Der Catcher und seine Seelenverwandten / ein Essay
1. (aktueller Aufhänger) Abschied von Böll
Das in drei Dutzend Sprachen übersetzte Jugendbuch "The Catcher in the Rye" des New Yorkers Jerome D. Salinger (geb. 1919), das allein in Deutschland über eine Million Mal verkauft wurde, hat der Verlag Kiepenheuer und Witsch im Frühjahr 2003 in einer optimierten deutschen Übersetzung vorgelegt, die jetzt als gebundene Ausgabe erhältlich ist. Eine solche Neubearbeitung war auch dringend nötig, denn die bis dato vorliegende deutsche Übersetzung ist veraltet.
Heinrich Böll, dem Übersetzer der Erstausgabe in deutscher Sprache von 1962, lag nämlich nicht das amerikanische Original, sondern die kürzere Londoner Ausgabe des Kultromans vor, die dem Umstand Rechnung trug, dass die Briten über einige vulgäre Ausdrücke des jugendlichen Helden wohl "not amused" gewesen wären, und auch ansonsten stellenweise fehlerhaft war. Reinhard Helling hat im Rheinischen Merkur Nr. 16/2003 auf einige der Mängel hingewiesen, die in der Neuübersetzung von Eike Schönfeld behoben wurden und führt weiter aus:
"In Schönfelds Übersetzung spürt man praktisch in jedem Satz hinter Holdens harter Schale den sensiblen Kern, den Teenager, der angeekelt von der Verlogenheit der Welt ist, aber voller Ideen und Hoffnung steckt. Nun siezt Holden den Leser auch nicht mehr angestrengt. 'Ihr müsst nun aber nicht meinen, dass sie ein verfluchter Eisblock war oder was weiß ich, bloß weil wir nie geknutscht oder rumgealbert haben. War sie nicht.' Schönfeld hat kaum versucht, Holdens Sprache zu verbessern. 'Ich verstehe mich als Komplize des Autors', sagt er.
'Wenn Holden unpassende Begriffe verwendet, die wie geborgte kraftmeierische Versatzstücke wirken – was Salinger sehr bewusst zur Charakterisierung seines Protagonisten getan hat –, dann müssen sie auch auf Deutsch wie geborgt wirken.' In der Neuübersetzung kann sich Holden endlich auch über das Graffito 'Fuck you' in seiner alten Schule aufregen, das er entdeckt, als er seine kleine Schwester Phoebe besucht. Bei Böll hieß es völlig unverständlich lediglich 'dich . . .'"
Fast wie ein Nachruf klingt, was Helling abschließend an Aktuellem über den vestummten Bestseller-Autor zu berichten weiß: "Seit 37 Jahren schreibt Salinger mit seinem untrüglichen Gespür für Kinder leider nur noch "zum eigenen Vergnügen", entrückt der Welt, zurückgezogen in die Einsiedelei von Cornish, New Hampshire. Die Geschichte "Hapworth 16, 1924", abgedruckt 1965 in Salingers
Hausblatt "The New Yorker", ist die letzte Wortmeldung des heute 84-Jährigen. [...] Die zuletzt für November 2002 angekündigte Veröffentlichung dieses Briefromans als Buch scheint endgültig auf Eis gelegt. Dies mag der Grund für einen Fan gewesen sein, den kompletten Text anonym ins Internet zu stellen." (Reinhard Helling: Aus Smith wird Schmidt. In: Rheinischer Merkur Nr. 16. 17.04.2003.)
Das 1951 erschienene Buch des Autors war übrigens sein einziger nennenswerter Erfolg, wenn man von den kürzeren Geschichten um die skurrile Familie von „Franny und Zooey” (1961), zwei exzentrischen Geschwistern, bzw. um den poetischen Seymour Glass einmal absieht.
Franny ist ein intellektuell vergleichsweise überentwickeltes junges Mädchen, das durch die massive Rekapitulation eines Gebets zu geistlicher Reife und Reinheit zu gelangen versucht. Das als Trotzreaktion gegen eine als schlecht empfundene Welt zu verstehende Vorhaben geht schief: Franny erleidet einen Nervenzusammenbruch. Ihr Bruder Zooey versucht – in der zweiten der beiden zusammenhängenden Geschichten – sie zu therapieren... Einen Eindruck von Salingers sonstigem Schaffen, ebenfalls mit einem Auftritt von Seymour, seinem letzten übrigens, gibt der Kurzgeschichten-Band „Neun Erzählungen” (1953) aus dem Rowohlt-Verlag.
