Inhaltsverzeichnis
1. Worum geht es eigentlich, wenn wir von der „freien“ Marktwirtschaft“ reden?
2. Ein Blick auf die Geschichte der neuen Bundesverfassung
3. Die Artikel der Wirtschaftsverfassung
3.1 Die wirtschaftsrelevanten Grundrechte der Bundesverfassung
3.2 Die Wirtschaftsfreiheit
3.2.1 Die Wirtschaftsfreiheit im Grundrechteteil der BV
3.2.2 Die Wirtschaftsfreiheit im Aufgabenteil der BV
3.2.3 Zwischenfazit
3.2.4 Weitere relevante Artikel
4. Teilbereiche der BV, welche die Wirtschaftsverfassung beeinflussen
4.1 Geschichtliche Entwicklung der Sozialverfassung
4.2 Die Sozialstaatlichkeit in der Bundesverfassung
5. Resümee
Schreibt die neue Schweizerische Bundesverfassung die freie Marktwirtschaft vor? Diese Frage haben sich im Jahre 1999, als die neue BV nach jahrelangem Ringen endlich vom Volk verabschiedet wurde, sicherlich viele Schweizer Bürgerinnen und Bürger gestellt. Denn die Klärung über das System, dem all unser ökonomisches Handeln zugrunde liegt, sei es nun im Beruf, im eigenen Handwerksbetrieb oder bei ganz alltäglichen Aktivitäten wie einem Einkauf, spielt für das Zusammenleben in einer Gesellschaft eine ganz fundamentale Rolle.
Doch diejenigen, die sich nicht auf ihre bewusst oder unbewusst vorhandene Vorstellung des alten und neuen Schweizerischen Wirtschaftssystems verlassen wollten, und in der neuen Bundesverfassung nach einer expliziten Erläuterung des geforderten Wirtschaftssystems suchten, wurden leider enttäuscht. Denn nirgendwo heisst es, dass ein spezielles System vorherrschen müsse.
Statt dessen finden sich im sogenannten „Grundrechtsteil“[1] der Verfassung genauso wie im „Aufgabenteil“[2] Artikel, welche Klarheit in die Rechte, aber die Pflichten des Einzelnen gegenüber anderen Personen und dem Staat klären sowie grundsätzliche Leitlinien für das wirtschaftliche Zusammenleben der einzelnen Gruppen ausgeben.
Die Frage, welches Wirtschaftssystem die Verfassungsväter dabei im Hinterkopf hatten und implizit durch die Verfassung auszudrücken versucht haben, bleibt leider offen und muss durch eine Betrachtung aller „Wirtschaftsartikel“ im Zusammenhang gelöst werden. Vorausgreifend lässt sich bereits sagen, dass es keinesfalls so einfach ist, mit Hilfe der neuen Bundesverfassung eine Definitionsliste, was eine „freie“ oder eine „soziale“ Marktwirtschaft ausmacht, abzuhaken, um danach ein präzises Urteil zu fällen. Jedem Bürger mit grundlegenden Kenntnissen von Wirtschaftssystemen muss klar sein, dass das Ergebnis eine „Mischform“ sein wird. Die grosse Frage ist aber: Handelt es sich um ein System, welches v.a. das „freiheitliche“ Element betont, welches mit sozialen Aspekten „abgemildert“ wird, oder herrscht doch ein System vor, welches „das Soziale“ in den Vordergrund stellt und diesem Elemente der freien Marktwirtschaft „beimischt“?
1. Worum geht es eigentlich, wenn wir von der „freien Marktwirtschaft“ reden?
Da die hier von mir zu erläuternde Fragestellung auf ein spezielles Wirtschaftssystem abzielt, namentlich die „freie Marktwirtschaft“, ist es sinnvoll, sich einen Überblick zu verschaffen, was die wichtigsten Merkmale und Erscheinungsformen dieses Systems sind, um später einen besseren Vergleich mit bestimmten Artikeln in der BV ziehen zu können.
Bei der grundlegenden Entscheidung, welches Wirtschaftssystem vorherrschen soll, war, ist und wird der Hauptstreitpunkt immer die Frage sein, von wem und auf welche Art und Weise welche Leistungen in wie hoher Stückzahl produziert werden, an wen und in welcher Menge die Waren und Dienstleistungen verteilt werden und wie die Entlohnung für die einzelnen Teilnehmer des Wertschöpfungsprozesses aussieht[3].
Die im Laufe der Geschichte eingebrachten Lösungen für dieses Problem pendelten meistens zwischen zwei Extremen:
- Der „totalen Zentralverwaltungswirtschaft“, wie sie Walter Eucken nannte, in welcher der Staat praktisch alle wirtschaftlichen Entscheidungen trifft und sich somit ein Kollektiv- und Zwangssystem ergibt.
- Die v.a. auf Adam Smith zurückgehende Theorie eines freien Marktes, in dem Betriebe und Haushalte ihre wirtschaftlichen Entscheidungen selbst treffen können.
Da die Fragestellung nun lautet, ob die BV die freie Marktwirtschaft vorschreibe, ist es sinnvoll, sich genauer anzusehen, welche Eigenschaften eine Wirtschaftsordnung „nach Lehrbuch“ erfüllen muss, um als solche angesehen zu werden:
- Als Grundprinzip gilt das „Individualprinzip“ (statt des „Kollektivprinzips“ in der Planwirtschaft)
- Die Preisbildung erfolgt auf Märkten (statt auf staatliche Anordnung)
- Die Produktionsmittel sind in Privateigentum
- Die Zielsetzung allen Wirtschaftens ist die Rentabilität (und nicht die Planerfüllung)
- Investitionsentscheidungen werden autonom von den Betrieben und Haushalten getroffen
- Die Produktionsmengen passen sich den Marktgegebenheiten an (und nicht den Sollziffern der Pläne)
- Es herrscht freie Konsumwahl
- Die Einkommensverteilung erfolgt durch einen Wettbewerb unter den „Produktionsfaktoren“ und durch den Grad der Beteiligung an der Produktion
- Die Aussenwirtschaft ist ebenfalls durch freie Entscheidungen der Wirtschaftssubjekte geprägt
Allerdings wird sich in der heutigen Zeit kaum noch ein Lehrbuch finden lassen, in welchem die Position vertreten wird, ein Staat könne ganz allein aufgrund der oben genannten Regeln ein Optimum an Lebensqualität für seine Bürger leisten. Denn schon bald nach dem Entsehen dieser Regeln erkannte man, dass sich z.B. wichtige Kollektivbedürfnisse, wie sie im Bereich des Bildungssektors, der Verteidigung, des Verkehrswesens und des Umweltschutzes liegen, durch den Markt allein nicht befriedigend lösen lassen.
