bildung und Selbstverwirklichung hingeben kann. Im modernen Sinne ist daran nicht mehr das hehre Ziel der Selbstverwirklichung und der eigenen Weiterbildung das Entscheidende, sondern eher die Motivation des Arbeiters und die möglichen zusätzlichen Arbeitsplätze.

Die klassische Sozialdemokratie hat allerdings keinen Bezug zur Ökologie und zum Internationalismus. Dort funktioniert sie nur im Austausch mit gleichgesinnten Parteien.

2.2. Veränderung der Werte – Die moderne Sozialdemokratie

In diesem Kapitel werde ich zunächst die neuen Schwerpunkte beziehungsweise die neuen Werte der Sozialdemokratie nach Thomas Meyer vorstellen. Danach stelle ich Jospins Ideen bezüglich der Werte aus dem Jospin-Papier vor.

In seinem Buch „die Transformation der Sozialdemokratie“ geht Thomas Meyer davon aus, das es sechs neue Merkmale in der Sozialdemokratie gibt, die in dieser Form nicht in der klassischen Sozialdemokratie vorkommen, die aber auf der gleichen Idee basieren, nämlich die Erfüllung der drei Werte Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit beziehungsweise Solidarität.

Erste Neuerung ist, dass die Politik Vorrang vor den Märkten hat, um soziale Grundsicherung und Beschäftigung zu gewährleisten. Nachhaltiges Wachstum in Bezug auf Ökologie nimmt einen neuen gewichtigen Platz in der Werteliste der Sozialdemokraten ein, ebenso wie die Forderung nach mehr direkt demokratischen Elementen in der Politik. Mehr Öffentlichkeit und Transparenz sowie mehr Bezug zum Volk heißt das im Klartext. Genauso wichtig ist die Erhaltung der Menschenrechte im globalen Sinne und die kulturelle Toleranz[17]. Auch Jospin spricht sich in seinem Papier an verschiedenen Stellen für mehr bürgerliche Teilhabe und politische wie auch wirtschaftliche Transparenz aus.

All diese Punkte sind Anpassungen an die Modernität. Das neue globale Zeitalter stellt neue Herausforderungen, die Lösungen benötigen. Diese neuen Werte der Sozialdemokratie nach Thomas Meyer versuchen die modernen Problematiken im klassischen sozialdemokratischen Sinne zu lösen.

Lionel Jospin geht zu Beginn seines Vortrages „Auf dem Weg in eine gerechte Welt“ auf die klassischen und modernen Ziele und Werte der Sozialdemokratie ein. Jospin geht, ebenso wie Thomas Meyer den klassischen Weg. Der Wandel hin zu Modernität muss geschehen, ohne das die sozialistische Identität verloren geht[18].

In dem Jospin-Papier macht er deutlich, welche Wurzeln er hat. Ohne die Werte Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, die sich für ihn bedingen aber auch konträr stehen können, kann eine Gesellschaft für ihn nicht existieren. Denn Freiheit ist untrennbar mit Demokratie verbunden, Gleichheit verbietet jede Ungerechtigkeit und Brüderlichkeit bringt die Rechte und Pflichten des Menschen ins Gleichgewicht. Für ihn ist es wichtig, das die sozialistische Politik zwischen diesen Werten vermittelt und je nach aktueller Lage die Prioritäten setzt.[19]

Jospin möchte mit den neuen Zielen und Werten, die Thomas Meyer ähnlich formulierte, in eine bessere internationale Zukunft treten. Die Sozialdemokratie muss demnach sich erweitern: sie muss international, kulturell pluralistisch und ökologisch werden. Ein neuer Punkt den Jospin im internationalen Sinne einführt, ist die Frage der Gleichberechtigung. Er macht in seinem Vortrag deutlich, das auch im 21. Jahrhundert die Gleichberechtigung der Frau in Beruf und Gesellschaft nicht im nötigen Maße durchgesetzt wurde. Dieses Thema müsste gerade für Sozialdemokraten wichtig sein, da sie für die wirkliche Gleichheit und Freiheit des Individuums einstehen. Auf dieser Linie argumentiert Jospin, dass innerhalb der Familien- und Arbeitspolitik bessere Vorraussetzungen für die Frau im Beruf geschaffen werden müssen[20].

Ein besonderes Schlagwort ist zu Beginn der Begriff der Modernität. Mit diesem Begriff erläutert Jospin, warum die Werte in der Sozialdemokratie so wichtig sind. Für ihn gehören die Theorie und die Praxis untrennbar zusammen, sie bedingen sich sogar.

Modernität ist für ihn nicht nur Trägerin von Fortschritt, es ist ein gemeinschaftliches Gut, an dem alle teilhaben sollen. Da diese Modernität für ihn auch kulturell, politisch, wirtschaftlich und sozial ist, ist sie mit den Werten der Sozialdemokraten verbunden, die sich für den Fortschritt entschieden haben. Für Jospin sind Modernität und Fortschritt praktische Politik, „Werte und Praxis sind also untrennbar“[21].

Moderne Sozialdemokratie hat also für Jospin neue und alte Aufgaben in verschiedenen Gebieten der Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Er ist weiterhin für den klassischen starken und regulierenden Staat, für eine nachhaltige und langfristige Entwicklung in den Bereichen Umwelt und Wirtschaft, für Gleichberechtigung und kulturellen Pluralismus, sowie für Transparenz und Öffentlichkeit von Politik und Wirtschaft.

Das sind seine Vorstellungen von einem modernen Sozialismus, der alte und neue Werte gleichberechtigt nebeneinander stellt. Auf die wichtigsten Punkte in dieser Vorstellung von einer modernen Sozialdemokratie möchte ich in den folgenden Kapiteln näher eingehen.

3. Das Jospin-Papier – Hintergründe zur Entstehung

Das Jospin-Papier war eine Rede auf dem Kongress der 21. Sozialistischen Internationale, die vom 8. bis zum 10. November 1999 in Paris tagte. Ausgearbeitet wurde sie von Alain Bergougnioux, einem Historiker, Francois Holland, Henri Weber (beide aus dem Parteiapparat), dem Europaminister Pierre Moscovici und anderen Vertrauten des Premier- und Finanzministers[22]. Bergougnioux und Moscovici erklären den Sinn dieses Vortrages Jospins als „Diskussionsbeitrag“, der sich gegen niemanden richtet[23]. Dieser Beitrag soll Denkanstösse geben, wie man Europa und dessen Nationen im Zeitalter der Globalisierung sozialdemokratisch gestalten kann. Zur Jahrtausendwende war das ein großes Thema, stärker als jetzt, da zu dieser Zeit 12 von 15 Ländern sozialdemokratisch regiert waren.

