Inhalt
1) Einleitung
2) Die Wirkungsintentionen
2.1) Livius’ didaktische Absichten
2.2) Die Ziele Lessings
3) Lessings Adaption des Virginia-Stoffes
3.1) Lessings Variation der Virginia-Legende und deren Intention
3.1.1) Odoardo
3.1.2) Prinz Hettore Gonzaga
4) Die Begegnung in der Kirche und die Folgen
5) Schlussbetrachtung
6) Literatur
1) Einleitung
Lessing brachte mit seinem Trauerspiel „Emilia Galotti“ kein Drama auf die Bühne, das einen völlig neuen Inhalt hatte. Vielmehr lehnte er die Handlung an die antike Virginia-Legende an, in der eine Jungfrau um der Tugend willen vom eigenen Vater ermordet wird.
Auch war Lessing nicht der erste Autor, der den Virginia-Stoff dramatisierte, dies haben vor ihm bereits andere Autoren getan.[1] Lessing bediente sich auch teilweise an diesen Verarbeitungen.
„Wichtiger bleibt freilich, daß Lessing nicht nur von Quellen und Anregungen lebte [...], sondern daß er u.a. daraus aufgrund seiner Kreativität ein neues Ganzes schuf.“[2]
Dieses Zitat drückt aus, dass Lessing trotz der Anregungen aus vorhergehenden Adaptionen ein eigenständiges Stück geschaffen hat, das seine ganz persönliche Handschrift trägt und kein Strickmuster aus anderen Werken ist.
Besonders deutlich wird dies am Ende des Stückes, das, im Gegensatz zum Ursprungsstoff und zu von den erwähnten dramatischen Adaptionen, auf den Umsturz des politischen Status Quo verzichtet. „Den entscheidenden Eingriff in den Stoff unternahm Lessing, als er die Auslösung des Aufstandes wegließ.“[3]
In dieser Arbeit soll ein Vergleich der Wirkungsintentionen der Virginia-Legende[4] und Lessings wirkungsästhetischer Absicht des Trauerspiels, die aus dem Briefwechsel über das Trauerspiel und der Hamburgischen Dramaturgie zu entnehmen ist, angestellt werden.
Anhand der herausgearbeiteten Erkenntnisse soll das Stück dann durchleuchtet werden, um die Anlage der Charaktere des Odoardo und des Prinzen zu klären, auf die Wichtigkeit des Treffens von Prinz und Emilia in der Kirche hinzuweisen, wovon im Stück lediglich berichtet wird.
Ziel der Untersuchung ist es, durch diese Schritte Lessings Wirkungsabsichten und seine Mittel zu deren Umsetzung herauszuarbeiten.
2) Die Wirkungsintentionen
2.1) Livius’ didaktische Absichten
Die Versionen der Geschichten der Lucretia und der Virginia, die wir bei Titus Livius in seinem Geschichtswerk Ab urbe condita [5] lesen, sind keine genauen Wiedergaben historisch belegter Vorgänge. In beiden von ihm aufgeschriebenen Legenden wird ein gleiches Motiv verwendet, der Tod um der Tugend willen. Livius weist selbst auf diesen Sachverhalt hin, wie schon Hellmuth Petriconi feststellte.[6]
Die Legenden gehörten „zum festen Bestand römischer Erzählungen.“[7] Sie wurden zu dieser Zeit viel erzählt und von mehreren antiken Autoren verarbeitet.[8]
Daß die Geschichte in augusteischer Zeit gern wiedererzählt wurde, hat vermutlich damit zu tun, daß mit dem Ende der Bürgerkriege und der Begründung einer neuen politischen Ordnung der Bedarf an Gründungsgeschichten wuchs.[9]
Somit ist also einerseits klar, dass Livius allgemein Bekanntes verarbeitete, um der Forderung nach Gründungsgeschichten nachzukommen. Andererseits stellt sich die Frage, ob diese Geschichten und Legenden noch weitere Funktionen erfüllen sollten . Petriconi beschreibt die Funktion der Geschichten des Lucretia- oder Virginia-Typs folgendermaßen:
In allen diesen Überlieferungen wird ein politischer Umsturz [...] damit motiviert, daß der jeweilige Machthaber oder wer an seiner Stelle steht eine Frau entehrt und die darauf folgende Katastrophe durch einen Akt persönlicher Rache der Beleidigten oder ihrer Angehörigen herbeigeführt wird. Das ist ein zu allen Zeiten gültiges poetisches Verfahren, politische Vorgänge sind zunächst uninteressant, will man dafür menschliche Teilnahme wecken, so müssen auch menschliche Empfindungen und womöglich sexuelle Motive den Anlass bilden.[10]
Titus Livius sah den zentralen Aspekt seiner Geschichtsschreibung also nicht in der genauen Wiedergabe dessen, was sich wirklich ereignet hatte, sondern seine eigene wie die Geschichtsschreibung zu seiner Zeit überhaupt war auf politisches Wirken ausgerichtet und galt selbst schon als politische Tat, wie aus den beiden oberen Zitaten zu entnehmen ist.
Darauf [...] soll mir jeder scharf sein Augenmerk richten, wie das Leben, wie die Sitten gewesen sind, durch was für Männer und durch welche Eigenschaften zu Hause und im Krieg die Herrschaft geschaffen und vergrößert wurde; dann soll er verfolgen, wie mit dem allmählichen Nachlassen der Zucht und Ordnung die Sitten zunächst gleichsam absanken, wie sie mehr und mehr abglitten und dann jäh zu stürzen begannen, bis es zu unseren Zeiten gekommen ist.[11]
Für Livius gab es demnach keine Trennung zwischen privater Tugendhaftigkeit und öffentlicher Moral. Seine didaktische Absicht bestand somit darin, den Menschen aufzuzeigen, dass die eigene Haltung maßgeblich mit zu ihrem Glück und Unglück führt. Da Tugend nicht angeboren ist, sondern durch Erziehung und soziales Umfeld erworben wird, gilt es, sie ständig zu überprüfen und zu erneuern. Die Erzählungen in seinem Geschichtswerk sollten den Menschen sowohl die moralisch integren als auch die verwerflichen Handlungen aufzeigen und somit Mitgefühl wecken. Sie dienten als moralischer Leitfaden.
Bei Livius stand der Staat im Mittelpunkt. Die Leser sollten animiert werden, um des Staates und so des allgemeinen Wohls willen gegen ungerechte Verhältnisse wie Tyrannei und Machtmissbrauch zu rebellieren. Seine Bearbeitungen des Lucretia-Stoffes und der Virginia-Legende sind beispielhaft für diese Zielsetzung.
2.2) Die Ziele Lessings
Auch Lessing verbindet mit dem Trauerspiel ein Ziel, das über das Vergnügen während des Zuschauens oder Lesens hinausgeht. Er sieht seine Aufgabe darin, mittels des Dramas einen moralischen Einfluss auszuüben, der dem Rezipienten auch nach Beendigung des Stückes in Erinnerung bleibt, ihn beeinflusst.
