Die Ausdifferenzierung des kulturellen Systems als Subsystem des allgemeinen Handlungssystems


Hausarbeit (Hauptseminar), 2004

13 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


»Die Ausdifferenzierung des kulturellen Systems als Subsystem des allgemeinen Handlungssystems«

Nach: Talcott Parsons

Von: Svenja Wesseloh Einleitung

Talcott Parsons hat mit dem Vier-Funktionen-Schema[1] ein Begriffssystem aufgestellt, mit dem die wesentlichen Elemente einer Gesellschaft und deren Beziehungen zueinander untersucht werden können. Diese Arbeit beschäftigt sich unter Zuhilfenahme dieses Schemas mit der Entwicklung kultureller Systeme. Ziel dieser Arbeit ist es, einerseits die Bedeutung kultureller Systeme für Gesellschaften zu analysieren und andererseits deren Ausdifferenzierung im historischen Verlauf zu diskutieren. Zunächst wird eine Einführung in das Vier-Funktionen-Schema den Ausgangspunkt der Abhandlung markieren. Im besonderen wird das Vier-Funktionen-Schema dann auf der Ebene des allgemeinen Handlungssystems erläutert, um den Bereich abzustecken, in dem sich die Untersuchung kultureller Systeme bewegt. Die anschließende Darstellung der Rolle des Kultursystems dient der Ermöglichung einer eindeutigen Argumentation der Ausdifferenzierung kultureller Systeme.

Parsons untersucht in »Gesellschaften. Evolutionäre und komparative Perspektiven« und »Das System moderner Gesellschaften« jene Gesellschaften, die wichtige Neuerungen im Hinblick auf die Entwicklung moderner Gesellschaftsformen hervorgebracht haben. Den Ursprung moderner Gesellschaften vermutet Parsons aus dem europäischen Christentum herleiten zu können. Das kulturelle System nimmt daher in Parsons Untersuchung eine zentrale Stellung ein, weil es der Ort ist, aus dem sich der normative Überbau einer jeden Gesellschaft herausbildet. War die normative Ordnung in primitiven Gesellschaften von religiösen Weltorientierungen geprägt, treten in zunehmend differenzierten Gesellschaften stärker säkular ausgerichtete Vorstellungen hinzu, die in hochspezialisierte und gleichzeitig stark verallgemeinerte Wertmuster integriert werden müssen. Die hieraus entstehende interessante Frage nach den Möglichkeiten, eine universalistische normative Ordnung zu institutionalisieren, die nicht auf kollektiven religiösen Orientierungen beruht, soll in dieser Arbeit beantwortet werden.

Das Vier-Funktionen-Schema

Das Feldschema beinhaltet vier Funktionen, die von jeder Gesellschaft erfüllt werden müssen, um ihren Fortbestand zu sichern. Diese Funktionen sind folgende: Anpassung (Adaption), Zielerreichung (Goal attainment), Integration (Integration) und der Erhalt latenter Strukturmuster (Latent pattern maintenance). Aus diesen Begriffen leitet sich die auch geläufige Bezeichnung vom AGIL-Schema ab. Jede Gesellschaft hat demnach vier funktionale Probleme zu lösen: Sie muss sich an ihre Umwelt anpassen und Ressourcen bereitstellen (A daption), kollektive Ziele festlegen (G oal attainment), den Zusammenhalt der Gesellschaftsmitglieder gewährleisten (I ntegration) und Muster aufrecht erhalten, die die Grundstruktur verinnerlichter kultureller Elemente bilden (L atent pattern maintenance).

Das Vier-Funktionen-Schema ist vielfach zu verschachteln. Jede einzelne Funktion bietet die Möglichkeit, wiederum als Vierfelderschema aufgetan und analysiert zu werden. Zugleich ist jede Funktion auch ein Teilsystem eines weiteren Vierfelderschemas.

Die Funktionen wendet Parsons primär auf zwei Ebenen an. Dabei zerlegt er die Ebenen in je vier Subsysteme und ordnet diesen generalisierte Austauschmedien (in Klammern) zu, die als kommunikative Strukturen die Subsysteme miteinander verbinden:

Ebene des allgemeinen Handlungssystem:

A: Verhaltensorganismus (Intelligenz); G: Persönlichkeitssystem (Durchsetzungsfähigkeit); I: Soziales System (Affekt); L: Kulturelles System (Definition der Situation).

