Das Münchner Minnekästchen


Hausarbeit, 2001

23 Seiten


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Was sind Minnekästchen?

3.1 Das Münchner Minnekästchen
3.2 Die Geschichte des Münchner Minnekästchens

4. Der kulturhistorische Aspekt
4.1 Die Quellenlage
4.2 Der Verweis auf weitere Fälschungen
4.3 Das äußere Erscheinungsbild

5. Der naturwissenschaftliche Aspekt
5.1 Der Befund
5.2 Die Altersbestimmung
5.3 Das Münchner Minnekästchen eine Elfenbeinimitation?

6. Die Sprachgutachten

7. Fazit

8. Literaturangaben

1. Einleitung

Im Jahre 1928 widmete sich Heinrich Kohlhausen in seinem Standardwerk Minnekästchen im Mittelalter, in dem um die zweihundert Werke ausführlich vorgestellt werden, einer bis zu diesem Zeitpunkt kaum beachteten Gattung. Seitdem wurde die mittelalterliche Herkunft der zahlreiche Holz- und Lederkästchen aus Deutschland, die allem Anschein nach einen Einblick in die ritterliche Lebenswelt gewährten, lange Zeit nahezu kritiklos hingenommen und sie nahmen fortan einen „festen Platz im Tornister der Mediävisten“[1] ein. Belegten diese Kästchen doch, dass das Rittertum, neben seinen kriegerischen und administrativen Aufgaben, auch mit der Gründung eines neuen Liebesideals beschäftigt war.[2]

Allerdings muss der Status dieser Gattung kurios erscheinen, weil die einzige Quelle für ihre Existenz nicht etwa durch mittelalterliche Schriften belegt ist, sondern durch das von Friedrich von der Hagen 1856 zuerst bekannt gewordene Minnekästchen. Das Münchner Minnekästchen, wie es seit dem gleichnamigen Aufsatz von Georg Himmelheber genannt wird, legitimiert aufgrund seiner Szenenfolge, in der ein Mann mit einem kleinen Kästchen in der Hand einer Frau entgegeneilt, die gesamte Gattung.

Während im 19. Jahrhundert immer wieder stilistische und sprachliche Unsicherheiten zu unterschiedlichen Datierungen und Lokalisierungen des Münchner Minnekästchens führten, wurde es trotzdem als mittelalterlich befunden. Ernsthafte Zweifel an seiner Echtheit häuften sich erst anlässlich der Staufer-Ausstellung 1977, auf der es anfänglich noch um 1250/60 vom Oberrhein stammend eingeordnet wurde und seitdem ein Streitobjekt der Kunstgeschichte und der Mediävistik darstellt. Sollte sich der Vorwurf einer romantischen Fälschung als positiv erweisen, muss aufgrund der Bedeutung, der Ursprung aller übrigen Minnekästchen ebenfalls in Frage gestellt werden.

In meiner Arbeit möchte ich mich eingehend mit diesem ‚Schlüsselstück’ beschäftigen. Zunächst einmal werde ich das allgemeine Verständnis von Minnekästchen, wie es durch Kohlhausen formuliert wurde, vorstellen. Darauf folgt eine Beschreibung des Münchner Minnekästchens und ein kurzer Abriss seiner Geschichte von der Entdeckung 1816 bis hin zur Staufer-Ausstellung. Mein eigentliches Interesse gilt zwei Aufsätzen, die zur ‚Wahrheitsfindung’ unerlässlich sind. Dorothea und Peter Diemer möchten in Die Minnesangs Schnitzer (1992) vor einem kulturhistorischen Hintergrund belegen, dass es sich beim Münchner Exemplar um eine Fälschung handelt. Ihre These stützen sie auf die mangelnde Quellenlage, den Verweis auf nachweisliche Fälschungen sowie die Skepsis hinsichtlich des äußeren Erscheinungsbildes.

Der zweite Aufsatz mit dem Titel Das Münchner Minnekästchen – Untersuchungen zur Echtheitsfrage (1995) stammt von dem Restaurator des Bayrischen Nationalmuseums Rudolf Göbel. Darin setzt er Diemers kulturhistorischen Ansatz eine naturwissenschaftliche Untersuchung entgegen, um den Ruf des Kästchens zu rehabilitieren. Dabei stößt er auf eine interessante Entdeckung, die einen völlig neuen Aspekt in die Diskussion bringt. Beiden Aufsätzen ist jeweils ein Sprachgutachten hinzugefügt, das die jeweilige These untermauern soll. Aus diesem Grund werde ich kurz auf die wichtigsten Unterschiede und Resultate dieser beiden Sprachanalyse eingehen.

Das Ziel meiner Arbeit ist mit Hilfe der Gegenüberstellung des kulturhistorischen und des naturwissenschaftlichen Gesichtspunktes, zu einem Urteil zu gelangen, ob es sich beim Münchner Minnekästchen und möglicherweise bei der Gattungsbezeichnung, um eine „Fata Morgana der Romantik“[3] handelt oder vor einem völlig neuen Hintergrund gesehen werden muss.

2. Was sind Minnekästchen?

Ähnlich wie der Begriff der höfischen Liebe, der erst im Jahre 1883 von dem französischen Mediävisten Gaston Paris geprägt wurde, war die Bezeichnung Minnekästchen im Mittelalter nicht gebräuchlich, sondern geht auf Friedrich von der Hagen zurück, der sie in seinem Vortrag 1856 zum Symbol des ritterlichen Liebeslebens erhoben hat.[4] Heute noch herrscht die weit verbreitete Meinung, dass sie in der höfischen Gesellschaft des Mittelalters als eine Art Liebesbeweis fungierten, mit dem das Werben eines Mannes oder Bräutigams um Dame bekundet und gefördert werden sollte. Das Problem einer exakten Spezifikation besteht meiner Ansicht nach darin, dass der Begriff Minnekästchen als ein Sammelbegriff für sämtliche aufwendig dekorierte Kästchen verwendet wird, die nicht als Reliquiar eingeordnet werden konnten. Diesbezüglich geben mittelalterliche Schriftquellen keinerlei Auskünfte und in den Inventarlisten mit Hausrat von Burgen lassen lediglich Ausdrücke, wie ein holtzin gemalet laden, ein klein gemolet kistlin sowie ein hubsch lidrin ledli mit etwas kleinetlin wiederfinden.[5]