Frankreich fehlte am Schröder-Blair Papier der Ehrgeiz, Europa im Hinblick auf die Globalisierung zu gestalten[24]. Geht man von diesem Punkt aus, so kann natürlich gesagt werden, wie es in der Presse auch größtenteils getan wird, das Jospin-Papier sei „nur“ ein Gegenpapier zum Entwurf von Blair und Schröder. Es gibt sogar Stimmen in der Wissenschaft, die das Jospin-Papier als Wahlstrategie oder Handlungsstrategie der Sozialistischen Partei Frankreichs nennen, da es im Kern auch die Punkte enthält, die nach dem „Linksruck“ Jospins seiner Vorstellung von französischer sozialdemokratischer Politik entsprechen, nämlich beschäftigungsorientierte Wirtschaftspolitik, Repolitisierung staatlichen Handelns und Globalisierung mit politischer Verantwortung[25]. Das ist meiner Meinung nach nicht ganz der Fall. Jospins „Linksruck“ in seiner realen Politik in Frankreich[26]hat sicher viel dazu beigetragen, dass es zu einem Umdenken oder Nachdenken über die Rolle und die Verantwortung des Staates kam. Jospin bezog Stellung zur Globalisierung und entschied sich für die Tradition der Sozialdemokratie und der Sozialistischen Internationale (SI). In Jospins Papier sind die Grundwerte und Ideen konform mit denen der Internationalen und der modernen Sozialdemokratie, wie Meyer sie beschreibt.

Ein weiterer Punkt, der die Veröffentlichung des Jospin-Papiers vorantrieb, war auch, dass das Schröder-Blair Papier kurz vor der Europawahl erschien und damit der Wahlpropaganda der französischen Sozialisten ins Gehege kam, da der Eindruck entstand, dass Frankreichs Partner Deutschland sich abwenden würde. Frankreich braucht Deutschland allerdings für seine Europapolitik.[27].

Viele Teilnehmer der Internationale empfanden die beiden Papiere gar nicht kontrovers. Neben den Stimmen, die von einem Zerwürfnis innerhalb der internationalen Sozialdemokratie sprachen, gab es einige, die auch auf Grund der realen Politik der „Kontrahenten“ zu dem Schluss kamen, dass die Essenz der Schröder-Blair und der Jospin Fassungen gleich ist. Manche sahen in einigen Bereichen deutliche Parallelen. Große Unterschiede liegen mehr bei der Akzentuierung und im Ton[28].

Zu der Meinung, dass die beiden Papiere gar nicht kontrovers sind, kann man leicht kommen, sieht man sich die reale Politik der französischen Linkskoalition an. Auch diese Politik ist nicht mehr ganz so etatistisch, wie sie in theoretischen Erklärungen vorgibt zu sein. In einigen Punkten, wie der Wirtschafts- und Industriepolitik, bei Privatisierungen von Staatsunternehmen und bei dem Thema Konzernübernahme ist Jospins Politik durchaus liberal zu nennen. Trotzdem versuchte er in den Jahren vor dem Jospin-Papier „die Ziele wirtschaftlicher Wettbewerbsfähigkeit und sozialer Gerechtigkeit auch im Zeitalter der Globalisierung“ miteinander zu verbinden[29].

Zusammengefasst spielen also mehrere Punkte bei der Abfassung des Jospin-Papiers eine Rolle. Es ist sicherlich eine Reaktion auf das Schröder-Blair Papier aus den oben genannten Gründen und die SI bildete auch die ideale Plattform für Jospins moderne Sozialdemokratie, aber auch die reale Entwicklung in Frankreich, in der Politik der französischen links-grünen Koalition und die „Rückkehr“ zur linken Seite Jospins haben ihren Anteil an der Abfassung und den Inhalten des Papiers.

4. Die Rolle des Wohlfahrtsstaates

Der Wohlfahrtsstaat ist ein zentrales Thema in der Sozialdemokratie. Er wird mit dem sozialdemokratischen Grundwert der Gleichheit in Verbindung gebracht. Der Staat hat Sorge dafür zu tragen, dass in der Gesellschaft Chancengleichheit herrscht. Ein Mittel, um diese zu erreichen, ist der Wohlfahrts- oder Vorsorgstaat. Auch Jospin betont in seiner Rede diesen Aspekt. Sein Ideal ist eine Wohlstandsgesellschaft ohne Ungleichheiten jeglicher Art[30]. Um diese Gesellschaft zu erreichen, muss man zum einen eine stabile Wirtschaft haben, ein Thema auf das ich im fünften Kapitel noch näher eingehen werde, und ein Sozialsystem entwickeln, dass alle die auffängt, fördert und reintegriert, die nicht auf Anhieb ihren Platz in der Gesellschaft finden. Das macht die menschliche Gesellschaft nach Jospins Meinung aus: „Eine menschliche Gesellschaft ist eine Gesellschaft, die sich die Reduzierung der Ungleichheiten jeder Art zum Ziel gesetzt hat.“[31].

Da es um einen der Grundwerte der Sozialdemokratie geht, ist das Thema soziale Sicherung auch Zentrum der Debatte. Es geht um die Haltbarkeit des Vorsorgestaat, um den Zusammenhang mit der immer wichtiger werdenden Wirtschaft, es geht darum, ob der Vorsorgestaat noch Zukunft hat oder nicht, und wenn er Zukunft hat, wie muss man ihn für diese Zukunft gestalten, ohne dass der Mensch in der Gesellschaft zu viele Nachteile hat. Diese Thematik behandelt Jospin ausführlich. Er ist ebenso wie die anderen Reformer der Meinung das der Wohlfahrtsstaat reformiert werden muss, aber Jospin möchte diesen menschlich reformieren, ohne zu viele Opfer, ohne zu viele Einbußen. Denn für ihn muss auch der moderne Staat jedem Menschen einen Platz in der Gesellschaft garantieren.

Dieses Modell des Sozialstaates soll integrieren und gesellschaftliche Probleme schlichten, mit dem Ergebnis, dass das Individuum gestärkt wird und damit auch die Gesellschaft. Einen starke Gesellschaft bedeutet auch eine gesunde Wirtschaft. So sieht die Idealvorstellung aus.

Der Vorsorgestaat soll dieses Ergebnis erzielen, indem er durch Verbesserung der materiellen Lebensvoraussetzungen und durch Verhinderung einer sozialen Schere für Gleichheit und gleiche Freiheit in der Gesellschaft sorgt[32]. Er soll die Problematiken der sozialen Sicherung, die Überalterung, die Massenarbeitslosigkeit, soziale Ausgrenzung und die Komplexität der medizinischen Pflege meistern. Alles das sind Problematiken mit denen das bisherige Modell des Vorsorgestaates noch nicht gelernt hat umzugehen, die aber so gravierende Auswirkungen in der Gesellschaft haben, dass der Vorsorgestaat der Zukunft lernen muss, regulierend damit umzugehen.