Ebene des Sozialsystem:

A: Wirtschaft (Intelligenz); G: Politik (Macht); I: Gesellschaftliche Gemeinschaft (Einfluss); L: Treuhändersystem (Wertbindung).

Die vier Subsysteme im allgemeinen Handlungssystem bilden den Bezugsrahmen für gesellschaftliches Handeln. Die Subsysteme sind als »analytisch ausgegliederte Teilmengen von Programmelementen, die das Handeln steuern«, zu verstehen.[2] Da diese Ebene die zentrale Rolle in Parsons Gesellschaftsanalyse spielt und das Verständnis von ihrer Beschaffenheit für diese Arbeit Voraussetzung ist, soll sie etwas genauer betrachtet werden.

Um mit der Systemanalyse generalisierte Aussagen über Strukturmuster machen zu können, hebt Parsons den Handlungsakt aus der Realität heraus auf die abstrakte Ebene eines allgemeinen Handlungssystems. Aus der Untersuchung der Strukturmuster von Handlung kristallisieren sich Konstanten heraus, welche die Subsysteme des allgemeinen Handlungssystems konstituieren.

Eine Konstante ist der Akteur, eine handelnde Person, die eine Bedürfnisstruktur besitzt und die sich durch ihre spezifische Identität von anderen unterscheidet. Sie bildet das Subsystem Persönlichkeit, dessen Funktionieren stark von der erfolgreichen Sozialisation abhängt. Diese ist gegeben, wenn »das soziale und kulturelle Lernen stark durch das Engagement der Lustmechanismen des Organismus motiviert ist.«[3]

Die Basis menschlichen Handelns bildet das Verhaltenssystem, das ein zweites Subsystem darstellt. Es entsteht im Rahmen von Genetik, Kultur, dem Sozial- und dem Persönlichkeitssystem und ist durch die spezifischen Milieu- und Organismusfaktoren doch einzigartig. Es umfasst die Gesamtheit der durch Sozialisation erlernten kulturellen Techniken wie Sprachkompetenz, emotionale Bindungsfähigkeit oder die Fähigkeit zur Rollenübernahme. Im Verhaltenssystem sind die grundlegenden Handlungskapazitäten organisiert, die dem Handelnden Möglichkeiten geben, auf unterschiedliche Umweltbedingungen zu reagieren.

Ein weiteres Subsystem ist das Kultursystem. Menschliches Handeln orientiert sich demnach zentral an gemeinsam geteilten Normen und Werten, die in Form von Symbolen und Sinnzusammenhängen im Kultursystem institutionalisiert sind. Kultur umfasst die »Menge der Interpretationsschemata, die das Geschehen auf einen gemeinsamen Sinn hin auslegt«.[4]

Das Sozialsystem konstituiert sich durch Zustände und Prozesse sozialer Interaktion als viertes Subsystem. Ein Akteur nähert sich seinen Handlungszielen durch Kommunikation und Interaktion mit anderen sozialen Objekten. Das Sozialsystem besitzt eine analytische Unabhängigkeit gegenüber den anderen Subsystemen des allgemeinen Handlungssystems, da ihm durch »die Erfordernisse der Integration, die für Systeme sozialer Beziehungen wegen ihres inhärenten Konflikt- und Organisationspotentials gelten«, eine übergreifende Aufgabe im Prozess integrativen Systemerhalts zukommt.[5] Da Menschen gleichzeitig auch Organismen, Persönlichkeiten und Teilnehmer an kulturellen Systemen sind, werden die übrigen drei Subsysteme aufgrund dieser gegenseitigen Durchdringung als primäre Milieus des Sozialsystems betrachtet.