Laut Kohlhausen prägten in Deutschland vor allem zwei Typen das Erscheinungsbild: Zum einen der ursprüngliche Typ. Dabei handelt es sich um ein fußloses und flaches Kästchen, wie es aus altägyptischen und frühgeschichtlichen europäischen Gräberfunden bekannt ist.[6] Der andere Typ ähnelt einem hausartigen Kasten mit abgeplattetem Walmdach, der sich deutlich an islamischen Kästchen des 10. – 12. Jahrhunderts orientiert.[7]

Laut Camille ist das Kästchen mit „seiner metaphorischen Konnotationen des Öffnens und Schließens, der Innerlichkeit und der äußeren Oberfläche, stets eng mit dem unantastbaren weiblichen Körper verbunden, der nur ihrem Ehemann offen stand.“[8] Nicht nur der Akt der Schenkung symbolisiert die Zuneigung zu einer Dame, sondern auch der beigefügte Schmuck sowie die auf den Kästchen angebrachten Darstellungen, deren Inhalt in vielen Fällen zusätzlich durch einzelne Spruchbänder bis hin zu vollständigen Minnegedichten erweitert wurde. Vor allem der Inhalt der Inschriften bestätige, so Kohlhausen, dass der Schenker des Kästchens in der Regel noch sehr unsicher gewesen sei und in den Darstellungen alle Stadien, angefangen vom ersten zögerlichen Annäherungsversuch bis hin zur Erfüllung seiner Wünsche durchlaufe, wobei selbst die Kühnheit der Werbung nur eine Vorhut sei um das Verhalten der feindlichen Stellung auszukundschaften.[9] An dieser Stelle erscheint es mir besonders wichtig auf die Unterschiede zwischen französischen und deutschen Minnekästchen hinzuweisen. In Frankreich wurden sie aus Elfenbein in zunftähnlichen Betrieben als Luxusartikel auch für den Export hergestellt.[10] Hinsichtlich der Darstellung griff man in hier auf die Vorbilder der populären Ritterromane wie Parzival, Tristan und Isolde, Pyramus und Thisbe, aber auch auf stilisierte Abbildungen von Liebespaaren und der Jagd zurück.[11] Ein weiteres Charakteristikum ist der völlige Verzicht auf Spruchbänder und sonstige Inschriften.

Die deutschen Kästchen bestehen überwiegend aus Holz, das geschnitzt, bemalt, mit Metall beschlagen oder mit geprägtem Leder überzogen wurde. Nicht nur in der Wahl des Materials divergieren die Vorlieben der beiden Länder, sondern auch bei den Motiven, da in Deutschland das Liebespaar an sich dominiert und selten auf die literarisch bekannten Vorbilder zurückgegriffen wurde. Das deutsche Kästchen war nach Kohlhausens Interpretation ein individuelles Geschenk an die Geliebte und kein ‚Massenartikel’. Dies würden zum einen die angebrachten Bestellerwappen und Inschriften[12], zum anderen aber auch die Abbildungen verdeutlichen.

Dabei scheinen zwei Motivgruppen besonders beliebt gewesen zu sein: Zum einen treten die Abbildungen von symbolhaften Tieren wie der Hund als Symbol der Treue, der Affe für die Geilheit sowie der Löwe als Zeichen der Stärke und der Ritterlichkeit sehr häufig auf.[13] Mit diesen Tieren sollten besonders die Eigenschaften des Mannes angepriesen werden. In Deutschland galt die Vorliebe aber in erster Linie den bildlichen Erzählungen aus dem Leben der sogenannten Wilden Leute. Das Kästchen Die Entscheidung zwischen Wildmann und Ritter (um 1350-70)[14] im Museum für angewandte Kunst in Köln illustriert eine Geschichte von einem Ritter und einem Wildmann, die beide um die Gunst einer Dame kämpfen. Nachdem diese von dem wilden Mann entführt wurde, eilt der Ritter zu Hilfe und zieht statt seiner Waffe einen Ehering. Die Frau muss nun zwischen dem die Sinnlichkeit symbolisierenden Ungeheuers und dem Ritter, der die höfische Sittsamkeit repräsentiert, entscheiden.[15] Obwohl eine solche Erzählung in der Regel zugunsten des Edelmannes ausgeht, entscheidet sie sich hier allerdings für den Wildmann.

Die Vorliebe für die wilden Leute begründet sich darin, dass die Menschen an den Höfen sich nach einer raueren Lebensform sehnten, wobei die Frau nicht nur das Objekt der Begierde darstellt, sondern auch einen zivilisierenden Einfluss auf den männlichen Sexualtrieb ausüben sollte.[16]

3.1 Das Münchner Minnekästchen

Das aus Lindenholz angefertigte Kästchen ist 8,3 Zentimeter hoch, 22,5 Zentimeter breit und 9,9 Zentimeter tief und befindet sich seit dem Jahre 1903 im Bayrischen Nationalmuseum in München. Auf den ersten Blick fällt vor allem die Quantität der Verzierung, durch figürlichen Abbildungen, Inschriften, Kerbschnitt- und Palmettenornamente, im Vergleich zu anderen Minnekästchen auf.

Auf den Längsseiten bilden Rankenornamente jeweils drei Medaillons, in denen die Geschichte einer Liebesbeziehung erzählt wird. Beginnend mit dem linken Medaillon der Vorderseite (Abb. 3) sieht man einen Mann, wahrscheinlich handelt es sich dabei um den Schenker des Kästchens, der sich mit dem rechten Zeigefinger die Schnurr seines Mantels straff zieht. Diese für die Mitte des 13. Jahrhunderts modische Haltung ist Ausdruck seiner hochgestellten und adeligen gesellschaftlichen Stellung.[17] In der darauffolgenden Szene hat er sich seiner Auserwählten genähert. Doch sie reagiert, gemäß dem höfischen Verhaltenskodex, mit einer ablehnenden Geste. Zwischen dem mittleren und dem rechten Medaillon ist ein Adler abgebildet, der ein Schriftband in seinen Fängen hält. Es verweist mit den Worten LIS·DVRT·ObINA (Lies von dort oben an) auf das Minnegedicht, welches auf der Umrandung der Vorderseite beginnt. Im rechten Medaillon ist ein Fiedler abgebildet, der das Werben des Mannes mit Musik begleitet.[18] Parallel zum Fiedelbogen befindet sich ein weiteres Spruchband, auf dem Venus steht und leitet zur Rückseite (Abb. 2) über. Frau Venus kommt zu Hilfe und schießt zusammen mit der Umworbenen einen Pfeil direkt in das Herz des Minnenden, der ihr im mittleren Medaillon mit einem Kästchen in den Händen entgegeneilt. Wie das rechte Medaillon veranschaulicht hat das Paar zusammengefunden und liegt sich in den Armen.