Möchte man die wichtigsten Punkte zusammenfassen, kann man auch ganz einfach die Forderungen aufzählen, welche Adam Smith 1776 in seinem Werk „Vom Wohlstand der Nationen“ erhob[4]:
- freie Verfügung über das Privateigentum
- Gewerbefreiheit, Wettbewerbsfreiheit, freie Arbeitsverträge und generelle Freizügigkeit
- Freihandel; Zölle nur als Ausgleich für inländische Besteuerungen von Waren
Klassische Staatsaufgaben waren für Smith hingegen:
- die Sicherstellung der inneren und äusseren Sicherheit,
- das Justizwesen,
- der Bildungs- und Gesundheitsbereich
- die Infrastruktur.
Die heutzutage in vielen Industrieländern vorherrschende Wirtschaftstheorie des Neoliberalismus entwickelte sich nach dem zweiten Weltkrieg, wobei sie die Grundaussagen Smiths übernahm und sie durch die Forderung nach einem staatlichen Eingreifen bei Monopolen und Preisabsprachen ergänzte, den Staat also dazu verpflichtete, für einen funktionierenden Wettbewerb zu sorgen.
Ein wichtiger Punkt ist, dass es einige Industrieländer (namentlich z.B. Deutschland) vorgezogen haben, ihrer Wirtschaftsordnung den Namen „soziale Marktwirtschaft“ zu geben, was zwar grösstenteils eine Übernahme der Ideen des Neoliberalismus bedeutete, aber, wie es der berühmte Wirtschaftswissenschaftler Müller-Armack ausdrückte, „das Prinzip der Freiheit auf dem Markte mit dem des sozialen Ausgleichs“[5] zu verbinden versuchte. Für unsere späteren Überlegungen ist es wichtig zu erwähnen, dass es allerdings keine festgelegten und allgemein anerkannten Definitionen gibt, wann z.B. die „freie“ Marktwirtschaft aufhört und die „soziale“ anfängt. Hier müssen die Grenzen als fliessend angesehen werden.
Leider nennt uns die BV, wie bereits erwähnt, nun nicht explizit, welches Wirtschaftssystem sie toleriert und welches nicht. Somit ist es unsere Aufgabe, dies „implizit“ aus ihr herauszulesen.
Deshalb wird meine Vorgehensweise so aussehen, dass ich aufgrund einer Darstellung der wichtigsten Artikel, welche die BV zum Thema „Wirtschaft & Soziales“ enthält, die „Bandbreite“ bzw. den von den Verfassungsvätern gewollten Rahmen versuchen werde darzustellen, in dem wirtschaftliches Handeln und der Einfluss des Staates auf dieses stattfinden kann.
Um diese Fragestellung zu lösen, werde ich nach einem kurzen geschichtlichen Abriss zunächst die einzelnen Wirtschaft- und Sozialartikel der Bundesverfassung im Detail erläutern und jeweils einen Hinweis darauf geben, ob nun eher das freiheitliche, oder doch eher das sozialstaatliche Element betont wird. Daran anschliessend werde ich den Versuch eines Resümees wagen.
2. Ein kurzer geschichtlicher Abriss der Wirtschaftsfreiheit in der BV
Das Wirtschaftssystem, wie wir es Zeit unseres Lebens in der Schweiz kennen gelernt haben, gründete sich hauptsächlich auf der Totalrevision der Bundesverfassung im Jahre 1874, welche zu einer bundesweiten Gewährleistung der sogenannten „Handels- und Gewerbefreiheit“ führte, wie die Wirtschaftsfreiheit damals genannt wurde[6]. Für die Wirtschaft stellte dies in dieser Form schon damals einen einmaligen Schutzbereich dar, da andere „grosse“ Verfassungswerke (z.B. der USA) nur einzelne Grundrechte, die dem Bereich der Wirtschaft zugeordnet werden, garantierten, aber nicht die Wirtschaftsfreiheit als solche.
1947 kam es zu einer Neuordnung der Wirtschaftsverfassung, in der unter anderem dem Staat die Möglichkeit gegeben wurde, „planmässig lenkend“ in die Wirtschaft einzugreifen[7]. Somit kam es zu diesem Zeitpunkt zu einer Verknüpfung der Marktwirtschaft mit einer vom Bund zu betreibenden Wirtschafts- und Sozialpolitik.
Seither wurde diese Kompetenz noch erweitert, so z.B. 1978 durch den „Konjunkturartikel“.
Allerdings mangelte es den einzelnen Artikeln, welche Wirtschaft und Soziales tangieren, in der alten Bundesverfassung [aBv] an Struktur und Kohärenz, da sich im Laufe der Jahre und Jahrzehnte „ein Sammelsurium geschriebenen und ungeschriebenen Rechts“[8] gebildet hatte, welches „vielfältige, schwer über- und durchschaubare Normen, die aus unterschiedlichen Zeitepochen stammten“, enthielt, und auch nicht die zunehmende Bedeutung des internationalen Rechts wiederspiegelte. Somit bestand nicht nur Bedarf nach einer Neuordnung der Verfassungsartikel, sondern auch nach einer generellen Überprüfung, ob allen Artikeln denn heute auch noch Verfassungsrang zukomme[9].
Andererseits mussten Komponenten, welche bisher eher ein Schattendasein fristeten, namentlich im Bereich der „binnenmarktlichen Komponente“ und der Aussenwirtschaftspolitik deutlicher in den Vordergrund gestellt werden.
Aufgrund des dadurch ersichtlichen Handlungsbedarfs war es klar, dass bei einer Totalrevision der BV dem Bereich der Wirtschaft dringend erhöhte Aufmerksamkeit geboten werden musste, denn es galt des weiteren, eine im Laufe der Jahrzehnte hinzugekommene „reichhaltige bundesgerichtliche Praxis“ zu berücksichtigen , welche ihrerseits auch nicht besonders kohärent war und die Auslegung der BV enorm erschwerte.
3. Die Artikel der Wirtschaftsverfassung
Eine Besonderheit der neuen BV ist ihre klare Gliederung in Abschnitte, welche die Grundrechte regeln, und solche, welche die Zuständigkeiten des Bundes erläutern.
