Konfliktentwicklung


Hausarbeit, 1999

21 Seiten


Leseprobe


INDEX Seite

- Deckblatt

- Inhaltsverzeichnis

- Literaturverzeichnis

- Konfliktentwicklung:

1. Vorwort

2. Der Konflikt im vertrauten Umfeld

3. Soziologie: Friedensforschung..
3.1 Wie Konflikte zwischen Staaten entstehen.
3.1.1. Die quasi-automatischen Konflikttypen
3.1.2 Der Preis des Nachdenkens
3.1.3. Drohung und Abschreckung
3.2. Analogie für soziale Konflikte zwischen Einzelpersonen.

4. Sozialpsychologie: Social Conflict
4.1. Die Definition von Konflikt.
4.2. Mögliche Verhaltensweisen bei Konflikten
4.3. Die Konfliktentwicklung von „leicht“ zu “schwer”
4.4. Transformationen, die während der Konfliktentwicklung vorgehen.
4.4.1. leicht à schwer
4.4.2 kleinà gross
4.4.3. spezifisch à generell
4.4.4. doing well à gewinnen à dem anderen schaden
4.4.5. wenige à viele
4.5. Voraussetzungen für die Beilegung eines Konfliktes ohne Eskalation.
4.5.1. Konflikteindämmende Normen und Institutionen.
4.5.2. Angst vor Eskalation
4.5.3. Soziale Beziehungen

5. Die Entwicklung des Konfliktes bei der Mobilisierung von Recht
5.1. Entwicklung des Konfliktes bei Klageerhebung,
5.1.1. in fortlaufenden Sozialbeziehungen
5.1.2. einmalige oder anonyme Sozialbeziehungen
5.2. vor Gericht
5.3 Fazit

Literaturverzeichnis

Blankenburg, Erhard: Mobilisierung des Rechts; 1995; Springer-Verlag; Berlin

Deutsch, Karl W.: Wie Konflikte zwischen Staaten entstehen. In: Analyse internationaler Beziehungen. Konzeption und Probleme der Friedensforschung. Frankfurt 1968.

Haft, Fritjof; Verhandeln, die Altenative zum Rechtsstreit; 1992; C.H. Beck‘sche Verlagsbuchhandlung; München.

Herkner, Werner; Lehrbuch Sozialpsychologie; 1991; Verlag Hans Huber; Bern.

Imbusch, Peter / Zoll Ralf; Friedens- und Konfliktforschung; 1996; Leske + Budrich; Opladen.

Meyer, Berthold; Formen der Konfliktregelung; 1997; Leske + Budrich; Opladen.

Pruitt, D.G. / Rubin J.Z.; Social Conflict; 1986; Random House; New York.

Schelling, T. C.: "Bargaining, Communication, and Limited War", in: Conflict Resolution, 1957; London.

1. Vorwort

Der Entscheidung eine Arbeit über Konfliktentwicklung zu schreiben, lag eine Suche nach Antworten auf Alltagsfragen zugrunde. Wie, wann und warum sind Menschen verschiedener Meinung? Wie, wann und warum wird aus einer Meinungsverschiedenheit ein Konflikt? Gibt es im Laufe dieser Entwicklung einen besten Zeitpunkt um Forderungen zu nennen, um sich mit einem erzielten Resultat zufrieden zu geben? Kann man die Kunst, Konflikte zu führen, lernen und wenn ja, kann man mit dieser Kunst in Alltags-diskussionen seine Interessen besser durchsetzen? Eine Voraussetzung hierfür ist sicher, dass man den Verlauf von Konflikten in theoretischen Modellen kennt, sich bewusst ist, dass trotz aller einzigartiger Situationen gewisse Abläufe immer wieder nach dem gleichen Schema laufen und somit Regeln unterworfen sind.

Was aber heisst Entwicklung? Dem Wort „Entwicklung“ kommen im Alltagsgebrauch zwei Bedeutungen zu: Einerseits wird das Wort gebraucht im Sinne, dass etwas entsteht, wo vorher nichts war, mit anderen Worten: „Entwicklung“ im Sinne von „Entstehung“. Andererseits kann aber „Entwicklung“ – gerade im Zusammenhang mit Konflikten – oft auch so verstanden werden, dass etwas bereits Vorhandenes, intensivere Formen annimmt, hier also „Entwicklung“ als „Eskalation“.

In der Philosophie wird Entwicklung definiert als die Auswicklung, Entfaltung und Ausgestaltung des im Grunde einer Einheit Eingefalteten. Es geht also bei meiner Arbeit weniger um die Ursachen, die zu Konflikten führen können und auch nicht um die Eskalation und ihre klassischen Stufen wie Glasl es beschrieben hat. Vielmehr habe ich versucht in meiner Arbeit das Augenmerk auf die Entfaltung und Ausgestaltung des Konfliktes zu richten, der bereits im Inneren einer Einheit vorhanden ist, sei dies nun ein Staatenbund, Staat oder Individuum.

Ich bin bei meiner Arbeit sehr eklektisch vorgegangen, weder erhebt sie den Anspruch auf Vollständigkeit, noch vertritt sie nur eine Methode oder Lehrmeinung. Mir schien es allerdings wichtiger, nicht aus der Vielzahl von Meinungen und Definitionen eine vollständig wiederzugeben, sondern den Schwerpunkt auf die Darstellung der Mechanismen zu legen, die bei der Entwicklung eines Konfliktes eine Rolle spielen.

Wir werden von ihnen beherrscht, ohne daß wir sie verstehen. Mir scheint es deshalb enorm wichtig, sich diese Mechanismen vor Auge zu führen. Es ist dabei nicht von Bedeutung, ob man sie durch und durch versteht, das wichtigste scheint mir, sich ihrer Gewahr zu werden, denn nur so läßt sich dieser Teufelskreis von Konfliktursachen und ihren Eskalationen durchbrechen.