Der zentrale, die Wirkungsästhetik des Trauerspiels prägende Begriff für Lessing ist der des Mitleids, mit dessen Hilfe dieser bleibende Eindruck geschaffen werden soll. Um dieses Mitleid beim Zuschauer und Leser zu erzeugen, müssen die Charaktere so angelegt sein, dass sie passiv mitleidfähig sind. Dies bedeutet, dass bei ihnen nicht Amt, Titel oder Rang im Vordergrund stehen, denn:
Das Unglück derjenigen, deren Umstände den unsrigen am nächsten kommen, muß natürlicher Weise am tiefsten in unsere Seele dringen; und wenn wir mit Königen Mitleiden haben, so haben wir es mit ihnen als mit Menschen, und nicht als mit Königen. Macht ihr Stand schon öfters ihre Urteile wichtiger, so macht er sie darum nicht interessanter. Immerhin mögen ganze Völker darin verwickelt werden; unsere Sympathie erfordert einen einzelnen Gegenstand, und ein Staat ist ein viel zu abstrakter Begriff für unsere Empfindungen.[12]
Die Personen im Stück und ihre Handlungen und Schicksale müssen für das Publikum nachzuempfinden sein. Eben dieses Nachempfinden provoziert bei ihm das erwünschte Mitleid, welches sich, so Lessing, nun umwandelt in
[...] Furcht, welche aus unserer Ähnlichkeit mit der leidenden Person für uns selbst entspringt; es ist die Furcht, daß die Unglücksfälle, die wir über diese verhänget sehen, uns selbst treffen können; es ist die Furcht, daß wir der bemitleidete Gegenstand selbst werden können. Mit einem Worte: diese Furcht ist das auf uns selbst bezogene Mitleid.[13]
Es ist diese Furcht, die nach dem Stück erhalten bleibt, sie tritt an die Stelle des Mitleids, das während des Stückes mit den handelnden Personen empfunden wurde.
Sobald die Tragödie aus ist, höret unser Mitleid auf, und nichts bleibt von allen den empfundenen Regungen in uns zurück, als die wahrscheinliche Furcht, die uns das bemitleidete Übel für uns selbst schöpfen lassen.[14]
Dieser Mechanismus tritt allerdings nicht ein, wenn die Charaktere in einem Trauerspiel zu heroisch gezeichnet sind. Nach Lessing stellt sich dann zwar Bewunderung ein, jedoch keine Affekterregung, denn diesem Heroismus eifert man nicht nach.[15] Die Charaktere müssen so angelegt sein, dass sie Mitleid erweckend sind. Dabei greift Lessing die Argumentation Aristoteles’ auf, der behauptet habe:
[...] der Held eines Trauerspiels müsse ein Mittelcharakter sein; er müsse nicht allzu lasterhaft und auch nicht allzu tugendhaft sein; wäre er allzu lasterhaft, und verdiente sein Unglück durch seine Verbrechen, so könnten wir kein Mitleid mit ihm haben; wäre er aber allzu tugendhaft, und würde er dennoch unglücklich, so verwandle sich das Mitleiden in Entsetzen und Abscheu.[16]
Das Trauerspiel muss mittels dieser ‚mittleren Helden’[17] Mitleid hervorrufen, um den Menschen zu gesellschaftlichen Tugenden zu animieren. Lessings drückt dies wie folgt aus:
„[...] [d]er mitleidigste Mensch ist der beste Mensch, zu allen gesellschaftlichen Tugenden, zu allen Arten der Großmuth der aufgelegteste. Wer uns also mitleidig macht, macht uns besser und tugendhafter [...]“[18].
Über das Mitleiden empfindet der Rezipient Nähe zu den auftretenden Personen und gezeigten Situationen. Die oben beschriebene anhaltende Furcht bewirkt eine Katharsis[19] in ihm. Diese motiviert ihn zu zuverlässigem und solidarischem Verhalten in der Gesellschaft.
3) Lessings Adaption des Virginia-Stoffes
Lessing verarbeitete in seinem Trauerspiel „Emilia Galotti“ den Virginia-Stoff, der, wie bereits anfangs erwähnt, aus der römischen Geschichtsschreibung, u.a. von Livius, bekannt ist.
Folgende Fragen werden untersucht:
Wie hat er den Stoff verarbeitet?
Wird aus der unterschiedlichen Verarbeitung eine von Livius abweichende, erwünschte Wirkung auf den Rezipienten deutlich?
Worin also liegen die Unterschiede im wirkungsästhetischen Anspruch Livius’ und Lessings?
Ein bekanntes Zitat Lessings gibt einen ersten Eindruck von seinen Absichten bei der Einarbeitung des Virginia-Stoffes in das Stück, das zu diesem Zeitpunkt noch im Entstehen war.
Sein jetziges Sujet ist eine bürgerliche Virginia, der er den Titel »Emilia Galotti« gegeben. Er hat nehmlich die Geschichte der römischen Virginia von allem dem abgesondert, was sie für den ganzen Staat interessant machte; er hat geglaubt, daß das Schicksal einer Tochter, die von ihrem Vater umgebracht wird, dem ihre Tugend werther ist, als ihr Leben, für sich schon tragisch genug und fähig genug sey, die ganze Seele zu erschüttern, wenn auch gleich kein Umsturz der ganzen Staatsverfassung darauf folgte.[20]
Die zunächst auffälligste Veränderung der Adaption von Livius besteht in der Dramatisierung des Stoffes, der ihm als Prosatext vorlag. Er wandelte die historische Darstellung Livius’ in ein Trauerspiel um. Weitere Veränderungen betreffen den Inhalt des Textes, deren deutlichste im Zitat erwähnt wird: Lessing beendet sein Stück mit der Bluttat des Vaters, er klammert den politischen Umsturz aus.
Dieser massive Unterschied macht sehr deutlich, dass Lessing sehr wohl eine andere Wirkung von seinem Stück erwartete, als es Livius tat. Zwar verbinden beide eine moralische Pflicht mit ihren Werken, doch ist diese, wie im Verlauf dieser Arbeit noch aufgezeigt wird, unterschiedlich definiert.
Die Personen, die in der Legende auftreten, hat Lessing weitgehend übernommen.
Im antiken Bericht findet sich der mächtige Verführer Appius, bei Lessing der Prinz, und sein verlogener Helfer Marcus Claudius, bei Lessing Marinelli, die Tochter Virginia, bei Lessing Emilia, deren Vater Virginius, bei Lessing Odoardo, und ihr Verlobter Icilius, bei Lessing Appiani.[21]
Lessing ließ jedoch nicht nur die bekannten Charaktere auftreten, er schuf auch zwei neue, die der Mutter Emilias, Claudia, und die der verlassenen Geliebten, Orsina.