Die wichtigsten Grundrechte, welche dem Bereich der Wirtschaft zugerechnet werden, sind:
Artikel 24 BV Niederlassungsfreiheit
Artikel 26 BV Eigentumsgarantie
Artikel 27 BV Wirtschaftsfreiheit
(Artikel 28 BV Koalitionsfreiheit)
Der „Aufgabenteil“ des Bundes umfasst des weiteren bedeutende wirtschaftsspezifische Artikel zwischen Artikel 94 BV und Artikel 107 BV sowie zwischen Artikel 108 – 120 BV wichtige Sozialartikel im Bereich Arbeit, Soziale Sicherheit, Wohnen und Gesundheit
3.1 Die wirtschaftsrelevanten Grundrechte der Bundesverfassung
Art. 24 BV Niederlassungsfreiheit
1 Schweizerinnen und Schweizer haben das Recht, sich an jedem Ort des Landes niederzulassen.
2 Sie haben das Recht, die Schweiz zu verlassen oder in die Schweiz einzureisen.
Rein begrifflich gesehen handelt es sich um das Recht, sich an jedem Ort der Schweiz aufzuhalten (Abs.1), den bisherigen Niederlassungsort oder auch die Schweiz jederzeit verlassen zu können, verbunden mit dem Recht auf Wiedereinreise (Abs.2).
Somit umfasst diese Regelung auch die Auswanderungsfreiheit, womit der Anspruch auf Ausstellung eines Passes verbunden ist[10].
Während die entsprechenden Artikel in älteren Verfassungen noch „diskriminierende“ Artikel enthielten (Niederlassung nur für Christen, usw.), wurde die Niederlassungsfreiheit in der Verfassung von 1975 allen Schweizern uneingeschränkt gewährleistet[11].
Während es sich hierbei natürlich v.a. um ein freiheitliches Menschenrecht handelt, welches es dem Staat verbietet, Schweizer Bürgern ohne triftigen Grund den Zugang zu bestimmten Landesteilen zu verwehren oder Personen die Ausreise zu verbieten, tangiert dieses Grundrecht natürlich auch die Wirtschaft. Und es trägt auch in diesem Bereich eindeutig „freiheitliche“ Züge, da in einer Marktwirtschaft die einzelnen Wirtschaftssubjekte (allerdings nicht juristische Personen, welche sich nicht auf Artikel 24 BV berufen können[12] ) die „Träger der Planung“ sind und autonom entscheiden dürfen, wo sie ihre Investitionen tätigen werden und wirtschaftlich aktiv werden wollen.
Art. 26 Eigentumsgarantie
1 Das Eigentum ist gewährleistet.
2 Enteignungen und Eigentumsbeschränkungen, die einer Enteignung gleichkommen, werden voll entschädigt.
Hierbei handelt es sich zweifellos um eines der wichtigsten „Wirtschafts-Grundrechte“. Der kurz und prägnant formulierte erste Absatz macht bereits in aller Deutlichkeit klar, dass auf Basis dieser Bundesverfassung planwirtschaftliche Systeme nicht zu realisieren sind, denn v.a. das „Eigentum an den Produktionsmittels“ einerseits in Händen des Staats, andererseits in privater Hand, stellt „laut Lehrbuch[13] “ den wohl wichtigsten Unterscheidungspunkt zwischen kollektiv und individuell organisierten Wirtschafssystemen dar, denn die rechtliche Verfügung über materielle und immaterielle Güter, verbunden mit dem Recht, diese zu erwerben oder zu veräussern, ist das unabdingbare Fundament jeder freien Wirtschaftsordnung.
Ergänzend ist anzumerken, dass mit Eigentum keineswegs nur Produktionsmittel gemeint sind, sondern auch bewegliche und unbewegliche genauso wie materielle und immaterielle Güter[14].
Ein besonders wichtiger Punkt ist die Tatsache, dass sich auf dieses Grundrecht nicht nur schweizerische Staatsangehörige, sondern auch Ausländer sowie juristische Personen berufen können, was einen weiteren wesentlichen Punkt in einem freien und auf Aussenwirtschaft ausgerichteten Wirtschaftssystem darstellt.
Trotzdem erwähnt der Verfassungsartikel in Absatz 2 die Möglichkeit des Staates, in bestimmten Fällen zur Massnahme der „Enteignung“ überzugehen.
Zu unterscheiden ist hierbei zwischen einer „Formellen“ Expropriation, welche meisten vollumfänglich enteignet, und einer „materiellen“, welche die Nutzung durch hoheitliche Regelungen so weit einschränkt, dass die Massnahme ebenfalls einer Enteignung gleichkommt[15].
Doch durch das klare Bekenntnis zu einer eindeutigen Entschädigungspraxis legt die Bundesverfassung politischen Bemühungen, welche in Richtung einer „Verstaatlichung der Produktionsmittel“ gehen, einen Riegel vor und legt des weiteren fest, dass der Staat kein Recht habe, den „Nettobesitz“ ohne triftigen Grund zu verringern.
Vorgreifend lässt sich sagen, dass „wichtige öffentliche Interessen“, welche einen Eingriff in dieses Grundrecht erlauben, z.B. im Bereich der Raumplanung, des Umweltschutzes oder des „Heimatschutzes“ liegen.
Trotzdem lässt die Bundesverfassung keinen Zweifel daran, dass derartige Massnahmen eine Ausnahme darstellen sollen, bei deren Durchführung einige Regeln zu beachten sind, denn Eingriffe in dieses Grundrecht sind generell nur dann zulässig, wenn :
- sie auf einer eindeutigen gesetzlichen Grundlage basieren
- sie durch ein öffentliches Interesse gedeckt sind
- der Grundsatz der Verhältnismässigkeit gewahrt bleibt.
Einschränkend muss gesagt werden, dass zum Beispiel die Schwelle für eine „konfiskatorische Besteuerung“ vom Bundesgericht recht hoch angelegt wird. Laut einem Bundesgerichtsentscheid[16] darf die Steuerbelastung vorübergehend sogar das Einkommen übersteigen, solange dies während „weniger Steuerjahre“ geschehe.
Obwohl generell gesagt werden kann, dass die Eigentumsgarantie ein ganz „klassisches“ Merkmal einer freien Marktwirtschaft ist, kommen einem doch Zweifel, ob eine derartige Auslegung der Bundesverfassung durch das Bundesgericht nun für eine freie Marktwirtschaft „in Reinform“ spricht, oder ob dies nicht schon ein erstes Zeichen dafür sein könnte, dass die Verfassungsväter neben der Grundidee der Privatwirtschaft auch anderen Gesichtspunkten, wie der Sorge um soziale Gerechtigkeit und sozialen Ausgleich einen hohen bzw. gleichberechtigten Rang eingeräumt haben, was zur Konsequenz hätte, die eine Betrachtung der BV im Gesamtzusammenhang nicht zu dem Schluss kommen könnte, dass sie die freie Marktwirtschaft (und sonst kein anderes System) vorschreibe.
