Embryonen als Personen? Der moralische Status von Embryonen


Hausarbeit (Hauptseminar), 2001

19 Seiten, Note: 2,0


Leseprobe


Inhalt

1 Einleitung

2 Der Begriff der Person

3 Embryonenforschung

4 Argumente contra Embryonenforschung

5 Argumente pro Embryonenforschung

6 Zusammenfassung und Ausblick

Literaturverzeichnis

1 Einleitung

Die Frage, ob bereits menschliche Embryonen unter den Schutz der Menschenwürde gestellt werden müssen, ist grundlegend neu. Sie stellt sich erst in einer Zeit, in der die technischen Möglichkeiten gegeben sind, die eine solche Frage überhaupt nötig machen. Wie so häufig wird die moralische Diskussion zu einem Zeitpunkt geführt, an dem handlungsanleitende Schlussfolgerungen der Debatte mit dem tatsächlichen Stand der Forschung nicht Schritt halten können. Außerdem scheint es besonders in Bezug auf das Thema Embryonenforschung eine Vielzahl von Moralvorstellungen zu geben, die in die Auseinandersetzung einfließen. Die Spanne der diskutierten Standpunkte reicht von der Forderung nach absolutem Schutz für Embryonen bis zu dem Anspruch, den Verbrauch von Embryonen zur Erforschung bestimmter Krankheiten zu gestatten. Noch hat keine Seite so überzeugende Argumente geliefert, dass die Diskussion zu einem Ziel gelangt wäre. Es ist sogar fraglich, ob man sich im Bereich der Bioethik in dieser Diskussion auf eine universalistische Moral, eine einzige ethische Grundlage, einigen kann. Nichtsdestotrotz besteht die Notwendigkeit, im Bereich der Biomedizin moralische Grenzen zu ziehen; in diesem Fall heißt das, die Frage nach dem moralischen Status von Embryonen zu klären. Dabei muss entschieden werden: Ist der Embryo eine Person im üblich Sinn und fällt somit unter den Schutz der Menschenwürde?

Zur Klärung dieser Frage wird zunächst der Personenbegriff beleuchtet, um eine grundlegende Definition des Termini „Person“ zu eruieren. Im Folgenden soll eine kurze Einführung in die medizinischen und rechtlichen Grundlagen der Embryonenforschung gegeben werden, um elementare Begriffe und Fakten zu veranschaulichen. Anschließend werden erst die Argumente gegen die Forschung an Embryonen dargestellt, im Anschluss wird auf die Erwiderung von Reinhard Merkel bzw. Bettina Schöne-Seifert eingegangen, die in der „Zeit“ eine Forschung an Embryonen propagiert haben. Zuletzt sollen die vorgebrachten Argumente beurteilen werden und zumindest der Versuch unternommen werden, eine Antwort auf die Frage nach dem moralischen Personenstatus von Embryonen zu finden.

2 Der Begriff der Person

Der Terminus der Person zählt zum Kernbereich der Philosophie. Für die Bestimmung des Begriffs spielen nicht nur ideologische oder theoretische Standpunkte eine Rolle, Einfluss nehmen auch historische bzw. kulturelle Entwicklungen. Der Begriff des Menschen beschreibt in erster Linie biologische Begebenheiten, die Bezeichnung „Person“ tritt eher als kulturelles Phänomen auf, jedoch ist die biologische Einheit von der kulturellen nicht ohne weiteres trennbar. Es erweist sich als kompliziert, die semantische Situation des Begriffs sowohl alltagssprachlich als auch in philosophischer Hinsicht klar zu umreißen. Die etymologische Herkunft von „Person“ bzw. „persona“ gilt als nicht endgültig geklärt; vermutlich aus dem Griechischen abgeleitet, entwickelten sich in der römischen Antike eine Vielzahl von Bedeutungsvariationen und semantischen Aufteilungen. „Persona“ lässt sich übersetzen mit „Rolle, Maske, Charakter“. Der Begriff „Person“ wird zu dieser Zeit folglich noch nicht mit philosophischer Bedeutung gefüllt, sondern tritt vor allem als Rollenbegriff im Theater oder als Funktionsbestimmung in Grammatik oder Rhetorik auf. Auch im römischen Recht wird mit dem Terminus noch kein Rechtssubjekt spezifiziert, sondern lediglich ein menschliches Individuum bezeichnet.

Im christlichen Denken wird der Terminus der Person in der Diskussion um die Trinitätslehre (tres personae - una substantia) mit metaphysischer Dignität verbunden, Personenstatus wird allein dem Göttlichen zugeschrieben. Erst später verliert die Personalität ihren ausschließlich theistischen Charakter und wird auch in der Alltagssprache definitorisch mit dem Begriff des vernünftigen Individuums in Beziehung gesetzt, so dass jeder Mensch als Person bezeichnet wird. „Die erste Definition der Person in einem philosophisch-theologischen Sinn stammt von Boethius (480-525); er versteht sie als ‘rationalis naturae individua substantia’, ... Diese Definition wurde in der folgenden Tradition allgemein geläufig.“ (Coreth, Was ist der Mensch: 165).

