Der Glücksbegriff in der Nikomachischen Ethik und seine Relevanz für die Politikwissenschaft


Hausarbeit, 2003

13 Seiten


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Herleitung des Begriffs der Eudämonie

3. Die Glückseligkeit als Begriff der Politischen Wissenschaft
3.1 Die Einordnung der Ethik unter die Politikwissenschaft
3.2 Die Spannung zwischen betrachtender und politischer Lebensweise

4. Fazit

5. Literaturverzeichnis

Die Eudaimonia wohnt nicht in Herden und nicht in Gold;

die Seele ist der Wohnsitz des Daimon.

Demokrit

1. Einleitung

Der griechische Philosoph Aristoteles war nicht nur der letzte große Philosoph der noch zu Hochzeiten der hellenischen Kultur wirkte – sein Werk fällt mit dem berühmten Feldzug Alexanders des Großen zusammen, dessen Lehrer er auch war. Er war auch derjenige unter ihnen, der sich am leidenschaftlichsten für die Versöhnung von philosophischen Thesen und den intuitiven Begriffen, die sich die Allgemeinheit von ihrer Umwelt macht, einsetzte. So sehr das für sein Gesamtwerk gilt, ist es doch wohl am relevantesten für die ethischen Fragen, mit denen sich Aristoteles in mindestens zwei umfassenden Bänden – der Nikomachischen und der Eudemischen Ethik – aber auch in anderen Werken auszugsweise, beziehungsweise in mehreren uns heute leider nicht mehr zugänglichen Dialogen, beschäftigt hat. Aus dem oben zu seiner Herangehensweise an ethische und andere wissenschaftliche Fragen gesagten ergibt sich folgerichtig, dass für Aristoteles nicht wie bei seinem Lehrer Platon ein abstraktes, außerhalb der Möglichkeiten der Menschen liegendes Gut als Ziel allen Strebens und endgültige Antwort auf sämtliche ethischen Fragen gelten kann. Dementsprechend bemüht er sich um eine praktische Herangehensweise an diese Fragen. Wenn er auch die Frage nach dem theoretischen Leben durchaus ausführlich und auch wohlwollend betrachtet, wird doch seine Herangehensweise allgemein als Praktische Philosophie bezeichnet. Es geht also bei ihm nicht wie beispielsweise bei Platon um eine Idee des Guten, sondern vielmehr darum mit welchen Eigenschaften und Tätigkeiten diesem Guten konkret möglichst nahe gekommen werden kann. Er nennt das Gute eudaimonia, was soviel heißt wie Glückseligkeit oder das gute Leben und sucht zu bestimmen was der Mensch tun muss, um diese eudaimonia zu erlangen.

Die vorgelegte Hausarbeit bemüht sich sowohl das gute Leben als auch die Eigenschaften und Handlungen, die ein Mensch besitzen beziehungsweise ausführen muss um dieses zu erlangen, anhand der Nikomachischen Ethik, möglichst umfassend darzustellen. Anschließend wird dargestellt werden, dass für Aristoteles die Ethik eine der Politikwissenschaft zugeordnete Wissenschaft ist und dies wird auf Widersprüche hin untersucht werden.

2. Herleitung des Begriffs der Eudämonie

Um den Begriff der eudaimonia, der mit Glückseligkeit recht treffend übersetzt werden kann, oft aber auch praktisch-anschaulicher als das Gute Leben oder Sich-gut-Verhalten bezeichnet wird, verstehen und somit diskutieren zu können, braucht es zunächst einmal ein Verständnis des Begriffs, das heißt der Aristotelischen Interpretation des Begriffes. Hierzu sollte zunächst ein kleiner Exkurs in die Begrifflichkeit Praktischer Philosophie erforderlich sein.