Trotzdem lässt sich im Hinblick auf die Fragestellung, in welcher „Bandbreite“ wirtschaftliches Handeln in der Schweiz nun stattfinden kann, schon aufgrund dieses fundamentalen Grundrechtes der Eigentumsfreiheit sagen, dass eindeutig „sozialistisch“ geprägte Wirtschaftsformen keine Chancen hätten, umgesetzt zu werden.
Die Hauptfrage bleibt somit weiterhin, ob trotz des klare Bekenntnisses zur Eigentumsfreiheit einzig und allein das System der freien Marktwirtschaft akzeptiert werden kann. Es muss deshalb später untersucht werden, ob noch weitere Einschränkungen dieses Grundsatzes bestehen, so dass davon ausgegangen werden kann, dass die Gründungsväter dieses System nicht per se gefordert haben.
3.2 Die Wirtschaftsfreiheit
Neben der Eigentumsgarantie liefert dieser Artikel mit den deutlichsten Hinweis darauf, welche Grundgedanken die Verfassungsväter im Bezug auf das vorherrschende Wirtschaftssystem bei der Erstellung der BV im Hinterkopf hatten. Dabei muss allerdings bedacht werden, dass bei der Totalrevision hauptsächlich vorhandene Grundsätze neu geordnet und besser strukturiert wurden, aber nur wenig ergänzt wurde.
Die „Vorgängerin“ dessen, was wir heute als Wirtschaftsfreiheit bezeichnen, wurde bereits 1874 unter dem Namen „Handels- und Gewerbefreiheit“ bundesweit gewährleistet, und stellte damals international eine Besonderheit dar.
Der Grundsatz der „Wirtschaftsfreiheit“ wird nach Ansicht einiger Experten nicht nur in einem Grundrechtsartikel, sondern auch im sogenannten „Aufgabenteil“ der Bundesverfassung ausgeführt.
Jörg Paul Müller[17] sieht in dem Gebilde, welches die Wirtschaftsfreiheit umfasst, eine funktionale Dreiteilung, bestehend aus einem individualrechtlichen Teil[18], einem institutionellem Teil[19] und einem bundesstaatsrechtlichen Teil[20].
Die Bundesverfassung spricht seiner Meinung nach somit verschiede „Anspruchsgruppen“ an, welche das wirtschaftliche Leben aus verschiedenen Perspektiven einmal durch eigenen Initiative und einmal durch das Erstellen von Rahmenbedingungen regeln sollen.
3.2.1 Die Wirtschaftsfreiheit im „Grundrechteteil“ der BV
Art. 27 BV, der „individualrechtliche Teil“, beinhaltet die Gewährleistung der Wirtschaftsfreiheit in Form eines Grundrechts
§ 27 Wirtschaftsfreiheit:
1 Die Wirtschaftsfreiheit ist gewährleistet.
2 Sie umfasst insbesondere die freie Wahl des Berufes sowie den freien Zugang zu einer privatwirtschaftlichen Erwerbstätigkeit und deren freie Ausübung.
Nach Häfelin/Haller stellt die „ausdrückliche und umfassende Gewährleistung der Wirtschaftsfreiheit als Freiheitsrecht“ eine Besonderheit der schweizerischen Verfassung dar, da ausländische Verfassungen höchstens Teilaspekte wie die Berufs- oder die Vertragsfreiheit schützen[21].
Diese explizite Erwähnung wurde dahingehend interpretiert, dass die BV ein besonders klares Bekenntnis dazu abgeben möchte, der Wirtschaftsprozess solle „sich nach dem Prinzip der freien Konkurrenz im Sinne der liberalen Schule der Nationalökonomie abspielen“[22].
Artikel 27 besitzt dahingehend einen interessanten Aufbau, indem er erst, im Sinne eines typischen „Grundrechts“ in Absatz 1 einen Grundsatz darstellt, um diesen dann in Artikel 2 zu präzisieren. Die gewählte Formulierung, das in Absatz 1 gewährte Recht umfasse „insbesondere“ diverse Rechte, muss wohl so interpretiert werden, dass der Verfassungsgeber die in Absatz 2 erwähnten Rechte als besonders schützenswert und charakteristisch für die für die Schweiz vorgesehene Wirtschaftsordnung hielten.
Die „freie Berufswahl“ stellt dabei einen ganz wesentlichen Aspekt des Individualprinzips dar, genauso wie der „freie Zugang zu privatwirtschaftlichen Erwerbstätigkeit[en]“ die einzelnen Wirtschaftssubjekte dazu befähigt, selbst als Träger der wirtschaftlichen Planung in Erscheinung zu treten. Die Formulierungen beider Grundrechte tragen somit nicht umsonst das Wort „frei“ in sich, stellen sie doch typische Grundsätze einer „freien“ Marktwirtschaft dar.
Insgesamt muss diese individualrechtliche Komponente der Wirtschaftsfreiheit im Zusammenhang gesehen werden mit Artikel 24 BV (Niederlassungsfreiheit) und Artikel 26 (Eigentumsfreiheit), welche den Sinn haben, am Wirtschaftsleben teilnehmende Personen vor staatlichen Eingriffen zu schützen, andererseits den Staat aber auch verpflichten, in diversen Bereichen optimale Bedingungen für das Wirtschaften dieser Personen zu schaffen, also z.B. aktiv für Gleichbehandlung aller zu sorgen oder Kollektivgüter bereitzustellen[23].
Auch Artikel 28 BV (Koalitionsfreiheit) stellt ein individuelles Recht dar, welches es Personen ermöglicht, leichter am Wirtschaftsprozess teilzunehmen. Das in diesem Artikel ausgedrückte Recht auf Streik ist allerdings eindeutig eine sozialstaatliche Komponente.
3.2.2 Die Wirtschaftsfreiheit im Aufgabenteil
Während die „individuelle Schutzfunktion“ also Einzug in den „Grundrechtsteil“ der neuen Bundesverfassung gefunden hat, finden sich die ordnungspolitischen, bundesstaatlichen und demokratischen Funktionen der Wirtschaftsfreiheit im Aufgabenteil wieder, welchen ich im folgenden darstellen werde.
Art. 94 BV stellt die „institutionelle“ Komponente dar und kann als Grundentscheid für eine Privatwirtschaftsordnung angesehen werden. Nach ihm verlangen Abweichungen von diesem Grundsatz eine besondere Grundlage in der Verfassung[24].