2. (eigentliches Thema) Des Caulfields Kern
Holden personifiziert den jugendlichen Rebellen. Er hasst es, so ungefragt in die Welt der Erwachsenen katapultiert zu werden, hasst ihre Heuchelei und Doppelmoral. Wo andere Schüler sich opportunistisch an die neuen Gegebenheiten anbiedern, schaltet Holden radikal auf Stur. Schließlich haut er einfach ab.
In einer gewissen Spannung zu seinem sonstigen Anderssein steht sein Verhältnis zur aufkeimenden Sexualität. Er ist ein Getriebener, der in New York auch das rasche Vergnügen sucht. Der Rebell gegen die Umstände ist nicht stark genug auch ein Rebell gegen die eigenen Triebe zu sein und er hasst sich selbst dafür. Zumal Liebe und Sexualität bei seinem Teenie-Erfahrungshorizont kein Stück zusammen passen. Lieben - uneingeschränkt - kann er nur seine Schwester Phoebe. In anrührender Weise schildert Salinger die Begegnung mit der unschuldig schlummernden Schwester. Es ist genau diese Unschuld und Reinheit, die Holden verloren hat und, wie gesagt, er hasst sich dafür. Denn er kann nichts rückgängig machen. Jede frühreife sexuelle Erfahrung hat etwas brutal Unumkehrbares, das einen an die neue und doch noch so fremde und unwillkommene Welt kettet. Denn Sex und Kindheit, das passt nicht zusammen. Zwei Bücher werden von Holden immer wieder gerne zitiert: Tania Blixens (Pseudonym: Isaac Denisen) Out of Africa und F. Scott Fitzgeralds The Great Gatsby. Kein Zufall: Tania Blixen schildert in ihrem grandios mit Robert Redford und Meryl Streep verfilmten Buch den Verlust von Heimat und Identität als Auswandererschicksal. Und The Great Gatsby ist die Geschichte eines glorreichen Außenseiters, eines Menschen, der so gegen alle Konventionen lebt, dass es schon wieder attraktiv ist - allerdings, was nicht ganz unerheblich ist, mit Hilfe von Geld wie Heu und einem Aussehen wie Robert Redford. (Dass beide Bücher mit Redford verfilmt wurden, ist eine Duplizität, die Salinger nicht vorausahnen konnte.) An The Great Gatsby ist es die Entfremdung durch Reichtum und Glamour, die den jungen Holden fasziniert haben dürfte, denn fremdartig fühlt auch er sich. Zugleich wird Holden die schlafwandlerische Sicherheit und Souveränität angezogen haben, mit der Gatsby sich über Konventionen und Tabus hinwegsetzt. Welcher Jugendliche sehnt sich wohl nicht danach, ein strahlender, geradezu unanfechtbarer Held zu sein, sich alles erlauben zu können? Und dann endet Gatsby gleichwohl so tragisch. Der Traum von Unumstößlichkeit und Erhabenheit endet ebenso abrupt wie blutig. Ein Trost für alle, denen als Jugendliche die Sicherheit eines Gatsbys versagt geblieben ist. Die Sicherheit war nur trügerisch; so einfach ist es eben doch nicht, lautet die Botschaft.
Dennoch sind es genau solche Sicherheiten, nach denen Holden sich verzehrt. Seine Suche danach, sein Fragen nach dem rechten Verhalten, dem richtigen Weg – es muss am Ende antwortlos bleiben, da jeder selbst seinen Lebensweg finden und den damit verbundenen Anfechtungen trotzen muss. Und so endet auch Salingers Buch offen.