Auf der rechteckig eingerahmten rechten Stirnseite (Abb. 4), von der heute der linke Rahmenschenkel fehlt, sind alle Akteure zusammen abgebildet. Frau Venus legt schützend ihre Arme um das neue Paar, während der rechts stehende Geiger möglicherweise zur Hochzeit auf aufspielt.[19] Auf der gegenüberliegenden Seite (Abb. 5) ist das Paar, versteht man das Kästchen als Brautwerbegeschenk, bei der Hochzeitsnacht abgebildet und der Schenker beugt sich über seine im Bett liegende Frau, die sein Gesicht mit beiden Händen zu sich zieht.

Der völlig ornamental überzogene Deckel, mit einem Ringgriff in der Mitte, ist mit drei aufgenagelten Scharnierbändern, von denen zwei rechts und links über den Deckel hinausgehen, befestigt. Die Reliefs mit den figürlichen Darstellungen wurden mit Kupfernägeln aufgenagelt.[20] Die gleichen Nägel befinden sich auch am Deckel und an den Ecken.

Auf allen Teilen der Innenwände folgt die Fortsetzung des auf der Vorderseite begonnenen Minnegedichtes. Auf den beiden inneren Langseiten wurde außerdem noch jeweils ein rechteckig eingerahmtes Figurenpaar hinzugefügt (Abb. 1), dass vielleicht auf den Schenker und seine Auserwählte hinweist. Beim Betrachten des Verhältnisses von Bild und Text scheint es, als ob die Innenseite ist ausschließlich dem Gedicht vorbehalten und somit in einem viel stärkeren Maß an die zukünftige Besitzerin gerichtet ist, da es, abgesehen von dem ersten Vers und den beiden Spruchbändern, nur in geöffneten Zustand gelesen werden kann. Hier äußert der Minnende seine Gefühle und Wünsche, die metaphorisch gesehen nicht nach außen dringen sollen: „Und ich ihr sollte meine Liebesklage künden, die ich um ihretwillen habe, nun mach damit Frau, ein Ende, Deinen Trost Du mir sende.“[21] Auch die Vorzüge der Dame, wie ihre „roseblühende Jugend“[22] und ihre „vollkommene Tugend“[23] werden auf den Innenseiten hervorgehoben.

3.2 Die Geschichte des Münchner Minnekästchens

Die älteste schriftliche Erwähnung des Kästchens geht auf den Dialektelogen Johann Andreas Schmeller zurück, der gefördert von dem bairischen Oberbibliothekar Josef Scherer, seine Arbeit am bayrischen Wörterbuch begann. Am 20. Mai 1816 notierte er in sein Tagebuch:

„Scherer hat in der Rüstkammer der Königin einen wahren Fund für die Kunst- und GalanterieGeschichte unserer Vorfahren gemacht. Es ist ein hölzernes Kästchen mit eingeschnittenen Figuren (...) und deutschen Reimen, die ganz in der Art, aber älter als die der manessischen Sammlung sind, und eine LiebesErklärung und Bitte um Minnesold an eine Dame enthalten.“[24]

Bereits mit der genauen Fundortbestimmung treten die ersten Unstimmigkeiten in der Geschichte des Münchner Minnekästchens auf. So behauptet Scherer es eigenhändig in der Kabinettsbibliothek und nicht in der Rüstkammer gefunden zu haben.[25] Das Kästchen, für dessen Entstehungszeit er das 11. Jahrhundert angibt, scheint für ihn von besonders großen Wert gewesen zu sein, da er es König Max Joseph in einem Geburtstagsschreiben am 27. Mai 1816 als das womöglich „seltenste aller altdeutschen Kunstwerke“[26] hervorhebt und darüber hinaus beabsichtigte es zu publizieren. Dieses Vorhaben konnte jedoch erst durch Friedrich von der Hagen realisiert werden, dem das Kästchen ebenfalls im Jahre 1816 von Scherer gezeigt wurde und der es vierzig Jahre später in seinem Bildersaal altdeutscher Dichter bekannt machte. Im Gegensatz zu Scherer datiert er das Kästchen in die zweite Hälfte des 13. Jahrhunderts und entdeckt nach einer detaillierten Untersuchung einige Unstimmigkeiten hinsichtlich der Schrift, die er jedoch auf die mangelnde Kenntnis des Schriftschneiders zurückführt. Dieser habe an einigen Stellen unkorrekt (gisach anstelle von gesegene) oder verkehrt (ihc , ovrt für ich vort) geschrieben.[27] Dennoch handele es sich ohne Zweifel um ein Mittelhochdeutsch, das aufgrund seiner i-Laut Bildung und Biegung (zum Beispiel: gisach, vrlobi und frowin) auf die Gegend des Mittelrheins hinweise.[28]

Es ist anzunehmen, dass das Münchner Minnekästchen, abgesehen von Scherer und von der Hagen, zunächst keine besonders große Wertschätzung erfuhr, da bei der Gründung des Bayrischen Nationalmuseums 1855 nicht dorthin überstellt wurde, sondern erst im Jahre 1903. Dort wurde es zum ersten Mal als Fälschung deklariert und als neuzeitliches Fabrikat der 30er oder 40er Jahre des 19. Jahrhunderts eingeordnet.[29] Leider gibt es keine Angaben darüber auf welchen Gründen diese Annahme basierte. Nachdem man das Kästchen zwanzig Jahre lang im Depot des Nationalmuseums verwahrte, wurde es auf der Breslauer Tagung am 3. Oktober 1924 des Verbandes der Museumsbeamten zur Abwehr von Fälschungen wiederentdeckt und sein Ruf durch zahlreiche Vorträge weitgehend rehabilitiert. Obwohl auch in den Beiträgen der Gelehrten, die sich für die Echtheit des Kästchens aussprachen, stilistische und sprachliche Unstimmigkeiten auftraten und in Folge dessen immer wieder unterschiedliche Datierung prognostiziert wurden, schien eine mittelalterliche Herkunft des Kästchens als gesichert. Letztendlich gelingt es aber erst mit der Aufnahme in das 1928 erschienene Standardwerk Minnekästchen im Mittelalter von Kohlhausen, der es in die zweite Hälfte des 13. Jahrhunderts datiert, die Diskussion um das Münchner Minnekästchen zum Stillstand zu bringen. Seitdem wird es vom Bayrischen Nationalmuseum voller Stolz „als eines der Meisterwerke der Sammlung“[30] dem Publikum präsentiert.