§ 94 Grundsätze der Wirtschaftsordnung
1 Bund und Kantone halten sich an den Grundsatz der Wirtschaftsfreiheit.
2 Sie wahren die Interessen der schweizerischen Gesamtwirtschaft und tragen mit der privaten Wirtschaft zur Wohlfahrt und zur wirtschaftlichen Sicherheit der Bevölkerung bei.
3 Sie sorgen im Rahmen ihrer Zuständigkeiten für günstige Rahmenbedingungen für die private Wirtschaft.
4 Abweichungen vom Grundsatz der Wirtschaftsfreiheit, insbesondere auch Massnahmen, die sich gegen den Wettbewerb richten, sind nur zulässig, wenn sie in der Bundesverfassung vorgesehen oder durch kantonale Regalrechte begründet sind.
Dieser Artikel aus dem „Aufgabenteil“ der Verfassung betont im ersten Absatz noch einmal, dass sich staatliche Institutionen an den in Art. 27 BV aufgestellten Grundsatz der Wirtschaftsfreiheit halten müssen.
Absatz 3 steht ebenfalls noch in der Idee Adam Smiths, da der Staat angehalten wird, z.B. durch das Befriedigen von Kollektivbedürfnissen (wie z.B. der Schaffung eines funktionierenden Justizwesens, welches als Basis aller gültigen Verträge angesehen werden kann, oder durch Schaffung und Erhaltung der Infrastruktur) optimale Rahmenbedingungen für das Wirtschaften der Privatpersonen zu schaffen.
Schon allein durch die verfassungsmässig bedingte objektive Verpflichtung des Staates zur Sicherstellung der Wirtschaftsfreiheit kann allerdings darauf geschlossen werden, dass der Staat diese Aufgaben übernehmen sollte,[25] ohne dass von einer Aushöhlung der Grundsätze der freien Marktwirtschaft gesprochen werden kann.
Im Gegensatz dazu sticht nun Absatz 2 hervor: Dass staatliche Institutionen (wie Bund und Kantone) „zur Wohlfahrt und zur wirtschaftlichen Sicherheit der Bevölkerung“ beitragen sollen, und die private Wirtschaft durch die gebotene Zusammenarbeit ebenfalls zur Erreichung dieses Ziels in die Pflicht genommen wird, kann wohl nicht als besonders typisch für eine klassische „freie“ Marktwirtschaft angesehen werden.
Statt dessen erinnert dieser zweite Absatz an eine Aussage einer der geistigen Väter der sozialen Marktwirtschaft, Prof. Müller-Armack:
„Soziale Marktwirtschaft ist eine ordnungspolitische Idee, deren Ziel es ist, auf Basis der Wettbewerbswirtschaft die freie Initiative mit einem gerade durch die marktwirtschaftliche Leistung gesicherten sozialen Fortschritt zu verbinden“[26].
Der wesentliche Punkt der Verknüpfung des marktwirtschaftlichen Wettbewerbs mit der Idee der Steigerung der sozialen Sicherheit und der Wohlfahrt der gesamten Bevölkerung findet somit an diesem Punkt der Verfassung eine deutliche Erwähnung und liefert eine weitere Einschränkung für eine Umsetzung einer vollkommen freien Marktwirtschaft in der Schweiz.
Absatz 4 muss ebenfalls näher betrachtet werden: Neben der Erwähnung kantonaler „Regalrechte“[27] findet sich der Hinweis darauf, dass vom Grundsatz der Wirtschaftsfreiheit durchaus abgewichen werden kann, wenn in einem Verfassungsartikel deutlich auf diese Möglichkeit hingewiesen wird. Natürlich stellt sich die Frage, welchen Inhalts besagte Artikel der BV sein könnten:
Zulässig sind vor allem[28]:
- Wirtschaftspolizeiliche Massnahmen, also solche zur Gefahrenabwehr
- Sozialpolitische Massnahmen
- andere Massnahmen, die nicht primär ökonomische Ziele haben
( Raumplanung, Umweltschutz, Sprachenpolitik)
Des weiteren muss erwähnt werden, dass der „Grundrechteteil“[29] im Gegensatz zur aBV keinen Verfassungsvorbehalt für den Erlass von Massnahmen mehr enthält, welche die Wirtschaftsfreiheit einschränken; dieser wurde nun „nach hinten“ in den Aufgabenteil verlagert[30].
Hier befürchteten Kritiker zunächst eine Aufweichung der Schutzwirkung der Grundrechte der Wirtschaftsfreiheit. Dies ist allerdings unbegründet, da der Bund ohnehin für alle Beschlüsse eine Verfassungsgrundlage benötigt.
Laut Bundesgericht gilt jedoch, das „nicht jedes irgendwie geartete öffentliche Interesse“ einen Eingriff in die Handels- und Gewerbefreiheit rechtfertige .
Grundsätzlich verboten sind auf jeden Fall Massnahmen, welche best. Marktteilnehmern vorteilhafte Positionen verschaffen, oder den freien Wettbewerb behindern, um gewisse „Gewerbezweige oder Bewirtschaftungsformen zu sichern oder zu begünstigen“[31].
Bezüglich der Beurteilung, wie erfolgreich nun die neue Bundesverfassung bei der Bewältigung des Problems war, das „Flickwerk“ der aBV zu ordnen und in einfachen und klaren Worten den tatsächlichen Willen des Gesetzgebers im Bereich der Wirtschaftsfreiheit in die Verfassung aufzunehmen, ist die Wissenschaft geteilter Ansicht.
Nach Ansicht Rhinows ist es zum Beispiel nicht gelungen, die Konkretisierungen, die Lehre und Praxis in den letzten Jahren bezüglich des Begriffes der Wirtschaftsfreiheit geschaffen haben, in die Verfassung aufzunehmen. Weiterhin wird es deshalb seiner Meinung nach Aufgabe von Lehre und Praxis sein, diesem Begriff „Konturen“ zu verleihen[32].
Auf jeden Fall enthält Artikel 94 BV kein explizites Bekenntnis zu einer bestimmten Wirtschaftsform, und auch keine Bestimmung, welche die Wirtschaftsordnung allgemein umschreibt oder ein bestimmtes System oder Modell festschreibt.
3.2.3 Zwischenfazit
Betrachtet man die Bereiche, in welchen die Wirtschaftsfreiheit eingeschränkt ist, so fällt auf, dass diese nicht „klassischen“ Wirtschaftsthemen entspringen, sondern aus den Bereichen der Sozialpolitik, Sicherheit, Ökologie oder anderweitiger öffentlicher Interessen stammen.
