1900 begann Sir Arthur Evans mit der Ausgrabung und Rekonstruktion der Stadt Knossos auf Kreta. Im großen Palast fand er Tontafeln mit einer unbekannten Schrift. Da er glaubte, dass er den Palast von König Minos ausgegraben hatte, nannte er die Schrift 'Minoisch'. Die Texte ließen sich in drei Kategorien einordnen; es waren drei zwar verwandte, aber nicht identische Schriften. Die wohl älteste unter ihnen nannte Evans 'Hieroglyphisch', weil die Zeichen an die bildhaften ägyptischen Hieroglyphen erinnerten. Bei den anderen zwei Schriften waren die Bildzeichen stark vereinfacht und stilisiert worden; deshalb nannte Evans sie 'Linear A & B', wobei Linear B eine (jüngere) Verfeinerung von Linear A darzustellen schien.
1953 gelang es dem jungen Architekten Michael Ventris, die Linear B Schrift zu entziffern. Die Sprache erwies sich als eine sehr frühe Form des Griechischen, die man seitdem 'Mykenisch-Griechisch' nennt. Seit dieser Entzifferung hat man sich mit neuer Hoffnung auf Linear A konzentriert, da Linear A und B eine große Zahl von Zeichen gemeinsam haben. Die zahlreichen bisherigen "Entzifferungen" der Linear A Schrift basieren nahezu alle auf der Annahme, dass die Zeichen in Linear A und B den gleichen Lautwert haben. Die Lautwerte, die für die Silbenzeichen des Linear B gefunden wurden, ergeben aber bei der Anwendung auf Linear A nicht direkt Wörter, die eine Identifizierung mit einer bekannten Sprache ermöglichen. Außerdem muss die Übertragung der Werte von Linear B auf A auf schwerwiegende methodische Bedenken stoßen. Es bedarf somit einer Methode, die von Linear B unabhängig ist.
Es gibt eine deutliche Übereinstimmung zwischen einer unbekannten Schrift und einer Geheimschrift; beide können auch mit den gleichen Methoden entziffert werden. Der Entzifferer versucht in den Texten Strukturen zu entdecken, die auf die Funktion bestimmter Zeichen oder Zeichengruppen schließen lassen. Wenn man diese Informationen zur Struktur mit Erkenntnissen über die Umstände kombiniert, unter denen die Texte geschrieben wurden, kann man zu den ersten Identifizierungen gelangen, bis die Bedeutung der meisten Wörter bekannt und die Entzifferung somit gelungen ist.
In dieser Arbeit werden verschiedene Methoden der Krypto-Analyse auf die Texte in Linear A angewandt, um so Anhaltspunkte zur Identifizierung der minoischen Sprache zu finden. Dieses Werk enthält keine Entzifferung, will aber Wege zeigen, wie man ihr mit Hilfe der Krypto-Analyse näher kommen kann.
Inhalt
1 – EINFÜHRUNG
1.1 – Die Schriften Kretas
1.2 – Die bisherigen Erfolge
2 – DIE METHODE
2.1 – Theoretische Grundlagen
2.2 – Krypto-Analyse
2.3 – Entzifferungstechniken
3 – DIE ANALYSE
3.1 – Textrichtung
3.2 – Schriftsystem
3.3 – Zeichenlisten
3.4 – Zeichenstatistiken
3.5 – Textstruktur
3.6 – Zeichenpaare
3.7 – Zur Morphologie
4 – SCHLUSSBEMERKUNGEN
4.1 – Ergebnisse der Analysen
4.2 – Stand der Dinge
4.3 – Ausblick
LITERATUR
ABKÜRZUNGEN
FUNDORTE KRETA
1 – Einführung
1.1 – Die Schriften Kretas
1900 begann Sir Arthur Evans mit der Ausgrabung und Rekonstruktion der Stadt Knossos auf Kreta.1 Im großen Palast fand er Tontafeln mit einer unbekannten Schrift. Da er glaubte, dass er den Palast von Minos ausgegraben hatte, nannte er die Schrift
,Minoisch’. Die Texte ließen sich in drei Kategorien einordnen; es waren drei zwar verwandte, aber nicht identische Schriften. Die wohl älteste unter denen nannte Evans
,Hieroglyphisch’, weil die Zeichen an die bildhaften ägyptischen Hieroglyphen erinnerten. Bei den anderen zwei Schriften waren die Bildzeichen stark vereinfacht und stilisiert worden; deshalb nannte Evans sie ,Linear A & B’, wobei LB eine (jüngere) Verfeinerung von LA darzustellen schien.