2. Konflikt in einem vertrautem Umfeld

Ein Hund, der auf der anderen Strassenseite einen Artgenossen trifft, braucht nur anzuknurren, und schon knurrt der andere zurück. Darauf steigert er seine Lautstärke, und der andere überbietet ihn darin. In der klassischen Eskalationssequenz folgen dann das Zähnezeigen, das Zuschnappen und schliesslich ein verbissener Kampf. In einem sogenannten quasi-automatischen Konflikt schwindet die Herrschaft der Akteure über ihr eigenes Verhalten und über das ihres Gegners schnell dahin, denn die Massnahmen der einen Seite dienen der anderen jeweils als Ausgangspunkt für ähnliche Gegenmassnahmen. Dem Kampf zweier kleiner Jungen auf dem Schulhof kann eine ähnliche Sequenz vorangehen: der Austausch spöttischer Blicke führt zu Drohungen, Herausforderungen und deren Erwiderung, bis endlich Schläge ausgetauscht werden und ein regelrechter Kampf im Gange ist.[1]

3. Soziologie „Friedensforschung“

3.1 Wie Konflikte zwischen Staaten entstehen

3.1.1. Die quasi-automatischen Konflikttypen.

Was bei Hunden und kleinen Jungen beobachtbar ist, kann man auch bei Rüstungs-wettläufen zwischen Nationen und bei Konfrontationen grosser Mächte beobachten. Die Höhe der Rüstung oder der Rüstungsausgaben einer Nation wird zur Bezugsbasis einer zweiten Nation, die beschliesst, diesen Aufwand mit einer Sicherheitsmarge von beispielsweise 10% zu überbieten. Aber nun wird dieser neue, höhere Rüstungsstand der zweiten Nation wiederum zur Grundlage des Sicherheitskalküls der ersten, die dann ihrerseits versucht, 10% mehr als ihr Rivale für Waffen auszugeben. Der Rivale antwortet darauf mit einem neuerlichen Versuch, seine 10% Vorsprung zu behaupten, und so geht es fort in einer Folge ständiger Eskalation der Rüstungen, bis einer der beiden Rivalen oder beide erschöpft sind oder Krieg ausbricht oder – was höchst unwahrscheinlich ist – bis es auf beiden Seiten in letzter Minute zu einer Änderung der Politik kommt.

Auch in einer Konfrontation zwischen Grossmächten ist jede der beteiligten Mächte bestrebt, die andere hinsichtlich des verbalen oder materiellen Engagements in jeder Phase ein Stück zu überbieten. Mässig gehaltene Noten werden durch solche in scharfem Ton abgelöst. Auf Noten folgt die Verlegung von Schiffen, Truppen und Flugzeugen in die Nähe des strittigen Punktes der Erde, und vielleicht werden einige Streitkräfte ein-geschleust oder offen gelandet. Es fallen Schüsse, auf die eine mehr als gleich grosse Vergeltung der anderen Seite folgt, es kommen verbündete Nationen ins Spiel, und so weiter mit Drohung und Gegendrohung, Vergeltung und Wiedervergeltung, bis die Schwelle des mit allen Mitteln geführten Krieges erreicht und vielleicht überschritten wird.

Ihrem Wesen nach tendieren Konfliktprozesse dieses Typs dazu, automatisch und ohne Überlegung abzulaufen, ähnlich einem Brettspiel zwischen zwei Anfängern, die davon weniger verstehen als sie glauben: jeder Zug erscheint ihnen notwendig und naheliegend. Tatsächlich gehen diese Abläufe wie die Züge zweier geübter, aber noch nicht zur Könnerschaft gediehener Brettspieler oft so rasch vor sich, dass sie kaum vom Reflexhaften zu unterscheiden sind. So kommt es, dass Staatsmänner sagen können: „Wir haben keine Wahl“, und dass Nationen, die ( wie es sogar die meisten Neulinge beim Brettspiel tun ) aus ihren Erfahrungen lernen sollten, sich in Konfliktabläufe verstrickt finden, die ( jedenfalls ihnen ) unvermeidlich scheinen und den Ausbruch aus der Folge sich überstürzender Ereignisse zunehmend schwieriger gestalten.

3.1.2 Der Preis des Nachdenkens

In der klassischen Spieltheorie gilt die Annahme, dass die Spieler die eigenen möglichen Züge und die ihrer Gegner auf sämtliche zu erwartenden Konsequenzen hin durchrechnen können, und dass ihnen dies augenblicklich, vollkommen und ohne Aufwand an Zeit, Mühe oder Ressourcen möglich ist. Tatsächlich ist dies allerdings nie der Fall: Meist ist die Zahl der Kombinationen aus allen möglichen Entscheidungen und Resultaten für alle Beteiligten viel zu gross, als dass in der begrenzten Zeit so etwas wie eine erschöpfende Analyse möglich wäre. Unter diesen Bedingungen ist es häufig eine Selbsttäuschung von der „optimalen“ Lösung ( das heisst der von der besten aller möglichen ) zu reden, weil es mehr als wahrscheinlich ist, dass weder die Beteiligten noch die Beobachter innerhalb einer irgendwie begrenzten Zeitspanne sämtliche denkbare Lösungen zu überblicken imstande sind. So wird aus der Frage nach der absolut besten Gewinnstrategie die Frage nach derjenigen Zwischenstrategie, die unter den gegebenen Beschränkungen hinsichtlich Zeit und Denkkapazität aufgefunden werden kann, zu suchen.

Wie jede andere Bemühung ist jede derartige Suche mit Kosten verknüpft. Man hat sich zwischen potentiell besseren, aber nur mit grösserem Aufwand und geringerer Wahrscheinlichkeit auffindbaren Lösungen einerseits und naheliegenderen, schneller und billiger auffindbaren, aber dafür weniger guten Lösungen oder Strategien andererseits zu entscheiden. In der nationalen und internationalen Politik sind sowohl der Zeit als auch dem Denkaufwand Grenzen gezogen. Die Suche nach der „besten“ Strategie hört auf sobald mit vertretbarem Aufwand an Such- und Rechenarbeit irgendeine akzeptable Strategie gefunden wurde, ohne dass eine gleich attraktive Alternativstrategie in Sicht ist.

In der internationalen Politik kommt dabei oft so etwas wie ein „Gesetz des geringsten geistigen Aufwandes“ heraus. Aussenpolitische Richtlinien müssen von geplagten und geschäftigen Männern gefunden oder genehmigt werden, die unter Zeitdruck stehen und durch die auf sie einstürmenden Informationen überfordert sind. Jede Richtlinie, die leicht zu entdecken und zu erklären ist, die sich in die bestehenden Denkgewohnheiten der betreffenden Entscheidungsträger einfügt und keine grösseren Nachteile aufzuweisen scheint, hat dann gute Aussicht akzeptiert zu werden. Ist sie einmal verbindlich geworden, bekommt sie wegen der grossen Zahl der an ihrer Durchführung beteiligten Menschen, die sich darauf einstellen und sich untereinander abstimmen müssen, alsbald soviel Eigen-gewicht, dass nachträgliche Änderungen nur sehr schwer möglich sind.