Neben dieser strukturellen Differenzierung in Subsysteme entlang der AGIL-Dimension, unterscheidet Parsons für die Analyse von Gesellschaften vier Strukturkomponenten[6]: Werte, Normen, soziale Gesamtheiten und Rollen. Aus diesen Faktoren resultiert auch Parsons Gesellschaftsbegriff. Demnach kennzeichnet Gesellschaften stets eine normative Ordnung und eine kollektiv organisierte Bevölkerung[7]. Der Begriff der Rolle konstituiert den Interpenetrationsbereich des Persönlichkeits- mit dem Sozialsystem, da Mitglieder für die Teilnahme an einer sozialen Gesamtheit verschiedene Funktionen (Rollen) einnehmen müssen. Diese Strukturkomponente entspricht daher der Anpassungsfunktion. Kollektive übernehmen die Zielerreichungsfunktion und zeichnen sich durch zwei Merkmale aus. Das erste ist ein klar definierter Mitgliedsstatus und das zweite ist die Persönlichkeit, die in Form ihrer zugewiesenen Rolle im Kollektiv auftritt und sich den damit verbundenen Leistungserwartungen verpflichtet. Normen sind universalistische Regeln, an denen sich die Handlungen der Mitglieder einer Gemeinschaft orientieren. Ihnen kommt daher die integrierende Funktion zu. Werte dienen der Legitimation und Erhaltung von Normen, womit sie die Strukturerhaltungsfunktion erfüllen. Sie sind Muster wünschenswerter Orientierung für das ganze System. Zusammengefasst sind Sozialsysteme Systeme interagierender Rollen innerhalb sozialer Gesamtheiten, die ihr Verhalten an Normen orientieren, welche in Werten begründet sind.

Es gibt zwei weitere Milieus sozialer Systeme, innerhalb derer Handlungssysteme wirken: Das physisch-organische Milieu und die ›letzte Realität‹.[8] Das physisch-organische Milieu markiert die Grenze des Handelns, unter der die »subhumane[n] Arten von Organismen und die ›nicht-verhaltensmäßigen‹ Komponenten menschlicher Organismen« liegen. Das Milieu der ›letzten Realität‹ kennzeichnet die obere Grenze des Handelns. »Auf diesem Gebiet sind die ›Ideen‹, ähnlich wie die kulturellen Objekte, in gewissem Sinn symbolische ›Repräsentationen‹ [...] der letzten Realitäten, doch sie selbst sind keine solchen Realitäten.«[9]

Parsons geht nicht davon aus, dass Systeme geschlossen sind, sondern dass sie externe Verbindungen aufweisen. Systeme stehen demnach durch Interpenetration und Funktion in Verbundenheit zueinander. Interpenetration bezeichnet die wechselseitige Durchdringung der Systeme und der Begriff der Funktion ist als ein Energieoutput eines Systems an andere zu verstehen. Dieser Output ist als Energiefluss vorzustellen, der ein System über die zielfunktionale Grenze verlässt und über die adaptive Grenze eines Rezeptorsystems eintritt, also immer Richtung und Beitrag enthält. Der Energiefluss kann nun als konditionelle Hierarchie betrachtet werden, die in entgegensetzter Richtung in Wechselwirkung zu einer informationell-kybernetischen Hierarchie wirkt. Der Energiezufluss wird demnach von den adaptiven Mechanismen des Systems und der Energieabfluss von den adaptiven Mechanismen des Rezeptorsystems informationell gesteuert. Der Trend der gesellschaftlichen Evolution hin zu einer verbesserten Anpassungsfähigkeit führt dazu, dass die kybernetisch höherstehenden Faktoren (Information) an Kontrolle über die bedingenden Faktoren (Energie) gewinnen. Beispielsweise ermöglichen technische Innovationen, dass wesentlich weniger körperliche Energie aufgebracht werden muss, um Arbeiten zu verrichten. Die Waschmaschine ist ein Beispiel für die Zunahme der kontrollierenden über die bedingenden Faktoren. Die Hierarchie der bedingenden Faktoren hat die physische Umwelt als Ausgangspunkt und die der kontrollierenden Faktoren das Kultursystem.[10]

Das kulturelle System

Kulturelle Systeme bilden die Struktur menschlicher Handlungssysteme, sind jedoch selbst keine Handlungssysteme, sondern Systeme von Symbolen und Sinnzusammenhängen, die dem »Handlungssystem seinen eigentlichen ›Richtungssinn‹« geben und »als unabhängig von jedem partikularistischen System sozialer Interaktion gelten«.[11] Um die Struktur von Handlungssystemen aufrecht zu erhalten, wäre es unzureichend, wenn sich die Gesellschaftsmitglieder lediglich an kulturellen Normen und Werten orientierten. Der Konsens über gemeinsame Wertorientierungen muss daher im Sozialsystem institutionalisiert und im Persönlichkeitssystem durch die Annahme von Rollen internalisiert werden.