Evans nahm an, dass es sich um drei unterschiedliche Entwicklungsstufen einer Schrift handelte und datierte die Stufen wie folgt:2
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Man braucht nicht viel Phantasie, um sich einerseits die Verwandtschaft und andererseits die zeitliche Entwicklung dieser Schriften vorzustellen. Allerdings sind auch sowohl mit Hieroglyphen als auch linearen Zeichen beschriebene Texte gefunden worden, weshalb man sich besser eine wahrscheinlich zum Teil parallele Entwicklung der Schriften vorstellen sollte.3
1.2 – Die bisherigen Erfolge
1953 gelang es dem jungen Architekten Michael VENTRIS, die Linear B Schrift zu entziffern. Die Sprache erwies sich als eine sehr frühe Form des Griechischen, die man seitdem Mykenisch-Griechisch nennt.4 Seit dieser Entzifferung hat man sich mit neuer Hoffnung auf LA konzentriert, da es eine große Zahl von Zeichen gibt, die sowohl in LB als auch in LA vorkommen. Jedoch liefern die Lautwerte, die für die LB- Silbenzeichen gefunden worden sind, bei der Anwendung auf LA nicht direkt Wörter, die eine Identifizierung mit einer bekannten Sprache ermöglichen. PACKARD5 hat deutlich gemacht, dass wir, wenn wir Lautgleichheit der LA- und LB-Zeichen annehmen, implizieren, dass das Minoische6 die gleichen Konsonanten und Vokale besitzt wie das Mykenische, eine Implikation, die uns – wenn explizit gemacht – sehr gewagt erscheinen dürfte, da wir weder die minoische Sprache kennen noch wissen, welche phonologische Struktur sie aufweist.
Es gilt also, eine Methode zu entwickeln, anhand derer wir die Schrift von LB unabhängig entschlüsseln können.
2 – Die Methode
2.1 – Theoretische Grundlagen
Bei unentzifferten Schriften unterscheidet man drei mögliche Situationen:
1. Die Schrift ist unbekannt, die Sprache bekannt7;
2. die Schrift ist bekannt8, die Sprache unbekannt;
3. die Schrift und die Sprache sind unbekannt.
In den ersten zwei Situationen ist eine Entzifferung möglich, wenn die Textlage vielumfassend9 ist und die ,versteckte’ Sprache mit einer schon bekannten Sprache verwandt ist. Im dritten Fall ist eine Entzifferung nur dann möglich, wenn man außerdem einen zweisprachigen Text und identifizierbare Namen als Ausgangspunkt nehmen kann. Moderne Entzifferungsmethoden haben jedoch gezeigt, dass man eine solche Schrift manchmal auch ohne Bilinguen entziffern kann.
2.2 – Krypto-Analyse
Es gibt eine deutliche Übereinstimmung zwischen einer unbekannten Schrift und einer Geheimschrift; beide können auch mit der gleichen Methode entziffert werden. Jedoch sollte man einen wichtigen Unterschied nicht aus den Augen verlieren: Die Geheimschrift ist mit Absicht so entwickelt, dass Entzifferung schwierig bzw. unmöglich ist. Die unbekannte Schrift ist nur zufällig so rätselhaft.
Heutzutage ist bekannt, dass man jeden Code knacken kann, wenn die Menge der verschlüsselten Texte ausreicht.10 Der Entzifferer versucht in den Texten Strukturen zu entdecken, die auf die Funktion bestimmter Zeichen oder Zeichengruppen schließen lassen. Die Verschlüsselung macht eben diese Strukturen weitgehend unkenntlich. Je komplizierter die Verschlüsselung ist, desto mehr Text braucht man um diese Strukturen zu entdecken. Wenn man diese Informationen zur Struktur mit Erkenntnissen über die
Umstände kombiniert, unter denen der Text geschrieben wurde, kann man zu den ersten Identifizierungen gelangen, bis die Bedeutung der meisten Wörter bekannt ist.