Erst anläßlich der Staufer-Ausstellung 1977 entfachte Ewald M. Vetter, den starke Zweifel an der Echtheit befielen, erneut die Debatte. Aufgrund seiner Bedenken, vor allem wegen der sprachlichen Kontroversen, werden drei Gutachter hinzugezogen, von denen sich Hans Fromm entschieden gegen eine mittelalterliche Herkunft ausspricht, worauf ich später aber noch ausführlicher eingehen werde. Dr. Wilfried Werner, Direktor der Handschriftenabteilung der Universität Heidelberg entdeckt in den Inschriften „viel Merkwürdiges und meldet äußerste Skepsis an.“[31] Prof. Dr. Rudolf Kloos vom Bayrischen Hauptstaatsarchiv befindet es trotz einiger stilistischer Unsicherheiten aus dem 13. Jahrhundert stammend.[32] Von diesem Zeitpunkt an divergieren die Meinungen um den wahren Ursprung des Münchner Minnekästchen bis heute.

4. Der kulturhistorische Aspekt

4.1 Der negative Quellenbefund

Wie bereits erwähnt ist der Ausdruck Minnekästchen eine romantische Prägung und ist weder im mittelhochdeutschen Sprachgebrauch noch bei Grimm zu finden. Betrachtet man die gesamte deutsche Literatur des Mittelalters, so scheint es kein einziges Kästchen zu geben, das einer Frau von ihrem Verehrer geschenkt worden ist.[33] Im Ausland scheint dieser Brauch jedoch gebräuchlich gewesen zu sein. Andreas Cappellanus, der als Hofkaplan in der Mitte des 12. Jahrhunderts für Eleonore von Aquitanien tätig war listet in seinem Werk De Amore eine Anzahl von Dingen auf, die eine Frau annehmen darf:

Eine Liebende darf von ihrem Liebsten diese Dinge frei entgegennehmen: eine Korallenkette, ein Haarband oder einen Reif aus Gold oder Silber, eine Brosche, Handschuhe, Ring und Spiegel, einen Gürtel, einen Geldbeutel, ein Gefäß aus Horn, Gewürze, Wachs, Geschirr und Kerzen sowie ein Kästchen als Andenken an den Liebsten, (...). [34]

In der mittelalterlichen Morallehre des Welschen Gast (1216) von Thomasin von Zerclaere zählt ein Kästchen jedoch nicht zu den Dingen, die eine Frau mit Anstand ohne Bedenken annehmen darf.[35]

Der negative Quellenbefund in der deutschen Literatur erscheint, angesichts der großen Anzahl der von Kohlhausen zusammengetragenen Kästchen, mehr als verwunderlich. Zumal sie, im Gegensatz zu den französischen Elfenbeinkästchen, keinen besonders hohen Materialwert hatten und der individuelle Wert mit dem Tod der Eigentümerin verloren gegangen sein dürfte. Das Material der deutschen Kästchen, in erster Linie also Holz und Leder, spricht ebenfalls gegen den nahezu unbeschadeten Zustand, indem sich die meisten Kästchen zum Zeitpunkt ihrer Entdeckung befunden haben. Diemers stellen die berechtigte Frage, ob sich diese Form der Zuneigung nicht einziges Mal in Schriften, sondern lediglich materiell überliefert haben soll?[36]

Neben dem Münchner Minnekästchen führt Kohlhausen einen zweiten Beleg für die Verwendung von Minnekästchen an. Dabei handelt es sich um eine gotische Zeichnung (Abb. 7) aus Frankreich, die um 1400 angefertigt wurde. Sie soll ein weiterer Beweis dafür sein, dass „diese Kästchen in der galanten Welt eine Rolle spielten, auf die äußere Sorgfalt in Material und Dekor und Motive hinweisen.“[37] Diese Vermutung hat sich allerdings als unzulänglich erwiesen, da es nicht um einen Minnenden handele, der mit der Überbringung des Kästchens seine Zuneigung offenbare, sondern um einen Boten mit einer Brieflade und noch dazu mit einer schlechten Botschaft.[38]

4.2 Der Verweis auf andere Fälschungen

Ein weiterer Beleg, der nach Meinung Diemers, für die Fälschungstheorie des Münchner Minnekästchens spricht, ist die Tatsache, dass bereits eine Reihe von Minnekästchen eindeutig als neuzeitliche Produkte in der Vergangenheit entlarvt wurden. An dieser Stelle möchte ich auf das von ihnen angeführte Beispiel des Sarnener Kästchens näher eingehen, das bis zu seiner Versteigerung 1842 ebenfalls dem bayrischen Königshaus gehörte. Der Provenienz zufolge gelangte es auf eigentümliche Art in den Besitz des Stadtarchivars Schneller in Luzern und ging 1879 testamentarisch an die Kunstgesellschaft. Ein apogrypher Zettel aus dem Ende des 18. Jahrhundert deklariert es als „der Königin Agnes ihr Schatzkästlein von Königsfelden.“[39] Dies ist jedoch äußerst unwahrscheinlich, weil Agnes bereits 1281 geboren wurde und somit etwa ein Jahrhundert vor der ‚stilistischen’ Entstehung ihres Kästchens eine junge Frau gewesen sein muss.[40] Es gehört zu einer Gruppe von neun weiteren Kästchen desselben Stils, die angeblich im Elsass um 1400 entstanden sind. Die Eisenbeschläge sind bei allen identisch. Ebenso wie die Abbildungen frappierende Analogien in den erotisch anzüglichen Motiven aufweisen. Kennzeichnend dafür sind Schlüssellöcher, Mörser sowie Tiere in obszöner Verrichtung, die höchstwahrscheinlich nicht als Symbol der Treue gedacht waren.[41] Derartige Motivwahl erscheint für eine Entstehung vor dem Zeitalter der Aufklärung bereits eigenartig genug, aber der Fälschungsvorwurf erhärtet sich durch zwei Kästchen der ‚Elsässer Gruppe’. Sie bezeugen durch die neuzeitliche Innentapete ihre Herkunft und somit, so Diemers, auch die der anderen.[42]

Es werden noch zahlreiche weitere Beispiele in Diemers Aufsatz angeführt, die äußerst dubios erscheinen. Bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts erwarb das Berliner Kunstmuseum insgesamt sieben Minnekästchen (bei Kohlhausen tragen diese die Katalognummern 29, 33, 50, 53, 54, 76 und 77). Davon sind die Nummern 54, 76 und 77 eindeutig als Fälschungen deklariert.[43]