Die Tatsache, dass die Wirtschaftsverfassung nur im Gesamtzusammenhang der BV gesehen werden kann, wird somit dadurch deutlich, dass die Einschränkungen, welche bei der Wirtschaftsverfassung möglich sind, nicht in dieser selbst aufgeführt sind, sondern in anderen Bereichen der Verfassung, in welchen sozusagen übergeordnete öffentliche Interessen dargestellt werden, welche die Wirtschaftsfreiheit in bestimmten Grenzen einschränken können.
Trotzdem legt die Verfassung bei der Darstellung der institutionellen und bundesstaatlichen Komponenten wert darauf, das Verhältnis zwischen Wirtschaftsfreiheit und Wirtschaftspolitik nicht als „eine Beziehung von Grundsatz und Ausnahme zu verstehen“[33]. Statt dessen scheinen die einzelnen wirtschaftspolitischen Gebiete, also unter anderem die Sozialpolitik, aber auch die Währungs- und Aussenwirtschaftspolitik, auf einem Rang mit der Wirtschaftsverfassung zu stehen.
Wieder einmal fällt somit auf, dass es sich bei der Bundesverfassung um ein Gesamtwerk handelt, welches es offensichtlich vermeidet, jeden Bereich absolut „abgeschottet“ von den anderen Teilbereichen zu präsentieren, und statt dessen auf die Darstellung von Gesamtzusammenhängen setzt.
Für das zu erläuternde Problem, ob die neue Bundesverfassung nun die freie Marktwirtschaft vorschreibe oder nicht, bedeutet das ganz konkret, dass es keineswegs reicht, die einzelnen Artikel der Wirtschaftsverfassung zu betrachten und anhand dieser ein Urteil über unser Problem zu fällen.
Viel eher drängt sich später die Frage auf, in wieweit der Bereich der „Wirtschaftsverfassung“, wenn er formal eine „freie Marktwirtschaft“ fordert, von anderen Teilbereichen der Verfassung beeinflusst werden darf, damit im „Gesamtprodukt“ noch von einer solchen gesprochen werden darf.
3.2.4 Weitere relevante Artikel im Aufgabenteil der BV
Art. 96 BV („Wettbewerbspolitik“) verpflichtet den Bund, Gesetze gegen Kartelle, unlauteren Wettbewerb und missbräuchliche Preisbildungen vorzunehmen.
Somit tritt Art. 96 BV die Nachfolge der „Kartellartikel“ und der „Preisüberwachungsartikel“ aus der aBV an. Des weiteren kam es zur Schaffung einer ausdrücklichen Verfassungsgrundlage zur Bekämpfung des unlauteren Wettbewerbes.
Geschichtlich gesehen handelt es sich hier, wie bereits zu Anfang ausgeführt, um einen Grundsatz, welcher auf neoliberale Strömungen zurückgeht, wie sie nach dem II. Weltkrieg entstanden.
In Artikel 95 („Privatwirtschaftliche Erwerbstätigkeit“) wird dem Bund die Kompetenz zugesichert, „Vorschriften über die Ausübung der privatwirtschaftlichen Tätigkeit zu erlassen“; des weiteren erhält er die Aufgabe, „für einen einheitlichen schweizerischen Wirtschaftsraum zu sorgen2“ (Abs. 2) sowie für Einheitlichkeit der Ausbildungsabschlüsse zu sorgen.
Bereits in der alten Verfassung war eine Formulierung enthalten, welche forderte, dass die Handels- und Gewerbefreiheit „im ganzen Umfange der Eidgenossenschaft“ gewährleistet sein müsse, welche vom Bundesgericht bereits damals als eben diese Forderung nach einem einheitlichen Wirtschaftsraum interpretiert wurde[34].
Dies wurde nun in der neuen Bundesverfassung soweit präzisiert, dass der nationale Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital garantiert sein muss. Für ein auf Handel eingestelltes, marktwirtschaftliches System ist dies eine unverzichtbare Voraussetzung.
Anzumerken ist allerdings, dass der internationale Kontext und die Verflechtung des schweizerischen mit dem internationalen Wirtschaftsrecht in der neuen Bundesverfassung praktisch nicht zum Ausdruck kommt.
4. Teilbereiche der Verfassung, welche die Wirtschaftsverfassung beeinflussen
Wie bereits des öfteren erwähnt, ist es bei der Bearbeitung der Fragestellung unabdingbar, die ganze Verfassung im Auge zu behalten, denn wie schon festgestellt, erwähnt die „Wirtschaftsverfassung“ an verschiedenen Stellen, dass die in ihr zugesicherten Rechte aufgehoben werden können, wenn ein weitergehendes öffentliches Interesse vorliegt.
Untersucht man die BV nun auf in Frage kommende Teilbereichsverfassungen, deren Artikel dazu geeignet sein könnten, die Wirtschaftsfreiheit soweit einzuschränken, dass von einer „freien“ marktwirtschaftliche Ordnung nicht mehr gesprochen werden kann, findet man vor allem:
- die Umweltverfassung ( Artikel 73 ff. BV, und hier v.a. der Grundsatz der „Nachhaltigkeit“ in Artikel 73 BV)
- die Sozialverfassung ( „Sozialziele“ in Art. 41 BV und Artikel 108 ff. BV)
- und z.B. auch die Finanzordnung (Artikel 126 ff. BV)
Ein ganz wichtiger Bereich, der v.a. in der öffentlichen Wahrnehmung aufgrund der Zuspitzung vieler politischer Konflikte auf rechts-links-Gegensätze oft als „Antagonist“ der wettbewerbsorientierten Wirtschaftsverfassung wahrgenommen wird, ist die Sozialverfassung, an welcher ich im Folgenden exemplarisch darstellen möchte, in wieweit die Vorgaben der Wirtschaftsverfassung von anderen Teilen der BV eingeschränkt werden können.
Eine mögliche Definition des Begriffes der Sozialpolitik lautet: „Sozialpolitik ist die Gesamtheit der Bestrebungen, die auf eine Korrektur und Verbesserung der gemeingesellschaftlichen Zustände abzielen, welche als unbefriedigend empfunden werden und deshalb zu Konflikten im sozialen Gefüge geführt haben oder zu führen drohen.[35] “
4.1 Die geschichtliche Entwicklung der Sozialverfassung
Betrachtet man die geschichtliche Entwicklung der Sozialverfassung, dann offenbart dies indirekt auch interessante Ansichten über die sich im Laufe der Jahrzehnte geänderten Vorstellungen betreffend des vorherrschenden Wirtschaftssystems.