Mit Kant tritt die moralphilosophische Bedeutung des Begriffs der Person im 18. Jahrhundert in ein neues ethisches und politisches Stadium ein, das vor allem durch die ausdrückliche Formulierung der Menschenrechte gekennzeichnet ist. Kant begründet die Menschenrechte mit der Moralfähigkeit der menschlichen Person. Personalität wird als eine Eigenschaft definiert, die vernünftigen Individuen für den Großteil ihres Lebens zugesprochen werden muss. Für Kant sind Personen Zwecke an sich und dürfen niemals ausschließlich als Mittel gebraucht werden. „Die Person hat nämlich ein ontologisch begründetes Recht auf sich selbst, auf die Verfügung über alle ihre naturalen Kräfte und Fähigkeiten, seien sie leiblicher, psychischer oder geistiger Natur. (Hengstenberg, Philosophische Anthropologie: 339)

Anfang des 19. Jahrhunderts wird der Personenbegriff vor allem von Max Scheler geprägt. Für ihn ist Person das Aktzentrum, in dem Geist innerhalb endlicher Seinssphären erscheint. „Geist“ ermöglicht die Erfahrung des Wesens der Dinge, die Weltoffenheit des Menschen, die Fähigkeit des Selbstbewusstseins. Person ist reine Aktualität, die jeweils das Ganze der Persönlichkeit mit ins Spiel bringt und deshalb nie vergegenständlicht werden kann. Die Person wird begriffen als Seinseinheit verschiedener Akte (Fühlen, Denken, Wollen, Lieben). „Das Zentrum des Geistes, die „Person“, ist also weder gegenständliches noch dingliches Sein, sondern nur ein stetig sich selbst vollziehendes (wesenhaft bestimmtes) Ordnungsgefüge von Akten. Die Person ist nur in ihren Akten und durch sie.“ (Schüßler, 2000: 62)

Es lässt sich also festhalten, dass der Person Eigenschaften wie Vernunft, freier Wille, Selbstbewusstsein, Menschenwürde und ein Verhältnis zum Göttlichen zugeschrieben werden. Hinzu kommen ethische Verantwortung für ihre Handlungen sowie persönliche Rechte, beispielsweise Menschenrechte. Die Person erscheint als Gegensatz zum Tier oder Ding (griech. uosia, lat. res oder substantia). „Ding“ wird als Synonym für „Seiendes“, „Gegenstand“ oder „Objekt“ benutzt; im engeren Sinne als Synonym für „physischer Gegenstand“.

Als definitorische Problemfälle stellen sich Kinder, debile oder mental eingeschränkte Individuen dar. Sie werden zuweilen nicht als Person aufgefasst, sondern als Quasi-Personen. Dieser Neologismus versucht, einen moralischen und rechtlichen Status zu bezeichnen, „...der in unserer Begriffswelt in den verschiedensten Formen seit Jahrtausenden anerkannt wird. Einigen Gruppen menschlicher Wesen wurde eine Stellung eingeräumt, die anders und gewöhnlich niedriger ist als die vollentwickelter Personen, aber höher als die irgendwelcher anderer Tiere oder unbelebter Gegenstände.“ (Miller in Cavalieri/ Singer: 358). Quasipersonen sind folglich Individuen, welche keine Personen im vollen Sinne sind, aber mit einer Person so viel gemeinsam haben, dass ihnen gewisse Rechte und Pflichten zukommen. Im Fall von Säuglingen oder Kindern wird sogar besonderer Schutz wirksam, der vollgültigen Personen nicht zusteht, beispielsweise beim gesetzlichen Verbot der Kinderarbeit. Diese Status-Vielfalt lässt sich zu jeder Zeit und in vielen Kulturen beobachten. Kinder und geistig Behinderte als Quasipersonen sind in ihren Rechten und Pflichten auf verschiedenste Weise sowohl eingeschränkt als auch geschützt. Es existieren desweiteren auch Ansätze, nach denen auch höherstehenden Tieren, wie zum Beispiel Menschenaffen, Quasipersonen-Status zugeschrieben werden soll. Im allgemeinen durchläuft der Mensch in seiner Entwicklung verschieden Status-Stufen bis zur vollen Personalität. Wo genau jedoch die Grenze zwischen Personen, Quasipersonen und nicht personalem Ding gezogen werden soll, wird zurzeit noch kontrovers diskutiert.

Es stellt sich also nun in der Diskussion um die Embryonenforschung die Frage, ob man Embryonen Personenstatus zuweisen muss. Wenn Embryonen dem Begriff zugeordnet werden, verbietet sich jegliche Forschung an ihnen auch zum Nutzen der Allgemeinheit aus moralischen Gründen. Werden sie im Anfangsstadium ihrer Existenz noch nicht unter den Schutz des Personenbegriffs gestellt, ist die Einschränkung ihrer Schutzrechte denkbar. Die Nutzung zu Forschungszwecken ließe sich rechtfertigen, immer vorausgesetzt, das Ziel der Forschung wäre ethisch und moralisch hochrangig.

3 Embryonenforschung

Als Embryo (lat. embryo, griech. émbryon) bezeichnet man einen Keimling im Anfangsstadium seiner Entwicklung, d.h. jede Zelle oder Zellformation, die sich zu einem menschlichen Organismus entwickeln kann. Der menschliche Embryo entsteht aus der befruchteten Eizelle. Diese Keimzelle verdoppelt sich, so dass in einem kontinuierlichen Ablauf alle Zellen bis zu einem bestimmten Stadium immer weiter verdoppelt werden. Nach dem ersten Drittel der Schwangerschaft, am Ende der Organentwicklung, wird der Embryo dann als Fetus bezeichnet. Medizinische Experimente mit menschlichen Embryonen stehen hauptsächlich in Zusammenhang mit In-vitro-Fertilisation (IVF) und Präimplantationsdiagnostik (PID). Unter IVF versteht man die künstliche Befruchtung einer Eizelle außerhalb des menschlichen Körpers. Dabei werden Eizellen durch Punktation der Eierstöcke gewonnen und im Labor mit den Spermien befruchtet. Der wenige Tage alte Embryo wird im Vier- bis Achtzellenstadium in den Uterus der Mutter eingebracht, diese trägt das Kind bis zur Geburt aus. In der Humanmedizin wird die künstliche Befruchtung bei Paaren praktiziert, die auf herkömmlichem Weg keine Kinder bekommen können.