Für Kohlhausen, aber auch für Göbel, erscheint der Fälschungsvorwurf hinsichtlich des Münchner Minnekästchens unrealistisch, da es sich mit der Ersterwähnung 1816 um eine sehr frühe und damit unglaubwürdige romantische Fälschung handeln würde. An von Hagens Aufzeichnungen ist nicht zu zweifeln, da sie sehr sorgfältig und genau sind und er in den Jahren 1816/17 eine wissenschaftliche Reise durch Deutschland unternahm. Kohlhausen bemerkt richtig, dass etwa „in Köln, wo durch die Aufhebung und drohenden Abbruch von Klöstern und Kirchen die Menschen sich nicht vor alten Kunstwerken retten konnten.“[44] Schließlich sind zahlreiche der bedeutenden Privatsammlungen gotischer Kunst in diesen Jahren entstanden, aber ebenfalls auch der Bedarf an gotischer Kunst, gotischem Kunstgewerbe, Rüstungen und Sammlungsstücken, der nachweislich auch mit Neuanfertigungen gedeckt wurde.[45] Bereits um 1800 gab es gotische und neugotische Stimmungsbauten, die im Sinne der Romantik in mittelalterlichen Art und Weise mit Originalen und nachempfundenen Gegenständen ausgestattet wurden, wie die Löwenburg bei Kassel, die Laxenburg sowie Schloss Wildenstein bei Basel. Nach der heutigen Forschungslage ist bekannt, dass es bereits gegen Ende des 18. Jahrhunderts, also zeitgleich mit den literarischen Entdeckungen des Mittelalters, eine Gruppe von außerordentlichen effektiven Fälschern gegeben hat. Ebenfalls zu Beginn des 19. Jahrhunderts wuchs das Interesse an Sammlungen altdeutscher Kunst, wie die privat angelegten von Wallraf oder der Brüder Boisserée.

Wahrscheinlich war daher die Nachfrage an mittelalterlichen Gegenständen größer als der tatsächliche Bestand, aber leider ist sehr wenig bekannt über die Fälschungen der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, so dass sich keine präzisen Aussagen darüber machen lassen.

4.3 Das äußere Erscheinungsbild

Eine stilistische Einordnung des Kästchens bereitete den Experten schon lange große Probleme, da das Ornament eine Entstehungszeit um 1200 nahelege. Die Verknüpfung der Darstellungen von hoher und niederer Minne, also der platonischen und der sinnlichen Liebe, waren zu dieser Zeit nicht denkbar, sondern erst gegen Ende des 13. Jahrhunderts, ebenso wie die allegorische Abbildung der Frau Minne.[46] Befremdlich für Kohlhausen erscheinen außerdem die glatte Schärfe der Schnitzerei, eine unsymmetrische romanische Rankenbildung sowie die Ausführlichkeit und Inhalt der Inschriften.[47] Aber die von ihm angeführten Vorbilder der Strassburger Synagoge,dem Lot in Souillac und die Verbindung zu Limokästchen des frühen 13. Jahrhunderts, sind nach seinem Empfinden zu groß, so dass er weiterhin an einer Datierung der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts festhält.

Eine weitere Unstimmigkeit stellt der Zustand des Kästchens dar. Obwohl sich der Deckel nicht schließen lässt und daher längere Zeit offen gestanden haben muss, ist die Schrift im Inneren nahezu unversehrt. Zu unversehrt nach der Meinung Diemers um aus der Mitte des 13. Jahrhunderts zu stammen. Das Kästchen weise darüberhinaus zahlreiche Wurmlöcher auf, die definitiv echt sein, aber seltsamerweise blieben Inschrift und Schnitzereien von den Schädlingen verschont. Außerdem passen die Fraßgänge am oberen Rand und des Deckels, wenn man ihn schließt, nicht zusammen.[48] Diese Beobachtung verleitet allgemein zu der Annahme, bei der Herstellung habe man auf bereits wurmstichiges Holz zurückgegriffen.

5. Der naturwissenschaftliche Aspekt

5.1 Der Befund

Der technische Befund Göbels gelangt zu dem grundlegenden Resultat, dass das Aussehen des Münchner Minnekästchens im Laufe der Jahre bewußt verändert wurde. Es gibt keinerlei Anhaltspunkte aus welchen Gründen und wann das Kästchen diesen Veränderungen unterzogen wurde. Das ursprüngliche Aussehen war eine Miniaturausgabe einer großen Truhe, dehren Höhe einmal 11 Zentimeter betragen hat.[49] Diese Annahme, beruht auf den vierkantigen Löcher im Boden, in dehnen früher die Füße befestigt waren. Eine Entfernung könnte damit zusammenhängen, dass sie nicht mehr zeitgemäß waren.

Diemers Beobachtung, die Fraßgänge der Holzwürmer würden nicht aufeinander passen, was die Vermutung nahe lege, dass ein Fälscher bereits wurmstichiges Holz verwendet habe, sei zwar richtig, die Schlußfolgerung hingegen sei falsch. Da sich der Deckel nicht mehr in seiner ursprünglichen Position befindet, wie der schräg stehende Überwurf beweise.[50] Es steht fest, dass der Schädlingsbefall einsetzte, nachdem das Kästchen bereits fertig geschnitzt war.[51] Eine Erklärung für diese Annahme liefert Göbel allerdings nicht.

Aufgrund der heute noch in einigen Teilen der Schrift ersichtlichen grünen, rotbraunen und türkisfarbenen Wachsreste, liegt die Vermutung nahe, dass das Kästchen früher farbig gestaltet war. Die Materialanalyse von Hermann Kühn[52] ergab, dass Proben der Wachsfüllungen eine Kupfer-Ammonium-Sulfat Lösung enthalten, die als Pigment in keiner Quelle vorkommt. Dabei handele es sich um ein wasserlösliches Kupfersalz, welches entweder aus Zufall auf kupferhaltigen Metall entstanden war und anschließend abgekratzt wurde. Eine andere Möglichkeit wäre, dass es unbeabsichtigt bei der Herstellung von künstlichen Kupferpigmenten, wie Carbonate, Chloride und Acetate, entstanden ist.[53] Genau dieses Kupfersalz könne aber auch als Verwitterungsprodukt auf dem Schwarzlot mittelalterlicher Glasmalerei nachgewiesen werden. Die Verwendung eines solchen Zufallproduktes spreche, so Kühn, eher für das Mittelalter als für das 19. Jahrhundert.[54]

Ein weiterer Beleg, der eine mittelalterliche Entstehung nahelegt, sind die aus Bienenwachs bestehenden rotbraunen Füllungen, die geringe Mengen von Mennige aufweisen. Die Mennige wurde im Mittelalter weit aus häufiger verwendet als später.[55]