In seiner Metaphysik (1025b 25f.) gliedert Aristoteles die Bereiche menschlichen Wissens in drei Bereiche: Den Theoretischen, den Herstellenden und den Praktischen. Dabei unterscheidet sich der Theoretische von den beiden Anderen dadurch, dass dieser einzig auf die Erkenntnis der Wahrheit aus ist, während jene zudem den praktischen Nutzen der Erkenntnisse miteinbeziehen. Mit den Worten von Christoph Rapp gesprochen, will der Mensch, der sich um das praktische Wissen nach Aristotelischer Definition bemüht, die Welt nicht erkennen, sondern sie auch verändern. Ähnlich also wie es auch Marx in seinem berühmten Ausspruch von den Philosophen forderte. Aristoteles geht es zudem, wie bereits in der Einleitung angedeutet „um eine Versöhnung zwischen philosophischen Thesen und den Intuitionen des Common Sense“ (Rapp, S.10). Dies muss uns gegenwärtig sein, wenn wir uns mit Aristoteles´ Begriff von der Glückseligkeit und dem Weg des Menschen zur Erlangung dieses höchsten Gutes beschäftigen wollen.

Es sollte jedoch nicht zuviel vorweg genommen werden. Das nämlich die eudaimonia das höchste Gut ist, ist eigentlich erst das Ergebnis, das Aristoteles im Verlauf seiner Dialektik zwar früh entwickelt, dann aber immer wieder von allen mögliche Blickwinkeln aus prüft und gegebenenfalls erneut herleitet. Die Nikomachische Ethik beginnt mit der Feststellung: „Jede Kunst und jede Lehre, ebenso jede Handlung und jeder Entschluss scheint irgendein Gut zu erstreben. Danach hat man mit Recht das Gute als dasjenige bezeichnet, wonach alles strebt.“ (NE 1094 a 1-4) Im ersten Satz meint er noch keinesfalls das höchste Gut , sondern zunächst einmal irgendein konkretes Ziel, dass der Mensch durch eine bestimmte Handlung verfolgt. Die überwiegende Mehrheit der Ziele sind dabei allerdings selbst bloß Werkzeuge auf dem Weg zur Erlangung des letzten, eigentlichen Zieles der eudaimonia, wie dann auch im zweiten Satz angedeutet wird. (Neschke, 1997, S. 16-17) Es ist deshalb vollkommener, weil es um seiner selbst willen von den Menschen erstrebt wird. Es kann auf kein weiteres Ziel hinführen und es würde nicht besser, wenn ihm noch etwas hinzugefügt würde. Er macht also deutlich, dass er allerdings die meisten Handlungen und Entschlüsse nur in Bezug auf das ihnen zu- oder übergeordnete Ziel gelten lässt. Auf das höchste Gut jedoch sollten alle Handlungen und deren Ziele sich richten. Daraus leitet sich eine Hierarchie ab, in der weniger wichtige Ziele nur um eines höheren Zieles willen erstrebt werden und diese wiederum um eines noch höheren. Da aber aus der Sicht des Aristoteles diese Hierarchie nicht endlos nach oben weiterlaufen kann, muss sie sich – einer Pyramide vergleichbar – auf ein höchstes Ziel richten. Dieses wäre dann das höchste Gut, dass er im Folgenden zu suchen verspricht.

Dass diese Spitze in der Pyramide der Ziele und Güter die Glückseligkeit also die eudaimonia sei, sieht er als konsensfähig an. Hier hatten bei den Hellenen wohl Wissenschaftler und Ungebildete einen ähnlichen Begriff. Allerdings sieht er große Unterschiede in dem was sich hinter dem gleichlautenden Begriff versteckt. Keinesfalls will er der Menge zugestehen, dass es sich bei der Glückseligkeit um etwas Sichtbares wie Lust, Reichtum oder ähnliches handelt. Auch Platon bestreitet er dessen Definition, dass es ein Gutes an Sich gebe, auf das alle Handlung aufbauen sollte. Dies würde, um die Metapher ein weiteres mal zu beanspruchen, die Pyramide auf den Kopf stellen. Anders ausgedrückt stand für Platon das Gute-an-Sich am Anfang jeglichen Handelns während bei Aristoteles die Ziele jeglichen Handelns wiederum auf ein höchstes Ziel hinführen. Der dem Guten-an-Sich gar nicht unähnliche Begriff des Gut-Lebens steht also am Ende der Handlungskette, nicht an deren Anfang. Überdies findet Aristoteles keinen nennenswerten Unterschied zwischen dem Guten-an-sich und dem Guten, dass in jeder konkreten Situation durch tugendhaftes Handeln erlangt werden kann. Dies alles ist wiederum unbedingt in den Kontext der praktischen Nutzbarkeit jeglicher Philosophie zu stellen.