3. (thematische Öffnung) "Seelenverwandte"
Sicherlich interessant für viele jugendliche Leser sind zwei - wenn man so will - literarische Erben Holden Caulfields. Beide wären es wert, im Rahmen des Deutschunterrichts einem Vergleich mit dem "großen Bruder" unterzogen zu werden. Es handelt sich um den vielen bekannten Benjamin Lebert aus Crazy und um den weniger bekannten Albert König, dessen schockierender Lebensbericht vor zwei Jahren unter dem Titel König ohne Krone erschienen ist. Während Leberts tragisch-heiteren Anekdoten nicht zuletzt auch dank des Films von Hans-Christian Schmid großer kommerzieller Erfolg beschieden war, ist König ohne Krone, weniger kommerziell angelegt und in einem Kleinverlag erschienen, bisher ein Geheimtipp geblieben. Das Buch von Didier, laut "Vorwort des Herausgebers" (Hesses Steppenwolf lässt grüßen!) basierend auf authentischen Tonbandaufzeichnungen eines Gefängnistherapeuten, braucht den Vergleich mit Benjamin Lebert allerdings nicht zu scheuen. Die Geschichte eines jungen Mannes, der nach dem frühen Verlust des Vaters in einen verstörend realistisch geschilderten Strudel aus Kleinkriminalität und Gewalt hineingezogen wird - bis hin zur finalen Katastrophe -, geht unter die Haut. Und die betont lapidar vorgetragenen Gewalthandlungen des jugendlichen Straftäters schockieren. Albert König ist Benjamin Leberts böser Bruder. Wo man bei Leberts Schilderungen noch über Verrücktheiten schmunzeln konnte, würgt einen hier das Entsetzen. Aber ob Crazy-Benny oder Hardcore-Albert, in beiden Fällen geht es um stigmatisierte Jugendliche, die in einer radikalen Sprache, die auch das verpönte F-Wort gern mit einschließt, ihren Problemen Luft machen, Problemen mit dem Leben, der Liebe, der aufkeimenden Sexualität und Gleichaltrigen, die einem nicht helfen können, weil erwachsen nun mal jeder für sich allein wird. Genau hier liegen auch die Berührungspunkte mit Holden Caulfield. Es ist immer eine Sprache, die dem jugendlichen Volk "aufs Maul schaut" oder besser noch: eben diesem aus dem "Maul" gerissen ist, mit dem die Autoren eine breite Identifikationsfläche für ihre Leser bieten. Sprache ist ihr ureigenes Mittel des Protestes, des Aufbegehrens, des Sich-nicht-Anpassens. Reden, wie einem der Schnabel gewachsen ist, das ist aber auch Ausdruck eines Sich-Treiben-Lassens, eines ungelenken Herumtaumelns in einer Welt, die man nicht mehr versteht und die einen nicht mehr versteht. Man achtet nicht auf Etikette - wozu? Das ist die Domäne der Erwachsenen, und deren Regeln versteht man ja doch nicht, will es auch nicht. Die Alternative dazu ist, da es Stillstand nicht geben kann, das jugendliche Sprachexil. Doch nicht nur Erben können Seelenverwandte sein; auch Vorfahren Holden Caulfields sind zu nennen, namentlich Hans Giebenrath aus dem frühen Roman von Hermann Hesse, "Unterm Rad" (1905). Mächtig unter die Räder gerät hier ein junger Schüler, der seine große Karriere in einer kirchlichen Elite-Schmiede mit Latein- und Griechisch-Pauken beginnen soll, jedoch an den Umständen, den Lehrern und Mitschülern, aber auch an der eigenen Zartheit zerbricht. Ein früher Holden, keine Frage!
4. (literarische Situierung) Jugendliche Existentialisten
Exil, dieses Wort liefert zugleich den Hinweis auf eine literarische Strömung, auf die nicht jeder bei Holden & Co. unbedingt sofort kommt: den Existentialismus. L'exil et le royaume ist nicht zufällig der Name einer Novellensammlung von Albert Camus, der sich vor allem in L'étranger und der späten Erzählung La chute einer ähnlich legeren Sprechweise bedient. Und natürlich sind auch die beiden Helden der genannten Camus-Erzählungen Menschen, die im Strom des Lebens nicht so recht wissen, wie man die richtigen Schwimmbewegungen macht, und deshalb mächtig ins Schlingern geraten. Sprachlich unorthodox vorgetragene Existenzprobleme und Exilgefühle, sie bringen - man höre und staune - große Romangestalten und kleine Versager zusammen. Sie eint die große allgemeine und existentielle Verunsicherung.