Auf den Punkt gebracht, ist der Sozialstaat ein sozialdemokratischer Grundwert, der gleiche Freiheitschancen durch Sicherung der äußeren Handlungsmöglichkeiten, durch Rechtsgarantien, durch Sicherung der Mitwirkungschancen in der Politik ermöglicht, um die Entfaltung der individuellen Persönlichkeit zu realisieren[33].

4.1. Die Zukunft des Wohlfahrtsstaates

Jospin, das macht er in seinem Papier deutlich, möchte den Wohlfahrtsstaat erhalten. Für ihn ist er der richtige Weg zu einer gerechteren Gesellschaft. Doch so, wie er zur Zeit ist, kann er nicht bleiben. Der Vorsorgestaat muss also für die Zukunft in einer globalisierten Welt „fit“ gemacht werden. Jospins Idee ist ein Wohlfahrtsstaat der Zukunft, aufgebaut auf den Idealen der „alten“ Sozialdemokratie, der sich den neuen Entwicklungen anpassen kann und flexibel zu gestalten ist. Er sieht die Gefahr das durch die Globalisierung die Steuerungsfunktionen des Staates abhanden kommen[34]. Deshalb muss er auch in der Sozialpolitik einschreiten und darf das steuernde Sozialstaatsmodell nicht fallen lassen Sein erstes Ziel ist es, die noch bestehenden Klassen in der Gesellschaft zu mindern. Er sieht die Gesellschaft klassisch dreigeteilt in eine Ober-, Mittel- und Unterschicht. Im Fokus der Bemühungen des Sozialstaates sollen vor allem die Unterschicht und in die Mittelschicht sein.

Das Schlagwort im Jospin-Papier, wenn es um die soziale und sozialdemokratische Zukunft geht, ist die nachhaltige Entwicklung. Die Sozialdemokratie der Zukunft soll für ein System sorgen, dass in die Zukunft hineinreicht und den Menschen, dessen Gesundheit und die Natur schützen kann. Dazu muss er bestimmte Aufgaben erfüllen. Das sind zum Einen die klassischen Aufgaben des Vorsorgestaates, die sogenannten traditionellen Risiken, wie Krankheit, Rente, die frühe Kindheit und Arbeitslosigkeit. Damit der Vorsorgestaat aber in der Zukunft noch Bestand haben kann, muss er neue Aufgaben übernehmen. Zu den klassischen „Sozialausgaben“ sollen nach Jospins Vorstellungen noch die „sozialen Investitionen“ hinzukommen. Die Grundwertekommission des Parteivorstandes der SPD nennt es die Investition in das „Humankapital“[35]. Das bedeutet die Förderung der Ausbildung des Menschen. Es soll mehr Geld in den Bereich Bildung und Ausbildung fließen, um den Menschen bereit für seine Zukunft zu machen und ihm die Integration in die Gesellschaft zu erleichtern. Der Staat investiert in die Bildung, um somit langfristig die Arbeitslosigkeit zu senken. Beides zusammen, Sozialausgaben und soziale Investitionen soll die flexible Lösung für den modernen Vorsorgestaat sein.

Er appelliert daran, dass alle Bürger der Gesellschaft in diesem Sozialsystem ihre Rechte aber auch ihre Pflichten haben, damit das System funktioniert. Jospins Idealvorstellung ist ein Gleichgewicht zwischen Hilfe, Anreiz und Verpflichtung des Bürgers. Also verlangt er, wenn auch nicht ganz so heftig wie Schröder und Blair, die aktive Teilnahme des Bürgers am Vorsorgestaat. Allerdings formuliert Jospin nicht aus, was er darunter versteht, ob nun mehr Kosten auf den Bürger zukommen oder ob er an die Langfristigkeit denkt und sich erhofft, dass durch das mögliche Erreichen der Vollbeschäftigung das System getragen wird. In der realen Politik des Vorsorgestaates versuchte die links-grüne Regierung das soziale System zu finanzieren, in dem es dieses von der Erwerbsarbeit abgekoppelt hat, ohne die Verbrauchersteuern anzuheben[36].

Ein großes Problem der heutigen Zeit, das durch den Sozialstaat gelöst werden muss, sieht Jospin in der „Exklusion“[37]. Durch „zwei Jahrzehnte Massenarbeitslosigkeit“[38]seien neue Gruppen von Ausgegrenzten in den Schichten der Gesellschaft entstanden, die es wieder in die Gesellschaft zu integrieren gilt, es muss also eine „Inklusion“ stattfinden[39]. Sein Bestreben ist es, auf diese Menschen der Mittel- und Unterschicht besonders zu achten und sie zu schützen. Ihre Situation will er durch „die Entwicklung der Arbeit, den Rückgang ungesicherter Arbeitsplätze [précarité], die Verbesserung des Bildungssystems“ und die „Konsolidierung der sozialen Sicherung“ erreichen[40].

In einigen Bereichen zeigten sich diese Zukunftsvorstellungen auch in seiner Realpolitik. So spielt im Frankreich unter Jospin die wachsende Eigenbeteiligung an den Vorsorgekosten in der Gesundheitsvorsorge eine große Rolle[41], obwohl Jospin in seinem Papier betont, das gerade in diesem Bereich darauf geachtet werden muss, dass das Gesundheitswesen unter staatlicher Kontrolle bleibt, damit es nicht wirtschaftlich ausgeschlachtet werden kann, auch wenn es dadurch finanzielle Einbußen im staatlichen Finanzwesen geben kann. Wichtig sei allein, dass die Gesundheit nicht als Ware degradiert würde[42]. Kritiker sehen allerdings in Jospins Politik durchaus vehemente Nachteile. So wird behauptet, das die sozialdemokratische Gleichheit gar nicht realisiert wird, da es zu einer Bevorzugung der Unterschichten kommt. Der universell ausgerichtete Vorsorgestaat mit der Risikenverteilung funktioniert bei einer solchen Bevorzugung nicht mehr[43]. Es kommt zu einer „Akzentverschiebung im Programm des Vorsorgestaates“[44]und die Universalität, die dieser eigentlich haben sollte, ist nicht mehr gegeben. Andere Kritikpunkte sind, dass der französische Vorsorgestaat die soziale Unterversorgung und das Problem der Armut nicht bekämpft[45]und dass dieses Modell leicht auszunutzen und wenig flexibel sei[46]. Ein positiver Punkt, so sieht es die Grundwertekommission der SPD ist aber, dass die französische Regierung unter Jospin versucht hat, auf eine aktive Arbeitsmarktpolitik zu setzen, um das Problem des Wohlfahrtstaates zu lösen, statt „auf arbeitsplatzschaffende private Investitionen durch die steuerliche Entlastung der Investoren“[47]. Es schien aber doch zu funktionieren, da der Staatshaushalt 1999 ausgeglichen war. So flossen 5 Milliarden Euro mehr Steuereinnahmen als geplant und das Konsumklima in Frankreich war sehr positiv[48]. Auch die Arbeitslosigkeit sank seit 1997 kontinuierlich, so sind in den zwei Jahren vor Jospins Ansprache 750 000 neue Arbeitsplätze in der Privatwirtschaft entstanden[49]. Im Jahre 1999 war Jospins Politik, die viele Ideale, die er in seinem Papier anspricht, versucht zu verwirklichen, auf dem Erfolgskurs. Durch diese Tatsachen gestärkt, wurde sein Papier positiver aufgenommen, als das von Schröder und Blair.