Wenn es sich also bei der Glückseligkeit nicht um ein unbegrenztes Horten von Gütern wie Geld, Lust oder Ansehen handelt, worin besteht sie dann? Um diese Frage zu beantworten diskutiert Aristoteles die verschiedenen, relevanten weil häufig angetroffenen, Lebensformen. Für die Lust als Indikator der Glückseligkeit hat er nichts übrig. Er findet gar, die Masse der Menschen, wenn sie sich rein von Lust und Genuss leiten lässt „erweist sich als völlig sklavenartig, da sie das Leben des Viehs vorzieht.“ (NE 1095 b 19)

Auch die politische Lebensform, die auf Anhäufung von Ehre ausgerichtet scheint, weist er zurück. Die Ehre nämlich suche der Mensch um sich selbst davon zu überzeugen, dass er gut sei. Sie kann ihm allerdings nur von anderen Menschen entgegengebracht werden, während doch das Gute aus ihm selbst kommen muss.

Ebenfalls wenig übrig hat Aristoteles für die kaufmännische Lebensform. Denn Reichtum sei immer nur Mittel zum Zweck, während doch aber nicht die Mittel, sondern der letzte Zweck im Mittelpunkt unserer Suche nach dem höchsten Gut stehen sollte.

Er entscheidet sich also folgerichtig für die seltenste unter den vier Lebensweisen: die Betrachtende. Diese sei nicht nur die autarkste, da sie kaum äußerer Güter oder Einwirkung bedarf, sie sei auch noch diejenige, die am meisten Muße zulasse und am wenigsten ermüde. Außerdem müsse sie es deshalb sein, weil sie die dem Menschen Eigentümliche sei. Tieren und Pflanzen bleibt eine betrachtende Lebensweise verwehrt. Jedes Lebewesen sei nun in der Tätigkeit, also Lebensweise am Glücklichsten und Erfülltesten, die ihm eigentümlich ist. Außerdem ist es in der Aristotelischen Denkweise ja der Geist, der über den anderen menschlichen Eigenschaften, den Trieben und den rein vegetativen Körpereigenschaften, steht und über diese gebietet. Sollte jedoch aus dieser Betrachtung noch nicht klar ersichtlich sein, dass geistige Tätigkeit die höchste aller Tätigkeiten ist, so zieht er zusätzlich das Göttliche als weitere Variable hinzu. Wenn alle Bedingungen für die Erlangung der eudaimonia nämlich bis zur Vollkommenheit erfüllt seien, so sei dies nicht mehr menschlich sondern bereits etwas Göttliches. Die Götter seien schließlich schon ihrer Natur nach auf tugendhafte Tätigkeiten wie Mut oder Freigiebigkeit nicht angewiesen. Sie stünden sozusagen über solchen menschlichen Tugenden. Da sie aber dennoch tätig seien, bliebe ihnen folgerichtig nur die geistige Betätigung. Um zum Schluss zu kommen: Das oben Beschriebene zeigt für Aristoteles, dass desto näher die Lebensweise einer geistig-betrachtenden kommt, desto näher sei der so Lebende den Göttern und damit eben glückseliger, als er durch jegliche andere Tätigkeiten sein könnte. Denn die Götter sind das höchste, das sich die Menschen vorzustellen vermögen, wodurch deren eigentümliche Fähigkeit auch die höchstmögliche sein muss.