Die Hintergründe der insgesamt zwölf Durchbruchreliefs waren im Original auf einer Schicht auf rot lüstrierten Zinn aufgeklebt. Eine Analyse ergab, dass das Zinn erhebliche Verunreinigungen durch Silber enthält. Für Kühn ein weiteres Indiz für eine Herkunft aus dem Mittelalter, weil dies für das 19. Jahrhundert ebenfalls ungewöhnlich wäre.[56]

Es fällt auf, dass die Nägel, mit dehnen die Reliefs befestigt sind, an einigen Stellen ohne Rücksicht zwischen einige Wörter des Minnegedichts gedrängt wurden. Sie verdecken Trennungspunkte sowie Teile von Buchstaben, wodurch es in einige früheren Abschriften zu Missverständnissen gekommen sei. So zum Beispiel fehlt im Wort anblicche ein / c/, da es was vollständig von einem Nagel verdeckt ist. Dieses gewaltsame Vorgehen, das im Gegensatz zur sorgfältigen Ausarbeitung der Abbildungen und Inschriften steht, könnte ein nachträgliches Anbringen der Nägel voraussetzen. Tatsächlich hat eine Untersuchung der Nägel ergeben, dass es sich dabei eindeutig um Industriefabrikate handelt, die lediglich von Hand zugepfeilt und an den Köpfen vergoldet wurden.[57] Ein weiterer Beweis für die Neugestaltung ist für Göbel die wahrscheinliche Neuanordnung der beiden Stirnseitenreliefs. Dies begründet er damit, dass die beiden Reliefs der Vorder- und Rückseite ganz genau in ihren Gratungen sitzen würden. Während zwischen dem Relief mit der Hochzeitsnacht und den Eckelementen zwei Abstände auftreten, was eine Gratung völlig überflüssig erscheinen lasse. Dieses Relief würde hingegen exakt zwischen die Eckelemente der gegenüberliegenden Seite passen.[58]

5.2 Die Altersbestimmung

Nach der Untersuchung zur Altersbestimmung an drei Proben kann es sich beim letztmöglichen Fälldatum nur das 13. Jahrhundert handeln. Mit Hilfe der noch präziseren 14C-Altersbestimmung gelang es den Zeitraum um 1250/60 näher einzugrenzen, also merkwürdigerweise genau die Datierung, die vor der Fälschungstheorie angenommen wurde. Allerdings sagt das Alter des Holzes nichts darüber aus, wann das Kästchen geschnitzt wurde. Es wäre allerdings ein sehr großer Zufall, wenn ein Fälscher über 500 Jahre später dieses Holz verwendet hätte, dass vom Alter her dem Stil des zu fälschenden Gegenstandes entspricht.[59]

5.3 Das Münchner Minnekästchen – eine Elfenbeinimitation?

Göbel stößt bei seinen Untersuchungen auf eine weitere interessante Entdeckung, die vermuten lässt, dass es sich beim ursprünglichen Aussehen des Münchner Minnekästchens um eine Elfenbeinimitation gehandelt haben könnte. Zum einen bezieht er sich dabei auf die feinen Stichelungen in den Tiefen der Ornamente, Gewandfalten und der Buchstaben, die sich sowohl auf der Innen- als auch auf der Außenseite finden. Als Vorbild nennt Göbel die Gruppe der Kölner gestichelten Elfenbeine aus dem 12. Jahrhundert.[60] Die Betrachtung durch ein Stereomikroskop habe ergeben, dass sich am Grund der Stichelungen weißes Farbmaterial befinde. Vor allem in den Tiefen sammelt sich bei einem Fassungsauftrag mehr Material an, was eine geringere Verschattung und Plastizität zur Folge habe. Die Stichelungen wurden aber offensichtlich aus dem Grund verwendet, der Schnitzerei nach dem Auftragen einer weißen Fassung ihre Schärfe wiederzugeben. Mit Hilfe der Sticheltechnik sei die Verschattung durch die Aneinanderreihung von vielen kleinen Löchern wiederhergestellt und dabei die weiße Farbe in die Tiefe getrieben worden, wo sie bis heute noch erhalten sei. Betrachtet man nun die weiße Fassung des Kästchens im Zusammenhang mit den farbigen Wachsfüllungen und der farbigen Hintergrundgestaltung, wird deutlich, was das Münchner Minnekästchen früher einmal gewesen ist: es handelt sich um eine kostbare Elfenbeinimitation und wandelte sich erst im Laufe der Zeit zu dem heute holzsichtigen Kästchen. Die imitierende Fassung der Schnitzerei wurde später sorgfältig abgenommen. Göbel verweist diesbezüglich auf das Kästchen von Attinghausen aus der Mitte des 13. Jahrhunderts, das sich im Schweizerischen Landesmuseum in Zürich befindet. Es trägt auf seinen eingelegten Durchbruchreliefs eine komplett erhaltene, weiße, Elfenbein imitierende Fassung.[61] Es sei ohne Zweifel bekannt, dass im Mittelalter Elfenbein imitiert wurde, aber nicht mit welchen Mitteln und inwiefern sich dies auch auf profane Gegenstände auswirkt habe. Einen Hinweis, dass es auch in München eine kleine elfenbeinimitierende Truhe gegeben hat, liefert ein Inventareintrag von Johann Baptist Fickler aus dem Jahr 1598. Unter der Nummer 1922 findet sich der Vermerk: „ain viereckhent hülze Drühel, über und über mit weißem angemalten Grund, dem gebain gleich.“[62]

6. Die Sprachgutachten

Das Gutachten von Dr. Hans Fromm stammt vom 02.09.1982. Ihn befremdet vor allem die für das 13. Jahrhundert aus paläographischer Sicht ungewöhnliche Verwendung der Minuskel-b und –d inmitten einer Majuskelschrift, was er aber leider nicht näher ausführt.

Die Inschriften des Kästchens würden seiner Meinung nach aus einer Ansammlung von verschiedenen Dialekten bestehen, die Eigenschaften des alemannischen, mitteldeutschen, schwäbischen, niederrheinischen, bayrischen, elsässischen, niederdeutschen und fränkischen Sprachgebrauchs erkennen lassen.[63] Dieses weite Gebiet der Sprachlandschaften könne unmöglich in dem gleichen Text vorkommen. Des weiteren tauchen immer wieder auch hyperkorrekte Formen auf , die aufgrund einer falschen Analogie entstanden sind. So habe es das Wort obina, abgesehen von einzelnen Handschriften, nie gegeben. Es müsste obana heißen, weil das / e/ im Mittelhochdeutschen nicht aus / i/, sondern aus / a/ enstanden ist.[64] Ein weiterer Anhaltspunkt für die spätere Entstehung des Kästchens belege die Schreibkombination / pb/ sowie / td/ in den Wörtern lipb, indvhtdj und vndirtdan.

