Soziale Ungleichheit und Rauchverhalten


Masterarbeit, 2005

108 Seiten, Note: sehr gut


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

1.Tabakkonsum in Deutschland – Karriere eines Gesundheitsrisikos
1.1 Die gesundheitlichen Folgen des „Genusses“
1.1.1 Individuelle Folgen des Tabakkonsums
1.1.2 Abhängigkeit vom Nikotin und Entzugserscheinungen
1.1.3 Spätfolgen und Mortalität
1.2 Konsequenzen für Bevölkerungsentwicklung Volkswirtschaft und Rechtslage
1.3 Besonders gefährdete Bevölkerungsgruppen in Deutschland

2.Von sozialer Benachteiligung zur gesundheitsschädigenden Entscheidung zu rauchen
2.1 Soziale Benachteiligung früher und heute
2.1.1 Soziale und gesundheitliche Benachteiligung in der Klassengesellschaft
2.1.2 Soziale und gesundheitliche Ungleichheit auch heute noch?
2.2 Ungleich im Status und im Rauchverhalten
2.2.1 Gesundheitsrisiken durch sozioökonomische Lebenslage
2.2.2 Kompetenzen als Schutzfaktoren für die Gesundheit

3. Überblick über die Suchtpräventionspolitik in Deutschland – Oder wie verhält sich der Staat zur Erfüllung seines Verfassungsauftrags „gleiche Gesundheitschancen für alle“?
3.1 Verfügbarkeit des Suchtstoffes – Wenig Angebot, also wenig Nachfrage?
3.2 Reduzierung der Nachfrage nach Tabak

4. Modelle anderer Staaten – Möglichkeiten der Übertragung von Konzepten aus den USA und einiger ausgesuchter EU-Staaten in die sozial wirksame Raucherpräventionspolitik in Deutschland
4.1 Vereinigte Staaten von Amerika
4.2 Länder der Europäischen Union

5. Konzeptvorschlag zur Bekämpfung des Tabakkonsums durch gesundheitliche Förderung der sozial Benachteiligten – reichen Förderungsgesetze wirklich aus?
5.1 Die Sensibilisierung junger Menschen für ein verändertes Gesundheits- und Sozialverständnis als erster Präventionsschritt – oder- Wo sind die„Gesundheitsgrünen“?
5.2 Schaffung der (gesetzlichen) Voraussetzung für eine nur noch funktional notwendige Ungleichheit – die neuen gesundheitlichen Rahmenbedingungen
5.2.1 Schaffen einer sozialen Lebenslage, in der Rauchen nicht gefördert und nicht Rauchen unterstützt oder belohnt wird (die Entlastung von Risikofaktoren)
5.2.2 Die Erhöhung der Schutzfaktoren am individuellen Entwicklungsbedarf
5.2.2.1 Der Start in die Gesellschaft – oder die totale Abhängigkeit
5.2.2.2 Die staatlich geförderte soziale Entwicklung der Kinder und Jugendlichen.
5.3 Gesamtbetrachtung und Ausblick

Literaturverzeichnis

Soziale Ungleichheit und Rauchverhalten

Eine Untersuchung der Auswirkungen sozialer Benachteiligung auf das Rauchverhalten aus epidemiologischer und präventiver Sicht

Einleitung

Soziale Benachteiligung strahlt mit ihren mannigfaltigen Ursachen - Konsequenz – Verknüpfungen in alle gesellschaftlichen Bereiche hinein. Jeder dieser Verästelungen nachzugehen würde den Umfang dieser Bearbeitung sprengen. Vielmehr soll versucht werden, die Zusammenhänge sozialer Benachteiligung in der bundesdeutschen Gesellschaft und ihrer Transferierung in gesundheitliche Schlechterstellung der Betroffenen am Beispiel des Tabakkonsums darzustellen. Aus präventiver Sicht sollen die Grundstrukturen im Wirkmechanismus zwischen gesellschaftlichen Normgebungen, der kausalen Einwirkung auf die Lebenswirklichkeit und der möglichen Ansatzpunkte einer Intervention erörtert werden.