Welches sind aber nun die besonderen Tugenden die für die Erlangung der Glückseligkeit erforderlich sind beziehungsweise die Güter, die der Mensch um ihrer willen zur Vollendung zu bringen versuchen muss? Um dies festzustellen unterteilt Aristoteles zunächst die menschlichen Güter in drei Teile: die äußeren Güter, die körperlichen Güter und die seelischen Güter. Den äußeren Gütern werden nur untergeordnete Funktionen zugesprochen. Anders als drei Jahrhunderte später die Stoiker glaubt Aristoteles nicht, dass der wahrhaft Weise und Glückliche solcher überhaupt nicht bedarf, denn „Es ist nämlich unmöglich oder doch nicht leicht, das Edle zu tun, wenn man keine Mittel zur Verfügung hat.“ (NE 1099 b 32 ff.) Außerdem gesteht er neben dieser Definition äußerer Güter als Werkzeuge tugendhaften Handelns, diesen auch noch einen ganz allgemeinen Wert für die Menschen zu. Sollte ein eigentlich glücklicher Mensch von schweren Schicksalsschlägen betroffen sein, so verkümmere die Glückseligkeit und er könne eben nicht vollkommen glücklich sein. Hier wird auch wieder deutlich wie Aristoteles versucht, die bei den meisten Menschen gängigen Glücksvorstellungen mit denen der philosophischen Tradition auszusöhnen oder sie einander zumindest anzunähern. In diesem Sinne integriert er auch problemlos die Lust, in anderem Zusammenhang noch scharf abgelehnt, wieder in sein Bild der eudaimonia. Da der Mensch von wahrhafter Tugend sich an entsprechenden Taten besonders freue, schon deshalb weil sie ja die ihm eigentümlichen seien, empfinde er bei der Ausübung solcher Taten ganz selbstverständlich auch Lust.

Aus ähnlichen Gründen wie die äußeren benötigt der glückselige Mensch auch die körperlichen Güter. Gesundheit, körperliche Unversehrtheit und ähnliches werden nur als Variablen gelten gelassen, die verhindern können, dass ein Mensch vollkommen glücklich wird. Auch sie versteht Aristoteles eher als Beiwerk auf dem Weg zur Erlangung der Glückseligkeit.

Als wirklich entscheidende Güter betrachtet er vielmehr die seelischen Tugenden. Sie sind für ihn die eigentlichen und höchsten Tugenden. Hier allerdings macht er noch eine weitere wichtige Unterscheidung. Die Seele nämlich wird noch einmal unterteilt in einen vernunftbegabten und einen vegetativen Teil, sowie in das Willensvermögen, das gewissermaßen an beiden Teil hat, indem es zwar einerseits triebgesteuert ist, andererseits aber potentiell durch die Vernunft beherrschbar.

Die Tugenden des vernunftbegabten Seelenteils oder auch die intellektuellen Tugenden sind für Aristoteles das Wissen, die Weisheit, die Einsicht, die Kunst und die praktische Vernünftigkeit. Diese bezeichnet er als die dianoetischen Fähigkeiten während er dem nur teilweise vernunftbegabten Willensvermögen die charakterlichen Tugenden wie etwa Großzügigkeit oder Besonnenheit zuordnet.

Die Definition, dass die eudaimonia „die Tätigkeit der Seele aufgrund ihrer besondern (sic!) Befähigung, (...).“ (NE 1098 a 16) sei, reicht aber noch immer nicht aus. Ein überaus wichtiger Bestandteil der aristotelischen Ethik fehlt bislang. Der bloße Besitz von intellektuellen Fähigkeiten nämlich reicht für Aristoteles keineswegs schon aus. Nur in der tatsächlichen Ausübung dieser Tugenden kann ein Mensch die eudaimonia erlangen. Dementsprechend ist für Aristoteles eben nur der wahrhaft glückselig, der die höchsten geistigen Fähigkeiten nicht nur besitzt, sondern diese auch tugendhaft anzuwenden weiß. Die vollständige Definition ist also: „die Glückseligkeit (ist) eine Tätigkeit der Seele gemäß der vollkommenen Tugend“ (NE 1102 a 5) was nun hoffentlich in sämtlichen Dimensionen der Aussage klar geworden ist.