2.3 – Entzifferungstechniken
Michael VENTRIS hat eine meisterhafte Zusammenfassung von Techniken der Entzifferung gegeben:
„Each operation needs to be planned in three phases:
1. an exhaustive analysis of the signs, words and contexts in all the available inscriptions, designed to extract every possible clues as to the spelling system, meaning and language structure ;
2. an experimental substitution of phonetic values to give possible words and inflections in a known or postulated language ;
3. and a decisive check, preferably with the aid of virgin material, to ensure that the apparent results are not due to fantasy, coincidence or circular reasoning.”11
Diese wissenschaftlich saubere Methode soll jedem Entzifferungsversuch zugrunde liegen.
Im nächsten Kapitel werden exemplarisch unterschiedliche Analysen präsentiert, die den genannten ersten Schritt, die Analyse, verkörpern können.12 Viele davon haben auch den Erfolg der Entzifferung der LB-Schrift ermöglicht.
3 – Die Analyse
3.1 – Textrichtung
Wenn auf den Tafeln Zeilen nicht ganz beschrieben worden sind, finden sich die Lücken immer rechts und nie links, woraus wir schließen, dass die Textrichtung von links nach rechts verläuft.
3.2 – Schriftsystem
Die Anzahl der vorkommenden unterschiedlichen Zeichen gibt Hinweise darauf, ob ein Zeichen ein Wort (oder einen Begriff), eine Silbe oder einen Buchstaben repräsentiert. Je nachdem unterscheiden wir bzw. ideographische, syllabische und alphabetische Schriften. Alle Schriften bedienen sich entweder einem dieser Systeme, oder einer Kombination aus diesen. Ideographische Systeme brauchen mehrere Hunderte oder gar Tausende Zeichen, syllabische meistens zwischen 50 und 100, und alphabetische Systeme haben in der Regel einen Bestand von 15 bis 30 Zeichen.
Wir können auf den Tontafeln drei Kategorien von Zeichen identifizieren.13 Erstens gibt es Zeichen, die fast immer in Gruppen von zwei bis sechs erscheinen. Da die Zahl dieser Zeichen etwa 90 beträgt, sind es wohl Syllabogramme. Die zweite Kategorie besteht aus Zeichen – überwiegend Striche und Kreise – die bereits Evans als Zahlen und andere metrologische Zeichen erkannte. Die dritte Kategorie bilden Zeichen, die namentlich alleinstehend vorkommen, und auf die außerdem nahezu immer unmittelbar Zahlen folgen. Aus diesen Umständen ist zu schließen, dass es sich hier um Ideogramme handelt. Obwohl die Zahl der einfachen Ideogramme gering ist, erscheinen sie oft in Ligatur mit Syllabogrammen, anderen Ideogrammen und metrologischen Zeichen, wodurch der Gesamtbestand dieser Kategorie doch etwa 250 Zeichen umfasst.
[...]
1 EVANS 1935.
2 Die Quellen der Abbildungen: Hieroglyphisch 2DOC, 30 ; ROBINSON 1995, 149. LA 2DOC, 35. LB POPE 1975, 153.
3 HOOKER 1979, 15-20.
4 Diese Entzifferung wird besonders spannend erzählt in CHADWICK 1958. Ausführlicheres findet man in VENTRIS’ & CHADWICKS 2DOC.
5 PACKARD 1971, 57-58.
6 Für die unbekannte Sprache von LA hat sich – zur Abgrenzung von der bekannten LB-Sprache Mykenisch – die Bezeichnung Minoisch allgemein durchgesetzt.
7 D.h., dass man weiß, welche Sprache sich hinter der Schrift verbirgt.
8 D.h., dass man die Bedeutung der Schriftzeichen (teilweise) kennt, weil wenigstens eine andere, bekannte Sprache sich dieser Schrift bedient.
9 Dass nicht nur die Textmenge, sondern auch die Textsorte ausschlaggebend ist, zeigt das Etruskische, das in etwa dreizehntausend Inschriften überliefert ist. Da nahezu alle Texte Grabinschriften sind, kennen wir das Etruskische überwiegend aus Orts- und Personennamen und können somit diese Sprache noch keiner Sprachfamilie zuordnen.
10 Die Textmenge, die man für die Entzifferung eines verschlüsselten Textes mindestens braucht, kann man berechnen. S. dazu SHANNON 1949, 656-660.