3.1.3. Drohung und Abschreckung

Ein wertvoller Beitrag zum besseren Verständnis der internationaler Politik stammt von Thomas C. Schelling[2], der gezeigt hat, dass Situationen mit Drohungen und Abschreckung als Spiele mit gemischten Motiven behandelt werden können. Die die Drohung aus-sprechende Partei und die den Adressaten der Drohung bildende Partei müssen mindestens eine Gruppe unvereinbarer Interessen haben: der Adressat muss etwas tun oder zu tun anschicken, was sie drohende Seite so sehr ablehnt, dass sie es durch ihre Drohung stoppen, verhindern oder ändern will. Schelling sagt weiter, dass beide Beteiligten auch ein gemeinsames Interesse daran haben, dass die Drohung nicht wahrgemacht wird. Denn die angedrohte Massnahme ist nicht nur für den Bedrohten, sondern auch für den Drohenden schmerzlich und kostspielig. Läge nämlich die angedrohte Massnahme im Interesse des Drohenden , würde er sie vollziehen und nicht androhen. Die Tatsache, dass er es vorzieht sie anzudrohen, beweist nicht seine Freundlichkeit, sondern sein Wissen um die Nachteile, die ihm aus dem angedrohten Akt erwachsen würden, und seine Abneigung dagegen. Deshalb haben die Drohpartei und die bedrohte Partei gemeinsam etwas zu gewinnen, wenn die Durchführung der angedrohten Massnahme vermieden werden kann.

Nach Schelling hängt die Wirksamkeit einer Drohung aber nicht nur von ihrer Intensität, sondern auch von ihrer Glaubhaftigkeit ab. Diese Glaubhaftigkeit ist ein Aspekt der Drohung, die von einer listigen Drohpartei getrennt gehandhabt werden kann. Eine Drohpartei kann ihre Drohung glaubhafter machen, wenn sie sich den Anschein des teilweise Irrationalen gibt und teilweise irrational handelt. Sie tut dies, indem sie in ihren Gesten und Selbstverpflichtungen eine streng rational nicht mehr zu rechtfertigende Verwegenheit zeigt. In einem der von Schelling benutzten Beispiele machen sich zwei Autofahrer einander an einer Kreuzung die Vorfahrt streitig, und nach Schelling liegt der Erfolg dann wahrscheinlich bei dem Fahrer, der als erster sein Auto so beschleunigt, dass er, selbst wenn er es wollte, nicht mehr rechtzeitig vor einem Zusammenprall abbremsen könnte. Dies irrationale Verhalten, meint Schelling, dürfte den Fahrer zur Fahrt-verlangsamung zwingen. Dem wäre unter der Voraussetzung beizupflichten, dass der andere Fahrer nicht Schelling gelesen hat, oder dem Schellingschen Denken folgend, ebenfalls soweit beschleunigt, dass er nicht mehr stoppen kann, bevor er mit dem ersten Fahrer oder einem anderen Verkehrsteilnehmer zusammenprallt.

Die Abschreckungstheorie ist interessant und wichtig, doch hat sie schwerwiegende und potentiell verderbliche Lücken: Sehr bedenklich ist zum Beispiel die Grundannahme, dass sowohl die Bedroher als auch die Bedrohten - genauer gesagt die Regierungen beider Länder- in einer mit Drohungen, Furcht, Ungewissheit, Ermüdung und Überforderung einhergehenden Krise völlig rational bleiben. Die Erfahrung, ebenso wie viele psychologische Erkenntnisse, besagen aber das Gegenteil. Angespannte, eingeschüchterte und erschöpfte Menschen - Staatsmänner und Militärs nicht ausgenommen - werden reizbar und aggressiv, ihr Beobachtungs- und Urteilsvermögen lässt nach. Kurzum, sie werden weniger rational, während die Abschreckungstheorie der Drohpartei dazu rät, ihre eigene Ueberlebenshoffnung wie die der Gegenseite auf deren rationale Reaktion auf die eigenen Drohungen aufzubauen.

Eine weitere Lücke offenbart sich bei folgender Überlegung: Versucht sich eine Drohpartei den Anschein des teilweise irrationalen zu geben, indem sie etwa ihr Fahrzeug vor Kreuzungen beschleunigt, bei Verhandlungen ihre Hörhilfe abschaltet, Stolpern oder Trunkenheit vortäuscht während sie Explosivstoffe am Gegner vorüberträgt, oder die Massenmeinung ihres Landes aufstachelt, dann ist es wahrscheinlich, dass ihr Gegner sie als weitgehend oder völlig irrational versteht und in ihr nur noch ein blindes Übel sieht, dass schnellstmöglich und auf fast jedes Risiko hin zerstört werden muss. So könnten scheinbar irrationale oder unzureichend kontrollierte Drohungen mit Kernwaffen eine entsprechend ausgerüstete Gegenseite durchaus zu einem ersten atomaren Vernichtungs-schlag einladen.

3.2. Analogie für soziale Konflikte zwischen Einzelpersonen.

Zusammenfassend kann man also sagen, dass folgende Faktoren bei der Entstehung von Kriegen sicher eine Rolle spielen : Der Konflikt entwickelt eine Eigendynamik, ein Wort gibt das andere und plötzlich sieht man sich gezwungen zur Tat zu schreiten, wenn man nicht einen Gesichtsverlust riskieren will. Jede Aktion der einen Partei verlangt nach einer Gegenaktion der anderen. Diese Aktionen sind durchwegs auf Drohen oder Abschrecken ausgerichtet, da dies anerkanntermassen oft funktioniert; allerdings wird sowohl das Zerstörungspotential als auch die Beschleunigung der obenerwähnten Eigendynamik, die schlussendlich zur Eskalation führt, unterschätzt.

Die Leute, die bestimmen wie eine solche Aktion aussehen soll, begnügen sich mit der ersten, halbwegs zufriedenstellenden Lösung, von der dann nicht mehr abgewichen wird, wegen des Gewichts, das sie bei der Durchführung bekommt.

Was nun für Staaten gilt, gilt meines Erachtens ebenso für Individuen: Was diplomatische Noten bei Staaten sind, ist für die Einzelperson eine kritische Bemerkung oder auch ein Beschimpfen durch eine andere Einzelperson. Man reagiert ganz automatisch mit einer kritischen Gegenbemerkung, die mit grosser Wahrscheinlichkeit noch ein wenig schärfer ausfällt, als es die der ersten Person tat. Fronten verhärten sich, man erzählt sich Argumente, die der andere nicht hören will, man geht über zu Drohungen und wer sich Chancen ausrechnet, lässt es wahrscheinlich sogar auf ein Handgemenge ankommen.

Der Mensch ist sich gewohnt auf gewisse "Inputs" mit ganz speziellen "Outputs" zu reagieren: Gemäss Fritjof Haft[3] sind diese teils angeborenen, teils angelernten Verhaltens-programme ein wichtiger Bestandteil unseres informationsverarbeitenden Systemes. Sie enthalten gespeicherte Anweisungen zu richtigen Reaktionen in bestimmten Situationen. Sobald eine Information anzeigt, dass die Situation da ist, wird die zugehörige Reaktion automatisch, ohne Nachdenken ausgelöst. Dahinter steht die Überforderung unseres informationsverarbeitenden Systemes. Wir sind nicht imstande, die Komplexität unsrer Umwelt geistig zu erfassen und in ständig und rasch wechselnden Situationen die jeweils angemessene Reaktion in der erforderlichen Schnelligkeit auf rationale Weise zu ermitteln. Gleichwohl müssen wir in allen vorkommenden Situationen rasch und richtig reagieren. Falsche Reaktionen können fatale Auswirkungen haben. Die Verhaltensprogramme bieten eine Lösung dieses Dilemmas.