3. Die Glückseligkeit als Begriff der Politischen Wissenschaft

3.1 Die Einordnung der Ethik unter die Politikwissenschaft

Bewusst bis hierhin nicht angesprochen worden ist die Einordnung, die Aristoteles bei seiner Ethik, aber auch bei der Wissenschaft von der Ethik im allgemeinen vornimmt. Er sieht die Wissenschaft von der eudaimonia und deren Erlangung als einen Teil der politischen Wissenschaft an. Bereits im ersten Kapitel des ersten Buches macht er deutlich, dass es für ihn keinen Zweifel an dieser Klassifizierung geben kann. Er stellt, gleich nachdem er festgestellt hat, dass alle Lebewesen nach einem Gut streben und dass es in der Kette der Ziele ein Letztes, Höchstes geben müsse, zunächst die das ganze Thema umrahmende Frage was dieses letzte Ziel wohl sein mag und direkt im Anschluss die Frage welcher Wissenschaft oder Fähigkeit es zugeordnet ist. Zwar beantwortet er letztere Frage sogleich, jedoch zunächst nicht besonders ausführlich. Sie ist also keineswegs so entscheidend wie die Frage nach der Beschaffenheit des ominösen Endziels allen Strebens, von dem wir bereits wissen, dass es die eudaimonia ist. Er kehrt dann aber später in diesem Werk und auch an anderer Stelle in der Politik noch häufig zu dieser Fragestellung zurück und macht deutlich, warum es so wichtig sei, die Ethik als einen Unterbereich der Politikwissenschaft zu begreifen. Wenn nämlich, so die Ansicht Aristoteles, die Glückseligkeit dasjenige Gut wäre nach dem alle Menschen streben, so müsse dies doch für ein ganzes Staatswesen, das ja aus solchen besteht und überdies in seinen Augen – als logischer Schluss aus dem eben Gesagten – ungleich wertvoller und wichtiger sei, gleichsam Gültigkeit besitzen.

Betrachten wir zunächst die Begründung, die er im ersten Buch für die vorgenommene Einteilung gibt: Für Aristoteles ist, das beschreibt er ausführlich in seiner Politik, der Staat oder die Polis das höchste und wertvollste Gebilde zu dem Menschen sich zusammenschließen können. Folgerichtig ist bei ihm auch die Wissenschaft von der Polis hoch angesehen. Er setzt dies jedoch keinesfalls einfach voraus, sondern leitet es sehr logisch daraus ab, dass „sie bestimmt, welche Wissenschaften in den Staaten vorhanden sein müssen, welche ein jeder lernen muss und bis zu welchem Grade man sie lernen muss.“ (NE 1094 a 28 ff.) Das lässt sich leicht vereinfacht so lesen, dass die Wissenschaft vom Staat also die Politikwissenschaft darüber entscheidet welche Regierungsform wie arbeitet. Von der Regierungsform und deren Interpretation wiederum hängt es ab, welche Wissenschaften wie intensiv betrieben werden. Heute nennen wir so etwas auch Bildungs- oder Wissenschaftspolitik. Und dass er implizit genau diesen Sachverhalt oder auch Sachzwang anspricht wird daran erkennbar, dass er die politische Wissenschaft auch als diejenige definiert, die „(...) Gesetze darüber erlässt, was man zu tun und zu lassen habe.“(NE 1094 b 5) Allerdings ist sicher auch die umgekehrte Lesart möglich. Das nämlich nicht die Politikwissenschaft über die Staatsform entscheidet, sondern die Regierung darüber entscheidet, wie Wissenschaft von der Politik betrieben wird und werden darf. Dies ist allerdings für unser Thema nicht von entscheidender Bedeutung.

Eine weitere Begründung für die Zugehörigkeit der Ethik zur Politikwissenschaft sieht Aristoteles darin, dass viele angesehene Fähigkeiten der Politikwissenschaften direkt zugeordnet werden können. Er nennt als Beispiele die Ökonomik, Strategik oder Rhetorik. Ein interessantes Moment ist hier auch, dass er versucht, indem er diese als praktische Wissenschaften definiert, auch für die Ethik den Anspruch zu erheben, sie sei eine solche praktische Wissenschaft. Dies fügt sich nahtlos in die bereits in der Einleitung beschriebene generelle Vorstellung Aristoteles´ von Philosophie als einer Tätigkeit mit überwiegend praktischem Nutzen ein.