Bei der PID handelt es sich um die Untersuchung einer im Reagenzglas befruchteten menschlichen Eizelle auf ihre genetische Ausstattung, bevor sie in den Uterus implantiert wird. Dazu wird der frühe Embryo bis zu drei Tage in vitro kultiviert, um ihm dann in einem Stadium, in dem er aus 8 bis 16 Zellen besteht, ein bis zwei Zellen zu entnehmen. Diese werden genetisch untersucht. Stellt man genetische Abweichungen fest, wird der Embryo nicht eingepflanzt und man lässt ihn absterben. Ziel der Technik ist es, bei den Menschen, die Träger bestimmter Erbkrankheiten sind, die Vererbung dieser Krankheiten an ihre Kinder zu verhindern.

Die Forschung mit Embryonen wurde von Beginn an von vielen mit Skepsis verfolgt. Das mag zum großen Teil damit zusammenhängen, dass diese Forschung eine Neukonstruktion menschlichen Lebens verspricht, welche so bislang nicht möglich erschien. Die biologische Verfassung des Menschen stand bisher kaum zur Disposition. Der Mensch verändert zwar seine Umwelt durch technische Entwicklungen, Kultur oder Wissenschaft, aber die Modifikation der menschlichen Natur blieb bis zur heutigen Zeit eine Vorstellung der Literatur. Im Zuge der Embryonenforschung deutet sich die Verwirklichung von Zukunftsvisionen an: die Veränderung der Genstruktur, die Verbindung von Gehirn und Computer, die Korrigierbarkeit oder sogar Konstruktion der Erbanlagen unserer Kinder, ja sogar das Klonen von Menschen scheint in machbare Nähe zu rücken. „Die menschliche Zukunft wird unter dem Einfluss der Wissenschaft und Technik kontingent, d.h. sie kann auch anders sein, als sie gegenwärtig ist. Damit wird sie entscheidungsfähig und entscheidungsbedürftig. Selbst der Verzicht auf jeden Eingriff erscheint dann noch als ein bewusster Akt der Herstellung menschlicher Natur.“ (van den Daele, 1985: 12) Aus diesen Gründen ist es notwendig, moralische Grenzen zu ziehen, besonders dort, wo die technische Machbarkeit und der Wille zum Forschen alle moralische Erwägung hinter sich zu lassen scheint. Jedoch gibt es in moralischen Fragen keinen Konsens. Es existieren, sowohl in als auch zwischen den Gesellschaften, höchst unterschiedliche Auffassungen darüber, was im Umgang mit menschlichen Embryonen erlaubt sein soll. So wird mittlerweile die IVF von der deutschen Öffentlichkeit moralisch akzeptiert, auf Kritik stößt jedoch Forschung mit den so genannten „überzähligen“ Embryonen. Für die Prozedur der künstlichen Befruchtung werden in der Regel mehrere Embryonen erzeugt, die jedoch in bestimmten Ländern (beispielsweise in Großbritannien, Israel oder in den USA) nicht alle eingepflanzt werden. Die in vitro befruchteten Eizellen werden dann entweder eingefroren oder für weitere medizinische Forschung verwendet. Das 1990 verabschiedete deutsche Embryonenschutzgesetz verbietet allerdings „...nicht nur jedes Experimentieren bzw. ‘jegliche Verwendung menschlicher Embryonen zu fremdnützigen, d.h. nicht der Erhaltung des Embryos dienenden Zwecken’, sondern es fordert zugleich, dass bei einem IVF-Versuch maximal drei Eizellen befruchtet bzw. weiter kultiviert werden und dass alle dabei entstandenen Embryonen in die Gebärmutter zurückgeführt werden.“ (Lenzen, 1999: 177). Die Einfuhr „überzähliger“ Embryonen zu Forschungszwecken aus anderen Staaten ist jedoch bislang nicht gesetzeswidrig.

In der aktuellen Diskussion um die Embryonenforschung werden zahlreiche Standpunkte vertreten. Um die Grundlage der Debatte zu verdeutlichen, sollen zunächst kurz die unstrittigen Standpunkte dargelegt werden. Es existieren in der moralischen Bewertung des Embryos durchaus Übereinstimmungen zwischen den gegensätzlichen Parteien. Reproduktives Klonen mit dem Ziel, genetisch identische Individuen zu schaffen, wird von allen als moralisch unvertretbar angesehen. Außerdem ist man sich einig, Embryonen nicht über ein gewisses Stadium von ca. 14 Tagen hinaus in vitro zu entwickeln. Selbstverständlich sind auch wirtschaftliche Ziele und Standpunkte kein Thema der Debatte. Es ist unstrittig, dass menschliche Embryonen moralischen Status besitzen, sie stehen als Formen menschlichen Lebens unter moralischem Schutz. Es wird allerdings in Frage gestellt, ab welchem Zeitpunkt dieser Schutz gilt und ob er jede Instrumentalisierung für Forschungszwecke ausschließt, oder ob in gewissen Fällen Ausnahmen gemacht werden dürfen. Es stehen also die Vertreter des absoluten Schutzkonzepts, die jegliche Embryonenforschung als unmoralisch erachten, denjenigen gegenüber, die es für vertretbar halten, diesen Schutz unter bestimmten Bedingungen zu relativieren, den Embryo beispielsweise für die Bekämpfung von Krankheiten zu instrumentalisieren und ihn nur als graduell (nach Entwicklungsstadien abgestuft) schützenswürdig zu definieren. Es scheint auf diesem ethischem Neuland in moralischen Fragen keinen Konsens zu geben.