Dennoch gibt es Situationen in denen diese Verhaltensprogramme uns veranlassen, genau das Falsche zu tun und eine rationalere Angehensweise an ein Problem uns viel weiter bringen würde. Nämlich dann, wenn Angst, Enttäuschung oder auch Übermut sowie andere Gefühle, uns in einen Konflikt hineinschlittern lassen, von dem wir uns fast nicht mehr lösen können. In solchen Situationen ist es extrem wichtig, sich der Mechanismen, die uns beherrschen bewusst zu sein, um aus diesem Teufelskreis ausbrechen zu können. Das Buch „Social Conflicts“ von J.Z. Rubin und D.G. Pruitt[4] bietet sehr interessante Aufschlüsse über eben diese Mechanismen:

4. Sozialpsychologie: „Social Conflicts“

4.1. Die Definition von Konflikt.

„For us conflict means perceived divergence of interest, or a belief that the parties‘ current aspirations cannot be achieved simultaneously.“

(Mehr sagen wäre die bestechende Einfachheit zerstören.)

4.2. Mögliche Verhaltensweisen bei Konflikten.

Rubin und Pruitt illustrieren die möglichen Verhaltensweisen, die man bei einem Konflikt einnehmen kann mit folgendem Beispiel: Peter C. muss eine Entscheidung treffen. Seit Monaten träumt er von seinem nächsten Urlaub, den er in einer kleinen Hütte in den Bergen verbringen will. Unglücklicherweise hat aber seine Frau seine Pläne durchkreuzt. Sie erklärt ihm, dass sie Berge langweilig findet und sie lieber in eine Grossstadt will. Dummerweise hasst Peter C. aber Grossstädte über alles. Peter muss sich nun entscheiden, welche Strategie er in dieser Kontroverse wählen will.

Generell stehen Peter fünf Strategien zur Verfügung. Er kann eine streiterische [5], wettkämpferische Haltung einnehmen und versuchen sich durchzusetzen, zum Beispiel indem er seiner Frau die Vorzüge der Berge darstellt, ihr erklärt, dass er sich bereits entschieden hat und basta, oder ihr droht separate Ferien zu machen, wenn sie nicht nachgibt. Er kann aber auch einen Versuch starten das Problem zu lösen und eine Möglichkeit finden, die beide zufriedenstellt, indem er zum Beispiel einen Ort vorschlägt der beiden gefällt oder indem sie an beide Orte fahren.

Er kann nachgeben und mit seiner Frau in die Stadt fahren. Er kann inaktiv bleiben und hoffen, dass sich das Problem von selbst löst. Oder er kann sich aus der Kontroverse zurückziehen indem er überhaupt keinen Urlaub nimmt.

Die selben Bedingungen, die einen Wettkampf oder eine Problemlösung weniger durchführbar erscheinen lassen, lassen die Menschen seltsamerweise diese Strategien mit mehr Nachdruck verfolgen. Dieses Paradoxon lässt sich wahrscheinlich damit erklären, dass niemand grösseren Aufwand um eine Sache betreiben will als nötig. Ziele werden zuerst mit wenig Nachdruck verfolgt, der erst mit eintretenden Misserfolgen erhöht wird.

Streit, respektive Wettkampf, wird meistens gewählt, wenn folgende Bedingungen für die Situation zutreffen: Die Partei interessiert sich nur für das eigene Resultat; die Partei ist gegenüber der anderen Partei antagonistisch; die Partei hat hohe Erwartungen[6] an den Ausgang des Streites und ist nicht bereit diese zu senken; die Partei sieht die Erwartungen der Gegenseite ebenso als hoch an (aber einfacher zu senken); es wird davon ausgegangen, dass wenig integratives Potential vorhanden ist, so dass keine Lösung gefunden werden kann die beide Parteien befriedigt; die Partei ist erfahren und fähig im Wettkampf. Unter diesen Voraussetzungen wird die eine Partei mit grosser Wahrscheinlichkeit ein streiterisches Verhalten an den Tag legen um die Ziele der anderen Partei zu durchkreuzen, ohne von seinen eigenen abweichen zu wollen.

Die meisten Konflikte die entstehen, können schnell beseitigt werden durch die Kollaboration der Parteien und ihr Bestreben das Problem zu lösen. Wenn aber andererseits bei aufkommenden Konflikten beide Parteien streiterische Taktiken anwenden, die sie den spiralförmigen Weg der Konflikteskalation gehen lassen, dann werden unglaublich mächtige und destruktive Kräfte frei. Eben dieser Umstand erklärt die Wichtigkeit des Verständnisses um diese Dinge. Die Autoren richten deshalb ihr Augenmerk verstärkt auf die erste der fünf Taktiken, nämlich die streiterische, wettkämpferische.

4.3. Die Konfliktentwicklung von „leicht“ zu “schwer”.

Rubin und Pruitt gehen davon aus, dass streiterische Taktiken sich in einer Abfolge von leicht zu schwer unterscheiden, und dass es am praktischsten ist, sie auch in diesen Dimensionen zu betrachten. Diese Taktiken werden über ihre Konsequenzen für den anderen definiert: „leicht“ ist für den anderen vorteilhaft bis neutral. Im Gegensatz dazu sind „schwere“ Taktiken unvorteilhaft oder kostspielig für den anderen– oder drohen zumindest an es zu werden. Versprechen sind also leichter als Drohungen, und Drohungen leichter als ein tätlicher Angriff.

Ausserdem gehen sie davon aus, dass streiterische Taktiken so gut wie immer in der Sequenz von leicht zu schwer vorgenommen werden. Diese Reihenfolge dient dazu, auf die andere Partei sowie auf zufällig Anwesende den Eindruck einer „vernünftigen Person“ zu machen, jemand der zu schwereren Taktiken nur als letzte Möglichkeit greift. Tatsächlich suggeriert dieses Verhalten, dass die Partei versucht hat mit Zuckerbrot an sein Ziel zu gelangen, und erst durch die unkooperative Art der anderen Partei zum Gebrauch der Peitsche getrieben wurde. Diese Abfolge dient also vor allem dazu, die Verantwortung für das eigene streiterische Verhalten auf den anderen abzuwälzen.

