A. Begriff, Definition und Kriterien der Volkspoesie
I. Zum Begriff „Volk“ und „Poesie“
Am Ende des 18. Jahrhunderts war der Begriff „Volk“ mit verschiedenartigen Vorstellungen und Wertungen verbunden.
So stellte er oft eine Bezeichnung für die „Gesamtheit der Untertanen eines Herrschers oder die Gesamtheit der Bürger eines Staates“[1] dar.
In der Zeit der Romantik wurde die soziale Unterschicht, oft verächtlich, als „Volk“ bezeichnet (entgegen also der Oberschicht der Gebildeten und im Sinne von „Pöbel“).
Johann Gottfried Herder (1744-1803; von dem der Begriff der Volkspoesie stammt)[2] entdeckte „den Reiz der Naturnähe und der ungebrochenen Kräfte primitiver Völker und ihrer künstlerischen Schöpfungen, besonders im Volkslied, und sah auch die, meist Unterschicht genannte, Hauptschicht der sogenannten Kulturvölker in neuem Lichte als ‚den großen ehrwürdigen Teil des Publikums, der Volk heißt’, der kräftigere Sinne, reichere Phantasie und ursprünglicheres Empfinden habe als die gelehrte Oberschicht.“[3]
Nach Herder geht aus dem Volk u.a. der Volksglauben, Volkssagen, Volkslieder (in dem das Empfinden und die Phantasie am Ausgeprägtesten auftritt) und alle Kunst, die volksmäßig oder volksartig ist hervor.
Der Begriff „Poesie“ stammt vom griechischen Wort „Poiesis“ ab und bedeutet das Machen, das Verfertigen, insbesondere der Dichtkunst. Der Begriff besagt also hier: Dichtung, bzw. Dichtkunst.
Volkspoesie bedeutet in der Romantik ein Erstarken des Nationalbewusstseins. Dies zeigt sich u.a. an der Bezogenheit zur (nationalen, d.h. deutschen) Sprache, Dichtung, Heimat, Tradition und Geschichte des Volkes und der Identifikation mit dem gesamten Volk[4]. Volkspoesie „bezeichnete eine dem anonymen Kunstschöpfertum der einzelnen Völker zugeschriebene Weise der dichterischen Welterfassung und –vermittlung, die sich von der Gelehrten- und Individualpoesie unterschied.“[5].
Dem Begriff der „Volkspoesie“ stehen die Begriffe „Urpoesie“ (Betonung der vermuteten Altertümlichkeit; Volkspoesie wird hier als „Relikt sonst nicht überlieferten archaischen Dichtens“[6] verstanden), „Nationalpoesie“ (die ethnischen Besonderheiten der Volkspoesie werden ins Zentrum der Betrachtung und Wertung gerückt; Nationalpoesie „verkörpert den Geist der Nation und ist in Inhalt und Form national gültig und verbindlich“[7] ) und „Naturpoesie“ (hier wird der Volkspoesiebegriff „polemisch oder beschreibend gegen die Kunstpoesie verwandt“[8] ; Volkspoesie wurde hier „insgesamt die Qualität eines organisch gewachsenen, daher weithin nicht schriftlichen überlieferten Kulturguts zuerkannt“[9] ) nahe.
II. Zum Begriff der Volkspoesie bei verschiedenen Autoren in der Romantik
Johann Gottfried Herder sieht die Volkspoesie auch als „tiefes Einfühlungsvermögen, aus der Sprache und Dichtung der Völker, ihre Seele, ihr Wesen, ihre Nationalcharaktere zu erfassen.“[10] Herder verstand unter Volk „das Ursprüngliche als eine dauernde Möglichkeit, das er [Herder] in eine späte Zeit hinüberzuretten sucht“.[11] Volkspoesie ist somit für ihn „die Stufe der Vorbereitung der Kunstpoesie“[12]
Friedrich Schlegel sieht die Dichtung der Griechen, die sich mit den politischen, sozialen und kulturellen Verhältnissen des Volkes auseinandersetzt als „Ausdruck des Volkes“ an. Der Begriff der Volkspoesie sieht F. Schlegel allerdings nur in der „Dichtung der geringeren Stände im Gegensatz zur Poesie der höchsten Bildung einer Zeit“[13] (z.B. Homer). Allerdings so Schlegel „Alle wahrhaft schöpferische Poesie kann nur aus dem inneren Leben eines Volkes [...] hervorgehen.“
Ludwig Tieck (bekannt u.a. durch Nachdichtungen von Volksbüchern) und Clemens von Brentano (bekannt u.a. mit dem Sammeln von Volksliedern, Märchen, Schwänken usw.) beschäftigten sich zwar mit Volkspoesie und sehnten sich nach deren Ursprünglichkeit, jedoch blieben sie einer „Volkspoesie im ständischen Sinne“ treu, da sie sich nicht in der Unterschicht bewegten.
Die Volkspoesie, soweit sie nicht direkt aus dem Volk kommt, muss „aus dem Geist und der Phantasie des Volkes hervorgehen“, so Tieck. Ein Beispiel dafür wäre Shakespeare.