4 Argumente contra Embryonenforschung

In der aktuellen Debatte lassen sich bei den Argumenten gegen das Experimentieren mit menschlichen Embryonen zahlreiche Standpunkte ausmachen. Diese reichen von bloßen Mahnungen zur Vorsicht oder Sensibilität hinsichtlich der Forschung bis zur konsequenten Ablehnung jeglicher Art von Embryonenforschung. Es lassen sich vier Hauptargumente anführen, mit denen man den moralischen Status des Embryos als uneingeschränkten Träger der Menschenwürde begründen kann.

Der wohl wichtigste Sprecher gegen die Forschung an menschlichen Embryonen in der Debatte der „Zeit“ ist der Philosoph Robert Spaemann. Er sieht in der Embryonenforschung einen Verstoß gegen die Menschenwürde. Die Forschung an Menschen, die nicht ihrem eigenen Nutzen dient, sondern dem Nutzen anderer, ist ohne Einwilligung der betreffenden Personen unmoralisch. Nach Spaemann ist bereits der Embryo im Frühstadium ein vollwertiger Mensch, dem Rechte zugebilligt werden müssen. Dies wird von ihm ebenso gesetzlich wie auch moralisch begründet. So verstößt die Forschung an menschlichen Embryonen seiner Argumentation nach gegen den ersten Artikel des Deutschen Grundgesetzes ."Wo menschliches Leben existiert, kommt ihm Menschenwürde zu; es ist nicht entscheidend, ob der Träger sich dieser Würde bewusst ist und sie selbst zu wahren weiß. Die von Anfang an im menschlichen Sein angelegten potenziellen Fähigkeiten genügen, um die Menschenwürde zu begründen" (Urteile des BVG, Bd. 39,1, S.41)' " (Spaemann, Die Zeit: Nr. 04/2001) Es besteht die Verpflichtung, jedes menschliche Leben, also auch das des Embryos grundsätzlich zu schützen. Das deutsche Gesetz erkennt also bereits den Embryo im Frühstadium als potenziellen Menschen an.

Diese Potentialität ist das erste und wohl auch stärkste moralische Argument, welches von zahlreichen Gegnern der Embryonenforschung angeführt wird. Der Embryo ist zwar noch kein Mensch, der bestimmte Eigenschaften wie Selbstbewusstsein oder Vernunft aktuell besitzt, aber er ist als Person in Potentialität zu betrachten. Der Prozess seiner Entwicklung ist bereits in Gang gekommen, auch wenn sein aktueller Zustand noch keine Menschenwürde begründen würde, ist doch sein Status potentialis Grund genug, ihm Lebensrecht zuzugestehen. Menschen im Frühstadium ihrer Existenz sind nichtsdestotrotz Menschen, auch ihnen müssen folgerichtig dieselben Rechte eingeräumt werden. Vittorio Hösle, Paul-Kimball-Professor of Arts and Letter an der University of Notre Dame/ USA, bekräftigt dieses Potentialitätsargument, wenn er betont, dass fast alle Gesellschaften das Lebensrecht von Kindern anerkennen. Das lässt sich durch die Tatsache begründen, dass ein Kleinkind identisch ist mit dem späteren Erwachsenen, "...dass es potenziell jene Eigenschaften hat, die die Grundrechtsfähigkeit des Erwachsenen konstituieren." (Hösle, Die Zeit: Nr. 10/2001). Warum also, fragt Hösle, sollte man dem Embryo oder dem Fötus -als Kind in Potentialität- Rechte verweigern, die man dem Kind -als Erwachsener in Potentialität- zuspricht? Auch Thomas Assheuer, Redakteur der Zeit, definiert den Embryo als "...ein potenzielles, moralisches und damit schutzwürdiges Gegenüber;..." (Assheuer, Die Zeit: Nr. 11/2001). Er betont, der Embryo sei eine Person und somit auf keinen Fall als eine Sache, als ein Ding oder als irgendetwas zu betrachten, das man zu Forschungszwecken verbrauchen könne. Forschung an Personen, die dieser Forschung nicht zugestimmt haben, bzw. nicht zustimmen können, ist hochgradig unmoralisch. Denn die Eigenschaften, die der Embryo in Zukunft in sich vereinigen wird, sind genau die, die das allgemeine Menschenrecht auf Leben und Würde moralisch begründen. Ihn zu Forschungszecken zu verwenden hieße, seine Chance auf zukünftiges Leben zu zerstören.

Das zweite Argument, welches in Zusammenhang mit dem Potentialitätsargument steht, ist das unter anderem von Spaemann vorgebrachte Gattungsargument: für ihn existiert als einziges zulässiges Kriterium für menschliche Personalität die "...biologische Zugehörigkeit zur Menschheitsfamilie." (Spaemann, Die Zeit: Nr. 04/2001). Alle Mitglieder der Spezies Mensch, geboren oder ungeboren, im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte oder geistig behindert, körperlich gesund oder nicht, besitzen das gleiche Recht auf Personalität. Jedes Lebewesen, das einer Spezies angehört, zu dessen typischen Eigenschaften Vernunft, Selbstbewusstsein, Intelligenz etc. gehören, muss als Person definiert werden. Biologische Eigenschaften begründen das Menschsein, auch wenn der Embryo noch nicht menschenähnlich ist und im Moment seines Daseins auch noch keine menschlichen Fähigkeiten besitzt. Trotzdem ist er auf keinen Fall eine Sache und es ist nicht zulässig, ihn zum Nutzen einer anderen Person zu gebrauchen, denn es liegt in seiner Natur, dass er im Laufe seiner (normal verlaufenden) Entwicklung die typischen menschlichen Eigenschaften besitzen wird.