Die Hauptaufgabe des Kultursystems liegt nun darin, so verallgemeinerte Wertmuster hervorzubringen, dass es die normative Ordnung einer Gesellschaft legitimieren kann und Sinn für das Handeln ihrer Mitglieder stiftet. Daher sind die Legitimationssysteme »stets auf eine Begründung [...] durch geordnete Beziehungen zu einer letzten Realität«[12] angewiesen. Gleichwohl bedarf die Legitimation der normativen Ordnung eines Systems konstitutiver Symbole, welches das »organisierte[...] Verhalten[...] im Sinne symbolischer Systeme«[13] strukturiert und dessen Legitimation die »Identität und Solidarität der Gemeinschaft sowie Glaubensinhalte, Rituale und andere Komponenten der Kultur begründet.«[14] Für ein System konstitutiver Symbole, das die Organisation von kulturellem und sozialem Leben ermöglicht, bedarf es der Fähigkeiten, die in der organischen Entwicklung des Menschen liegen. So unterscheidet er sich von subhumanen Organismen darin, lernen zu können und sich seine Umwelt durch Kenntnisse nutzbar zu machen. Das menschliche zentrale Nervensystem ermöglicht den umfangreichen Gebrauch der oralen Organe und das Gehirn kann die über das Gehör vermittelten »laut-sprachlichen« Informationen entschlüsseln, wodurch die »linguistische symbolische Kommunikation« möglich wird, die das universelle Merkmal menschlicher Gesellschaften ist.[15]

Die Ausdifferenzierung des kulturellen Systems

Die zentrale Erfordernis bei strukturellen Veränderungen in einer Gesellschaft ist die Anpassung der latenten Strukturen, also der Bezugspunkte und Rahmen für die Handlungsorientierungen, weil diese die Stabilität einer Gesellschaft gewährleisten. Andersherum gesagt, sind sozialer und struktureller Wandel in einer Gesellschaft stets ein Wandel ihrer normativen Kultur.

Um die Ausdifferenzierung kultureller Systeme aufzuzeigen, sollten vier grundlegende Prozesse strukturellen Wandels erwähnt werden, welche die Entwicklung zu fortgeschritteneren Stufen von Gesellschaft markieren.[16] Zentral ist der Prozess der »Differenzierung«, unter dem die Teilung einer Einheit oder Struktur in mehrere Teileinheiten verstanden wird. Differenzierung führt allerdings nur dann zu einer fortgeschritteneren Gesellschaft, wenn die differenzierten Teileinheiten über eine größere allgemeine Anpassungsfähigkeit verfügen, als die Einheit, aus der sie entstanden sind. Mit anderen Worten müssen die Faktoren höherer kybernetischer Ordnung (Information) von den bedingenden Faktoren niedrigerer Ordnung (Energie) zunehmend befreit werden. Der zweite Prozess wird als »Standardhebung durch Anpassung« bezeichnet, womit eine durch ein größeres Spektrum an Hilfsmitteln verbesserte Produktivität erreicht wird. Die aus den ersten beiden Prozessen entstehenden Integrationsprobleme müssen durch »Einbeziehung« »neuer Einheiten, Strukturen und Mechanismen innerhalb des normativen Rahmens der gesellschaftlichen Gemeinschaft« aufgefangen werden. Diese drei Prozesse machen eine »Wertverallgemeinerung« erforderlich, welche die adäquate Legitimation und Integration der neuen Einheiten gewährleistet.[17]