Während die Verfassung von 1874 nur einen Sozialartikel kannte, kamen im Laufe der folgenden Jahre, abhängig von gerade zu Tage getretenen sozialen Missständen und gesellschaftlichen Veränderungen, eine ganze Fülle neuer Sozialartikel hinzu, wobei diese Entwicklung ihren Höhepunkt in der neuen Bundesverfassung des Jahres 1999 fand, in welcher die Sozialverfassung mit der Aufnahe wichtiger Artikel ergänzt wurde, welche erstmals Sozialziele formulierten (Art. 41 BV) und die „Chancengleichheit“ (Art. 2 Abs. 3 BV) sowie das „Recht auf Hilfe in Notlagen“ in der Verfassung festschrieben[36].
4.2 Die Sozialstaatlichkeit in der Bundesverfassung
Zwar ist der Begriff der „Sozialstaatlichkeit“ auch der neuen Bundesverfassung noch als solcher fremd, doch trotzdem ist er für die Wissenschaft ein unbestrittener Bestandteil des wirtschaftlichen und sozialen Systems, welches die Verfassungsväter im Hinterkopf hatten[37].
Ohne im Detail auf alle Artikel eingehen zu wollen, lässt sich sagen, dass ein eindeutiges Bekenntnis zur Sozialstaatlichkeit an folgenden Stellen der Verfassung deutlich sichtbar wird:
- in der Präambel
wobei dies vor allem auf die Formulierung zurückzuführen ist, dass „die Stärke des Volkes sich misst am Wohl der Schwachen“
- im Zweckartikel 2 Abs.2 BV
da hier die Schweizerische Eigenossenschaft mit den Zweck bedacht wird, die „gemeinsame Wohlfahrt“ zu fördern (Art. 2 Abs. 2 BV) und für „möglichst grosse Chancengleichheit“ zu sorgen (Art. 2 Abs. 3 BV)
Tatsächliche soziale Grundrechte finden sich in der BV allerdings nur zwei[38] wieder:
- im Artikel 12 BV (Recht auf Hilfe in Notlagen)
- Artikel 19 BV (Recht auf ausreichenden und unentgeltlichen Grundschulunterricht)
Des weiteren finden sich mit Artikel 41 BV eine Sammlung von Sozialzielen wieder Generell muss gesagt werden, dass die Bundesverfassung den Staat deutlich auffordert, sich für die Sicherung des sozialen Friedens und der sozialen Gerechtigkeit zu engagieren, ohne dabei den Grundsatz der Subsidiarität (v.a. ausgedrückt in Artikel 6 BV) aus den Augen zu verlieren.
Dies wurde nun so umgesetzt, dass die Verfassung vor allem „Sozialziele“ (im Sinne von Artikel 41 BV) und nur wenige tatsächliche „Sozialrechte“ kennt ( also das Recht auf Hilfe in Notlagen in Artikel 12 BV sowie das Recht auf Grundschulunterricht in Artikel 19 BV).
Besonders interessant ist die Tatsache, dass bedeutende Teile der Sozialverfassung (v.a. Artikel 41 BV ) nach kontroverser Diskussion[39] bei ihrer Erstellung letztendlich absichtlich unscharf formuliert wurden, um keine direkt durchsetzbaren Ansprüche zu garantieren, wie es dann auch in Artikel 41 Abs. 4 explizit erwähnt wird.
Dies kann erstens dahingehend interpretiert werden, dass sich die Verfassungsväter der Brisanz bewusst waren, die durch das Spannungsverhältnis zu den Grundregeln der Wirtschaftsverfassung besteht.
Es erklärt sich aber auch daraus, dass der Sozialstaat einen dynamischen Charakter hat, da sich die sozialen Ansprüche und die gesellschaftliche Vorstellung, was als sozial gerecht gilt, im Laufe der Jahre und Jahrzehnte geändert hat, und auch die Möglichkeiten zur Umsetzung der Vorgaben der Verfassung (z.B. aufgrund variierender wirtschaftlicher Rahmenbedingungen und damit unterschiedlicher finanzieller Ausstattungen des Staates) im Laufe der Jahre unterschiedlich gross waren[40] und man aufgrund dieser Erfahrung nicht die heutigen Vorstellungen im Bereich der „Sozialstaatlichkeit“ für immer festschreiben wollte, sondern den Weg für andere Auslegungen offen lassen wollte.
Eine mögliche Kontroverse liegt hier zum Beispiel darin, dass ein Sozialsystem (unabhängig von der Wirtschaftsordnung) erst einmal das erwirtschaften muss, was später verteilt wird.
Eine Massnahme, welche die Freiheiten der Wirtschaft erhöht, wird von vielen aufgrund ihrer wohlstandssteigernden Wirkung z.B. auf lange Sicht ebenfalls als „sozial“ angesehen, von anderen jedoch aufgrund einer dadurch verursachten (kurzfristigen) Einschränkung der sozialen Wohlfahrt kategorisch abgelehnt.
Viele sogenannte „Sozialziele“ sind deshalb auslegungsbedürftig und werden, je nach politischer oder gesellschaftlicher „Grosswetterlage“ mal so, mal anders interpretiert und umgesetzt.
Fest steht jedoch: Je besser die Primärversorgung durch die private Wirtschaft funktioniert, desto weniger wird ein staatlicher Ausgleich nötig. Trotzdem muss die gesamte Verfassung muss einen Mittelweg finden zwischen freiheitlicher und selbstverantwortlicher Lebensgestaltung und andererseits der Verwirklichung gerechter Lebensverhältnisse und der Förderung der gemeinsamen Wohlfahrt.
5. Resümee
Betrachtet man die Wirtschaftsverfassung für sich, wird aufgrund ihrer deutlichen Forderung nach klassischen privatwirtschaftlichen Grundregeln klar, dass sie am Leitbild einer freiheitlichen Marktwirtschaft orientiert ist.
Nicht umsonst sehen anerkannte Verfassungsrechtler in der Bundesverfassung einen „ordnungspolitischen Grundentscheid für eine Verfassung der Privatwirtschaft“[41], was implizit aus den wirtschaftlichen Grundrechten (Wirtschaftsfreiheit, Eigentumsgarantie, Koalitionsfreiheit), sowie explizit aus Artikel 94 BV hervorgeht.
Des weiteren war auch schon in der alten Verfassung die Wirtschaftsfreiheit und die Eigentumsgarantie eine tragende Säule der Wirtschaftsverfassung.