Sein Konzept des modernen Wohlfahrtsstaates war den eher traditionellen auf Werte bedachten Sozialdemokraten angenehmer und durch die positiven Ergebnisse der jospinschen Politik in Frankreich wirkte es auch realistischer als das Konzept von Schröder und Blair.

5. Die neuen ökonomischen Herausforderungen

Die Ökonomie der westlichen Industrieländer hat sich in den letzten Jahren sehr verändert. Diese Veränderung hat Auswirkungen auf die Bereiche Gesellschaft und Politik. Die Wirkung auf den gesellschaftlichen Rahmen habe ich im vorigen Kapitel über den Wohlfahrtstaat erklärt, denn eine Nebenwirkung dieser wirtschaftlichen Veränderung ist die Massenarbeitslosigkeit im Zuge der zunehmenden Maschinisierung und der Wechsel von einer industriellen zu eine Dienstleistungsgesellschaft. Alte staatliche Regelungen sind aufgebrochen und noch nicht verarbeitet. Es gilt umzudenken auch im wirtschaftlichen Rahmen, nachdem das planwirtschaftliche Modell versagt hat. Es gibt momentan keine ökonomischen Alternativen zum Kapitalismus. Aus diesem Grunde stellte sich zur Jahrtausendwende immer öfter die Frage wie mit dem freien Handel, den freien flexiblen Märkten, umzugehen sei. Die Welt öffnete sich nach dem Ende des Kalten Krieges immer stärker im ökonomischen Bereich. Die Grenzen der Nationalstaaten sind im wirtschaftlichen Rahmen aufgebrochen, und es gibt keine einheitlichen Regelungen mehr. Die Politik hängt dem Markt hinterher, weil noch keine Orientierung gefunden wurde. Die Debatten, die von dem Schröder-Blair Papier und dem Jospin-Papier ausgehen, sind die ersten Versuche, die ökonomische Problematik zu analysieren und zu erfassen und mögliche Lösungen herauszufiltern. Dabei geht es sehr stark um den Standpunkt der Sozialdemokratie zur Ökonomie, und hier scheiden sich die Geister.

Es geht zum Einen darum, grundsätzlich eine Haltung und Umgehensweise zu der neuen ökonomischen Herausforderung zu formulieren und umzusetzen, und zum Anderen für die weiter bestehenden Probleme, die von der Veränderung der Ökonomie betroffen sind, praktische Lösungen zu finden und Kompromisse zu schließen. Es müssen die Bereiche der Beschäftigungspolitik, des ökonomischen Fortschritts und der wirtschaftlichen, staatlichen und gesellschaftlichen Stabilität besprochen werden.

Die Haltung im Schröder-Blair Papier zu diesem Thema ist eindeutig neoliberal, dem freien Markt angepasst. Das bedeutet mehr Freiheit für den Markt, weniger Kontrolle durch die Politik, mehr Eigenbeteiligung der Bürger im sozialen Rahmen. Auch die praktische Politik, wie schon mehrfach erwähnt, hat sich in Europa größtenteils der neoliberalen Politik à la New Labour angepasst. Aber die Kritik daran wird immer lauter, auch innerhalb der Sozialdemokraten, in Deutschland zum Beispiel durch Oskar Lafontaine[50]. Es ging nicht darum, zu alten Traditionen zurückzukehren, um den jungen und neuen Ideen der Neoliberalen zu zeigen, wo die alte Sozialdemokratie herkommt. Das machten die Autoren des Jospin-Papiers durch das einführende Zitat von Jean Jaurès „einer Tradition treu zu sein, heißt der Flamme treu zu sein und nicht der Asche.“[51]deutlich. Es ging darum, Alternativen zu formulieren, um den Fortschritt voranzutreiben und wieder ein Gleichgewicht zwischen mehreren Polen herzustellen. Der Drang zu einem Gegengewicht zum Kapitalismus wird auch in intellektuellen Kreisen deutlicher. Die Stimmen werden lauter, dass der Kapitalismus als einzige Möglichkeit für diese Welt nicht akzeptabel ist[52]. Jospin ordnet sich mit seinem Papier in die Reihen dieser Kritiker ein. Er versucht mit seinem auf der sozialdemokratischen Basis ruhenden Konzept ein Gegengewicht zur neoliberalistischen Tendenz darzustellen. Das bedeutet nicht, das er ein neues wirtschaftliches Konzept dem Kapitalismus gegenüberstellt. Er versucht vielmehr eine andere Handhabung des Kapitalismus auszuarbeiten als es der Neoliberalismus vorschlägt. Moscovici formuliert den Sinn des Jospin-Papiers diplomatisch als die Herstellung eines „Gleichgewichts“ durch einen „gewissen Dirigismus“[53]

5.1. Jospins Haltung zum Kapitalismus

Gleich zu Beginn seines Textes macht Jospin die Haltung der französischen Linken zum Kapitalismus deutlich: „Wir sind der Meinung, dass wir ein kritisches Verhältnis zum Kapitalismus aufrecht erhalten müssen.“[54]. Für ihn ist der Kapitalismus häufig ungerecht und irrational, er ist „eine Kraft, die marschiert, ohne jedoch zu wissen, wohin sie marschiert“[55]. Deshalb setzt er sich dafür ein, diese Kraft durch den Staat und die Politik stärker als die Neoliberalen zu regulieren. Auf die Methodik dieser Regulierung gehe ich noch in Kapitel 5.2. ein. Das bedeutet nicht, dass er der Marktwirtschaft gänzlich negativ gegenüberstände, er möchte nur nicht, dass das System der Marktwirtschaft auf die Gesellschaft übergeht („Ja zur Marktwirtschaft, nein zur Marktgesellschaft“[56]), deshalb müssen durch die Politik Markt und Gesellschaft getrennt werden.