Die Entwicklung des kulturellen Systems soll nun entlang der gesellschaftlichen Evolution untersucht werden. Um die gesellschaftliche Evolution zu staffeln, untersucht Parsons Gesellschaften nach Stufen des Fortschritts. Allgemein basieren die Trennkriterien auf der Entwicklung von Code-Elementen der normativen Strukturen.[18] Die Entwicklung der Schriftlichkeit markiert demzufolge den Übergang vom primitiven zum intermediären Gesellschaftstypen. Den Übertritt vom intermediären zum modernen Gesellschaftstyp kennzeichnet die Les- und Schreibkenntnis einer breiteren Oberschicht. Die Richtung der Evolution ist immer von einer steigenden allgemeinen Anpassungsfähigkeit geleitet.[19]

Primitive Gesellschaften kennzeichnet ein sehr niedriger Grad an Differenzierung. Die Religion spielte in primitiven Gesellschaften eine überragende Rolle, weil sie alle Bereiche des menschlichen Handelns strukturierte. Die Subsysteme hatten sich zu diesem Zeitpunkt folglich noch nicht ausdifferenziert. Es gab keine Institutionen, welche die Elemente einer Gesellschaft koordinieren konnten, sodass jegliche Organisation auf kulturell-symbolischer Ebene ablief. So konstituierte sich die kollektive Identität der Mitglieder schon in primitiven Gesellschaft aus der religiösen Orientierung, genauer, einem gemeinsamen System von Sinndeutungen und operativen Codes, denn die meisten primitiven Gesellschaften verfügten weder über territoriale Grenzen, noch über einen Mitgliedsstatus, der sie von anderen Gruppen unterschied. Neben den Verwandtschaftsbeziehungen waren es diese gemeinsamen Codesysteme , die die Struktur der Gesellschaft bestimmten.

Die Entwicklung militärischer und ziviler Bürokratien in fortgeschritten primitiven Gesellschaften differenzierte die Institutionen zunehmend von Verwandtschaftszusammenhängen. Es differenzierten sich erste Subsysteme, da die so engen Zwängen der Verwandtschaft unterliegenden Kriterien der Ehepartnerwahl gelockert wurden. Dadurch konnte beispielsweise Land unabhängig Verwandtschaftszusammenhängen erworben werden und es etablierten sich Erwerbsrechte. Der ökonomische Fortschritt, der aus der effektiveren Nutzung des eigenen Landes erwuchs, führte zu dem Wunsch nach territorialer Abgrenzung und gipfelte in der Institution einer Regierung, die sich als zentralisierte Befehlsgewalt herausdifferenzierte. Sie hatte die Aufgabe, die Interessen der Gemeinschaft an kollektive Ziele zu binden. Das neue politische Element war zentral auf eine religiöse Begründung angewiesen, die dessen Macht legitimieren konnte und die die durch Differenzierung entstandene soziale Schichtung rechtfertigte. Die Klassenzugehörigkeit richtete sich primär nach dem Sozialstatus von Verwandtschaftseinheiten, da deren Solidarität untereinander das wichtige Erfordernis einer positiv empfundenen Klassenzugehörigkeit erfüllte. Die allgemeine Theorie sozialer Schichtung geht davon aus, dass die Schichtung eine funktionale Notwendigkeit menschlicher Gesellschaften ist, weil verschiedene soziale Positionen mit verschiedenen Entschädigungen verbunden sein müssen, um eine leistungsadäquate Besetzung der Positionen zu garantieren. Demnach ist evident, dass die gesellschaftliche Evolution zu stratifizierten Gesellschaften führt. Um diese Stratifikation zu legitimieren, ist es erforderlich, dass der Rang der Systemeinheiten entsprechend in einem Wertesystem institutionalisiert ist, das soziale Ungerechtigkeiten der Schichtung legitimiert.