Aber auch die übernommenen Figuren sind bei Lessing anders als sie es bei Livius waren. Es gibt bei ihm, bis auf den Marinelli, keine eindimensionalen Charaktere, d.h. keine ausnahmslos positiven oder negativen Figuren. Im Sinne seiner bereits erwähnten Auffassung, dass die Charaktere als ‚mittlere Helden’ angelegt sein müssen, gibt es weder den Tugendhelden, noch den Tyrannen, den Despoten.
Neben diesen Veränderungen fallen weitere auf, beispielsweise die Verlegung der Handlung aus der Antike in die frühe Neuzeit, aus Rom nach Norditalien.
In den folgenden Kapiteln wird untersucht, welche Zielsetzungen Lessing mit diesen Änderungen verbindet, welche Aussagen des Stückes durch die Variationen deutlich werden.
3.1) Lessings Variation der Virginia-Legende und deren Intention
In der Legende rückt durch den Schluss die Pflicht des Bürgers in den Vordergrund, gegen Tyrannei und Willkürherrschaft vorzugehen. Er betont die Konsequenz für den Staat, dessen Machthaber direkt für ihre Taten verantwortlich und somit nicht mehr tragbar sind.
Wie in Teil 1.2) aufgezeigt, richtet sich das Interesse Lessings nicht direkt auf staatlich relevante Konsequenzen. Bei ihm steht das Individuum im Vordergrund, über dessen Beeinflussung ist ihm zufolge eine Besserung möglich, von der wiederum die gesamte Gesellschaft profitiert.
Um Lessings Zielsetzung, die er mit der Dramatisierung des Stoffes verband, näher zu kommen, wird deshalb die Entwicklung der Charaktere im Verlauf der Handlung bis zur Tötung der Emilia, also von Beginn bis zum Ende, betrachtet.
3.1.1) Odoardo
Odoardo Galotti gilt den anderen Personen des Dramas als ein Mann der Tugend. Selbst die Person, in der Odoardo seinen Feind sieht[22], Prinz Hettore Gonzaga, erkennt ihn als einen guten Menschen an, wie er dem Maler Conti gegenüber äußert: „Auch ich kenn’ ihren [Emilias] Vater. Er ist mein Freund nicht. Er war es, der sich meinen Ansprüchen auf Sabionetta am meisten widersetzte. – Ein alter Degen; stolz und rau; sonst bieder und gut! -“[23] Sein künftiger Schwiegersohn Appiani verehrt ihn offen wegen seiner Tugendhaftigkeit. Er sieht in Odoardo ein Vorbild; er erweckt in Appiani die Motivation selbst tugendhaft zu sein.
Eben habe ich mich aus seinen Armen gerissen: - oder vielmehr, er sich aus meinen. – Welch ein Mann, meine Emilia, Ihr Vater! Das Muster aller männlichen Tugend! Zu was für Gesinnungen erhebt sich meine Seele in seiner Gegenwart. Nie ist mein Entschluß, immer gut und edel zu sein, lebendiger, als wenn ich ihn sehe – wenn ich ihn mir denke.[24]
Odoardo selbst wohnt nicht bei seiner Frau und seinem Kind in der Stadt Guastalla. Er zieht das zurückgezogene Leben auf dem Land, wo es nicht „das Geräusch und die Zerstreuung der Welt“[25] gibt, dem Leben in der Stadt vor. Odoardo verbindet mit der Stadt Laster und Übel, Eitelkeiten und Unehrlichkeiten.
Nun haben sie [Graf Appiani und Emilia] sich gefunden, die für einander bestimmt waren: nun laß sie ziehen, wohin Unschuld und Ruhe sie rufen. – Was sollte der Graf hier? Sich bücken, schmeicheln und kriechen, und die Marinellis auszustechen versuchen? um endlich ein Glück zu machen, dessen er nicht bedarf? um endlich einer Ehre gewürdiget zu werden, die für ihn keine wäre?[26]
Odoardo lebt auf dem Lande, um sich den hier angesprochenen Machtspielen und Unaufrichtigkeiten zu entziehen und ein tugendhaftes Leben zu führen.
Ist Odoardo wirklich ein so durch und durch guter Mann? Bevor man für eine Antwort auf diese Frage in den Text selbst schaut, kann sie schon Lessings Theorie des ‚mittleren Helden’ entnommen werden: Ein eindeutig gut gezeichneter Charakter entspricht nicht Lessings Theorie des Trauerspiels. So ergibt sich die nächste Frage: Was sind Odoardos ‚dunkle Seiten’?
Schon der erste Auftritt Odoardos gibt Auskunft:
Odoardo: Guten Morgen, meine Liebe! – Nicht wahr, das heißt überraschen?
Claudia: Und auf die angenehmste Art! – Wenn es anders nur eine Überraschung sein soll.
Odoardo: Nichts weiter! Sei unbesorgt. – Das Glück des heutigen Tages weckte mich so früh; der Morgen war so schön; der Weg ist so kurz; ich vermutete euch hier so geschäftig! – Wie leicht vergessen sie etwas; fiel mir ein. - Mit einem Worte: ich komme, und sehe, und kehre sogleich wieder zurück.[27]
Odoardos Vertrauen in seine Frau ist nicht über alle Zweifel erhaben. Gibt er zunächst vor, sein Besuch sei weiter nichts als eine Überraschung, so stellt sich in dessen Verlauf heraus, dass dies nicht der einzige Grund seines Erscheinens ist. Vielmehr will er nach dem Rechten sehen, kontrollieren, ob seine Frau die Vorbereitungen für das Hochzeitsfest richtig angeht.
Als er erfährt, dass Emilia allein in die Kirche gegangen ist, wird sofort sein Misstrauen geweckt.
Odoardo: Ganz alleine?
Claudia: Die wenigen Schritte - -
Odoardo: Einer ist genug zu einem Fehltritt![28]
Da Emilia in der Kirche tatsächlich auf den Prinzen trifft, der ihr seine Liebe gesteht, könnte man Odoardos Misstrauen als berechtigt ansehen. Doch wieso bleibt er nicht, um Emilia noch zu treffen und sich ein Bild zu machen? Stattdessen reist er im Zorn über seine Frau und den Prinzen ab. Somit ist er im Augenblick der Widerankunft der verwirrten Emilia abwesend.
Diese zwei Ausschnitte aus Odoardos erstem Auftritt lassen erkennen, dass er kein Mann ist, der anderen Personen vertraut. Nicht einmal den Mitgliedern seiner Familie bringt er Vertrauen entgegen.
Eine Aussage Claudias bestätigt diesen Eindruck: „Welch ein Mann! – O, der rauen Tugend! – wenn anders sie diesen Namen verdienet. – Alles scheint ihr verdächtig, alles strafbar!“[29]
Es ist auch eine Äußerung seiner Frau Claudia im Gespräch mit Emilia, die auf eine negative Seite Odoardos hinweist.