Das dritte Argumente weist auf die Identität des Embryos mit dem Menschen hin, der später daraus entstehen wird. Bereits mit der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle existieren alle biologischen Voraussetzungen für den späteren Menschen, die vollständige DNA ist bereits in dieser ursprünglichen Keimzelle angelegt. Der Beginn des zu schützenden Lebens muss dementsprechend bereits mit dem Zeitpunkt der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle festlegt werden. Der Embryo ist als Individuum biologisch unverwechselbar dasselbe wie als Fötus oder als Kind; infolgedessen „...ist auch die biologische Identität des Menschen programmiert.“ (Höffe, Die Zeit: Nr. 06/2001). Laut dieser Argumentation kann man keinen Unterschied zwischen dem biologischen Beginn des Lebens und dem ethischen machen, beide Punkte fallen auf einen Zeitpunkt zusammen: “Auf das Leben, das mit der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle beginnt, bezieht sich die Anerkennung und der Schutz: Dieser Zellhaufen ist mit der Personenwürde umkleidet, beglänzt, umleuchtet.“ (Bayer, Die Zeit: Nr. 01/2001).

Das Identitätsargument wird in Zusammenhang mit dem Kontinuumsargument noch deutlicher, welches besagt, dass der menschliche Entwicklungsprozess ein kontinuierlicher Vorgang ist, bei dem sich keine Einschnitte aufzeigen lassen. Der Lebens- und Würdeschutz muss von Beginn an gewährleistet sein, dementsprechend auch für den mehrzelligen Embryo gelten. Es erscheint als willkürliche Zäsur, andere biologische Abschnitte der menschlichen Entwicklung im Mutterleib als Beginn des menschlichen Lebens zu definieren. Der biologische und ethische Beginn des Lebens fallen auf einen Zeitpunkt zusammen und damit erübrigen sich Spekulationen über den Beginn des Menschseins; gleichsam mit der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle ist das Lebewesen als Mensch zu beurteilen. Wenn dem menschlichen Embryo nicht von Beginn an rechtlicher Schutz gewährt wird, ist es schwierig, einen späteren Zeitpunkt zu finden, der überzeugen kann.

5 Argumente pro Embryonenforschung

Die Befürworter der Emryonenforschung wollen eine Instrumentalisierung zu bestimmten Zecken und unter bestimmten Voraussetzungen durchsetzen. Es soll allerdings, wie bereits erwähnt, nur mit frühen Embryonen geforscht werden, die nicht über ein gewisses Stadium von 14 Tagen hinaus entwickelt sind; die Frage nach der Forschung mit weiter entwickelten Föten stellt sich selbstverständlich nicht. Die Fürsprecher bestreiten desweiteren nicht den moralischen Status von Embryonen; sie setzen allerdings das Lebensrecht des Embryos in Relation zum Lebensrecht des kranken Menschen, dem mithilfe der Embryonenforschung die Möglichkeit zur Bekämpfung bestimmter Krankheiten, beispielsweise Alzheimer, Parkinson und anderen, für die bis heute kein Heilmittel gefunden wurde, gegeben werden kann. Für sie stellen die Versuche, Menschenleben zu retten, ein Ziel von hohem moralischem Rang dar, welches die Nutzung von Embryonen rechtfertigt.

Bezüglich Spaemanns Argument, bereits dem Embryo müsse die Menschenwürde ohne Einschränkung zukommen, weist die Medizinerin und Philosophiedozentin Bettina Schöne-Seifert auf den unterschiedlichen Gebrauch des Begriffs der Menschenwürde hin: nach einer Definition beinhaltet Menschenwürde den kompromisslosen Schutz ihrer Träger um deren eigenen Subjektivität willen. Diese Bedeutung trifft laut Bundesverfassungsgericht bereits auf den einzelligen Embryo zu. Eine andere denkbare Definition relativiert das Lebensrecht des Embryos in Bezug auf die moralische Verpflichtung, Kranken zu helfen und propagiert die Forschung an Embryonen hinsichtlich dieses hochrangigen moralischen Grundes.