Man sieht die Vorzüge dieser „leicht zu schwer“- Abfolge Theorie besser ein, wenn man sich die umgekehrte Reihenfolge anschaut und die Konsequenzen berücksichtigt: Die Partei die zuerst schwere Taktiken benutzt (zum Beispiel harte Bedingungen zu bestimmten Positionen zu stellen) läuft die Gefahr vor dem anderen und Drittparteien als grobschlächtiger Schlägertyp dazustehen, der seine Forderungen mit roher Gewalt durchzusetzen versucht. Hinzu kommt, dass wenn nachträglich eine leichtere Taktik eingeschlagen wird, dies als Zeichen von Schwäche gedeutet wird – vom Standpunkt dass die Partei nicht in der Lage war ihre Ziele mit Gewalt zu erreichen und nun deshalb wieder versöhnliche Töne einschlagen muss. Unter diesen Voraussetzungen kann das Umschalten auf leichtere Taktiken sogar als Bestechungsversuch gedeutet werden, als Versuch sich wieder freizukaufen nachdem der Versuch den anderen zu beeinflussen missglückt ist.

Dennoch gilt zu beachten, dass sehr wohl auch die andere Reihenfolge eingesetzt wird. Vor allem bei Verhandlungsspezialisten und Unterhändler aller Art ist diese Reihenfolge eher weit verbreitet, in der zuerst mit schweren Taktiken wie zum Beispiel Drohungen der Gegner „weichgekocht/gemacht“ wird, um dann mit leichteren Taktiken, wie Versprechungen, hervorzukommen. Die leichtere Taktik erscheint dann im Kontrast zur schwereren so verheissungsvoll, dass sie sehr überzeugend ist. Diese Taktik ist am erfolgreichsten, wenn verschiedene Mitglieder der gleichen Partei verschiedene Taktiken anwenden, wie das aus dem Kino bekannte Muster „guter Bulle“ und „Böser Bulle“.

Dennoch gehen die beiden Autoren davon aus dass erstere Reihenfolge, von leicht zu schwer, die verbreitetere ist.

4.4. Transformationen, die während der Konfliktentwicklung vorgehen.

Während Konflikte eskalieren gehen sie durch bestimmte „Transformationen“. Obwohl diese Transformationen auf beiden Seiten unabhängig voneinander vonstatten gehen, beeinflussen sie den Konflikt als Ganzes, weil sie normalerweise von der anderen Seite gespiegelt werden. Als Resultat dieser Transformation ergibt sich, dass der Konflikt sich solcherart intensiviert, dass er länger bestehen bleibt und immer schwieriger rückgängig zu machen ist.

Normalerweise finden mindestens fünf Transformationen im Laufe der Konflikteskalation statt. Nicht alle kommen in einem einzelnen Konflikt vor, aber alle fünf sind weit verbreitet. Diese fünf Transformationen sehen folgendermassen aus:

4.4.1. leicht à schwer

Wie bereits in Kapitel 4.3. erwähnt, fängt der Versuch den anderen zu beeinflussen meistens mit leichten Taktiken an: schmeichlerische Eröffnungen, Versprechungen, überzeugende Argumente. Vielfach werden diese dann verdrängt durch ihre schwereren Gegenstücke: Drohungen, nicht mehr rückrufbare Verpflichtungen und so weiter. Unter Umständen bricht sogar Gewalt aus.

4.4.2 kleinà gross

Bei Eskalation haben die strittigen Themen die Tendenz zu wuchern. Ausserdem haben die Parteien die Tendenz immer mehr durch den Konflikt absorbiert zu werden, und immer grössere Ressourcen aufzubieten um schlussendlich die Oberhand zu gewinnen.

4.4.3. spezifisch à generell

In eskalierenden Konflikten tendieren zunächst spezifisch gehaltene Streitfragen immer genereller zu werden und man bewegt sich auf eine allgemeine Verschlechterung der Beziehung hin. Was als kleine, konkrete Angelegenheit beginnt, wird am Ende eines eskalierenden Meinungsaustausches ersetzt durch grandiose, allumfassende Positionen und einer generellen Intoleranz der anderen Partei.

4.4.4. doing well à gewinnen à dem anderen schaden

Im Anfangsstadium eines Konfliktes geht es normalerweise den meisten Parteien nur darum so gut wie möglich für sich selber abzuschneiden, ohne Interesse daran, wie gut oder schlecht die Gegenpartei abschneidet. Diese Einstellung wurde als „Individuelle Orientierung“ beschrieben, eine Orientierung, die durch ein überwiegendes Interesse am eigenen Schicksal gekennzeichnet und weitgehend unabhängig ist vom Schicksal des anderen. Während nun aber der Konflikt eskaliert, wird dieses Interesse am eigenen Wohlergehen ersetzt durch ein klar kompetitives Interesse/ Ziel. Das eigene Wohlergehen wird nur dadurch erreicht, dass der andere ausgestochen wird. Schlussendlich, während sie Eskalation weiter voranschreitet und die Kosten beider Parteien steigen, haben die Ziele beider Parteien die Tendenz wieder zu wechseln. Das Ziel ist nun den anderen zu verletzen, und wenn man Verluste erleidet, den anderen mehr zu verletzen als man es selber ist. Für jeden Tropfen Blut muss der andere mehr bluten: auf die Spitze getriebener Wettkampf!

4.4.5. wenige à viele

Konflikte die mit Agitationen von wenigen beteiligten Personen beginnen, wachsen oft zu einem kollektiven Unterfangen, meist in Anbetracht einer bevorstehenden Niederlage. Wenn du nicht machen willst worauf ich bestehe – und ich meine Absicht nicht durch Versprechungen, Drohungen oder andere Art zu manipulieren durchsetzen kann – dann ist es in meinem Interesse möglichst viele Leute zu finden, die willens sind sich mit mir zu verbünden. Was ich nicht alleine erreichen kann, schaffe ich vielleicht mit Unterstützung meiner Gefährten.

4.5. Voraussetzungen für die Beilegung eines Konfliktes ohne Eskalation.

Natürlich eskalieren nicht alle Konflikte. In der Tat ist es sogar so, dass die, die eskalieren, in der Minderzahl bleiben. Dennoch sind sie natürlich viel auffälliger und geniessen mehr Aufmerksamkeit, wegen der Probleme, die sie für alle Beteiligten und ihr Umfeld schaffen.

Hohe Stabilität wird den Beziehungen nachgesagt, in denen Konflikte nicht leicht eskalieren. Diese Stabilität bezieht Widerstandsfähigkeit gegen Eskalation mit ein, nicht aber gegen Konflikt überhaupt. Eine gegen Eskalation widerstandsfähige Stabilität, ist normalerweise sehr fruchtbar für Beziehungen, wohingegen Stabilität im Sinne von Unvermögen in einen Konflikt einzusteigen, eine destruktive Tendenz hat.

Folgende Mechanismen haben bremsende Wirkung auf Eskalationen: Konflikt-eindämmende Normen und Institutionen, Angst vor Eskalation und soziale Beziehungen.