Der Kapitalismus birgt seiner Ansicht nach zu viele Risiken und Unsicherheit. Unsicherheiten und Risiken, die die Gesellschaft sich nicht leisten kann. Wirtschaft braucht Stabilität, um den allgemeinen Wohlstand zu garantieren. Und das will Jospin durch seine Politik erreichen. Er will den Kapitalismus, beziehungsweise die freie Marktwirtschaft durch staatliche Regelungen stabilisieren. Für ihn hat der Staat die Verantwortung über das Funktionieren einer Marktwirtschaft.

Die Aufgabe der modernen Sozialdemokratie ist also die Regulierung des Kapitalismus, um Ungleichheiten zu bekämpfen. Auch diese Prinzipen spiegelten sich gleichzeitig in seiner französischen Politik wieder. In Frankreich versuchte die Regierung die Wirtschaft nach sozialen Kriterien zu steuern[57], was ihm aber, den Kritikern nach, nicht gelang, sie hielten den Wunsch nach dem Bruch mit dem Kapitalismus für eine alte Theorie, die schon allein durch die Parteistruktur der Parti Socialiste (PS) praktisch nicht gegeben sei[58].

Der französische Vorschlag ist also die Regulierung des Marktes durch den Staat. Wie das im globalen Rahmen funktionieren soll, erkläre ich in Kapitel 6. Grundsätzlich lehnt er den Kapitalismus nicht ab, aber er will ihn einschränken und ihn nicht frei gewähren lassen, da das seiner Ansicht nach langfristig der Wirtschaft und der Gesellschaft nur Nachteile brächte. Im Papier heißt es, die Marktwirtschaft zu zivilisieren und zu organisieren[59]. Und das Moment der langfristigen Politik soll auch in der Wirtschaft angewendet werden.

5.2. Der makroökonomische Lösungsansatz

Im Bereich der Lösungsansätze der ökonomischen Problematik zeigt sich nun ein großer Unterschied zu den Vorschlägen von Schröder und Blair. Jospin sieht in der mikroökonomischen Lösungsvariante, das heißt in der Kürzung der sozialen Leistungen, nicht die Antwort auf die Probleme der neuen Ökonomie. Für ihn ist die makroökonomische Lösung die einzige Antwort, da sie langfristiger sei[60]. Die makroökonomische Variante bedeutet die Verschiebung der Abgabelast zwischen den Produktionsfaktoren, also zwischen Land, Kapital und Arbeit. Das soll die wirtschaftliche Entwicklung langfristig verbessern. Realpolitisch sollen also die Steuern zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern verschoben werden, der Faktor Land hat heutzutage weniger Gewicht bei dieser Problematik.

Zu der steuerlichen Umverteilung kommt ein wichtiger Punkt hinzu, das Ziel der Vollbeschäftigung. Auch hier ist wieder ein Unterschied zwischen Schröder-Blair und Jospin festzumachen. Jospin will mit seiner makroökonomischen Politik die Vollbeschäftigung erreichen, während das Schröder-Blair Papier die Idee der Vollbeschäftigung für irrational hält.

Sein Rezept für die Durchsetzung der makroökonomischen Politik ist die Zusammenarbeit von Regierung, Unternehmerschaften und Gewerkschaften, die zum Ziel haben soll, die demokratische Regulierung der Wirtschaft zu erreichen, Vollbeschäftigung zu realisieren, Wirtschaftswachstum zu garantieren und soziale Fortschritte zu realisieren[61]. Das Zauberwort für diese Konstruktion ist „Wirtschaftsregierung“[62]. Diese Ziele sind natürlich nicht gesondert voneinander zu betrachten, sondern stehen in Abhängigkeit zueinander.

In der Beschäftigungspolitik soll der Staat stärker eingreifen durch aktive Arbeitsmarktpolitik, Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, die staatlich gefördert und durchgeführt werden, durch Förderung der Bildung und Ausbildung und durch die Reduzierung der Arbeitszeit auf die 35-Stunden-Woche[63]. Ein beschäftigungsintensives Wachstum soll erreicht werden durch ein gemischtes Förderungspaket. Einerseits die nicht-qualifizierte Arbeit durch Schaffung von personenbezogenen Dienstleistungsarbeitsplätzen [emplois de proximisté] durch den Staat und andererseits die Unterstützung der Dynamik des Dienstleistungssektors, wodurch der Markt Arbeitsplätze schaffen kann[64]. Dieses Modell geht ganz intensiv auf den neuen wirtschaftlichen Bereich des Dienstleistungssektors ein.

Neben dieser Maßnahmen zur Schaffung von Arbeitsplätzen sollen die Langzeitarbeitslosen und die arbeitslosen Jugendlichen in den Arbeitsmarkt reintegriert werden durch Umschulungen und Weiterbildungen.

Um die bestehenden Arbeitsplätze zu erhalten und zwar im gerechten Sinn, will Jospin „die Errungenschaften der Tarifverträge“ aufrechterhalten, denn seiner Argumentation zu Folge sind sie das Ergebnis einer Zusammenarbeit mit Kompromissen, die Fortschritt bedeuten[65].

Als letzten Punkt zum Thema Beschäftigungspolitik betont er das Thema Frauenarbeit. Er setzt sich für die gleichberechtigte Behandlung der Frau bei der Entlohnung ein und appelliert an die Sozialdemokratie im Allgemeinen, die Chancengleichheit der Frau im Ausbildungsbereich und beim Rechtsstaus durchzusetzen[66].

Sein Grundsatz in der Arbeitspolitik ist ein klassisch sozialdemokratischer; er will die Rechte und Lebensbedingungen der Arbeitnehmer bewahren und beschützen[67].

Er geht aber nicht nur auf die Seite des Arbeitnehmers ein, sondern auch, wenn auch weitaus weniger auf die des Arbeitgebers. Das starke, stabile Wachstum sieht er auch gesichert durch Steuerpolitik, die ein günstiges Umfeld für ein Unternehmen schaffen soll[68]. Das ist allerdings der einzige Punkt, bei dem Jospin auf die Wirtschaft zugeht. Er nimmt sie vielmehr mit in die staatliche Verantwortung. Er appelliert an die Wirtschaft, sich weg von der kurzfristigen Profitgier zu bewegen hin zu langfristigen Perspektiven, die die Interessen der Arbeitnehmer und der Gesellschaft berücksichtigen[69]. Neben dieser werteorientierten Umerziehung sollen die Unternehmen sich auch ökologisch anpassen und vom Staat forciert werden Umweltaspekte in ihre Unternehmensstruktur ebenso aufzunehmen wie das Humankapital[70].

Auch in diesem Bereich geht Jospin den klassisch sozialdemokratischen Weg, in dem er besonders die Arbeitnehmerseite fördert und die Arbeitgeberseite zur Verantwortung zieht. Die Bereiche fallen nur in der Förderung der Bildung zusammen. Im ökonomischen Bereich soll ebenso wie beim Wohlfahrtsstaat mehr als eine Teildemokratisierung erreicht werden, auf die sich Schröder und Blair in ihrem Konzept einigen[71].