Die Bearbeitung versteht sich nicht als Stoffsammlung zu den einzelnen Teilbereichen, sondern gibt nur Tendenzen an. Unterschieden wird bei der Darstellung sozialer Ungleichheit sowie bei der Ausführung der Interventionsebenen nach zu verursachenden bzw. zu vermeidenden Risikofaktoren und protektierenden bzw. zu fördernden Schutzfaktoren. Beide Aspekte sozialer Benachteiligung und Präventionsansatzpunkte werden dabei wegen ihrer Kausalverknüpfung in Beziehung gesetzt.

Daraus ergibt sich die Notwendigkeit der Generalisierung. Kritikpunkte am bestehenden System der Prävention in Deutschland werden in der Diskussion im strukturellen Kontext angeführt. Im Schlusskapitel werden sie durch Verweis am systematischen Standort Gegenstand innerhalb des Verbesserungsvorschlages für eine ursachenreduzierende Prävention gegen den Tabakkonsum.

1. Tabakkonsum in Deutschland – Karriere eines Gesundheitsrisikos

Noch vor 500 Jahren waren die Tabakpflanze und der „Genuss“ ihrer Blätter in Europa noch unbekannt. Erst die spanischen Conquistadores brachten die Pflanze und die Sitte des „Tabaktrinkens“, beides hatten sie bei den Ureinwohnern Südamerikas kennen gelernt, nach Europa. Zunächst wurde er gegen diverse Leiden als Heilpflanze eingesetzt (Horn, 2001) Später reüssierte der Tabakgenus zum Privileg der Reichen und vor allem Adeligen. Bis auf Seefahrer waren nur sie in der Lage, sich die noch kostspieligen Blätter zu beschaffen. Erst in der Zeit nach der französischen Revolution fand der Tabak auch größere Verbreitung in anderen Bevölkerungsschichten, so dass man im 19ten Jahrhundert auch in Deutschland in Bürgerkreisen von einer allgemeinen Verbreitung sprechen kann. An einigen Wirtshäusern in Frankreich informierte damals ein Schild den eintretenden Bürger „Bürger! Hier darf geraucht werden“ über die neu erworbenen Gleichheit zumindest aller Männer im Volk. Denn noch galt der Tabakkonsum als männliches Attribut, das mit Souveränität und angemessenem Lebensgenuss in Zusammenhang gesehen wurde. Zur Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert avancierte der Tabakkonsum mit der Erfindung der billigen industriell gefertigten Zigarette zum salonfähigen extravaganten, allzeit möglichen Vergnügen, auch für Frauen (Horn, 2001). Sie blieben zunächst aber weit in der Minderheit, da sich rauchende Frauen vor allem in konservativen Kreisen keiner großen Toleranz erfreuten. Sie wurden in der Öffentlichkeit als anrüchig erachtet. Das Rauchen für Männer war indes Dank der Zigarette bei allen Gelegenheiten ohne größere Vorbereitungsrituale möglich und auch allgemein akzeptiert.

Schon in den 1950er Jahren wurde erkannt, dass der Tabakkonsum mehr ist als ein männliches Attribut, ein extravagantes Vergnügen oder ein Laster, wie es puritanische Kreise zu betiteln pflegten. Tabakrauchen wurde als hohes gesundheitliches Risiko enthüllt und der Zusammenhang zwischen Krebserkrankungen der Atemwege wurde wissenschaftlich beschrieben. Diese Warnungen erreichten damals nur jene, die diese wissenschaftlichen Publikationen lasen, in ihrem Elternhaus vermittelt bekamen oder an Bildungsstätten verweilten, an denen diese Inhalte vermittelt wurden. Weniger informierte Bevölkerungsschichten blieben dagegen unaufgeklärt.