Ha, du kennest deinen Vater nicht! In diesem Zorne hätt’ er den unschuldigen Gegenstand des Verbrechens mit dem Verbrechen selbst verwechselt. In seiner Wut hätt’ ich ihm geschienen das veranlasst zu haben, was ich weder verhindern noch vorhersehen können.[30]
Claudia macht deutlich, dass Odoardo keineswegs immer ein ruhiger, bedachter Mann ist. Kurz vorher hat sie Odoardos Reaktion erlebt, als sie ihm erzählte, dass der Prinz sich gegenüber Emilia „so gnädig“[31] verhielt.
Claudia: Denn hab’ ich Dir schon gesagt, daß der Prinz unsere Tochter gesehen hat?
Odoardo: Der Prinz? Und wo das?
Claudia: In der letzten Vegghia, bei dem Kanzler Grimaldi, die er mit seiner Gegenwart beehrte. Er
zeigte sich gegen sie so gnädig - -
Odoardo: So gnädig?
Claudia: Er unterhielt sich mit ihr so lange - -
Odoardo: Unterhielt sich mit ihr?
Claudia: Schien von ihrer Munterkeit und ihrem Witze so bezaubert - -
Odoardo: So bezaubert?
Claudia: Hat von ihrer Schönheit mit so vielen Lobeserhebungen gesprochen - -
Odoardo: Lobeserhebungen? Und das alles erzählst du mir in einem Tone der Entzückung? O Claudia!
eitle, törichte Mutter!
Claudia: Wieso?
Odoardo: Nun gut, nun gut! Auch das ist so abgelaufen. – Ha! wenn ich mir einbilde – Das gerade
wäre der Ort, wo ich am tödlichsten zu verwunden bin! – Ein Wollüstling der bewundert, begehrt.[32]
Hier wird klar, dass Odoardo ein Mann ist, der im Zorn seine Urteilskraft verliert und nicht mehr differenzieren kann – ein Charakteristikum, dass nicht dem eines Tugendhelden entspricht.
Nachdem Claudia ihm von dem Aufeinandertreffen des Prinzen und Emilias erzählt hat, wähnt sich Odoardo als Opfer einer Intrige. Er sieht die „Lobeserhebungen“ des Prinzen über Emilia als Angriff auf sich selbst, seinen verwundbarsten Punkt. Er geht davon aus, dass der Prinz ihn hasst und seine Tochter umgarnt, um ihm zu schaden. So bezieht er das Geschehene nur auf sich, schließt kategorisch aus, „... der Prinz könne Emilia um ihrer selbst willen lieben.“[33]
Odoardo scheint egozentrisch zu sein, er hat den Drang, Geschehnisse zu kontrollieren, und bezieht die Aktionen anderer auf sich allein.
Auch bei der genaueren Betrachtung seines Verhältnisses zum Grafen Appiani wird dieses deutlich. Odoardo mag Appiani, er liebt ihn! Doch was ist der Grund dafür?
Odoardo: Ich muß auch bei dem Grafen noch einsprechen. Kaum kann ich’s erwarten, diesen würdigen jungen Mann meinen Sohn zu nennen. Alles entzückt mich an ihm. Und vor allem der Entschluß, in seinen väterlichen Tälern sich selbst zu leben.[34]
Es ist bezeichnend, dass seine Liebe zu seinem Schwiegersohn daher rührt, dass er in ihm Ähnlichkeiten zu sich selbst entdeckt. In der Hochzeit des Appiani mit seiner Tochter sieht er nicht primär das Glück der beiden Liebenden, sondern die Tatsache, dass er Appiani bald als seinen Sohn bezeichnen kann, der mit seiner Frau gemeinsam das tun wird, was ihm selber nicht vergönnt ist, nämlich auf dem Land, fernab der Stadt und dem „Geräusch der Zerstreuung der Welt“ und der „Nähe des Hofes“ zu leben.
Die geschilderten Punkte ergeben ein Bild von Odoardo, das ihn als wirklich egozentrischen, in Prinzipien verliebten Mann zeigt.
Doch schon die Tatsache, dass Odoardo es lieber sehen würde, wenn seine Frau mit ihm auf dem Land wohnte, was sie nicht tut, zeigt Folgendes: Er ist eben nicht der Mann, der über alles die Kontrolle hat, die er, wie oben aufgezeigt, gerne hätte, er ist nicht der Patriarch, der er gerne wäre, allenfalls ein verhinderter.
Dies wird im Stück auch daran deutlich, dass Odoardo in entscheidenden Momenten nicht anwesend ist.
Durch den Umstand, dass der Vater auf dem Land lebt, ist er bei gesellschaftlichen Anlässen, wie der „Vegghia, bei dem Kanzler Grimaldi“[35] nicht anwesend.
Bei dieser Gelegenheit trifft der Prinz das erste Mal auf Emilia und verliebt sich in sie.[36] Seine Abwesenheit bei der Rückkehr Emilias aus der Kirche wurde schon erwähnt, bei ihrem Gang in die Kirche ist er somit erneut nicht bei seiner Tochter.
Du hättest mir das sogleich sollen gemeldet haben. – Doch, ich möchte Dir heute nicht gern etwas Unangenehmes sagen. Und ich würde, [...] wenn ich länger bliebe. – Drum laß mich! laß mich! – Gott befohlen, Claudia! – Kommt glücklich nach![37]
Odoardo ist unfähig, direkt und konkret Kritik zu üben, eine Diskussion zu führen. Er deutet seine Meinung an und verlässt die Szenerie, bevor ein Einwand geäußert werden kann.
Ein weiteres Mal ist Odoardo nicht da, um zu helfen, als die Kutsche der Hochzeitsgesellschaft überfallen wird. Der Graf wird erschossen, Emilia entführt.
Der Vater ist immer dann nicht da, wenn Emilia auf den Prinzen trifft. In der einzigen Situation, in der er die beiden zusammen erlebt, rammt er seiner Tochter ein Messer in die Brust.
Gegen Ende des Stückes werden die Konsequenzen deutlich, die Odoardos Prinzipientreue, sein Misstrauen und seine eingeschränkte Urteilsfähigkeit in emotional angespannten Momenten mit sich bringen.