Die intermediären Gesellschaften kennzeichnet insbesondere die geschriebene Sprache. Anfangs wenig verbreitet, weitete sich die Schriftbeherrschung auf die gesamte männliche Oberschicht aus. Diese Entwicklung bewirkte eine erste wichtige Differenzierung des kulturellen vom sozialen System. Konnten kulturelle Inhalte in primitiven Gesellschaften ausschließlich über orthosoziale Interaktion kommuniziert werden, wurde es nun möglich, kulturelle Inhalte langfristig zu kumulieren und weiter zu verbreiten. Da gerade die Priester die Schrift beherrschten, waren die Systeme des konstitutiven Symbolismus stark von religiösen Inhalten durchdrungen. Fortgeschrittene intermediäre Gesellschaften weisen ein umfassenderes System konstitutiver Symbole auf als primitive Gesellschaften, da sie Religionen entwickelten, die erstmals zwischen säkularer und transzendentaler Ordnung unterschieden. So etablierten sich Elemente des Handlungssystems als zunehmend säkulare Sphären zu Subsystemen, die von der Religion und damit vom Kultursystem unabhängiger wurden. Diese erste Differenzierung des Handlungssystems in vier Subsysteme führte noch nicht dazu, dass diese von der Religion unabhängig waren, vielmehr wurden sie durch sie legitimiert. Das äußerte sich in der Politik beispielsweise darin, dass ein König durch einen göttlichen Auftrag berufen war oder sogar den Status einer Gottheit beanspruchte. Dieser sicherte ihm die Begründung einer legitimierten Stratifikation seiner Untertanen und stellte für die Untergebenen ein Medium dar, das sie mit ihren kulturellen Grundlagen verband. Es bestand dadurch eine grundlegende sinnkonstitutive Abhängigkeitsbeziehung der Menschen von ihren Königen und Göttern.

Allgemein lässt dich die Tendenz feststellen, dass die gesellschaftliche Gemeinschaft umso abhängiger von ihrem kulturellen System ist, je niedriger ihre sozio-kulturelle Entwicklung ist. Das Kultursystem kann Unabhängigkeit von den übrigen Subsystemen des allgemeinen Handlungssystems erst erlangen, wenn es einen Allgemeinheitsgrad erreicht hat, durch den es nicht nur mehr für eine spezifische Bevölkerung Gültigkeit besitzt. Ein erster wichtiger Schritt zu dieser Unabhängigkeit war die Trennung in säkulare und transzendentale Ordnungsvorstellungen. Die christliche Religion konnte als erste diese Unabhängigkeit von den mit ihr interdependenten sozialen Systemen aufrecht erhalten, wodurch das kulturelle System bedeutsame Neuerungen hervorbringen konnte, die bis heute Bestand haben und sich über alle Gesellschaften im europäischen Raum verbreiteten. Um zu verstehen, wie sich diese Kultur so stark von ihrer Ursprungsgesellschaft dissoziieren konnte und von anderen Gesellschaften aufgenommen wurde, sollten die Bedingungen beleuchtet werden, unter denen sich das Christentum entfalten konnte. Ihren Ursprung hatte die christliche Religion im Judentum Palästinas. Doch schon bald entwickelte sich die christliche Kirche zu einer Vereinigung, an der jeder partizipieren durfte, unabhängig von ethnischer und territorialer Herkunft. Durch diese Differenzierung des Kultursystems vom Sozialsystem war die christliche Kirche von jeder Gemeinschaft unabhängig. Gleichwohl war sie in die Sozialstruktur der Gesellschaft insofern eingegliedert, als sie es verstand, die säkularen Kulturkomponenten der Antike in sich aufzunehmen. Zudem war die Kirche nach den Regeln des römischen Rechtssystems organisiert und durch die direkte Rechtssprechung der Päpste mit den politischen und wirtschaftlichen Zweigen des Sozialsystems verbunden.

Die entscheidende Unabhängigkeit von weltlichen Organisationen lag darin begründet, dass es eine klare Trennung zwischen säkularer und transzendentaler Sphäre gab, die von keinem Menschen aufgehoben werden konnte und das Ziel des Glaubens für jeden einzig das individuelle Heil der Seele bedeutete. Seinen Bezugsrahmen zur säkularen Welt erhielt die Religion durch Christus, der sowohl Mensch wie Gott war und über den die Menschen in Beziehung zu Gott treten konnten. Den mystischen Leib Christi verkörperte die Institution der Kirche, die sich mit der Institution des Papstes für die zahlreichen römischen Stadtstaaten zum integrativen Zentrum entwickelte.