Jakob Grimm sieht in der Volkspoesie den „Volksgeist“ wirken. In der alten epischen Dichtung ist dem Volk „ein gemeinsames Gut gegeben, an dem jeder teilhabe“[14]. Grimm sieht die Volkspoesie v.a. als „künstlerisches Schaffen früherer Zeit, das unbewusst und kollektiv gewesen war.“[15]
Wilhelm Grimm nimmt Volkslieder und Volksgedichte als „von selbst entstanden und überall bekannt“ war. Die Volkspoesie „passt sich selbst an“[16]. Aber auch Dichter, wie etwa Goethe, die große „nationale Stoffe geformt“ oder alte Stoffe bearbeitet haben, gehören der Volkspoesie an, so Wilhelm Grimm.[17]
Achim von Arnim sieht Volkspoesie dagegen auch als ein Schaffen eines jeden einzelnen Dichters „aus dem Geist seines Volkes und dem Ganzen seiner Geschichte“ an. Volkspoesie bedeutet hier die „Seele seines Volkes“ wiederzugeben.[18]
Die Heidelberger Romantik (z.B. Görres) stellt in der Volkspoesie einen religiösen Grundcharakter (so z.B. eine schicksalhafte Notwendigkeit der Entwicklung, eine Annäherung der Geschichte an die Natur, in der Natur und Geist zwei Seiten der menschlichen Existenz sind) fest.
Für die Jenenser Romantik ist „Volkspoesie nicht so sehr Naturprodukt als historisches Zeugnis“[19]. An der Volkspoesie darf der Künstler seine Freiheit ausüben (z.B. Kunstmärchen schaffen, u.ä.).
III. Entstehung und Entdeckung der Volkspoesie
Gegen Ende des 18. Jahrhunderts wurden in England von James MacPherson (1736-1796; Die Ossiandichtung: „Fragments of Ancient Poetry, collected in the Highlands of Scotland and translated from the Gaelic or Erse Language“) und von Thomas Percy (1729-1811; Dreibändige Sammlung von 180 Balladen: „Reliques of Ancient English Poetry: Consisting of Old Heroic Ballads, Songs and other Pieces of our earlier Poets (chiefly of the lyric kind)“) alte Dichtungen herausgegeben. Die Herausgeber griffen in diesen Dichtungen alte, überlieferte Motive und Formen auf und bearbeiteten (ergänzten, erweiterten, veränderten) sie.
Johann Gottfried Herder nahm dieses Konzept auf und veröffentlichte selbst in einer Zeitung ein „estnisches Lied“[20]. Daneben forderte er auch auf, „alte Nationallieder“ zusammenzutragen. 1774 veröffentlichte Herder selbst eine Sammlung „Alte Volkslieder“ (die späteren Fassungen werden dann nur noch mit „Volkslieder“ betitelt). Das Volkslied wird nach Herder bestimmt durch „seine vom Gefühl getragene Unmittelbarkeit, seine `Sprünge und Würfe` und seine einfache Szene“[21].
Der Entstehung von Märchen, bzw. ihren Stoffen (bzw. und insbesondere der Volkspoesie selbst) liegen drei Theorien zu Grunde:
(1) „Märchen [Volkspoesie] als Erbe aus dem gemeinsamen geistigen Besitz eines ursprünglich einheitlichen ‚Volksstammes’“[22] ;
(2) Märchen [Volkspoesie] als Wandergut (d.h. die volkspoetischen Formen (Märchen, Erzählungen) werden von Völkern weitergegeben, auch an andere Völker);
(3) Märchen [Volkspoesie] als eine Gemeinsamkeit, die aus den übereinstimmenden Grundlagen und Eigenschaften menschlichen Lebens herauswächst (d.h. Volkspoesie als soziale, belehrende und moralische Funktion).
IV. Formale Kriterien der Volkspoesie
Seit Herder („Sprünge und Würfe“; 1773) sind formale Kriterien der Volkspoesie:
- „Gestaltungsweisen, die auf kausale Begründung, logische Richtigkeit, Erzählkontinuität, Informationsgenauigkeit und chronologische Abfolge der epischen Geschehniswiedergabe – zugunsten eines episodischen reihenden unverbundenen Erzählens – weitgehend verzichten.“[23]
- Die Abwesenheit des Erzählers im Text (da er in der mündlichen Vortragssituation als physisch präsent angenommen werden kann).
- Eine auf Individualisierung verzichtende Personentypik
- und das Fehlen von reflektierenden, abstrahierenden und moralisierenden Momenten.
V. Inhaltliche Kriterien der Volkspoesie
Inhaltliche Kriterien der Volkspoesie sind:
- Darstellungen archetypischer, allgemeinmenschlicher Daseins- und Verhaltensformen.
- Volkspoetische Themen können u.a. sein: Familie, Liebe, Kampf, mythologische Naturerfahrung, Tod und Jenseitsvorstellung.
Die Volkspoesie entspringt oft nationalen Traditionen, einem universalen Wandergut oder auch einem „sozialen nicht bestimmbaren allgemeinem Volksgeist“. Neueres Interesse sieht Volkspoesie auch als „Trivialisierung von elitärer Dichtung“ (als „gesunkenes Kulturgut“) an.