Diese Überlegungen sieht er nicht nur als Vorschläge für eine Nation, er sieht sie auch als Möglichkeit der europäischen Politik. In gesonderten Kapitel geht er auf die Vorreiterrolle der Europäische Union ein, in der dieses Konzept für sinnvoll erachtet, da alle europäischen Länder mehr oder weniger von denselben Problemen betroffen sind. Diese Position macht die Kritik zu Nichte, die europäische Union beschäftige sich unzureichend mit der Frage der Arbeit[72].

6. Die Rolle der Globalisierung

„Die öffentliche Hand ist gegenüber der Globalisierung nicht machtlos. Wir akzeptieren sie, aber wir wollen sie auch organisieren.“[73], sagte Pierre Muscovici zur Globalisierungsproblematik und beschreibt damit die Argumentationslinie Jospins. Beim Thema Globalisierung vereint er alle Themen, die er vorher eher innenpolitisch behandelte. Er geht auf die wirtschaftliche, soziale und kulturelle Bedeutung und Gefahr der Globalisierung im zweiten Teil seines Vortrags ein, wobei er den Themen andere Gewichtung zukommen lässt und sie mit einigen neuen Aspekten verbindet.

Durch Regelung der globalen Welt sollen die Risiken derselben, die Steigerung der Aggressivität durch „das Scheitern einer ausgewogenen Entwicklung“ vermindert werden[74].

Er benennt in seinem Papier nicht wirklich Regelungen, die er neu aufstellen will, vielmehr geht es ihm darum, die bereits bestehenden transnationalen Institutionen mehr zu unterstützen und auszubauen. So fordert er die Stärkung der Vereinten Nationen (UN) und deren Anerkennung als schlichtende Institution. In diesem Sinn setzt er sich dafür ein, dass die UN über permanente Streitkräfte verfügt. Sie soll die Demokratisierung und die Menschenrechte in der Welt durchsetzen und dürfe deshalb keine Diktaturen dulden[75].

Auch Jospin befürwortet eine Umstrukturierung des Sicherheitsrates durch ständige neu Mitglieder, die es jeder Weltreligion ermöglichen soll, im Sicherheitsrat vertreten zu sein[76]. Hinzukommen sollte Jospins Meinung nach noch ein wirtschaftlicher Sicherheitsrat, der den freien Marktfluss begrenzt[77].

Allgemein fordert er mehr Transparenz im internationalen Finanzsystem und die Besteuerung internationaler Transaktionen. Er fordert die Reform der Weltwirtschafts- und Finanzgipfel, mehr Steuerungsinstrumente im Finanzsystem einzusetzen.

Er setzt sich das hehre Ziel, die Ungleichheiten auf der Welt mit einer demokratisierenden Wirtschaftspolitik durchzusetzen. Neben Vermeidung von Sozialdumping und der Ausweitung der Befugnisse der Internationalen Arbeiterorganisation zur Förderung der sozialen Rechte, fordert er den Abbau des wirtschaftlichen Nord-Süd-Gefälles durch Schuldenerlass und Unterstützung der Entwicklungshilfe[78].

Neben der Beseitigung der Ungleichheiten auf dieser Welt betont er besonders den Umweltschutz. Er fordert die Durchsetzung von Rio und Kyoto, ebenso steht er für die erhöhte Besteuerung von Energie und die Förderung der Entwicklung regenerativer Energien ein[79].

Die Sozialdemokratie soll eine globale Dimension annehmen und ihre Werte auf internationalen Ebene durchsetzen, damit ein System mit kollektiver Sicherheit, Prävention und Konfliktreglungen entstehen kann, in dem die Demokratie, als einzige Möglichkeit des Fortschritts gefördert wird.

Beim Thema Globalisierung wird Jospin sehr idealistisch und auch unkonkret. Er betont das Europa im Kleinen Vorbild sein sollte für die Organisation auf globaler Ebene, aber bei konkreten Problematiken führt er recht knappe Lösungsansätze auf. Er spricht die oben angeführten Punkte an, zu denen er seinen Standpunkt deutlich macht. Im Grunde genommen fordert Jospin eine Regelung der Globalisierung, ebenso wie des Kapitalismus. Er macht bei diesem Thema deutlich, dass dafür die Welt demokratischer werden muss, was einige Reformen voraussetzt. Die Forderung nach einem internationalen Strafgerichtshof, durch den er sich mehr Moral auf globaler Ebene erhoffte, ist inzwischen durchgesetzt.

7. Schlussbetrachtung

In Zeiten des Umbruchs und der Neuorientierung braucht man neue Ideen und Lösungen, um mit neuen Problematiken umzugehen.

Die Globalisierung ist eine neue Herausforderung, mit der umzugehen noch gelernt werden muss. Viele Entwicklungen, wie die Massenarbeitslosigkeit sind nicht nur Ergebnisse der Globalisierung, sie sind schon länger im Gange, aber man hat noch keine Lösungen gefunden. Im Zuge der Globalisierung haben sich diese Problematiken allerdings verschärft und große Unsicherheiten in der Gesellschaft erzeugt. Mit diesen Herausforderungen muss die Politik sich auseinandersetzen und ein Gleichgewicht herstellen, bei dem niemand zu Unrecht behandelt oder ausgebeutet wird.

Um das Gleichgewicht in der Gesellschaft, sei es global oder national, wiederherzustellen, bedarf es politischer Lösungen und Entscheidungen.

Zu einem strategischen Zeitpunkt, vor der Europawahl versuchten Gerhard Schröder und Tony Blair einen Schritt in diese Richtung.

In einem größtenteils sozialdemokratischen Europa im Jahre 1999 formulierten sie ein Reformmodell für die Sozialdemokratie. Die neuen Problematiken müssen aufgegriffen und gelöst werden. Durch die Globalisierung hat die Geschwindigkeit von riskanten wirtschaftlichen Prozessen zugenommen, so dass die Politik nicht mehr ausgleichend hinterher kam. Also schien das herrschende System nicht mehr zu funktionieren. Die Probleme häuften sich, statt abgebaut zu werden.

Schröder und Blair war das Modell der Sozialdemokratie nicht flexibel genug, um den Prozess der neuen Ökonomie und der Globalisierung zu handhaben. Sie verlangen nach mehr Liberalisierung, um sich immer flexibel dem Markt und seinen Prozessen anpassen zu können. Der Mensch wird zum Humankapital und die Wirtschaft erscheint wichtiger.

Jospin versucht die Problematik menschlicher zu lösen. Er will die Wirtschaft mehr kontrollieren, ihr nicht soviel Freiraum geben und sie zu moralischer Verantwortung gegenüber dem Menschen und Umwelt ziehen. Er denkt mehr in die Zukunft, während Schröder und Blair versuchen auf das hier und heute zu reagieren, der Rest ergäbe sich dann von allein.