Da die Kirche an wichtigen Punkten mit weltlichen Strukturen verbunden war und sich als eigenständige, bürokratisch organisierte Institution dennoch ihre Unabhängigkeit erhielt, konnte sie über lange Zeiträume eine Schlüsselrolle spielen und als institutionelle Brücke zwischen antiken und modernen Gesellschaften gelten.[20]

In der Renaissance wurde einmal mehr deutlich, dass die christliche Religion als kulturelles System offen war, weltliche Strukturen und Inhalte in sich zu vereinen. Das steigende Interesse der Menschen an naturwissenschaftlichen und philosophischen Themen konnte sich innerhalb des religiösen Rahmens des kulturellen Systems entwickeln. Bestand anfangs eine Dichotomie darin, dass Christen sich zwar als von dieser Welt, jedoch nicht zu ihr gehörig verstanden, entwickelte sich in der Renaissance eine Aufgeschlossenheit gegenüber weltlichen Dingen, die sich in der Einbeziehung säkularer Elemente in die religiöse Weltorientierung begründet.

Die Differenzierung des kulturellen Systems von den übrigen Subsystemen einerseits und die interne Differenzierung des Kultursystems von seiner religiösen Grundlage andererseits ermöglichte die Ausdifferenzierung weiterer Subsysteme innerhalb des Kultursystems, so die Kunst und die Wissenschaft. Damit das Kultursystem seine Aufgabe als Strukturerhaltungssystem weiterhin erfüllen kann, muss es stets neue Wertmuster hervorbringen, um die neudifferenzierten Einheiten zu legitimieren. In modernen Gesellschaften, in denen Konfessionspluralismus und grenzüberschreitende Mobilität der Menschen gängig sind, muss es weitere Integrationsmechanismen geben als jene, die sich auf das Normensystem stützen. In Integrationsmechanismen moderner Gesellschaften bestimmen Verfassungselemente den Rahmen der normativen Ordnung, die die Beziehungen zwischen der gesellschaftlichen Gemeinschaft und der Regierung strukturieren. Da die Beziehungen der gesellschaftlichen Gemeinschaft zum Kultursystem in modernen Gesellschaften, die nicht über einen klar definierten Mitgliedsstatus verfügen, durch eine normative Ordnung nicht ausreichend stabilisiert werden, ist die Zentralgewalt der Regierung die tragende Instanz in der Normenerhaltung. Die ursprüngliche ethnische oder religiöse Vereinigungsgrundlage wird zunehmend von wirtschaftlichen, politischen und freiwilligen Vereinigungsformen abgelöst, durch die gesellschaftliche Solidarität gewährleistet werden soll. Eine normative Ordnung kann also auch ohne einen primär religiösen Begründungszusammenhang in einer Gemeinschaft institutionalisiert werden. Abzuwarten bleibt, ob die Motivation zur gesellschaftlichen Solidarität zu erhalten ist, wenn die Begründungen einer gesellschaftlichen Vereinigung nicht mehr in tradierten Werten wurzeln, die in stabilen Beziehungen zu einer religiösen Orientierung stehen.[21]

Schluss

Das AGIL-Schema lässt sich ähnlich einer Schablone an Gesellschaften anlegen, um sich einem so komplexes Feld wie Gesellschaften systematisch zu nähern. Sowohl primitive wie moderne Gesellschaften müssen die vier Funktionen Anpassung, Zielerreichung, Integration und Strukturerhalt erfüllen, um überleben zu können. Das Römische Reich beispielsweise entwickelte mit seinem Rechtssystem und dem Christentum entscheidende Grundlagen für die Entstehung moderner Gesellschaftstypen. Das Römische Reich selbst aber zerbrach trotz dieser vielversprechenden Entwicklungen, da die latenten Strukturmuster nicht ausreichend verallgemeinert werden konnten, um die multiethnische Gemeinschaft unter einem normativen Überbau zu vereinen.