Die vom Prinzen nach dessen Bekanntschaft mit Emilia verlassene Geliebte Orsina schafft es, diese charakterlichen Defizite Odoardos für eine persönliche Rache am Prinzen auszunutzen. In IV.7.[38] schafft sie es, durch rhetorisches Geschick Odoardos Angst um seine Tochter zu steigern. Im Laufe des Gespräches kann sie diese Angst und Ratlosigkeit für ihr eigenes Ziel ausnutzen: ihre Rache am Prinzen dafür, dass er sie verlassen hat. Gisbert Ter-Nedden weist auf diesen Sachverhalt hin:
Der Pakt zwischen der Mätresse und dem Tugendhelden kommt tatsächlich zustande und entscheidet das Schicksal Emilias. Odoardo läßt sich nicht nur den Dolch, mit dem er Emilia tötet, von Orsina (wie die Regieanweisung vorschreibt) »aufdrängen« [...], sondern auch den Grund einreden, um dessentwillen er sie umbringt. Orsina unterstellt, Emilia sei bereits so gut wie die neue Mätresse des Prinzen und damit »schlimmer als tot«.[39]
Odoardos Hitzigkeit macht ihn im Endeffekt zu einer Waffe, derer sich Orsina bedient, um persönlich Rache zu üben. Denn mit dem Tod Emilias erleidet der Prinz das gleiche Schicksal wie Orsina: er verliert das Ziel seiner ehrlichen Liebe.
Auch kurz vor und nach dem Mord zeigt sich nochmals Odoardos Schwäche. Zunächst von Orsina beeinflusst und mit dem Dolch ausgestattet schiebt er die Verantwortung schon vor der Tat auf überirdische Kräfte.
(Gegen den Himmel.) Wer sie unschuldig in diesen Abgrund gestürzt hat, der zeihe sie wieder heraus. Was braucht er meine Hand dazu? Fort! (Er will gehen und sieht Emilia kommen.) Zu spät! Ah! er will meine Hand; er will sie![40]
Nachdem ihn Emilia zu der Tat gedrängt hat, er das Messer in ihre Brust stieß, fügen sich seine Worte „Gott, was hab’ ich getan!“[41] nahtlos in diesen Zusammenhang. Wieder ruft Odoardo ein überirdisches Gericht an, ist er nicht in der Lage, selbst die Verantwortung für sein Handeln zu übernehmen.
Odoardo ist also der vermeintliche Tugendheld, der seine Familie liebt und sie vor den Sünden und Lastern der Welt beschützen will. Sein Anspruch und seine Zielsetzung sind edel, doch kann er aufgrund seiner aufgezeigten Charaktereigenschaften diese Ziele nicht verwirklichen.
3.1.2) Prinz Hettore Gonzaga
Was aufgrund der dramentheoretischen Intention Lessings für Odoardo als Tugendhelden zutrifft, gilt auch für den Prinzen als Verkörperung des Lasters: nach der Konzeption des „mittleren Helden“ kann er nicht der eindeutig schlecht gezeichnete Charakter sein, den Odoardo und Appiani in ihm sehen.
Die Figur des Prinzen erscheint bereits im ersten Aufzug in allen Facetten, die seine Figur mit sich bringt. Er erscheint amtsmüde und weckt Mitleid im Rezipienten, wenn er von seinen Amtshandlungen als von „traurigen Geschäften“[42] redet.
Beim Anblick eines Briefes, der von einer Emilia unterschrieben ist, ändert sich sein Auftreten jedoch. Er wird an Emilia Galotti erinnert, in die er sich vor einigen Wochen auf einer Vegghia verliebte. Bei dem Brief handelt es sich zwar um eine Bittschrift einer Emilia Bruneschi, doch erinnert ihn allein der Vorname an seine Liebe und beeinflusst seine Entscheidung.
„Was will sie, diese Emilia Bruneschi? (Er lieset.) Viel gefordert; sehr viel. – Doch sie heißt Emilia. Gewährt!“[43]
In dieser Passage lernt man bereits zwei Seiten des Prinzen kennen, die seinen „mittleren Charakter“ ausmachen. Einerseits trifft er seine positive Entscheidung zur Bittschrift willkürlich, andererseits zeigt er sich als ein Mann, den der bloße Gedanke an die Umschwärmte zur Milde im Amt bewegt. Der Prinz zeigt Gefühl, er ist auch empfindsam.
Durch das Erscheinen des Malers Conti, der ihm zufällig ein Bild von Emilia Galotti mitbringt, ist er zunehmend mit seinen Gedanken bei Emilia, und er nimmt Conti zeitweise gar nicht mehr wahr.
Der Prinz (indem er nur eben von dem Bilde wegblickt): Was sagen Sie, Conti? Was wollen Sie
wissen?
Conti: O nichts, nichts! – Plauderei! Ihre Seele, merk’ ich, war ganz in Ihren Augen. Ich liebe solche
Seelen, und solche Augen.[44]
Im Gespräch mit Marinelli, der im Anschluss an Conti erscheint, wird die Einstellung des Prinzen zur Liebe deutlich.
Marinelli: [...] Aber so geht es den Empfindsamen! Die Liebe spielet ihnen immer die schlimmsten
Streiche. Ein Mädchen [= Emilia] ohne Vermögen und ohne Rang, hat ihn in ihre Schlinge
zu ziehen gewußt, - mit ein wenig Larve; aber mit vielem Prunke von Tugend und Gefühl
und Witz, - und was weiß ich?
Der Prinz: Wer sich den Eindrücken, die Unschuld und Schönheit auf ihn machen, ohne weitere
Rücksicht, so ganz überlassen darf; - ich dächte, der wäre eher zu beneiden, als zu belachen.[45]
Im Gespräch mit seinem Kammerherrn erfährt Prinz Gonzaga, dass Emilia Galotti noch am gleichen Tag heiraten wird. Von dieser Neuigkeit ist der Prinz derart verwirrt und überwältig, dass er, in Gedanken abwesend, Marinelli von seiner Liebe zu Emilia erzählt.
Der Prinz: [...] Nun ja, ich liebe sie; ich bete sie an. Mögt Ihr es doch wissen! Mögt Ihr es doch längst gewusst haben, alle Ihr, denen ich der tollen Orsina schimpfliche Fesseln lieber ewig tragen sollte.[46]
In seiner Verzweiflung nimmt er das Angebot Marinellis an, ihm zu helfen, die Heirat zu verhindern.
Marinelli: Erst heute – soll es geschehen. Und nur geschehenen Dingen ist nicht zu raten. – (Nach einer kurzen Überlegung.) Wollen Sie mir freie Hand lassen, Prinz? Wollen Sie alles genehmigen, was ich tue?
Der Prinz: Alles, Marinelli, alles, was diesen Streich abwenden kann.[47]
Dieses Gespräch zeigt, dass der Prinz, blind vor Enttäuschung, zu allem bereit ist, was die Hochzeit verhindern kann. Er bedient sich dabei seiner Macht, einem Bediensteten den Auftrag zu erteilen, alles Erdenkliche zu tun, um die Trauung abzuwenden.
Die Willkür des Prinzen wird am Ende des ersten Aufzugs noch einmal deutlich, diesmal allerdings nicht durch geäußerte Milde. Angetrieben durch die für ihn schlechten Neuigkeiten ist er bereit, seine Unterschrift unter ein Todesurteil zu setzen – wiederum ohne diesen Schritt gründlich durchdacht zu haben.