Einer der einflussreichsten Verfechter der Embryonenforschung ist Reinhard Merkel, der als Privatdozent für Strafrecht und Rechtsphilosophie in Saarbrücken arbeitet. In der „Zeit“ versucht er, die vier Argumente contra Embryonenforschung abzuschwächen bzw. zu widerlegen und somit Rechtfertigungsgründe für eine eingeschränkte Forschung zu finden. In Bezug auf Spaemann bestreitet er, dass Embryonen in der BRD das Recht auf Leben verfassungsmäßig zugesichert wird. Zwar ist der Staat laut Gesetzestext ausdrücklich dazu verpflichtet, jedes Leben, auch das des Embryos, zu schützen, und somit auch als logische Folge den Schwangerschaftsabbruch als Unrecht anzusehen und als rechtlich verboten zu handhaben. Durch das Abtreibungsgesetz jedoch, welches zwar beratene Schwangerschaftsabbrüche als rechtswidrig, jedoch straffrei definiert, ist der Schutz des Embryos quasi aufgehoben. Merkel führt an, dass „...in der zweiten Abtreibungsentscheidung von 1993 schon das BVerfG selbst den unmittelbar zuvor postulierten Grundrechtsstatus des Embryos sozusagen im nächsten Atemzug aufgehoben, methodisch gesprochen ‘derogiert’ hat, und dass die von dieser Derogation angeleitete Rechtspraxis ein Lebens- und Würdegrundrecht des Embryos definitiv nicht mehr kennt. ... Nach der Feststellung, indikationslose Abtreibungen seien wegen des Lebens- und Würdegrundrechts jedes einzelnen Embryos rechtswidrig, verpflichtet das BVerfG in vier rechtsverbindlichen Anordnungen den Staat sowohl zur Verhinderung jedes Schutzes für den mit dem Tod bedrohten Embryo als auch zur Gewährleistung jeder Hilfe für seine angeblich rechtswidrig handelnden Töter. Keine dieser Anordnungen ist konsistent mit einem Lebensgrundrecht des Embryos zu vereinbaren.“ (Merkel, Die Zeit: Nr. 25/2001). Merkel argumentiert desweiteren, dass der Schwangerschaftsabbruch, der zwar gesetzlich verboten ist, im Verlauf seiner als rechtmäßig behandelten Handhabung auch rechtmäßig wird. Denn rechtliche Normen existieren nur solange, wie auch für ihre Geltung und ihre Befolgung gesorgt ist; wenn die rechtliche Wirksamkeit fehlt, verlieren auch die entsprechenden Normen ihren Zweck. Wenn die Verantwortung für die Abtreibung allein der Schwangeren als Privatperson unterliegt, ist sie normativ Privatsache und deswegen an sich rechtmäßig.

Das Gattungsargument, welches besagt, dass der Embryo schon aufgrund der Zugehörigkeit zur Gattung Mensch ohne Einschränkung zu schützen sei, hält Merkel für nicht überzeugend. Er weist darauf hin, dass biologische Fakten als Begründung für moralische Normen nicht geltend gemacht werden können: dann „...wäre es im Übrigen unerfindlich, wie und warum die molekulare Mikrostruktur unserer DNA als solche, ein Stück Biologie, so etwas wie fundamentale Rechte soll begründen oder genießen können.“ (Merkel, Die Zeit: Nr. 05/2001). Desweiteren weist er darauf hin, dass man nicht einfach aus einer Tatsache eine Norm ableiten kann, er wirft Spaemann einen „naturalistischen Fehlschluss“ vor.

Gegen das Kontinuumsargument, das besagt, dass die menschliche Entwicklung als kontinuierlicher Vorgang keine willkürliche Zäsur zulässt, verweist Merkel auf den „sorites“, den Haufenschluss: wenn ein kleiner Mann 1,50 m groß ist und man fortlaufend einen Millimeter hinzufügt, bis man bei einem 2,50 m großen Mann angelangt ist, müsste es sich aufgrund der Tatsache, dass man ja immer nur einen Millimeter hinzugefügt hat, immer noch um einen kleinen Mann handeln. Die Zugabe von jeweils einem Millimeter stellt einen kontinuierlichen Vorgang ohne scharfen Einschnitt dar. Trotzdem kann man zwischen einem großen und einem kleinen Mann willkürfrei unterscheiden. Seiner Argumentation nach lassen sich folglich auch in einem kontinuierlichen Vorgang Einschnitte machen, die willkürfrei begründet werden können. Somit lässt sich mit Sicherheit auch in der Entwicklung des Embryos ein Einschnitt finden, bis zu dem man die Forschung rechtfertigen kann.

Das Identitätsargument beruht wiederum allein auf biologischen Grundlagen. Die Identität von Embryo und späterem Erwachsenen beruht auf dem genetischen Code des einen speziellen Menschen. „Denn zwischen einem nur unter dem Mikroskop erkennbaren Vier- oder Achtzellenwesen und einem geborenen Menschen lässt sich nur eine einzige Identitätsbeziehung feststellen: die der DNA, des individuellen Genoms.“ (Merkel, Die Zeit: Nr. 05/2001) Eine biologische Tatsache aber lässt sich, wie bereits im Gattungsargument dargestellt, nicht als Grundlage für eine moralische Norm heranziehen. Außerdem ist in diesem frühen Entwicklungsstadium (bis zu zwölf Zellen) immer noch natürliche Mehrlingsbildung möglich, so dass der Embryo noch nicht als Individuum zu betrachten ist und dementsprechend noch keine Rechte haben kann.

Das letzte und stärkste Argument gegen Forschung an Embryonen, das Potentialitätsargument, das den Embryo aufgrund seiner potentiellen Eigenschaften schützen will, versucht Merkel mit dem Hinweis auf Empfängnisverhütung zu widerlegen. Bereits in Ei- oder Samenzelle liegt seiner Meinung nach das Potential für den zukünftigen Menschen. Da es aus ethischer Sicht selbstverständlich nicht verboten sei, das Verschmelzen beider Zellen zu verhindern, die Befruchtung der Eizelle zu unterbinden und somit ein Potential an der Entwicklung zu hindern, wäre es inkonsequent, bei der Forschung an Embryonen mit anderen Maßstäben zu messen.