Hinzutritt ein von Hurrelmann beschriebener „instrumenteller Nutzen“ des Rauchens schon in frühen Lebensjahren (Hurrelmann, 1998). Rauchen dient als Ventil, um den Druck der Bewältigungsanforderungen des Lebens subjektiv erträglicher zu machen. Je schwieriger diese sind, desto höher ist die Gefahr, sich solcher scheinbaren Entlastungen zu bedienen, um subjektiv dem Druck besser gewachsen zu sein. Wirtschaftliche Notzeiten und die Wiederaufbauanstrengungen förderten dieses Ausweichverhalten bei den unmittelbar betroffenen, meist sozial schlecht gestellten Bevölkerungsgruppen. Tabak blieb ein weit verbreitetes „Genussmittel“ ungeachtet des Gefahrenpotentials (Hurrelmann & Unverzagt 2000). Die Klassifikation als Genussmittel ist signifikant für jene Drogen, die sich als gesellschaftlich akzeptiert eine große Verbreitung finden. Darin stehen Tabak und Alkohol als hochtoxische Zellgifte, die unter den Konsumenten Jahr für Jahr viele Todesopfer fordern, auf gleicher Stufe mit den eher harmlosen Aufgüssen aus Kaffee, Kakao, schwarzem und grünem Tee.

Lungenkrebs, die damals häufigste Krebserkrankung der Männer, galt bis noch vor 30 Jahren als typische Männerkrankheit, da der Anteil der regelmäßig rauchenden Männer den der rauchenden Frauen bei weitem überstieg. Frauen mit einem tabakinduzierten Bronchialkarzinom waren vor einigen Jahren noch die Ausnahme. Heute zeichnet sich eine andere Entwicklung im Rauchverhalten und der Verteilung der dadurch verursachten Erkrankungen in der Bevölkerung ab (Kraus & Augustin 2001; BZgA 2001; Statistisches Bundesamt 2001).

1.1 Die gesundheitlichen Folgen des „Genusses“

In Deutschland sterben jedes Jahr 110. 000 bis 140.000 Menschen vorzeitig an den Folgen des Tabakkonsums (Welte et al, 2000; Ruff et al. 2000). Dies entspricht einer Sterberate von über 350 Menschen pro Tag. Der Tabakkonsum ist der bedeutsamste Einzelrisikofaktor für die Gesundheit und ist neben der Verursachung von vaskulären Schäden und koronarer Ischämie auch verantwortlich für die Entstehung von 14 verschiedenen Krebsarten in 7 unterschiedlichen Organen bzw. Organsystemen (Boyle, 1997; Becker & Wahrendorf, 1998). Die Erkrankungen des Herz- und Kreislaufssystems, die durch das Rauchen in erheblichem Masse negativ beeinflusst werden, sind die häufigste Todesursache in Deutschland (Werner & Böhm, 2004). Die durch den Tabakkonsum (mit)verursachten Krebserkrankungen liegen an zweiter Stelle der Sterbeursachenstatistik.

Der durchschnittliche Raucheranteil der erwachsenen Bevölkerung liegt bei den 18 bis 59 Jährigen bei 35% (Kraus/Augustin, 2001).

Während bei den älteren Altersgruppen die Männer deutlich mehr rauchen als Frauen (36%/28%), hat sich die Rate der rauchenden Frauen bei den 18- bis 29jährigen der Quote der Männer angeglichen und lag nach den Ergebnissen des Gesundheitssurveys von 1998 auf fast gleichem hohem Niveau mit 48% bei den Männern und 46% bei den Frauen (Junge & Nagel, 2000).

Der überwiegende Anteil (87%) dieser Raucher raucht täglich und ein Anteil von 15% gilt mit einem täglichen Konsum von mehr als 20 Zigaretten gemäß WHO-Definition als starker Raucher (Statistisches Bundesamt, 2001).