Der Prinz: Was ist sonst? Etwas zu unterschreiben?
Camillo Rota: Ein Todesurteil wäre zu unterschreiben.
Der Prinz: Recht gern. – Nur her! geschwind.
Camillo Rota (stutzig und den Prinzen starr ansehend) Ein Todesurteil, - sagt’ ich.
Der Prinz: Ich höre ja wohl. – Es könnte schon geschehen sein. Ich bin eilig.[48]
Doch der Prinz ist nicht nur einerseits willkürlich in seinen Entscheidungen und andererseits verliebt und empfindsam einem anderen Menschen gegenüber, Wesenszüge, die ihn so handeln lassen, wie es bisher deutlich wurde.
Er zeigt eine weitere Schwäche, die er übrigens mit Odoardo teilt. Der Prinz kann nicht vertrauen. Obwohl er Marinelli beauftragt, die Hochzeit zu verhindern und ihm dabei alle Freiheiten gewährt, will er sich dennoch nicht ganz auf ihn verlassen.
Geschmachtet, geseufzet hab’ ich lange genug, - länger als ich gesollt hätte: aber nichts getan! und über die zärtliche Untätigkeit bei einem Haar alles verloren! – Und wenn nun doch alles verloren wäre? Wenn Marinelli nichts ausrichtete? – Warum will ich mich auch auf ihn allein verlassen? Es fällt mir ein, - um diese Stunde, (nach der Uhr sehend) um diese nämliche Stunde pflegt das fromme Mädchen alle Morgen bei den Dominikanern die Messe zu hören. – Wie, wenn ich sie zu sprechen suchte?[49]
Der Prinz will selbst tätig werden, er will Emilia sprechen. Dieser Plan führt, zusammen mit Odoardos erwähnten Verfehlungen und des Prinzen weiterem Verhalten, zur Katastrophe, die sich schließlich am Ende des Stückes ereignet, zu Emilias Tod.
Hettore Gonzaga ist, wie dieser Teil aufzeigte, ein empfindsam Liebender. Doch führt seine Liebe dazu, dass er, wie in den behandelten Stellen deutlich wird, in Momenten der emotionalen Anspannung zu Willkür neigt und unüberlegt Machtmissbrauch in Kauf nimmt, um Ziele, hier die Verhinderung der Vermählung, zu erreichen.
Diese Eigenschaften und seine beschriebene Unfähigkeit anderen zu vertrauen führen dazu, dass er Emilia sogar in der Kirche aufsucht, er sich nach dem Gespräch mit ihr sehnt, um seine Liebe zu gestehen.
4.) Die Begegnung in der Kirche und die Folgen
Wie am Ende des letzten Kapitels angedeutet, ist das, was in der Kirche zwischen dem Prinzen und Emilia geschieht, ein Schlüsselereignis, das den weiteren Verlauf des Stückes maßgeblich beeinflusst. Das ist von so großer Bedeutung, obwohl die Geschehnisse nicht in einem Aufzug eigens zu sehen oder lesen, sondern nur den Äußerungen Emilias ihrer Mutter gegenüber zu entnehmen sind.
Der Prinz geht in die Kirche, um Emilia zu sehen, ohne Wissen seines Kammerherrn, welcher sich mit allen Freiheiten versehen sieht, die geplante Hochzeit abzuwenden.
Diese beiden Tatsachen führen zu den Verwicklungen, die es erst für alle Beteiligten offensichtlich machen, dass der Überfall und die daraus resultierende Flucht auf das Lustschloss des Prinzen geplant waren.
Mögen die Beteiligten auch unterschiedliche Motive für die Tat mutmaßen, so erkennen doch alle, dass sie inszeniert war.
Marinelli sieht den Fehler des Prinzen und weist darauf hin.
Marinelli: Es kömmt mehr auf meine Rechnung, was nicht darauf gehört.
Der Prinz: Rede will ich!
Marinelli: Nun dann! Was läge an meinen Anstalten? daß den Prinzen bei diesem Unfalle ein so sichtbarer Verdacht trifft? – An dem Meisterstreiche liegt das, den er selbst meinen
Anstalten mit einzumengen die Gnade hatte.
Der Prinz: Ich?
Marinelli: Er erlaube mir, ihm zu sagen, daß der Schritt, den er heute morgen in der Kirche getan, - mit so vielem Anstande er ihn auch getan, - so unvermeidlich er ihn auch tun mußte – daß dieser Schritt dennoch nicht in den Tanz gehörte.[50]
Das Erscheinen des Prinzen in der Kirche macht die Pläne offensichtlich. Das Interesse, das er an einem Überfall auf die Kutsche mit der Hochzeitsgesellschaft – ohne den abwesenden Odoardo – hat, ist klar. Die Tragik für den Prinzen besteht darin, dass sein Handeln eine Tat, die er so gar nicht geplant hatte und dennoch legitimierte, für die Beteiligten erklärbar macht.
Der Mord erscheint aus der Kenntnis des Treffens heraus als eine logische Konsequenz aus seiner unerwiderten Liebe zu Emilia.
Als Claudia, auf der Suche nach Emilia, auf dem Lustschloss eintrifft, sieht sie sofort einen Zusammenhang zwischen der Entführung und dem Prinzen – sie weiß, dass der Prinz Emilia des Morgens in der Kirche aufsuchte.
Es ist klar! – Ist es nicht? – Heute im Tempel! vor den Augen der Allerreinesten! in der nähern Gegenwart des Ewigen! – begann das Bubenstück; da brach es aus. (Gegen den Marinelli) Ha, feiger Mörder! Nicht tapfer genug, mit eigner Hand zu morden: aber nichtswürdig genug, zur Befriedigung eines fremden Kitzels zu morden! – morden zu lassen! – Abschaum aller Mörder![51]
Dass Claudia den Gesamtzusammenhang der Tat durchschaut und nicht Marinelli als Initiator des Mordes aus Rachegelüsten sieht – die Ablehnung „mit eigener Hand zu morden“ bezieht sich auf die Ablehnung des angebotenen Duells mit Appiani am Morgen –, erklärt ihre Titulierung Marinellis als „Kuppler“. Sie hat begriffen, dass der Überfall durch den Prinzen bewilligt war. Wenngleich sie den Prinzen aktiver sieht als er es, wie beschrieben, ist.
Auch Orsina folgert richtig. Sie weiß vom Treffen des Prinzen mit Emilia in der Kirche, auch vom Tode des Grafen Appiani bei der Ankunft im Lustschloss. Was sie jedoch nicht weiß ist, dass der Graf und Emilia zusammen auf dem Weg zu ihrer Trauung waren. Als sie dies von Marinelli erfährt, zieht sie sofort den richtigen Schluss und sagt „ der Prinz ist ein Mörder! des Grafen Appiani Mörder! – Den haben nicht Räuber, den haben Helfershelfer des Prinzen, den hat der Prinz umgebracht!“[52]
Der Prinz selbst wusste nichts vom Plan des Überfalls, doch hat er ihn trotzdem zu verantworten, weil er im Überschwang der Gefühle Marinelli alle Freiheiten gab, um die Hochzeit zu verhindern. Daher trägt der Prinz ebenso die Verantwortung für den Mord, obwohl der nicht abgesprochen war.