Schlussendlich bestimmt also das oben Gesagte, dass die Politikwissenschaft die höchste Wissenschaft sein müsse, weil sie die Ziele aller anderen schon in ihren Zielen mit umfasst. Genau wie bei der Pyramide oder Hierarchie der Tätigkeiten, an deren Spitze das höchste Gut stehen muss, steht also auch an der Spitze der Wissenschaften diejenige auf die alle andern in ihren Zielen ausgerichtet sind und um derentwillen alle anderen überhaupt betrieben werden. Denn die Politikwissenschaft ist ja die Lehre vom Staat oder besser von der höchsten menschlichen Gemeinschaft. Auf das Wohl dieser Gemeinschaft richtet sich aber jede Wissenschaft aus. Daher muss folgerichtig die Wissenschaft von dieser Gemeinschaft die letzte sein, auf die alle anderen hinzielen. Wie also einer das Gute Leben allein um der Glückseligkeit willen zu verwirklichen sucht, so wird die politische Wissenschaft allein um des Wohles der Polis willen betrieben. So bleibt dann auch als logischer Schluss übrig zu sagen, dass das Gute für einen einzigen Menschen und das für den Staat notwendig das Gleiche sein muss. Allerdings so wie der Staat vollkommener ist als der Einzelne soviel erstrebenswerter ist es auch für den ganzen Staat die Glückseligkeit zu erlangen. „erfreulich ist es zwar schon bei einem einzigen Menschen, schöner und göttlicher aber für Völker und Staaten.“ (NE 1094 b 9)

3.2 Die Spannung zwischen betrachtender und politischer Lebensweise

Im Zusammenhang mit dem soeben beschriebenen, muss unbedingt darauf eingegangen werden, dass sich ein möglicher Widerspruch auftut, zwischen der Entscheidung für die betrachtende, nicht praktisch orientierte Lebensweise, als die dem Menschen eigene und somit zur Erlangung der eudaimonia anempfohlene und der Bestimmung, dass ausgerechnet die Wissenschaft, die diese Lebensweise empfiehlt, eine praktische sei. Zu diesem Problem hat sich Olof Gigon dahingehend geäußert, dass die Bestimmung das Ziel der Gemeinschaft sei eine betrachtende Lebensweise zwar logisch besser funktioniert, jedoch in diesem Sinne eine Notlösung sei. Diese strenge Interpretation taugt also eher für den Puristen. Bei einem Pragmatiker – dieser Begriff ist natürlich unbedingt im Verhältnis zu anderen Philosophen zu sehen – wie Aristoteles ist es wohl wahrscheinlicher anzunehmen, dass er nicht annahm die Ziele des Individuums und der Gemeinschaft seien dieselben. Möglich wäre die Herangehensweise, dass wenn alle Individuen glückselig wären, dadurch auch der Staat seinen besten Zustand erreichen würde. Solches muss aber spekulativ bleiben, da mir zu diesem Problem keine Äußerungen von Aristoteles bekannt sind.

Allerdings kann vielleicht die im siebten Buch der Politik vorgefundene Textstelle einen Ausweg weisen, in der Aristoteles die Glückseligkeit zwar wohl als durch die betrachtende Lebensweise zu erringen beschreibt, diese Lebensweise allerdings als „tätiges Umgehen mit sich selbst“ (Gigon, zitiert nach der Einleitung zur Politik, S. 40) beschreibt.

Wolfgang Kullmann geht anders an diese Frage heran. Für ihn scheint Aristoteles in dem von mir ausführlich beschriebenen ersten Kapitel des ersten Buches lediglich zu postulieren, dass es das Beste sei das höchste Gut auch für die Staaten zu suchen, unterstellt ihm aber, dass er dieses für unmöglich gehalten habe. Die Einschränkung auf die Individualethik erfolge also aus pragmatischen Gründen und nur notgedrungen. Auch liest er die Nikomachische Ethik so, dass sie zwar die betrachtende Lebensweise als die Beste bestimme, dabei jedoch auch dem Theoretiker diesen Zustand nur für kurze Zeitspannen zugesteht. Für die Zeit, in der er sich nicht in diesem Zustand befindet, falle er gleichsam in den Zustand des Politischen zurück. Mit dieser Konstruktion hofft Kullmann offensichtlich quasi in einem Aufwasch auch das Problem der Autarkie zu lösen. Oft werde gegen die Argumentation, die betrachtende Lebensweise sei die erstrebenswerteste auch deswegen, weil sie die unabhängigste sei, der bereits geschilderte Einwand erhoben, wenn dies Ernst genommen würde könne die Wissenschaft von der eudaimonia durchaus nicht als eine politische verstanden werden. Sei doch ein Mensch, der sein Leben quasi in reiner Geistlichkeit, abgeschieden von umweltlichen Einflüssen lebe, eben nicht politisch, gerade kein zoon politikon. Diese Einwände werden dann mit der Konstruktion vom nur zeitweise in das betrachtende Leben übergehenden Weisen, der sonst durchaus um der Gemeinschaft Willen auch die ethischen Tugenden pflegen muss, gelöst. Dazu zitiert er explizit aus dem achten Kapitel des zehnten Buches: „Sofern er aber Mensch ist und mit vielen zusammenlebt, wird er auch wünschen, die Werke der ethischen Tugend auszuüben; so wird er solcher Dinge bedürfen, um als Mensch unter Menschen zu leben.“ (1178 b 5ff.)[1]