Und so treiben diese Helden, ob sie Giebenrath, Caulfield oder König heißen, führerlos durch eine Welt, die ihren individuellen Bedürfnissen einfach nicht gerecht werden kann. Vielleicht könnte man sogar von einem Genre "Jugend-Existentialismus" sprechen. Denn angesichts der angedeuteten Selbstmordgedanken in "Crazy" und im "Catcher", der eindeutigen Freitodpläne in "Unterm Rad" und des ausgeführten Selbstmordes des Königs ohne Krone ist ganz klar, worin es letzten Endes in allen Büchern dieses Strickmusters geht: um die nackte Existenz, ums pure Überleben. Wenn die Angst vor dem Scheitern übergroß wird oder das Scheitern wie bei Albert König und Hans Giebenrath bereits ein so grausames Ausmaß angenommen hat, dann erscheint der Tod als lockende Versuchung dem allen ohne allzu großen Aufwand zu entfliehen. Vielleicht gelingt einem, wie im Falle Albert König, sogar ein letzter heroischer Akt, der einem in einer Art ultimativer Sternstunde das Great-Gatsby-Feeling verleiht?
5. (Schlussfolgerungen) Catch the catcher!
Die Auseinandersetzung mit dem Thema Freitod macht diese Bücher allesamt zu geeigneten kleinen Pubertäts-Reiseführern - diese saloppe Formulierung sei erlaubt. Denn ein Ausklammern des Themas wäre schlicht Heuchelei. Manche gehen sogar so weit zu behaupten, dass es eine Pubertät ohne Selbstmordgedanken gar nicht gebe. Die Leser dieser Zeilen mögen diesen Ausspruch anhand ihrer eigenen Biografie bewerten. Fakt jedoch ist, dass die Grenzerfahrung Pubertät eigentlich zwangsläufig Gedanken an die Grenze der eigenen Existenz mit sich bringt. Wenn ich bei dem Versuch das Leben einigermaßen zu bewältigen ständig in der einen oder anderen Form scheitere, woher nehme ich dann die Garantie, dass mein Leben nicht schlechthin zum Scheitern verurteilt ist? Die einzige Antwort auf diese Sinnkrise könnte die Religion liefern, und zwar, wenn Jesus Christus in seiner Welt-Überwindung, der eine radikale Absage an das bürgerlich-etablierte Leben seiner Zeit vorausgeht, den Holdens und Co. zugänglich gemacht würde. Ein Glaube, der erfahrbar wäre, könnte das Verhältnis der Orientierungslosen zu dieser Welt zurechtrücken und zugleich ganz neue, ewige Perspektiven in Aussicht stellen. Doch da die Kirche an dieser Stelle, von der evangelikalen und/oder charismatischen Bewegung abgesehen, fast immer eine versagende ist (siehe "Unterm Rad"), haben die jugendlichen Helden zur Religion und ihren Heilszusagen keinen Zugang. Erkennbar wird daher, bei Caulfield und König klar ersichtlich, eine Ablehnung, basierend auf schlechten Erfahrungen.
Was bleibt, sind Unsicherheiten und Ängste, die unter allen Pubertären und Postpubertären wohl nur den extrem Selbstbewussten oder den extrem Gedankenlosen fremd sind. Holden, Hans und Albert gehören nicht dazu und das macht ihre Lebens- und Leidensberichte für jeden so lesenswert, so erlebenswert, der weder das eine noch das andere war oder ist in der Zeit der hormonellen Revolution.
Catch the Catcher - den Geist dieser Bücher einfangen, ihn mit dem, der in uns wohnt, auf Gemeinsamkeiten abzuklopfen und daraus Lebenszuversicht zu schöpfen, weil Scheitern zum Menschsein in jeder Phase dazugehört, das ist wohl der tiefere Sinn dieser Werke und ihrer zeitlosen Antihelden, die uns manchmal so erschreckend ähnlich sind, dass wir unser Herz schneller schlagen spüren.
"Holden, can you hear me?"
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