Die Mehrzahl der Raucherkarrieren beginnt bereits lange vor dem Erwachsenwerden. In der Altersgruppe der 12- 20 Jährigen bezeichnen sich 38% der Befragten als Raucher, die meisten begannen mit 11 bis 12 Jahren mit dem Rauchen, wobei der Beginn mit dem regelmäßigen Tabakkonsum in den sozialen Brennpunkten großer Ballungsräume noch früher liegt. (BZgA 2001). In diesen Altersgruppen sind auch die größten Zuwächse zu verzeichnen. Während bei den 12 bis 13 Jährigen der Raucheranteil noch bei 10% liegt, verdreifacht er sich bei den 14 bis 15 jährigen Jugendlichen auf über 30%. Ebenso sprunghaft wächst der Zigarettenkonsum und mit ihm die Gesundheitsgefährdung, das Risiko, an einer letalen Erkrankung zu versterben, vervielfacht sich mit jedem Anstieg des Zigarettenkonsums. Lag der Anteil der starken Raucher 1998 bei den Jugendlichen bis 13 Jahren bei 5%, stieg er auf 29% bei den 20 bis 21 Jährigen an (BZgA 2001). Das Konsumieren von Tabak in der körperlichen Entwicklungsphase ist weitaus schädlicher als der Tabakkonsum im Erwachsenenalter, da in dieser Phase Organstrukturen und Gewebe empfindlicher auf Cytotoxine, zu denen viele der Tabakinhaltsstoffe gehören, reagieren. Dennoch stagniert die Anzahl der „Frühraucher“ in Deutschland seit 1991 auf sehr hohem Niveau, wenn man die Anteile der Nieraucher gegen den rückläufigen Anteil der Ex-Raucher in Relation setzt (BZgA 2001).

Anders als andere riskante gesundheitliche Verhaltensweisen ist der Konsum von Tabak auch eine gesundheitliche Gefährdung der Mitmenschen in der Umgebung des Rauchers, die den Tabakrauch und dessen toxischen Inhaltsstoffe einatmen müssen. Über unfreiwillige Inhalation von Tabakrauch klagten 55% der erwachsenen Nichtraucher in Deutschland (Junge, 2001). Die Hälfte aller Kinder in Deutschland sind täglich in erheblichem Masse den Inhaltsstoffen des Tabakrauches passivexponiert (Statistisches Bundesamt 1996). Diese Zahlen verdeutlichen, dass nicht nur der Anteil der rauchenden Bevölkerung von 30 – 40% gefährdet ist, frühzeitig an den Folgen des Tabakkonsums zu erkranken oder zu versterben, sondern auch der Nichtraucher, der in erheblichem Maße unfreiwillig dieses Risiko mitträgt, ohne je selbst eine Zigarette geraucht zu haben. Jährlich sterben etwa 400 Nichtraucher an tabakinduziertem Bronchialkarzinom (Becher/Warendorf, 1994). Das Risiko einer Lungenkrebserkrankung erhöht sich bei Ehepartnern von Rauchern um 30%, das Risiko am „Raucher – Arbeitsplatz“ immerhin um 16% -20% (International Agency for Research on Cancer, 2002). Das Ausmaß der durch Rauchen verursachten gesundheitlichen Einbussen in einer Bevölkerung lässt sich mithin nicht allein an dem Anteil der Raucher in dieser Bevölkerung ablesen. Zusätzlich bedarf es auch anderer Parameter wie zum Beispiel der Nichtrauchergefährdung, deren Beachtung immer mehr an Bedeutung gewinnt.