4.5.1. Konflikteindämmende Normen und Institutionen.

Soziale Normen haben sehr oft stabilisierende Wirkung, indem sie einen rüden, streiterischen Weg Konflikte anzugehen tendenziell verbieten und eine friedfertige Lösung der Probleme als einzig korrekte Art zur Streitbeilegung propagieren.

Wie alle Normen sind sie am effektivsten bei Personen, die mehr sozial eingebunden sind (orig.: well socialised) und keine grösseren Streitpunkte haben. Sie sind auch wirksam bei Personen anderer Art , vorausgesetzt die Gesellschaft hat die Möglichkeit diese Normen durchzusetzen, mit anderen Worten, Normverletzungen in Erfahrung zu bringen und dann zu ahnden. Eskalationen sind üblich in Gesellschaften, denen eine solche soziale Kontrolle weitgehend fehlt.

Ausserdem tragen Foren und Drittpartei-Institutionen, für die friedfertige Lösung von Konflikten, zur Stabilität bei, indem sie den Menschen eine Möglichkeit bieten, ihren Streit gewaltfrei und ohne Gesichtsverlust beizulegen. Um allerdings wirksam zu sein, müssen sie als legitim und unvoreingenommen angesehen werden.

4.5.2. Angst vor Eskalation

Eskalation ist oft das Resultat einer Konfliktspirale, eine Art Teufelskreis, in welcher jede Partei auf angriffige, streiterische Art auf den vorhergehenden Angriff der anderen Partei reagiert. Die Eskalation findet nun um so weniger statt, je mehr sich Menschen des Potentials bewusst sind und eine Entwicklung in diese Richtung fürchten. Wenn dies der Fall ist, reagieren sie auf Angriffigkeit der anderen Partei in gemässigter Art, die Spirale wird so stillgelegt.

Die Angst vor Eskalation ist oft das Resultat einer vorangegangenen Eskalation. Wenn die Parteien es schaffen nach dieser Eskalation ihre Beziehung aufrecht zu erhalten, ist die Chance gross, dass mindestens eine Partei nachher geläutert[7] ist und darauf achtet nicht überzureagieren.

4.5.3. Soziale Beziehungen

Unter soziale Beziehung verstehen die Autoren: Positive Einstellung, Respekt, Freundschaft, Verwandtschaft, empfundene Gleichheit, Zugehörigkeit zur gleichen Gruppe und zukünftige Abhängigkeit. Wie stark der Einfluss der sozialen Beziehung ist, wird oft nicht gleich wahrgenommen, da Menschen die fest aneinander gebunden sind, häufig die Tendenz haben, sich weniger an grundlegende Höflichkeitsregeln zu halten. Es werden dann mehr Themen zur Sprache gebracht und oft in einem schärferen Ton. Dennoch ist die Chance grösser, dass sie bei andauerndem Streit eine für beide befriedigende Lösung finden.

Das Gegenteil dazu wäre Antagonismus. Vergangene streiterische Begegnungen führen dazu, dass die Parteien schneller überreagieren wenn ein neuer Konflikt entsteht, dies vor allem wenn alte Themen ungelöst geblieben sind.

Diese oben erwähnten Mechanismen haben einen ungeheuren Einfluss auf die ruhige Abwicklung eines Konfliktes und die hohe Rate von friedfertigen Lösungen, die für Konflikte gefunden werden. Dennoch gibt es Limiten für diese konfliktverhütenden Mechanismen, auch sie können unter bestimmten Umständen versagen.

5. Die Entwicklung von Konflikten bei der Mobilisierung von Recht.

Ein interessantes Thema ist die Frage ob und wie sich ein Konflikt entwickelt, während Rechte mobilisiert werden.

Spontan würde ich meinen, dass es dabei sicher einen Unterschied macht, ob ich Rechtsanwalt bin, und für meinen Klienten irgendwelche Rechte mobilisiere, oder ob ich mich von meiner Frau scheiden lassen will. Es sollte aus persönlicher Erfahrung bekannt sein, dass Streiten einfacher fällt je weniger man jemanden kennt, und es eben auch wesentlich einfacher fällt einen Streit eskalieren zu lassen, je weniger einem daran liegt seinen Streitpartner nachher wieder zu sehen.

Zu diesem Schluss kommt auch Professor Dr. Erhard Blankenburg in seinem Buch „Mobilisierung des Rechts“[8].

5.1. Entwicklung des Konfliktes bei Klageerhebung,

5.1.1. in fortlaufenden Sozialbeziehungen

In fortlaufenden Sozialbeziehungen ist der Gang zum Gericht immer eine Eskalation, meist der Endpunkt eines längeren Konfliktprozesses. Von der Konstellation bei Klageerhebung ausgehend, muss man mehrere Stufen zurückverfolgen, wie sich der Prozess einer Verrechtlichung entwickelt: Etwa beim Kündigungsprozess vor dem Arbeitsgericht geht der Klage eines Arbeitnehmers der Rechtsakt einer Kündigung durch den Arbeitgeber voraus. Häufig ist sie eine Reaktion auf das Nichteinhalten des Arbeitsvertrages, der Vertragsbruch allein reicht aber selten als Motivation zur Kündigung. Die Entscheidung hierüber beruht auf einer impliziten Verhaltensbilanz: Die informellen Beziehungen zu Arbeitskollegen und deren Unterstützung spielen dabei eine ebenso grosse Rolle wie die Beurteilung von Vorgesetzten und die generelle Tendenz zur Beibehaltung oder zum Abbruch des Status quo von Sozialbeziehungen.

Ähnlich kann man im Falle eines Räumungsstreits vor dem Mietgericht die Abfolge von Interaktionen zurückverfolgen, und kommt dabei zu einer anderen Ausgangskonstellation für den Prozess: Auch hier wird der erste Schritt das Nichteinhalten von Vertragsbedingungen sein, sei dies auf seiten des Vermieter, der notwendige Reparaturen unterlässt, oder seitens des Mieters der mit Zahlungen im Verzug ist. Fängt der Konflikt mit einer Enttäuschung über das Verhalten des Mieters an, so ist der nächste Schritt auf dem Weg zur Verrechtlichung auf seiten des Mieters normalerweise die Vorenthaltung von Zahlungen. Diese Konstellation erlaubt es also dem Mieter die Klagezumutung dem Vermieter zuzuschieben.

Die juristische Ausgangskonstellation eines gerichtlichen Konflikts ist also unterschiedlich, je nachdem wer im Laufe einer Sozialbeziehung Leistungen vorenthalten kann und je nachdem, wieweit der Abbruch einer sozialen Beziehung zunächst faktisch möglich ist, und dann juristisch nachvollzogen wird, oder ob sie zuerst mit Rechtskraft ausgestattet wird und dann vollzogen wird.