Was bedeuten aber diese Texte, diese Überlegungen, die nicht allein von Schröder, Blair, Jospin oder anderen Politikern gemacht wurden? In erster Linie sind es Theorien. Theorien über Politik. Es werden Systeme konstruiert, die den Zustand der Gesellschaft verbessern sollen. Der Wohlstand der westlichen Industrienationen, beziehungsweise der Wohlstand der europäischen Länder soll erhalten werden und im gleichen Zuge soll der Rest der Welt mit den Vorteilen der europäischen Demokratie gesegnet werden. Globalisierung wird hier in allen theoretischen Modellen westlich, europäisch und atlantisch gesehen und gedacht. Im Grunde genommen legt zumindest Jospin keinen großen Schwerpunkt auf die globale Situation. Er ist vielmehr darauf bedacht die wirtschaftlichen Auswirkungen der Globalisierung in den europäischen Nationen, die nicht von der Hand zu weisen sind, zu regulieren und in den Griff zu bekommen. Lösungen für diese Problematiken beschreibt er sehr detailliert. Wie kann Europa und eine europäische Nation mit den Problemen der Globalisierung und der Bewältigung von älteren Problem umgehen, das ist die entscheidende Frage, die er zu beantworten versucht.

Die globale Ebene bleibt bis auf die von mir aufgezählten Veränderungsvorschläge in den UN recht offen. Natürlich setzt er sich für die Wahrung und Durchsetzung von Demokratie und Menschrechte ein, schließlich gehören diese zu seiner politischen Grundüberzeugung. Auch die Umwelt wird erwähnt, als neues Problem der Zeit.

Das kann man aber auch nicht kritisieren, denn es geht Jospin um die Sozialdemokratie und diese ist nun mal eher ein europäisches Phänomen. Und die muss sich für eine neue Zeit reformieren. Das Zeitalter der Industrialisierung, aus der sie entstand, ist vorüber, und es kommt zu neuen Herausforderungen, bei denen man sich über sozialdemokratische Identität Gedanken macht. Es geht um das Problem, wie sich der sozialdemokratische Gedanke in der heutigen Zeit zeigt.

Jospin möchte den Gedanken von der die Sorge um den Menschen und den Wohlstand der Gesellschaft beibehalten. Er will keiner Wirtschaft nachgeben. Er fordert von der Wirtschaft mit der Politik gemeinsam die Gesellschaft zu stärken und folgt damit der traditionellen Sozialdemokratie mit modernen Mitteln und Ideen. An einigen Stellen betont er den Kompromiss und bezeichnet ihn als fortschrittlich. Wirtschaft und Regierung sollen zusammenarbeiten und Kompromisse finden, um Fortschritt voranzutreiben.

Jospins Theorie von der gerechten Welt, durch Kompromisse, mehr Eigenverantwortung und erhöhte Staatlichkeit ist trotz einiger praktischer Anwendung in der französischen Politik, dennoch nur eine Idealvorstellung. Momentan gibt es kein Modell, dass wirtschaftliche Stabilität und allgemeinen Wohlstand garantieren kann. Die politische Theorie ist noch auf dem Weg die globalen Zusammenhänge zu analysieren und Lösungen zu finden. Und auch die Sozialdemokraten können noch lange nicht behaupten, sie hätten sich neuorientiert. Durch die Ideen von Schröder, Blair, Jospin und anderen wissenschaftlichen Theoretikern sind so viele Möglichkeiten in den Raum gestellt worden, dass niemand sagen kann, irgendein Weg wäre gefunden worden. Zuviel Dritte Wege und Sonderwege geistern in der Sozialdemokratie umher. Dennoch sind die Überlegungen der europäischen Spitzenpolitiker von Bedeutung. Sie weisen in klare Richtungen, wenn diese auch verschieden sind, und sie beziehen die Praxis mit ein, auch wenn diese nicht immer ihre Theorien stützt.

Das Jospin-Papier ist meiner Ansicht nach ein Schritt in die richtige Richtung. Es versucht das menschliche Individuum zu schützen und die Gesellschaft und ihre zu fördern. Ihm geht es nicht nur um kurzfristigen Profit, sondern um langfristige Stabilität. Auch wenn das ein hehres und schwer durchsetzbares Ziel ist, so ist es dennoch ein positives, denn auch im Zeitalter der Globalisierung ist es immer noch der Mensch der in der Welt zurecht kommen muss, der ein Recht darauf hat zu existieren. Die Wirtschaft und politische Systeme sind Produkte des menschlichen Geistes und seiner Arbeit, die nicht wichtiger werden sollten, als er selbst.

Bibliographie

Quellen:

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[...]


[1]Vgl.: „Wir sind die neuen Radikalen“, in: Der Spiegel Nr.44, S.161.

[2]Vgl.:Sturm, Roland, Der Dritte Weg. Königsweg zwischen allen Ideologien oder selbst unter Ideologieverdacht?, in: Aus Politik und Zeitgschichte B 16-17/2001, S.4.

[3]Vgl.:Giddens, Anthony, Der Dritte Weg. Die Erneuerung der sozialen Demokratie, Frankfurt a.M 19992.

[4]Ebd.: S.81.

[5]vgl.:Giddens, Anthony, Der Dritte Weg, S. 137.

[6]Vgl.: „Wir sind die neuen Radikalen, S. 164.

[7]Vgl.:Giddens, Der Dritte Weg, S. 88.

[8]Vgl.:Gallus, Alexander,Jesse, Eckhardt, Was sind Dritte Wege? Eine vergleichende Bestandsaufnahme, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B16-17/2001, S. 8.

[9]Zitiert nach:Strum, Der Dritte Weg, S. 5.

[10]Vgl.:Gallus, Was sind dritte Wege, S.8.

[11]Vgl.: „Wir sind die neuen Radikalen“, S. 161.

[12]Ebd.: S. 163.

[13]Vgl.:Giddens, Der Dritte Weg, S. 20.

[14]Ebd.: S19.

[15]Vgl.:Meyer, Thomas, Die Transformation der Sozialdemokratie. Eine Partei auf dem Weg ins 21. Jahrhundert, Bonn 1998, S. 21f.

[16]Vgl.:Meyer, Die Transformation der Sozialdemokratie, S. 23.

[17]Vgl.:Meyer, Thomas, Die Transformation der Sozialdemokratie, S. 217.

[18]Vgl.:Jospin, Lionel, Auf dem Weg zu einer gerechteren Welt, in: http://www.blaetter.de/kommenta/josp1199.htm, 08.11.02, S 3.

[19]Ebd.: S. 890f.

[20]Vgl.:Jospin, Lionel, Auf dem Weg zu einer gerechteren Welt, S. 2.