Um das Potentialitätsargument zu widerlegen, bemüht sich Bettina Schöne-Seifert, emotionale und moralische Assoziationen, die der Begriff „Embryo“ weckt, aus der Argumentation auszuschließen. Sie sieht in der Vorstellung, der Embryo sei schon „...ein Stück auf den Weg gekommen...“ (Schöne-Seifert, Die Zeit: Nr. 09/2001) keine Begründung für das Potentialitätsargument. Für sie gibt dieses Argument nur dem Gefühl Ausdruck, man habe es bei Embryonen schon mit seinesgleichen zu tun. Dieses Empfinden ist sicherlich gut, um gegen einen leichtfertigen Umgang mit Embryonen zu schützen, aber dennoch nicht mit Vernunft zu begründen. Bettina Schöne-Seifert weist darauf hin, dass man bereits jede Zelle oder Zellformation, die „...aus etwa hundert noch undifferenzierten Zellen,... kleiner als der Punkt, der diesen Satz beendet...“ besteht (Schöne-Seifert, Die Zeit: Nr. 09/2001), per Definition als Embryo bezeichnet. Die Menschenunähnlichkeit und die fehlende Empfindungsfähigkeit dieser Zellformation lässt das Solidaritätsgefühl verblassen und macht eine Abwägungsfrage zugunsten kranker Menschen sicherlich plausibler.

Auch der Hinweis, man dürfe natürliche Vorgänge nicht willkürlich unterbrechen oder verändern und somit die Zellformationen bereits im frühsten Stadium ihrer naturgemäßen Entwicklung überlassen, wird beim Blick auf unseren heutigen Umgang mit Technik hinfällig: „Die Annahme, Naturbelassenheit sei als solche wertvoll, haben wir bei der Fortpflanzung, der Bekämpfung von Elend und Krankheit, aber auch bei anderen Formen der Kultivierung unseres Lebens so entschieden verabschiedet, dass wir sie nicht an dieser Stelle ad hoc wieder aufleben lassen können.“ (Schöne-Seifert, Die Zeit: Nr. 09/2001)

6 Zusammenfassung und Ausblick

Um zu einem abschließenden Urteil und zu einer Beantwortung der Frage nach dem Personenstatus von Embryonen gelangen zu können, sollen die vorgebrachten Argumente pro und contra Embryonenforschung gegeneinander abgewogen und bewertet werden. Es ist indes festzustellen, dass es wohl in der moralischen Diskussion keinen Konsens geben wird, zu weit divergieren die Meinungen, um einen Kompromiss schließen zu können.

Spaemann beruft sich in seiner Argumentation auf das Grundgesetz der BRD, welches bereits dem Embryo absoluten Lebensschutz garantiert; Merkel weist darauf hin, dass im Blick auf den Abtreibungsparagraphen der eigentlich gesicherte Schutz des Embryos tatsächlich nicht in dieser Form gehandhabt wird. Nun lässt sich am Beispiel der Rechtslage der Abtreibung allerdings keine Begründung für die Embryonenforschung finden. Merkel widerlegt aber durchaus Spaemanns Argument, der Embryo sei zweifelsfrei bereits durch das Grundgesetz gesetzlich geschützt: „Denn ein ‘Grundrecht auf Leben und Würde’, das einer bestimmten Gruppe menschlicher Wesen auch nur für einen einzigen Typus von Konflikten generell entzogen wird, ist insgesamt keines. ... Es gibt keine Grundrechte zweiter Klasse.“ (Merkel, Die Zeit: Nr. 25/2001).

Ohne Frage muss man jedoch den Kompromiss des zwar unrechtmäßigen, aber dennoch straffreien Schwangerschaftsabbruch vor dem Hintergrund der sozialen Realität betrachten, denn den Embryo gegen den Willen der Mutter am Leben zu lassen, birgt weitere Probleme in sich. „Wenn es Abtreibungen bei Kurpfuschern oder in Nachbarländern mit einer anderen Rechtslage verhindern wollte, konnte das Bundesverfassungsgericht schwerlich ein Nothilferecht zugunsten der Embryonen akzeptieren, auch wenn es von ihrem grundsätzlichen Recht auf Leben überzeugt war. Nun kann man wohl sagen, dass der Kompromiss ein fauler war, aber das kann Merkel nicht das Recht geben, die Prinzipien der Entscheidung einfach vom Tische zu wischen.“ (Hösle, Die Zeit: Nr. 10/2001)

Als Argumentationsgrundlage das Gesetz der BRD zu Rate zu ziehen, erweist sich aufgrund der angeführten Unsicherheiten dementsprechend als nicht sehr hilfreich.

Auch das Gattungsargument, welches den Embryonen allein wegen biologischer Zugehörigkeit zur Menschheitsfamilie bestimmte Rechte zubilligen will, erscheint mir wenig plausibel. Es wirft die Frage auf, mit welcher Begründung man die Grenze der Personalität an der Familie „Mensch“ ziehen darf. Es wird mittlerweile diskutiert, nichtmenschlichen Lebewesen, z.B. Menschenaffen wie Gorillas, Schimpansen etc., Menschenrechte zu gewähren, weil es als sicher gilt, dass diese Tiere zu Selbstbewusstsein, Kommunikation, abstraktem Denken und ähnlichem fähig sind. Wenn also nichtmenschliche Lebewesen Fähigkeiten aufweisen, die denen menschlicher Kinder oder geistig Behinderter ähnlich sind, und mit denen sie laut Definition dem Begriff der „Person“ zugeordnet werden können, muss man sie konsequenterweise ebenfalls wie menschliche Personen behandeln und ihnen gewisse Rechte zusichern. In diesem Zusammenhang erscheint es als menschliche Arroganz, allein die Gattung Mensch als Begründung für moralische Rechte und Lebensschutz von Personen heranzuziehen. In diesem Fall ist Merkel zuzustimmen, der darauf verweist, dass biologische Fakten keine moralischen Rechte begründen können.