Jedoch muss man wiederum generell sagen, dass die juristische Konstellation bei Abbruch von sozialen Beziehungen nur den Endpunkt eines längeren Konfliktverlaufs bildet. Teilweise mögen solche Konflikte überhaupt nicht in rechtlichen Kategorien gesehen werden, teilweise mögen diese als Drohung gebraucht, aber gar nie angewandt werden. Auch hier gibt es juristische Unterschiede: Der Abbruch eines Arbeits- oder Mietverhältnisses gelangt nur vor Gericht wenn eine der Parteien widerspricht, sei es dem Abbruch selber oder den Bedingungen des Abbruchs.

Anders ist dies beim Eheverhältnis: Hier besteht ein Rechtszwang, das heisst selbst bei einvernehmlicher Trennung kann nur das Gericht diese zu einer rechtskräftigen Scheidung machen. Dem Gang ins Gericht kann ein langer Prozess der Zerrüttung vorausgehen, innerhalb dessen die Drohung mit rechtlichen Mitteln immer schon eine Drohung mit dem Abbruch der Sozialbeziehung ist, und es kaum vorstellbar ist, dass bestimmte Bedingungen (etwa liebevolle Zuwendung oder der Vollzug des Beischlafs) rechtlich erzwungen werden können. Rechtszwang führt hier dazu, dass die Auseinandersetzung vor Gericht vielfach nur noch ein Ritual ist.

Bei der Auflösung von all diesen drei Arten von sozialen Beziehungen hat sich jeweils vor Anrufung des Gerichts ein (oft längerer) Konflikt zugetragen, innerhalb dessen sich möglicherweise schon wiederholt die Frage der Thematisierung von Recht gestellt hat. Kommt es zur tatsächlichen Mobilisierung, wird oft schon nicht mehr daran gedacht, die Gestaltung einer weiter bestehenden Sozialbeziehung durch Recht entscheiden zu lassen. Im Eheverhältnis kann man ausschliessen, dass jemand versucht die gegenseitigen Beziehung mit Hilfe einer Entscheidung auf Erfüllung oder Unterlassung zu regeln. Im Arbeitsverhältnis kommt dies vor, insbesondere, weil die Interessen von Arbeitnehmern ebenso wie die von Arbeitgebern organisiert sind und die rechtliche Auseinandersetzung möglicherweise Präzedenzwirkung für weitere Konflikte hat.

Im Mietverhältnis ist der Anteil von Klagen innerhalb einer fortdauernden Beziehung grösser. Hier wie beim Arbeitsgericht steigt die Wahrscheinlichkeit einer gerichtlichen Auseinandersetzung innerhalb fortbestehender Sozialbeziehungen mit deren Anonymität: In Kleinbetrieben ist dies unwahrscheinlicher als in Grossbetrieben, ebenso wie es zwischen Vermietern und Mietern, die sich persönlich kennen, unwahrscheinlicher ist als im Mietverhältnis mit einer grossen Wohnungsbaugesellschaft. Wenn man annimmt, dass das Drohen mit Rechtsschritten die persönlichen Beziehungen zwischen Vermieter und Mieter gefährden würde, dann würde in diesem Fall hinter der Verrechtlichung eines Konflikts sehr viel unmittelbarer die Konsequenz eines Abbruchs des Sozialbeziehung stehen, während sich eine rechtliche Auseinandersetzung im Verkehr mit einer anonymen Gesellschaft sehr viel leichter aushalten lässt.

5.1.2. einmalige oder anonyme Sozialbeziehungen

Sozialbeziehungen unter Fremden, die situationsbedingt sind, und bei denen die Beteiligten damit rechnen, sich als Fremde wieder zu trennen, laufen nicht ohne Regeln ab. Gerade dort wo viele kurzfristig aneinander vorbei und miteinander auskommen müssen, ist es von Vorteil, wenn alle sich an Regeln des Sozialverkehrs halten. Strassenverkehrsregeln bieten hierfür den Idealtyp: Kaum jemand wird eines Wertkonflikt daraus konstruieren, ob man rechts oder links fährt, jedoch sind alle daran interessiert, dass man eine Einigung auf das eine oder andere, und damit Vorhersehbarkeit von deren Verhalten erzielt.

Allerdings handelt es sich beim Umgang mit anonymen Gegnern oder mit privaten Organisationen noch um Interaktionen, bei denen ein Widerspruch nicht unbedingt in rechtlichen Kategorien erfolgen muss, wo dies aber wegen des Charakters, insbesondere der Anonymität der Beziehung, lediglich sehr nahe liegt. Idealtypisch sind hierfür Kauf- und sonstige Vertragsforderungen: die Mängelrüge bei schlechter Ware oder die Anmahnung vertraglich vereinbarter Pflichten wird bei der Erwartung einer langfristigen Geschäftsbeziehung zunächst einmal durch Kulanz geregelt werden: Kaufleute wollen – wie bei anderen Sozialbeziehungen – nicht durch die Verrechtlichung den Abbruch der Beziehung heraufbeschwören. Je anonymer jedoch die Beziehung, je mehr sie zwischen Organisation und Privaten stattfindet, desto mehr wird auch die Kulanz auf Regeln gebracht und desto mehr sind darüber hinausgehende Konflikte nur noch durch Verrechtlichung zu behandeln. Der Konflikt kann hier mit einer Beschwerde oder mit einem Brief unter Androhung von Rechtsmitteln beginnen – erfolgt hierauf kein Kulanz-Angebot, dann stellt sich die Frage der Mobilisierung von rechtlichen Instanzen: entweder ein Gericht anrufen oder auf Interessendurchsetzung zu verzichten. Wie bei allen Verträgen, kann hierbei oft die Klagezumutumg von der einen auf die andere Seite geschoben werden: Etwa, wenn der Rest des Kaufpreises oder die Entlohnung ( im Falle eines Werkvertrages ) teilweise vorenthalten wird. Auch hier gilt, dass die Mobilisierung von Recht jeweils dem zugemutet wird, der Leistungen vom anderen einfordern muss: Wer im physischen Besitz einer Sache ist, sei dies ein Grundstück, sei es Geld, kann diese zunächst vorenthalten und dem anderen die Erzwingung seines Interesses mittels Recht zuschieben.

Faktisch allerdings sind die Kläger- und Beklagtenrolle vor den Zivilgerichten weitgehend asymmetrisch verteilt. Bei Kaufverträgen, die den grössten Anteil der Zivilsachen ausmachen, überwiegen die Prozesse, in denen der Verkäufer gegen den Käufer Zahlungsforderungen geltend macht; selten dagegen klagt der Käufer auf Lieferung oder wegen Mängeln an der gekauften Ware. Eine Erklärung wäre, dass die Verkäufer deren Forderungen sich meist auf eine eindeutig festlegbare Geldsumme belaufen und sich somit eindeutiger beweisen lassen, weniger Scheu vor der prozessualen Beweislast haben.