Nebenbei sieht er auch sonst das Politische im Sinne Gadamers als ein Zweit-Bestes, das diejenigen Menschen erstreben sollten, welche zur Ausübung der theoretischen Lebensweise nicht in der Lage sind. Wenn wir zum besseren Verständnis des eben Beschriebenen uns noch einmal die Unterteilung der seelischen Fähigkeiten ins Gedächtnis rufen, stünde also das rein betrachtende Leben im Zeichen der dianoetischen Fähigkeiten, während die politische Lebensweise von den ethischen Tugenden bestimmt würde. Wer also nicht in der Lage ist sein Leben mithilfe der Vernunft zu gestalten, der solle sich zumindest bemühen durch Ausübung von Tugenden wie Tapferkeit oder Großzügigkeit wenigstens an der Vernunft teilzunehmen. Da also der Mensch ein Wesen sei, das aus der Seele und dem Körper zusammengesetzt ist, dürfe er logischerweise auch keines von beiden vernachlässigen. Er bedarf also, so göttlich und großartig sie auch sei, neben der theoretischen Lebensweise auch der praktisch-politischen. (Kullmann, 1995, S. 258-260)

Es erscheint also durchaus als gut möglich, dass die beiden Lebensweisen, die sich eben noch auszuschließen schienen, nicht nur sehr wohl nebeneinander existieren können, sonder gar im Sinne einer Optimierung sich gegenseitig ergänzen können. Ackrill hat dies so beschrieben, dass langfristig gesehen moralisches Wirken in der Gemeinschaft die Möglichkeiten der Theoria maximieren könne. (Ackrill, 1985) Das dieser Gedanke auch umgekehrt gedacht werden kann, dass also wer betrachtet auch und gerade reflektiert, was in politischen, gemeinschaftlichen Dingen zu Verbesserungen führen kann, liegt nahe.

4. Fazit

Aristoteles war wohl der antike Philosoph, der die nachfolgenden Zeitalter am nachhaltigsten geprägt hat. Dies zeigt sich auch an der nacharistotelischen Entwicklung der philosophischen Ethik. Denn was Aristoteles mit seinen beiden – ihm gesichert zugeordneten – Werken zur Ethik vollbracht hat, war nicht bloß eine interessante Betrachtungsweise der Ethik, sondern auch ihre Neuausrichtung in Bezug auf ihr zentrales Merkmal. Wenn er auch nicht der erste Philosoph war, für den das Glück eine Rolle spielte, so war er doch derjenige für den erstmals die eudaimonia der Mittelpunkt jedes ethischen Nachdenkens beziehungsweise das Endziel allen menschlichen Strebens war. Diese hohe Wertung des Glücksbegriffs hat sich in seiner Bedeutung für die Moralphilosophie zunächst bis auf Plotin erhalten. Weniger direkt hat sie aber auch in Spätantike und Mittelalter noch gewirkt und Gültigkeit besessen. Für viele ist sie erst durch Kant ad acta gelegt worden. (Neschke, 1997, S. 7) Allerdings die bloße Stellung der Glückseligkeit als Zentrum menschlichen Strebens findet sich auch noch bei Feuerbach, der schreibt, dass die Menschen die Götter aufgrund ihres Glückseligkeitstriebes anflehen würden () und wirkt durchaus heute noch nachvollziehbar ja gar aktuell.