Der Zusammenhang zwischen dem Überfall auf die Kutsche des Brautpaares und der Verantwortung des Prinzen wäre nicht zu ersehen gewesen, wenn nicht der Prinz aus seinen Gefühlen heraus Emilia aufgesucht hätte. Vielleicht wäre der Graf dennoch gestorben – die Gründe für dessen Tod hängen eng mit dem noch zu betrachtenden Verhalten Odoardos zusammen – doch wäre durch die Unkenntnis des Zusammenhangs die Ermordung Emilias vermeidbar gewesen. Ohne das Treffen hätte Orsina keinen Zusammenhang zwischen Mord und des Prinzen Gefühlen für Emilia sehen können. Dann hätte sie auch nicht derart Einfluss auf Odoardo nehmen können, wie in Kapitel 2.1.1) erwähnt.
Doch nicht nur der Prinz hätte durch sein Handeln in diesem Moment, wenngleich auch unwissend, das Ende des Stückes maßgeblich verändern können. Auch durch Odoardo wäre mit ein wenig mehr Geduld die Katastrophe am Ende des Dramas zu verhindern gewesen.
In den für seine Familie kritischen Momenten ist er niemals zur Stelle. Im zweiten Aufzug kommt Odoardo zu spät, um den verhängnisvollen Gang Emilias in die Messe zu verhindern. Polternd hält er sich über die Gefahren des Hofes und des Stadtlebens auf [...] Bevor Emilia aus der Kirche zurück ist, hat er sich schon wieder mit einem „Drum laß mich! laß mich. – Gott befohlen, Claudia! – Kommt glücklich nach!“ aus dem Staub gemacht. Die tragische Ironie dieser Worte wird unmittelbar darauf enthüllt, als Emilia atemlos hereingestürmt kommt und von ihrer Begegnung mit dem Prinzen erzählt, durch die die Befürchtungen Odoardos sich vollauf bestätigen (II,6). Ahnungslos ist er deshalb auch im entscheidendem dritten Aufzug, in dem die Intrige Marinellis in die Tat umgesetzt wird, nicht auf dem Schauplatz, um die Ehre seiner Tochter und das Leben seines zukünftigen Schwiegersohns zu verteidigen.“[53]
Ein geduldiger Odoardo hätte vom Besuch des Prinzen bei Emilia erfahren können. In diesem Fall hätte er das Brautpaar auf dem Weg zur Trauung begleiten können. Doch seine bereits beschriebenen Charaktereigenschaften ließen dies nicht zu.
Das Zustandekommen des Gespräches zwischen Emilia und dem Prinzen ist die Konsequenz aus einer Reihe von Schwächen, die in den Charakteren des Prinzen und des Odoardo angelegt sind, wie vorhergehend erläutert. Zugleich sind die anschließenden Geschehnisse daraus resultierende Konsequenzen und Weiterführungen.
Bezeichnend und folgerichtig ist es, dass die Situation und ihre Folgen aus Gründen erwachsen, die allesamt menschlich sind und aus der vom Autor gewollten Anlage der Personen als mittlere Charaktere erwachsen.
5.) Schlussbetrachtung
Lessing wandte in seiner Bearbeitung der antiken Virginia-Fabel konsequent sein Konzept des ‚mittleren Helden’ an. Durch diese Neuerung in der Bearbeitung des Stoffes gelang ihm ein Drama, dass in seiner Wirkung über die ursprüngliche Intention hinausgeht.
Zwar ist auch bei Lessing eine Kritik am Adel lesbar, bedingt durch die Willkür des Prinzen und seine Amtsmüdigkeit, die an Überforderung grenzt. Diese Willkür und Überforderung setzen gerade die Handlung in Gang, die zum Tod der Emilia führt.
Doch findet am Ende kein Umsturz statt, Lessing spart ihn bewusst aus.
Andererseits bewirken die menschlichen Anlagen des Prinzen, seine Verliebtheit und Empfindsamkeit, beim Zuschauer genau das, was Lessing als unbedingte Anforderung an sein Drama stellte, nämlich Mitleid, die den Zuschauer und Leser zur Reflexion über sich und sein Handeln bewegt.
Empfindet der Zuschauer den Prinzen aufgrund seines Auftretens zunächst als willkürlich – denn etwas anderes als Willkür kann man der Gewährung einer Bittschrift aufgrund des Absendernamens nicht entnehmen – so muss er doch gleich sehen, dass er auch ein liebender Mensch ist, nachdem Conti mit dem Bild Emilias auftritt. Willkür macht den Prinzen zum Despoten, seine Liebe zu Emilia hingegen zum Menschen, mit dem man sich identifizieren kann.
Bei der Figur des Odoardo läuft dieser Prozess gerade anders herum. Wird er als Mann der Tugend eingeführt, so muss der Rezipient doch bald feststellen, dass er mit den eigenen Grundsätzen überfordert ist.
Er hat ein strenges Tugendmuster im Kopf, doch ist er nicht in der Lage, es für sich und seine Familie zu realisieren. Stattdessen verliert er in entscheidenden Momenten die Ruhe und handelt unüberlegt, was zu weiteren Verwicklungen führt.
Lessing benutzt also bekannte Motive, um sie so umzuarbeiten, dass er im Rezipienten Denkprozesse auslöst, die ihn, seiner Theorie zufolge, zu besserem Handeln verleiteten.
Dies schafft er durch die Benutzung ‚mittlerer Charaktere’ und von Verwicklungen, die sich aus deren Handeln ergeben. Diese Verwicklungen zeigen dem Zuschauer und Leser Fehler auf, sie veranlassen ihn zu eben dieser gewollten Selbstreflexion.
6) Literatur
Abbildung auf dem Titel entnommen aus:
Fritz Scheffel: Der gepfefferte Spruechbeutel. Mit Illustrationen von Paul Neu. Leipzig 1964. S. 66.
Primärliteratur
Gotthold Ephraim Lessing: Dramen. Mit einem Nachwort hg. von Kurt Wölfel. Frankfurt am Main 1998.
Gotthold Ephraim Lessing: Werke. Vierter Band. Dramaturgische Schriften. Hg. von Herbert G. Göpfert. München 1973.
Gotthold Ephraim Lessing: Briefwechsel mit Nicolai. In: Lessings Werke. Vollständige Ausgabe in 25 Teilen. Bd.2. Hg. von Julius Petersen und Waldemar von Ohlshausen. Berlin/Wien 1925-35.