Fromms Ergebnis fällt demnach vernichtend aus:

Auf Grund der Sprache lässt sich mit Eindeutigkeit sagen, dass das Kästchen nicht aus dem Mittelalter stammt. Ein Mittelhochdeutsch, wie es die Inschrift bietet, hat es nie gegeben, weder in der Schreibung noch in der Lautung. [65]

In der aktuellsten Analyse aus dem Jahr 1994 kommt Prof. Dr. Gerhard Völker hingegen zu einem völlig anderem Urteil. Zunächst einmal stellt die für mittelalterliche Handschriften ungewöhnliche Kombination von Majuskel- und Minuskelschrift nichts anstößiges dar, sondern ist begründet in der Materialwahl, weil Großbuchstaben sich in Holz besser einschnitzen lassen würden.[66]

Das Gedicht biete zudem kein phantastisches Mittelhochdeutsch, dass aus einem Sammelsurium verschiedener Dialekte bestehe, sondern lässt sich gerade durch diese sprachlichen Eigenarten in einen engeren Sprachraum lokalisieren.[67] Völker spricht sich dabei für den Südrheinfränkischen Raum aus, an dem es zu einer Überschneidung der mitteldeutschen, elsässischen und alemannischen Sprache gekommen sei. Die für Fromm merkwürdige Schreibung /td/ und /pb/ anstelle von /t/ und /p/ verweise auf eine sehr frühe reinfränkische Besonderheit.

Mit der hervorstechendsten Besonderheit der Inschrift, die Verwendung von /hc/ für /ch/, von der Fromm behaupte, dass sie untypisch für mittelhochdeutsche Texte sei und vom Schriftschneider ausnahmslos angewandt wurde, was wiederum ein sicheres Indiz für eine Fälschung sei, verhalte es sich genau gegenteilig. In Wahrheit tritt das / hc/ nur am Wortende auf, während sonst das übliche / ch/ verwendet wird.[68] Hinsichtlich dieser korrekten Verwendung des Wechsels scheint die von Fromm aufgestellte These, der Text stamme aus der Feder eines „romantischen Altertumsfreundes“[69] zu Beginn des 19. Jahrhunderts, wenig plausibel, da die mittelhochdeutsche Sprache erst später erforscht wurde.

Sicherlich hätte die Fälschung einer mittelalterlichen Schrift zu diesem Zeitpunkt kein besonders großes Problem dargestellt, aber die individuelle Inschrift des Kästchens setzt fundierte Kenntnisse über das Mittelhochdeutsch mit seinen zahlreichen Dialektunterschieden voraus. Daher scheide eine Entstehung in der Romantik aus.

7. Fazit

Nach der eingängigen Auseinandersetzung mit dem Münchner Minnekästchen bin ich zu dem Urteil gelangt, dass es sich nicht um eine Fälschung aus der Romantik handelt. Obwohl Diemers zahlreiche berechtigte Zweifel anführen, dominiert für mich, der von ihnen unzulänglich berücksichtigte naturwissenschaftliche Befund. Gegen eine Herstellung im späten 19. Jahrhundert spricht vor allem Göbels Feststellung, das Kästchen habe bereits bei seiner Entdeckung 1816 einen erheblichen Teil seines Alterungsprozesses durchgemacht.[70] Von der Hagen ließ für seine Publikation Bildersaal altdeutscher Dichter Lithografien[71] des Kästchen kurz nach seiner Entdeckung anfertigen, die nahezu identisch mit dem heutigen Erscheinungsbild sind: Die Füße waren bereits abmontiert, die Nägel eingeschlagen, der linke Rahmenschenkel der Hochzeitsszene fehlte, die elfenbeinimitierende Fassung abgenommen und der Ring war an dem Deckel angebracht. Nach der Fälschungstheorie hätten diese Veränderungen innerhalb von zwei Jahrzehnten ablaufen müssen, was aber sehr unrealistisch erscheint. Ebenso unwahrscheinlich ist die fehlerfreie Wahl des Materials durch einen potentiellen Fälscher. Weder das Alter des Holzes noch die verschiedenen Legierungen und Farbzusammensetzungen lassen Rückschlüsse auf eine Entstehung im 19. Jahrhundert zu. Hinsichtlich der beiden Sprachgutachten fällt es mir schwer ein Urteil zu fällen, da ich über keinerlei Wissen der mittelhochdeutschen Sprachbesonderheiten verfüge. Fromms Einwand, dass von der Hagens knapper Fundbericht weise allerdings mit der Jahreszahl 1816 in eine sehr frühe Zeit[72], lässt mich doch an Völkers Ergebniss glauben, dass zudem recht schlüssig ist.

Die Schlussfolgerung darf aber demnach nicht lauten, dass mit der Echtheit des Münchner Minnekästchens auch der Gebrauch und die Existenz von Minnekästchen in der mittelalterlichen Kultur zwangsläufig bewiesen sein kann. Dies hängt meiner Meinung nach mit der Verwirrung zusammen, den der Terminus Minnekästchen mit sich bringt. Kohlhausens Corpus scheint ein Sammelsurium aller möglichen Behälter zu verzeichnen. So unterscheidet er nicht zwischen Korporalienkästchen, Briefladen, Reliqienbehälter und rein ornamental geschmückten Kästchen, die garantiert nicht zu Minnezwecken verwendet wurden. Gerade einmal zwanzig der insgesamt zweihundertzehn Objekte sind vor 1300 datiert und keine einzige Provenienz reicht gesichert vor 1800. In dem Zeitraum, der zwischen der Namensgebung durch von der Hagen und Kohlhausen liegt, scheint der Begriff für die Kulturgeschichte nicht besonders relevant gewesen zu sein, und wird nicht einmal im Standardwerk Das höfische Leben zur Zeit der Minnesinger (1889) von Alwin Schultz erwähnt.

Es erscheint mir nicht besonders einleuchtend, warum es sich bei dem Kästchen, das der Mann auf dem Münchner Minnekästchen in den Händen hält, nicht um eine Brieflade oder einen ähnlichen Behälter handeln kann. Aus welchem Grund erscheint die anscheinend so gebräuchliche Schenkung eines Kästchens an die Auserwählte nicht auf weiteren Minnekästchen beziehungsweise in der deutschen Literatur des Mittelalters?