[21]Ebd.: S.4.

[22]Vgl.:Hénard, Jaqueline, Europas dritter Dritter Weg. Wie der französische Premierminister Lionel Jospin zum starken Mann zwischen Blair und Schröder heranwuchs, in: Die Zeit Nr. 39, S. 7.

[23]Vgl.:Hénard, Jaqueline, Europas dritter Dritter Weg, S. 7 und „Wir sind die neuen Radikalen, S. 165.

[24]Ebd.

[25]Vgl.:Meyer, Die Transformation, S. 203.

[26]Vgl.: „Wir sind die neuen Radikalen, S. 162.

[27]Vgl.:Schwarz,Peter, Die Sozialistische Internationale am Ende des Jahrhunderts, in: http://www.wsws.org/de/1999/nov1999/sozi-n18.shtml, 18.09.2002, S. 2.

[28]Vgl.:Schwarz,Peter, Die Sozialistische Internationale am Ende des Jahrhunderts, S.3.

[29]Vgl.:Schlid, Joachim, Frankreichs „plurale Linke“ auf Erfolgskurs, in: http://www.blaetter.de/kommenta/sild1199.htm, 18.09.02, S. 2.

[30]Vgl.:Jospin, Auf dem Weg, S. 5.

[31]Vgl.:Jospin, Auf dem Weg, S. 5.

[32]Vgl.:Meyer, Die Transformation, S. 224.

[33]Vgl.:Thierse, Wolfgang, Dritte Wege im europäischen Maßstab, in: Die neue Gesellschaft. Frankfurter Hefte Heft 11/99, S. 989.

[34]Vgl.:Bode, Ingo, Abschied vom Vorsorgestaat? Sozialpolitik und Zivilgesellschaft à la française, in: Frankreichjahrbuch 1999, Opladen 1999, S. 121.

[35]Zitiert nach:Thierse, Wolfgang, Dritte Wege. Neue Mitte. Sozialdemokratische Markierungen für Reformpolitik im Zeitalter der Globalisierung, in: http://www.uni-tuebingen.de/uni/spi/pf99gw.htm, 18.09.2002, S. 18.

[36]Vgl.:Thierse, Wolfgang, Dritte Wege im europäischen Maßstab, S. 986.

[37]Zitiert nach:Bode, Ingo, Abschied vom Vorsorgestaat?, S. 127.

[38]Vgl.:Jospin, Auf dem Weg, S. 7.

[39]Vgl.:Strasser, Johano, Wege und Irrwege einer künftigen linken Politik, in: Die neue Gesellschaft. Frankfurter Hefte Heft 5/99, S. 459.

[40]Vgl.:Jospin, Auf dem Weg, S. 5.

[41]Vgl.:Bode, Ingo, Abschied vom Vorsorgestaat?, S. 127.

[42]Vgl.:Jospin, Auf dem Weg, S. 5.

[43]Vgl.:Bode, Ingo, Abschied vom Vorsorgestaat?, S. 139.

[44]Ebd.

[45]Ebd.: S.121.

[46]Vgl.:Thierse, Wolfgang, Dritte Wege im europäischen Maßstab, S. 986.

[47]Zitiert nach:Thierse, Wolfgang, Dritte Wege. Neue Mitte, S. 17.

[48]Vgl.:Hénard, Europas dritter Dritter Weg, S 7.

[49]Vgl.:Schlid, Joachim, Frankreichs „plurale Linke“ auf Erfolgskurs, S. 2.

[50]Vgl.:Strasser, Johano, Wege und Irrwege einer künftigen linken Politik, S. 459ff undSchwarz,Peter, Die Sozialistische Internationale am Ende des Jahrhunderts, S.3; beide Autoren behandeln die Spaltung der Meinungen über die beiden Konzepte von Schröder-Blair und Jospin und verdeutlichen sie an den Personen Lafontaine und Schröder. Lafontaine machte immer deutlich, dass er in Bezug auf dieses Thema auf der Seite Frankreichs stehe und betonte die Wichtigkeit dieser Haltung. Sein Ausscheiden aus der Regierung wird oft als klare am Neoliberalismus und der neuen Verbindung zu England gesehen.

[51]Vgl.:Jospin, Auf dem Weg, S. 1.

[52]Vgl.:Hobsbawm, Eric, Das Gesicht des 21. Jahrhunderts, München/Wien 2000, S. 60-74.

[53]Zitiert nach: „Wir sind die neuen Radikalen, S. 165.

[54]Vgl.:Jospin, Auf dem Weg, S. 2.

[55]Ebd.: S. 3.

[56]Ebd.: S. 5.

[57]Vgl.:Thierse, Wolfgang, Dritte Wege im europäischen Maßstab, S. 986.

[58]Vgl.:Kiersch, Gerhard, Die französische sozialistische Partei (PS), in: Paterson, William E., Schmitz, Kurt H. (Hrsg.), Sozialdemokratische Parteien in Europa, Bonn 1972, S.247.

[59]Vgl.:Jospin, Auf dem Weg, S. 2.

[60]Ebd.: S. 6.

[61]Vgl.:Jospin, Auf dem Weg, S. 6.

[62]Ebd.: S. 9.

[63]Ebd.: S.6; ; die 35-Stunden-Woche hat Jospin in Frankreich zu Anfang seiner Regierungszeit durchgesetzt.

[64]Ebd.

[65]Ebd.: S. 6f.

[66]Vgl.:Jospin, Auf dem Weg, S. 7.

[67]Ebd.: S. 6f.

[68]Ebd.: S. 7.

[69]Ebd.

[70]Ebd.: S. 5.

[71]Vgl.:Meyer, Die Transformation, S.50f.

[72]Vgl.:Strasser, Johano, Wege und Irrwege einer künftigen linken Politik, S. 460.

[73]Zitiert nach: „Wir sind die neuen Radikalen, S. 166.

[74]Vgl.:Jospin, Auf dem Weg, S. 9.

[75]Ebd.: S. 10.

[76]Ebd.. S. 11.

[77]Ebd.: S. 10.

[78]Vgl.:Jospin, Auf dem Weg, S. 12.

[79]Ebd.: S. 11.

Ende der Leseprobe aus 28 Seiten

Details

Titel
Sozialdemokratie im Wandel - Das Jospin-Papier
Hochschule
Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn
Veranstaltung
Hauptseminar
Note
2+
Autor
Jahr
2002
Seiten
28
Katalognummer
V107713
ISBN (eBook)
9783640059515
Dateigröße
523 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Sozialdemokratie, Wandel, Jospin-Papier, Hauptseminar
Arbeit zitieren
Felicitas Döring (Autor:in), 2002, Sozialdemokratie im Wandel - Das Jospin-Papier, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/107713

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