Titus L ivius: Die Anfänge Roms. Römische Geschichte Buch I-V. Hg. von Manfred Fuhrmann. München 1991
Sekundärliteratur
Foegen, Marie Theres: Römische Rechtsgeschichten. Über Ursprung und Evolution eines sozialen Systems. Göttingen 2002.
Metzlers Literatur Lexikon. Begriffe und Definitionen. Hg. von Günther und Irmgard Schweikle. Stuttgart 1990.
Petriconi, Hellmuth: Die verführte Unschuld. Bemerkungen über ein literarisches Thema. Hamburg 1953.
Schröder, Stefan: Tödliche Ratio: Zur Konfiguration in Lessings „Emilia Galotti“. In: Die dramatische Konfiguration. Hg. von Karl Pohlheim. Paderborn 1997.
Ter-Nedden, Gisbert. Lessings Trauerspiele. Der Ursprung des modernen Dramas aus dem Geist der Kritik. Stuttgart 1986.
Witte, Bernd: Die Paradoxien der Aufklärung. Gotthold E. Lessings Trauerspiel „Emilia Galotti“. In: Klassiker der deutschen Literatur. Epochen-Signaturen von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Hg. von Klaus Rupp. Würzburg 1999.
Woesler, Winfried: Lessings „Emilia“ und die Virginia-Legende bei Livius. In: Zeitschrift für deutsche Soziologie. Heft 2. Berlin 1997.
[...]
[1] Zu den Dramatisierungen vor Lessing siehe: Woesler, Winfried: Lessings „Emilia“ und die Virginia-Legende bei Livius. In: Zeitschrift für deutsche Soziologie. Heft 2. Berlin 1997. S. 166f.
[2] ebd. S. 167
[3] ebd. S. 169
[4] die für diese Arbeit benutzte Version der Virginia-Legende ist die des Titus Livius in: Livius, Titus: Die Anfänge Roms. Römische Geschichte Buch I-V. Hg. von Manfred Fuhrmann. München 1991
[5] Livius: Anfänge Roms. a.a.O. [4].
[6] „Die Geschichte der Lucretia wie die der Virginia wird bekanntlich von Livius erzählt, und die eine ist, wie er selbst zu verstehen gibt, eine Wiederholung der anderen.“ In: Petriconi, Hellmuth: Die verführte Unschuld. Bemerkungen über ein literarisches Thema. Hamburg 1953. S. 14.
[7] s. Foegen, Marie Theres: Römische Rechtsgeschichten. Über Ursprung und Evolution eines sozialen Systems. Göttingen 2002, S. 62.
[8] Vgl. ebd., S. 22 und S.62.
[9] Ebd., S. 22.
[10] Petriconi: Unschuld. a.a.O. [6], S. 15.
[11] Livius: Anfänge Roms.. a.a.O. [4]. S. 12.
[12] In: Gotthold Ephraim Lessing: Werke. Vierter Band. Dramaturgische Schriften Vierter Band. Hg. Herbert G. Göpfert. München 1973. S. 294.
[13] Ebd. S. 579.
[14] Ebd. S. 587f.
[15] So schreibt Lessing in seinem Brief an Mendelssohn vom 28. November 1756: „ Was für Eigenschaften bewundern Sie denn nun? [...] - mit einem Wort, nichts als Beispiele einer unerschütterlichen Festigkeit, einer unerbittlichen Standhaftigkeit, eines nicht zu erschreckenden Muts, einer heroischen Verachtung der Gefahr und des Todes; [...] Sie bewundern sie also mit Recht; aber eben deswegen, weil Sie sie bewundern, werden Sie ihnen nicht nacheifern.“ Ebd. S. 172f.
[16] Ebd. S 192.
[17] Zur Bezeichnung „der mittlere Held“: Witte, Bernd: Die Paradoxien der Aufklärung. Gotthold E. Lessings Trauerspiel „Emilia Galotti“. In: Klassiker der deutschen Literatur. Epochen-Signaturen von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Hg. von Klaus Rupp. Würzburg 1999. S. 26.
[18] Lessing: Werke. a.a.O. [12] S. 163.
[19] Zum Katharsisbegriff Lessings: Metzlers Literatur Lexikon. Begriffe und Definitionen. Hg. von Günther und Irmgard Schweikle. Stuttgart 1990. S. 235.
[20] Lessing, Gotthold E.: Briefwechsel mit Nicolai. In: Lessings Werke. Vollständige Ausgabe in 25 Teilen. Bd.2. Hg. von Julius Petersen und Waldemar von Ohlshausen. Berlin/Wien 1925-35. S. 702.
[21] Woesler: „Emilia“ und Virginia. a.a.O. [1] . S. 162.
[22] Lessing. Dramen. Hg. von Kurt Wölfel. Frankfurt am Main 1998. S. 533: „Der Prinz haßt mich -“.
[23] Ebd. S. 517.
[24] Ebd. S. 539.
[25] Ebd. S. 532.
[26] Ebd. S. 532.
[27] Ebd. S. 528.
[28] Ebd. S. 529.
[29] Ebd. S. 534.
[30] Ebd. S. 536.
[31] Ebd. S. 533.
[32] Ebd. S. 533.
[33] Schröder, Stefan: Tödliche Ratio: Zur Konfiguration in Lessings „Emilia Galotti“. In: Die dramatische
Konfiguration. Hg. von Karl Pohlheim. Paderborn 1997. S. 37.
[34] Lessing. Dramen. a.a.O. [22]. S. 532.
[35] Ebd. S. 533.
[36] Zu den Gefühlen des Prinzen zu Emilia s. das Kapitel „ Der Machthaber “ in: Ter-Nedden, Gisbert. Lessings Trauerspiele. Der Ursprung des modernen Dramas aus dem Geist der Kritik. Stuttgart 1986. S. 185-188.
[37] Lessing. Dramen. a.a.O. [22]. S. 533.
[38] Vgl. ebd. S. 573ff.
[39] Vgl. Ter-Nedden: „ Die Alternative – Claudia oder Orsina. “ a.a.O. [36]. S.215f.
[40] Lessing: Dramen. a.a.O. [22]. S. 587.
[41] Ebd. S. 590.
[42] Ebd. S. 513.
[43] Ebd. S. 513.
[44] Ebd. S. 518.
[45] Ebd. S. 522.
[46] Ebd. S. 523.
[47] Ebd. S. 525.
[48] Ebd. S. 527.
[49] Ebd. S. 526.
[50] Ebd. S. 562.
[51] Ebd. S. 558.
[52] Ebd. S. 570f.
[53] Witte: Lessing: Emilia Galotti. a.a.O. [17]. S. 32.
- Arbeit zitieren
- Uwe Jahn (Autor:in), 2002, Zur Wirkungsintention und Personenkonfigiration in Lessings "Emilia Galotti", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/108710