Allerdings ist im Verlauf der Analyse auch deutlich geworden, dass die Wirtschaftsverfassung keineswegs alleine betrachtet werden kann und das „real existierende“ Wirtschaftssystem der Schweiz auch deutlich von der Sozial-, Arbeits- und Umweltverfassung geprägt ist, ohne dass allerdings das Prinzip der Subsidiarität vernachlässigt wird.
Für die Beurteilung, ob bestimmte Teile der Verfassung, wie z.B. die Sozialverfassung, die Wirtschaftsverfassung nun so weit beeinflussen, dass man davon ausgehen muss, dass die Verfassung eine „freie Marktwirtschaft“ nicht mehr zulasse, offenbart sich folgendes Problem: Es hat den Anschein, dass die Verfassungsväter ihre Vorstellungen bezüglich der Wirtschaftsverfassung an sich recht deutlich formuliert haben; dafür sieht es aber so aus, als ob gerade in den Bereichen der Verfassung, welche die Kompetenz haben, die Wirtschaftsfreiheit einzuschränken, allgemein gehaltene Regelungen, z.B. „Sozialziele“ erlassen wurden und es somit dem aktuellen „Zeitgeist“ überlassen ist, zu urteilen, was mit den aufgeführten Begriffen wie „Gerechtigkeit“ oder „soziale Sicherheit“ gemeint ist.
Der Grundgedanke könnte somit sein, ein „Band“ zu schaffen, innerhalb dessen sich wirtschaftliches und ordnungspolitisches Handeln abspielen kann, und je nach gesellschaftliches Bedürfnissen oder wirtschaftlichen Verhältnissen, mal mehr, mal weniger von staatlicher Seite auf dem freien Markt eingegriffen werden kann.
Dabei muss allerdings gesagt werden, dass dadurch, dass bedeutende Vorgaben der Wirtschafsverfassung im „Grundrechteteil“ der BV zu finden sind, die „Schwankungsbreite“ der möglichen Wirtschaftsordnungen in Richtung „Planwirtschaft“ deutlich begrenzt ist.
In wie weit der Spielraum allerdings in Richtung einer extrem freien Marktwirtschaft ausgebaut werden könnte, ist weniger klar.
Deshalb ist es meine persönliche Auffassung, dass die Grundsätze der „freien Marktwirtschaft“ die Basis des wirtschaftlichen Systems der Schweiz bilden. Zwar wird an verschiedenen Stellen betont, dass alle Bereiche der Verfassung gleichberechtigt nebeneinander stünden. Doch bei bestimmten Fragen muss im Zweifelsfall ein Bestandteil Priorität haben. Die Diskussionen bei der Entstehung des Artikels 41 BV geben ein klares Zeichen dahingehend, dass man äusserst darauf bedacht war, nicht den Anschein zu erwecken, die Sozialartikel würden die Wirtschaftsfreiheit zu sehr aushöhlen.
Trotzdem besteht heute ein parteienübergreifender Konsens darüber, dass der Staat neben seinen „traditionellen“ Pflichten noch die Aufgabe hat, für gerechte Lebensverhältnisse und eine Steigerung der allgemeinen Wohlfahrt zu sorgen. Ob er dies allerdings so weitreichend tut, dass man das vorherrschende Wirtschaftssystem als „soziale Marktwirtschaft“ bezeichnen muss, ist schon aufgrund der unklaren Definition dieses Begriffes nur schwer zu entscheiden.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Bundesverfassung die freie Marktwirtschaft nicht vorschreibt und statt dessen ihre Umsetzung „in Reinform“ aufgrund sozialstaatlicher[42] Vorgaben sogar faktisch unmöglich macht, trotzdem aber Abweichungen vom Grundsatz der Wirtschaftsfreiheit in engen Grenzen halten möchte.
Literaturverzeichnis
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
[...]
[1] Im Falle der Wirtschaftsverfassung also v.a Artikel 24-28 BV
[2] Artikel 94-107 BV
[3] Vgl. Heiring / Lippens, S.156.
[4] vgl. Heiring / Lippens, S.167.
[5] zitiert in Heiring / Lippens, S.174.
[6] vgl. Rhinow, S. 307.
[7] vgl. Häfelin / Haller, Rz. 617
[8] vgl. Rhinow, S. 299ff.
[9] Das Absinthverbot ist hier ein gutes Beispiel.
[10] Vgl. Häfelin / Haller, Rz. 578
[11] Vgl. Häfelin / Haller, Rz. 573.
[12] Vgl. Häfelin / Haller, Rz. 583
[13] vgl. Heiring / Lippens, S.159
[14] Vgl. Häfelin / Haller, Rz. 595 ff.
[15] vgl. Häfelin /Haller, Rz. 607 ff.
[16] BGE 106 Ia 342
[17] Zitiert in Häfelin / Haller, Rz. 621
[18] Artikel 27 BV.
[19] Artikel 94 BV.
[20] Artikel 95 ff. BV.
[21] Vgl. Häfelin / Haller, Rz. 624.
[22] Fleiner / Giacometti S. 283, zitiert in Häfelin / Haller Rz. 625.
[23] Vgl. Rhinow, S. 307f.
[24] Vgl. Häfelin / Haller, Rz. 621ff.
[25] Vgl. Rhinow, S.308.
[26] zitiert in Heiring / Lippens, S.174.
[27] v.a. im Bereich des Bergbaus, der Fischerei und der Jagd, in neuerer Zeit aber auch bei Funkfrequenzen
[28] vgl. Rhinow, S.313.
[29] insbesondere Art.27
[30] Artikel 94, Abs. 1 BV
[31] Vgl. Rhinow, S.313.
[32] vgl. Rhinow, S.313
[33] vgl. Häfelin / Haller Rz. 626
[34] Vgl. Rhinow, S.303.
[35] vgl. Rhinow, S.336
[36] vgl. Meyer-Blaser / Gächter, Rz. 8 ff.
[37] vgl. Rhinow, S.335
[38] vgl. Häfelin / Haller, Rz. 908
[39] vgl. Häfelin / Haller, Rz. 913
[40] vgl. Rhinow, S.337
[41] Vallender / Veit S.678ff., S.682 ff. zitiert in Rhinow, S. 315
[42] Diesen Begriff muss an dieser Stelle im weiteren Sinne gesehen werden, also auch im Zusammenhang mit diversen Verfassungsbestimmungen im Arbeits- oder Umweltbereich.
- Arbeit zitieren
- Philipp Salman (Autor:in), 2002, Schreibt die schweizerische Bundesverfassung von 1999 die freie Marktwirtschaft vor ?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/108187