Das Identitätsargument, welches die Individualität des Menschen zum Zeitpunkt der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle festlegt, lässt sich auf naturwissenschaftlicher Basis plausibel widerlegen: die totiponteten Zellen des frühen Embryonenstadiums (bis ca. 14 Zellen) sind noch zur Mehrlingsbildung fähig und damit nicht als ein einziges Individuum zu betrachten. Außerdem ist der Prozentsatz der befruchteten Eizellen, die auch ohne Eingriff von außen absterben, relativ hoch. Auch Georg Scherer weist das Identitätsargument als unplausibel zurück: “Es ist unmöglich, dass ein Individuum sich teilt. Dieses widerspricht nicht nur dem Wortsinne von Individuum, sondern allen möglichen ontologischen Aussagen über die Individualität als Einheit und Ganzheit des lebendigen Seienden,... Darum kann die Individualisierung frühestens in dem Zeitpunkt erfolgen, in welchem keine Mehrlingsbildung mehr möglich ist. Dies entspricht dem Abschluss der Implantationsphase des Keimes.“

Außerdem ist darauf hinzuweisen, dass, auch wenn die befruchtete Eizelle das gesamte genetische Programm enthält, dieses Programm noch nicht der Mensch ist. Der Embryo in dieser frühen Entwicklungsphase besitzt keine der menschlichen Eigenschaften wie Vernunft, Bewusstsein oder Empfindungen, welche den Menschen ausmachen.

Merkels Versuch, das Kontinuumsargument zu widerlegen, ist zweifellos in sich nicht schlüssig. Zwar handelt es sich bei dem Sorites um einen Fehlschluss: „...(wenn hundert Steine ein Haufen sind, dann auch 99, dann aber auch 98 und so weiter, bis zu einem einzigen Stein)...“ (Hösle, Die Zeit: Nr. 10/2001), aber mit diesem Fehlschluss lassen sich zwei entgegengesetzte Aussagen beweisen: die Aussage, 100 Steine seien ein Haufen bzw. seien es nicht. Das von Merkel gewählte Beispiel des großen bzw. kleinen Mannes bietet keine Rechtfertigung für einen Einschnitt in der Embryonenentwicklung ohne Willkür, da die Größenverhältnisse einen relativen Wert darstellen. Menschenwürde hingegen ist keine relative, sondern eine absolute Größe und lässt sich somit auch nicht willkürlich verleihen.

Das Potentialitätsargument stellt sich als letztes und einziges Argument dar, welches den moralischen Status von Embryonen offensichtlich begründen kann. Auch wenn der aktuelle Status und die momentane fehlende Empfindungsfähigkeit und Menschenunähnlichkeit des Embryos noch keine Menschenwürde begründet, muss man ihn doch als mögliche Person betrachten. Die Argumente Bettina Schöne-Seiferts, die jegliche emotionale Beeinflussung der Debatte ausschließen will, legen allein die biologische Beschaffenheit von Embryonen zugrunde. Aus biologischer Sicht stellt sich der Embryo natürlich nur als „Zellhaufen“ dar, aber biologische Tatsachenbeschreibungen können nicht als einzige Grundlage für ethische Schlussfolgerungen reichen. Auch Merkels Versuch, bereits in die Eizelle bzw. die Samenzelle allein das Potential des Menschen hineinzulegen, erscheint weder aus biologischer noch aus ethischer Sicht als sinnvoll. Dem Embryo muss aus Gründen seiner Potentialität zumindest als vorpersonales Lebewesen ein Schutzrecht zugewiesen werden.

Man muss sich allerdings dennoch die Frage stellen, ob die Rechte vorpersonaler Embryonen gleichzusetzen sind mit den Rechten aktueller Personen. Wenn durch Embryonenforschung wichtige medizinische Kenntnisse zu gewinnen wären, die auf andere Weise nicht zu erhalten sind, erscheint die ausnahmslose Verteidigung embryonaler Grundrechte in Hinblick auf das Leiden von Menschen als eine Unterlassung möglicher Hilfe. Die medizinische Versorgung und Behandlung von Personen, von empfindungsfähigen, bewusst erlebenden Menschen stellt eine moralisch höherrangige Pflicht dar, als der Schutz vorpersonaler Embryonen. Allerdings darf dabei nicht der uneingeschränkten Instrumentalisierung menschlicher Embryonen Tür und Tor geöffnet werden. Es wäre trotz aller moralischer Bedenken demzufolge eine kontrollierte Forschung an embryonalen Zellen durchaus zu bejahen, immer gesetzt den Fall, dass die Ziele sich moralisch rechtfertigen lassen. Auch vor dem Hintergrund der natürlichen Mehrlingbildung, die bis zum Abschluss der Implantationsphase des Embryos möglich ist und die eine absolute Individualität und somit auch Personalität ausschließt, ist die Forschung an Embryonen bis zu einem Stadium von 14 Zellen, wie es beispielsweise bereits in England praktiziert wird, als eine Möglichkeit, leidenden Menschen zu helfen, zu akzeptieren.

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Ende der Leseprobe aus 19 Seiten

Details

Titel
Embryonen als Personen? Der moralische Status von Embryonen
Hochschule
Universität Duisburg-Essen
Veranstaltung
Hauptseminar
Note
2,0
Autor
Jahr
2001
Seiten
19
Katalognummer
V108687
ISBN (eBook)
9783640068821
ISBN (Buch)
9783656693246
Dateigröße
459 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Schlagworte
Moralischer, Status, Embryonen, Hauptseminar
Arbeit zitieren
Kerstin Reichwaldt (Autor:in), 2001, Embryonen als Personen? Der moralische Status von Embryonen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/108687

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