Dies führt zu einer abschließenden Frage: Sind der aristotelische Glücksbegriff und dessen Stellung heute noch präsent und wenn sie es nicht sind, ist das zu Unrecht so? Jürgen-Eckhardt Pleines beklagt die geringe Stellung, die der Glückseligkeitsbegriff in der heutigen Philosophie hat. Nach seiner Ansicht hat Kant auch keineswegs die aristotelische eudaimonia angegriffen, als vielmehr die Populärphilosophie seiner Zeit. Und diese habe sich zu der Zeit auf einem ähnlichen Niveau befunden wie es auch Aristoteles bereits bei der Menge beklagt hatte. „Es ist, als ob wir gerade in den Dingen, die uns am meisten angehen und die uns bewußt oder unbewußt immer schon beschäftigen, zumeist auf eine besondere Art Unwissende bleiben.“ (Pleines, 1984) konstatiert er die Aktualität des Konfliktes zwischen aristotelischem und populärem Glückseligkeitsbegriff auch der heutigen Zeit. Nicht, dass es jemals anders gewesen sei, aber die Gefahr, das die Menschen die Glückseligkeit als ihr eigentliches Strebensziel verkennen, wächst natürlich in dem Maße in dem der Begriff aus der Philosophie verdrängt wird. Aristoteles meint, dazu: „(...) und werden wir nicht wie Bogenschützen, wenn wir unser Ziel vor Augen haben, das Gehörige besser treffen können?“ (NE 1094 a 23) Deswegen sucht er ja das höchste Gut. Damit Spätere es leichter finden und verwirklichen können. Sicher: Für die Gemeinschaft kann die kantische Moralphilosophie da als Ersatz dienen, für den Einzelnen jedoch wohl nicht.

5. Literaturverzeichnis

Aristoteles (1991). Die Nikomachische Ethik. München: Deutscher Taschenbuch Verlag

Aristoteles (2001). Metaphysik. Ditzingen: Phillip Reclam jr.

Aristoteles (1973). Politik. München: Deutscher Taschenbuch Verlag

Ackril, J.L. (1985). Aristoteles. Eine Einführung in sein Philosophieren. Berlin, New York: Gruyter

Feuerbach, L. (1983). Vorlesungen über das Wesen der Religion nebst Zusätzen und Anmerkungen. Berlin: Akademie Verlag

Kullmann, W. (1995). Theoretische und politische Lebensform bei Aristoteles. In Höffe, O. (Hrsg.), Klassiker Auslegen. Aristoteles. Die Nikomachische Ethik (S. 254-276), Berlin: Akademie Verlag

Pleines, J.-E. (1984). Eudaimonia zwischen Kant und Aristoteles. Glückseligkeit als höchstes Gut menschlichen Handelns. Würzburg: Königshausen & Neumann

Neschke, A. (1997). Gelungens Leben. Die Glücksproblematik bei Aristoteles und der Einspruch des Pyrrhon. In Angehrn, E. & Baertschi B.(Hrsg.), Die Philosophie und die Frage nach dem Glück (S. 7-31), Stuttgart, Bern: Paul Haupt

Rapp, Christoph (2001). Aristoteles zur Einführung. Hamburg: Junius

[...]


[1] Kullmann arbeitet offensichtlich mit einer anderen Übersetzung. Bei ihm lautet das Zitat: „Sofern er aber ein Mensch ist und mit mehreren zusammenlebt, entscheidet er sich dafür, die Aktivitäten im Sinne der ethischen Tugenden zu entfalten.“ Der letzte Satz ist bei Kullmann nicht im Zitat enthalten.

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Details

Titel
Der Glücksbegriff in der Nikomachischen Ethik und seine Relevanz für die Politikwissenschaft
Hochschule
Ludwig-Maximilians-Universität München
Veranstaltung
Grundkurs Politische Theorie
Autor
Jahr
2003
Seiten
13
Katalognummer
V108339
ISBN (eBook)
9783640065363
Dateigröße
364 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Glücksbegriff, Nikomachischen, Ethik, Relevanz, Politikwissenschaft, Grundkurs, Politische, Theorie
Arbeit zitieren
Oliver Heil (Autor:in), 2003, Der Glücksbegriff in der Nikomachischen Ethik und seine Relevanz für die Politikwissenschaft, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/108339

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