11 VENTRIS 1953, 200.
12 In dieser Arbeit kann leider nur eine Auswahl beschrieben werden. Ausführlicheres bei HILLER 1978/79.
Häufig gestellte Fragen
Was ist der Inhalt dieses Dokuments?
Dieses Dokument ist eine Einführung in die Analyse und Entschlüsselung kretischer Schriften, insbesondere Linear A. Es behandelt die Geschichte der Entdeckung dieser Schriften, die bisherigen Erfolge bei der Entzifferung von Linear B und die vorgeschlagenen Methoden zur Entschlüsselung von Linear A. Das Dokument gliedert sich in Einführung, Methodik, Analyse und Schlussbemerkungen.
Welche kretischen Schriften werden erwähnt?
Die Schriften Kretas, die im Dokument erwähnt werden, sind: Hieroglyphisch (kretische Hieroglyphen), Linear A und Linear B.
Wer war Sir Arthur Evans und welche Bedeutung hatte er?
Sir Arthur Evans war ein Archäologe, der 1900 mit der Ausgrabung und Rekonstruktion der Stadt Knossos auf Kreta begann. Er entdeckte Tontafeln mit unbekannten Schriften und nannte diese "Minoisch". Er kategorisierte die Schriften als Hieroglyphisch, Linear A und Linear B.
Was ist Linear B und wer hat es entziffert?
Linear B ist eine der minoischen Schriften. Sie wurde 1953 von Michael Ventris entziffert. Die Sprache erwies sich als eine frühe Form des Griechischen, die als Mykenisch-Griechisch bezeichnet wird.
Warum ist die Entzifferung von Linear A schwierig?
Die Entzifferung von Linear A ist schwierig, weil die zugrunde liegende Sprache unbekannt ist. Obwohl viele Zeichen in Linear A und Linear B vorkommen, führen die Lautwerte, die für Linear B gefunden wurden, nicht direkt zu Wörtern, die mit einer bekannten Sprache identifiziert werden können.
Welche Methoden werden zur Entzifferung unbekannter Schriften vorgeschlagen?
Das Dokument schlägt eine Kombination aus Krypto-Analyse und linguistischer Analyse vor. Dies beinhaltet die Analyse der Zeichenhäufigkeit, der Textstruktur, der Zeichenpaare und der Morphologie. Es wird auch betont, dass die Analyse der Kontexte und Umstände, unter denen die Texte geschrieben wurden, wichtig ist.
Was sind die drei möglichen Situationen bei unentzifferten Schriften?
Die drei möglichen Situationen sind: (1) Die Schrift ist unbekannt, die Sprache bekannt; (2) die Schrift ist bekannt, die Sprache unbekannt; (3) die Schrift und die Sprache sind unbekannt.
Was ist der Unterschied zwischen einer unbekannten Schrift und einer Geheimschrift?
Eine Geheimschrift wird absichtlich so entwickelt, dass die Entzifferung schwierig oder unmöglich ist, während eine unbekannte Schrift nur zufällig rätselhaft ist.
Welche Techniken der Entzifferung werden im Dokument erwähnt?
Das Dokument zitiert Michael Ventris' dreiphasige Methode: (1) eine erschöpfende Analyse der Zeichen, Wörter und Kontexte; (2) eine experimentelle Substitution von phonetischen Werten; (3) eine entscheidende Überprüfung mit neuem Material.
Was sagt das Dokument über die Textrichtung von Linear A?
Basierend auf unvollständig beschriebenen Zeilen schließt das Dokument, dass die Textrichtung von Linear A von links nach rechts verläuft.
Was sagt das Dokument über das Schriftsystem von Linear A?
Das Dokument identifiziert Syllabogramme, Zahlen/metrologische Zeichen und Ideogramme in Linear A, was darauf hindeutet, dass es sich um ein syllabisches System mit ideographischen Elementen handeln könnte.
Was sind Ideogramme, Syllabogramme und alphabetische Zeichen?
Ideogramme repräsentieren ein Wort (oder einen Begriff), Syllabogramme repräsentieren eine Silbe und alphabetische Zeichen repräsentieren einen Buchstaben.
- Arbeit zitieren
- David Willem Borgdorff (Autor:in), 2003, Linear A und Methoden der Kryptoanalyse, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/108545