Das AGIL-Schema lässt sich nutzen, um die gesellschaftliche Evolution nachzuvollziehen, doch auch, um Entwicklungen ex ante strukturieren zu können. Man denke an die Europäische Union, die sich derzeit in den Osten auszuweiten beginnt. Die Integration der Türkei steht bevor, doch scheinen auch beträchtliche Unsicherheiten darüber zu existieren, wie erfolgreich die Integration gelingen kann. Betrachtet man die heutige Situation der EU unter der Schablone des AGIL-Schemas, lässt sich ausmachen, in welchen Bereichen eine Integration Schwierigkeiten bereiten kann. Es dauert nicht lange, bis die Aufmerksamkeit auf die Erfordernisse gerichtet ist, die eine Gesellschaft nach Parsons definieren: Eine kollektiv organisierte Bevölkerung und eine gemeinsame normative Ordnung. Das normative System, das sich in modernen Gesellschaften zwar in einem universalistischen Rechtssystem institutionalisiert, muss sich trotzdem aus gemeinsamen Wertorientierungen speisen, die in kulturellen Formen verankert sind. Ein Problem könnte nun darin bestehen, dass der ‚Christenclub’ Europa seine latenten Strukturmuster nicht ausreichend verallgemeinern kann, um eine mit der Türkei kompatible normative Ordnung zu entwickeln. Die gesellschaftliche Solidarität unter einer Gemeinschaft von Gleichberechtigten kann in Anbetracht der unterschiedlichen Ausgangslagen nur schwerlich durch einen legitimierten Machtapparat gewährleistet werden. Vielmehr ist es wohl erforderlich, gemeinsame Wertverpflichtungen zu entwickeln, die eine Solidarität ermöglichen, die aufgrund freiwilliger Bereitschaft gegenüber einer positiv bewerteten Gemeinschaft entsteht.

Literatur

Jensen, Stefan 1976, Zit. in: Parsons, Talcott 1976, »Zur Theorie sozialer Systeme«, Westdeutscher Verlag GmbH, Opladen

Parsons, Talcott 2000 (1972), »Das System moderner Gesellschaften«, Juventa Verlag, München/Weinheim

Parsons, Talcott 1986 (1966), »Gesellschaften. Evolutionäre und komparative Perspektiven«, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main

Parsons, Talcott 1976, »Zur Theorie sozialer Systeme«, Hrsg. Stefan Jensen, Westdeutscher Verlag GmbH, Opladen

[...]


[1] Vgl. Parsons 1986 (1966), S. 17.

[2] Vgl. Jensen 1976, S. 33.

[3] Vgl. Parsons 1986 (1966),S. 24.

[4] Vgl. Jensen 1976, S. 34.

[5] Vgl. Parsons 1986 (1966), S. 17.

[6] Vgl. Parsons 2000 (1972), S. 34f.

[7] Vgl. Parsons 1986 (1966), S. 34.

[8] Vgl. Parsons 1986 (1966), S. 50.

[9] Vgl. Parsons 1986 (1966), S. 18.

[10] Vgl. Parsons 1976, S. 73ff.

[11] Vgl. Parsons 1976, S. 276.

[12] Vgl. Parsons 1986 (1966), S. 23.

[13] Vgl. Parsons 1986 (1966), S. 54.

[14] Vgl. Parsons 1986 (1966), S. 32.

[15] Vgl. Parsons 1986 (1966), S. 55.

[16] Vgl. Parsons 2000 (1972), S. 40.

[17] Vgl. Parsons 2000 (1972), S. 40ff.

[18] Vgl. Parsons 1986 (1966), S. 46.

[19] Vgl. Parsons 1986 (1966), S. 46f.

[20] Vgl. Parsons 2000 (1972), S. 54.

[21] Vgl. Parsons 2000 (1972), S. 155.

Ende der Leseprobe aus 13 Seiten

Details

Titel
Die Ausdifferenzierung des kulturellen Systems als Subsystem des allgemeinen Handlungssystems
Hochschule
Universität Erfurt
Veranstaltung
Theorien sozialen Wandels
Note
1,3
Autor
Jahr
2004
Seiten
13
Katalognummer
V108816
ISBN (eBook)
9783640070077
Dateigröße
431 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Für Kommentare bin ich dankbar, viel Spass!
Schlagworte
Ausdifferenzierung, Systems, Subsystem, Handlungssystems, Theorien, Wandels
Arbeit zitieren
Svenja Wesseloh (Autor:in), 2004, Die Ausdifferenzierung des kulturellen Systems als Subsystem des allgemeinen Handlungssystems, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/108816

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