Einen weiteren Grund zur Skepsis liefern die erotischen Darstellungen auf einigen Kästchen, dessen Publikum man sich, so Diemers, als Herrenrunde in einem prachtvoll mit historischen Versatzstücken ausstaffierten Interieur vorzustellen habe, die aufgrund der anzüglichen Abbildungen und Inschriften verständnisvoll lächelte.[73] Im Gegensatz zu Frankreich würden die deutschen Minnekästchen keinesfalls die höfische Kultur reflektieren, wie das Elfenbeinkästchen mit Amor und Liebespaaren, das sich in St. Ursula in Köln befindet oder jenes mit den Szenen aus der Geschichte der Châtelaine de Vergi im Louvre.[74] Die deutschen Kästchen erscheinen dazu vergleichweise vulgär und scheinen nicht so recht in die höfische Welt des Mittelalters zu passen.

Auch wenn es sich beim Münchner Minnekästchen um ein mittelalterliches Erzeugnis handelt, sind eine Vielzahl der Minnekästchen sicherlich Fälschungen der Romantik. Dennoch nimmt es eine Schlüsselrolle ein, aber nicht als Begründer einer ganzen Gattung, sondern aufgrund der Elfenbeinimition möglicherweise als Verbindung zu den französischen Elfenbeinkästchen. Eine detallierte Untersuchung der anderen Kästchen könnte Aufschluss darüber geben, ob die Imitation ein Einzelfall gewesen ist oder die gesamte Forschung über die deutschen Minnekästchen nicht grundlegend überdacht werden muss.

8. Literaturangaben

- Byrne, Donal: A 14th-Century French Drawing in Berlin and the Livre du Voir-Dit of Guillaume de Machaut. In: Zeitschrift für Kunstgeschichte 47 / 1984. S. 70 – 81
- Camille, Michael: Die Kunst der Liebe im Mittelalter. Köln 2000
- Diemer, Dorothea und Peter: Minnesangs Schnitzer – Zur Verbreitung der sogenannten Minnekästchen. In: Festschrift Walter Haug und Burghart Wachinger. Tübingen 1992. S. 1021 – 1060
- Gall, Günther: Leder im europäischen Kunsthandwerk – Ein Handbuch für Sammler und Liebhaber. Braunschweig 1965
- Gall, Günther: Leder. In: Reclams Handbuch der künstlerischen Techniken. Band 3. Stuttgart 1986. S. 298 - 313
- Göbel, Rudolf: Das Münchner Minnekästchen. In: Zeitschrift in Kunsttechnologie und Konservierung 9 / 1995. Heft Nr. 2. Wernersche Verlagsanstalt Worms am Rhein. S. 296 – 312
- Himmelheber, Georg: Das Münchner Minnekästchen. In: Zeitschrift für Kunstgeschichte. Nr. 47. 1984. S. 243 - 247
- Kohlhausen, Heinrich: Minnekästchen im Mittelalter. Berlin 1928
- Kunst und Kunsthandwerk. Meisterwerke im Bayrischen Nationalmuseum München. Festschrift zum hundertjährigen Bestehen des Museums 1855 - 1955
- Ruf, Paul (Hrsg.): Johann Andreas Schmeller. Tagebücher 1801 – 1852. München 1954
- Schultz, Alwin: Das höfische Leben zur Zeit der Minnesinger. 2 Bände. 2. Auflage. Leipzig 1889
- Wagner, Monika (Hrsg.): Lexikon des künstlerischen Materials. München 2002

[...]


[1] Diemer, S. 1026

[2] Vgl. Diemer, S. 1023

[3] Diemer, S. 1036

[4] Vgl. Diemer, S. 1023

[5] Vgl. Kohlhausen, S. 11

[6] Vgl. Kohlhausen, S. 17

[7] ebd.

[8] ebd.

[9] Vgl. Kohlhausen, S. 17

[10] Vgl. Kohlhausen, S. 18

[11] ebd.

[12] Vgl. Kohlhausen, S.19

[13] Vgl. Gall, S. 33

[14] Abbildung bei Camille, S. 67

[15] Camille, S. 66

[16] Camille, S. 67

[17] Göbel, S. 297

[18] Vgl. Göbel, S. 297

[19] Vgl. Göbel, S. 298

[20] Vgl. ebd.

[21] Kohlhausen, S. 71

[22] Ebd.

[23] Ebd.

[24] Ruf, S. 379

[25] Diemer, S. 1043

[26] Diemer, S. 1041

[27] Himmelheber, S. 244

[28] Ebd.

[29] Ebd.

[30] Kunst und Kunsthandwerk, S. 38

[31] Himmelheber, S. 246

[32] Ebd.

[33] Vgl. Diemer, S. 1025

[34] Camille, S. 51

[35] Vgl. Diemer, S. 1039

[36] Vgl. Diemer, S. 1025

[37] Ebd.

[38] Vgl. Byrne, S. 79

[39] Diemer, S. 1029

[40] Ebd.

[41] Vgl. Kohlhausen, S. 98

[42] Ebd.

[43] Vgl. Diemer, S. 1040

[44] Himmelheber, S. 246

[45] Himmelheber, S. 247

[46] Vgl. Himmelheber, S 246

[47] Vgl. Himmelheber, S. 245

[48] Vgl. Diemer, S. 1027

[49] Vgl. Göbel, S. 304

[50] Vgl. Göbel, S. 299

[51] Vgl. ebd.

[52] Die Analyse ist dem Aufsatz von Diemer, S. 1047, beigefügt

[53] Vgl. Diemer, S. 1047

[54] Ebd.

[55] Vgl. Göbel, S. 301

[56] Vgl. Diemer, S. 1047

[57] Vgl. Diemer, S. 1048

[58] Vgl. Göbel, S. 304

[59] Vgl. Göbel, S. 308

[60] Vgl. Göbel, S. 299

[61] Vgl. Göbel, S. 303

[62] Göbel, S. 307

[63] Vgl. Diemer, S. 1045

[64] Ebd.

[65] Ebd.

[66] Vgl. Göbel, S. 312

[67] Vgl. Göbel, S. 311

[68] Vgl. Göbel, S. 312

[69] Diemer, S. 1045

[70] Vgl. Göbel, S. 307

[71] Vgl. Göbel, S. 306

[72] Diemer, S. 1046

[73] Vgl. Diemer, S. 1030

[74] Vgl. Diemer, S. 1031

Ende der Leseprobe aus 23 Seiten

Details

Titel
Das Münchner Minnekästchen
Hochschule
Philipps-Universität Marburg
Autor
Jahr
2001
Seiten
23
Katalognummer
V107921
ISBN (eBook)
9783640061341
Dateigröße
526 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Münchner, Minnekästchen
Arbeit zitieren
Anke Ferber (Autor:in), 2001, Das Münchner Minnekästchen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/107921

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