5.2. vor Gericht

Wenn schon die Thematisierung der Möglichkeit, dass ein Streit vor Gericht getragen werden könnte, das Verhältnis zwischen den Parteien verändert, dann tut dies erst recht das Einleiten eines Verfahrens selbst.

Allerdings setzt sich auch nach Einreichen einer Klage das Spiel zwischen Mobilisieren und Vermeiden von hartnäckigem Streit noch fort. Oft genügt es, dass der Kläger angezeigt hat, wie ernst er es meint, um zu bewirken, dass der Beklagte einlenkt, und der Fall ohne jede Verhandlung wieder aus den Gerichtsregistern ausgetragen werden kann. Die Klage ist hier eine Fortsetzung aussergerichtlicher Drohungen „im Schatten des Rechts“. Andere Verfahren enden im weiteren Verlauf der Verhandlung mit einem Vergleich: Entweder aussergerichtlich im Schatten des Verfahrens oder explizit mit Hilfe des Gerichts. Bestimmten Parteien kommt es nicht auf die rechtliche Entscheidung, sondern auf die Beendigung eines Streits an.

Die Verfahrenssoziologie fragt, welches die Parteienkonstellationen und welches die Streitgegenstände sind, bei denen das blosse Drohen mit einem Prozess die vornehmliche Funktion des Anrufens des Gerichts ist; und welches diejenigen sind, bei denen vor Gericht der Streit vorzeitig beendet werden kann; und welche Parteien das Gericht anrufen, um bis zur rechtlichen Entscheidung und deren Begründung zu prozessieren.

Die Ehescheidung vor den Familiengerichten ist der einzige Prozessgegenstand bei dem die Vorstellung zuzutreffen scheint, dass die Parteien vor Gericht gehen um eine Entscheidung herbeizurufen, der sie sich in der Regel auch fügen, das heisst dass sie nur in seltenen Ausnahmefällen eine zweite Instanz in der Berufung oder Revision anrufen, etwa dann wenn der Streit um Scheidungsfolgen fortgesetzt wird.

Die Zivilprozesse bei denen es um eine Schuldbetreibung aus Kauf- oder Dienstverträgen geht, entsprechen nicht dem Modell einer hartnäckigen, streitigen Auseinandersetzung: Etwa zwei Drittel dieser Verfahren enden kurz nachdem sie hängig gemacht worden sind. Dahinter steckt, daß sich die Beklagten nicht gegen die Forderung des Klägers zur Wehr setzen; daß sie es aber auf die manifeste Drohung mit einem Gerichtsverfahren haben ankommen lassen, ehe sie den Anspruch anerkennen oder sogar begleichen.

Bleiben die Zivilprozesse nach einem Verkehrsunfall, die am ehesten dem Modell eines Nullsummenkonflikts entsprechen, bei dem die eine Partei verliert was die andere gewinnt. Vergleichsverhandlungen vor Gericht sind hier selten, allerdings ist der Rückzug der Klage oftmals ein Indikator dafür, dass Klage als Drohung gewirkt hat und zu einem Vergleich ausserhalb des Gerichtes geführt hat. Ist dies jedoch nicht der Fall und es wird streitig verhandelt, dann in der Regel bis zum strittigen Urteil.

Wo der Kläger fast immer erfolgreich ist, geht es offensichtlich nicht mehr um eine im Ergebnis offene Auseinandersetzung, sondern um die Beschaffung von Rechtskraft und die anschliessende Vollstreckung eines Anspruchs. Nur wenn die Erfolgswahrscheinlichkeit des Beklagten bei einem Streitgegenstand sich der des Beklagten nähert, so kann der Richter in seiner Funktion als Entscheider, aber auch als Vermittler auftreten.

Kennen sich die Parteien persönlich und sind sie beide an baldiger Entscheidung interessiert, dann geht es ihnen (auch) um eine Konfliktbeendigung, folglich gibt es ein gemeinsames Interesse, auf dem Vergleichsbemühungen aufbauen können; ist die Beziehung eher anonym und kommt es keiner der beiden Parteien auf den Zeitpunkt der Entscheidung an, so können sie die Unsicherheit in Kauf nehmen, die der Streit bis zur rechtlichen Entscheidung mit sich bringt.

5.3 Fazit

Zusammenfassend kann man also sagen, dass in andauernden Sozialbeziehungen, insbesondere wenn sie persönlichen Charakter haben und informellen Regelungen unterliegen, eine Thematisierung von formalen Rechtsnormen die Drohung mit dem Abbruch der Beziehung bedeuten kann. Erst recht gilt dies wenn als dritte Partei ein Anwalt oder ein Gericht bemüht würde. Solche „Mobilisierung“ von rechtlichen Instanzen ist deshalb desto unwahrscheinlicher, je persönlicher und komplexer eine Sozialbeziehung ist und je mehr die Beteiligten ein Interesse an ihrer Aufrechterhaltung haben. Gerichte können in solchen Fällen allenfalls die Bedingungen des Abbruchs von Sozialbeziehungen bestimmen, kaum jedoch deren fortlaufende Interaktion regeln. Höher ist die Wahrscheinlichkeit des Anrufes von rechtlichen Instanzen bei Konflikten in einmaligen und dazu noch anonymen Sozialbeziehungen. Auseinandersetzungen nach einem Verkehrsunfall lassen sich ohne Gefährdung einer bestehenden Sozialbeziehung vor Gericht tragen; die Schulden gegenüber einem anonymen Kunden sind leichter gerichtlich einzufordern als die gegenüber einem Bekannten, und diese wiederum leichter als die Gläubigerforderung gegenüber einem Freund.

[...]


[1] Auszüge aus: Deutsch, Karl W.: Wie Konflikte zwischen Staaten entstehen. S.161 – 189.

[2] Schelling, T. C.: "Bargaining, Communication, and Limited War", in: Conflict Resolution, 1957, S. 19ff.

[3] Haft, Fritjof; Verhandeln, die Alternative zum Rechtsstreit; 1992; C.H. Beck‘sche Verlagsbuchhandlung; München; S.176.

[4] Pruitt, D.G. / Rubin J.Z.; Social Conflict; 1986; Random House; New York.

[5] Streiterisch soll als behelfsmäßige Übersetzung des englischen „contentious“ dienen.

[6] Im englischen Original: „aspirations“.

[7] engl. orig.: chastened.

[8] Blankenburg, Erhard; Mobilisierung des Rechts; 1995; Springer-Verlag; Berlin.

Ende der Leseprobe aus 21 Seiten

Details

Titel
Konfliktentwicklung
Hochschule
Universität Zürich
Autor
Jahr
1999
Seiten
21
Katalognummer
V109111
ISBN (eBook)
9783640072958
Dateigröße
391 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Konfliktentwicklung
Arbeit zitieren
Ivan Mijatovic (Autor:in), 1999, Konfliktentwicklung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/109111

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