1.1.1 Individuelle Folgen des Tabakkonsums

Nicht für jeden Raucher verwirklicht sich das Risiko, im Laufe seines Lebens an einem Lungenkarzinom oder einer koronaren Herzerkrankung zu erkranken. Vielmehr beginnt schon beim Eintritt in das Raucherdasein für die meisten Raucher eine gesundheitliche Veränderung. Diese Veränderung, die vom Betroffenen meist nicht als pathologisch angesehen, wenn sie überhaupt registriert wird, entspricht aber in seiner extremsten Form schon objektiv einem anerkannten und behandlungsbedürftigen Krankheitsbild, der Nikotinabhängigkeit (ICD F.10-17.2) oder zumindest der schädliche Gebrauch (ICD F.10–17.1) (Bühringer & Bühler, 2004): Sie ist die erste schwerwiegende Folge des Rauchens, die eine weitere Ursachenkette in Gang setzt, an deren Ende oft der frühzeitige Tod steht. Bei Jugendlichen kann diese Abhängigkeit schon nach wenigen Wochen des Tabakkonsums eintreten und das Aufhören so weit erschweren, dass sie auch gegen ihren bewussten Willen mit großer Wahrscheinlichkeit lebenslange Raucher sein werden (di Franza, Rigotti, McNeill et al. 2000). Die Abhängigkeit besteht in einer starken seelischen Fixierung auf die Wirkungen des Nikotins oder auf die Wirkungen, die mit ihm subjektiv verbunden werden.

1.1.2 Abhängigkeit vom Nikotin und Entzug

Das im Tabak enthaltende Nikotin ist stark suchterzeugend, schätzungsweise 70 – 80% der gewohnheitsmäßigen Raucher sind nikotinabhängig (US Department of Health & Human Services (USDHHS), 1988; Batra-Fagerström, 1997). Das bedeutet übertragen auf deutsche Verhältnisse, dass ca. 9 Millionen Männer und ca. 6 Millionen Frauen nikotinsüchtig sind (Thamm& Junge, 2003). Ihre Entschließungsfreiheit, mit dem Rauchen aufzuhören, ist, wegen der stark einsetzenden Entzugssymptomatik bei Abfall des Nikotinspiegels, erheblich eingeschränkt. Für die negativen Auswirkungen des Rauchens sind die Dauer und die Qualität der Einwirkung erheblich. Umso schlimmer ist es, wenn man trotz gefassten Vorsatzes, nicht in der Lage ist, das Rauchen aufzugeben.

Versuche der abhängigen Raucher, sich der Sucht zu entziehen, scheitern allzu oft. Die Anzahl der ernsthaften Rauchstoppversuche unter den Rauchern in Deutschland lag im Jahr 1999 ohnehin am zweitniedrigsten in der EU (Boyle et al. 1997). Durch gescheiterte Versuche schwinden das Selbstwertgefühl und die beobachtete Selbstwirksamkeit der Raucher, sich überhaupt gegen das Rauchen zu stellen. Rauchen erfüllt eine Funktion im Leben der Raucher, so dass ein „Umkonditionieren“ auf eine andere Verhaltensweise, die diesen instrumentellen Nutzen liefert, erfolgen müsste. Sie benötigen dafür professionelle Hilfe. Nicht umsonst sind Nikotinsucht und Abusus als behandlungsbedürftige Krankheitsbilder anerkannt. Dennoch wird in Deutschland die Tabakentwöhnungsberatung für Raucher nur von 763 Einrichtungen und Ärzten angeboten (BZgA 2000). Diese Angebote aber zugunsten ihrer Gesundheit in Anspruch zu nehmen, ist für viele Raucher ein unüberwindbares Unterfangen.

Die Nikotinsucht/ -abusus erzeugt den Wunsch des Rauchers, mit dem Rauchen fortzufahren. Auch wenn dabei die mit dem Nikotin verbundenen Substanzen mit inhaliert werden müssen, ohne dass sie für ihn subjektiv einen positiven Effekt haben. Er nimmt die Begleitsubstanzen und ihre Wirkungen billigend in Kauf.

Nikotin selbst ist eine psychoaktive, hochtoxische Substanz und verursacht neben seiner psychogenen Wirkung auch Bluthochdruck und damit Gefäßschäden (Werner & Böhm, 2004). An der Entstehung des gefürchteten Bronchialkarzinoms sind die anderen kanzerogenen Stoffe (Teer, Kohlenwasserstoffverbindungen) beteiligt. Nikotin selbst wirkt, neben der vaskulären Wirkung, direkt an den Rezeptoren im Zentralnervensystem. Der mit dem Rauch inhalierte Ballast an etwa 4000 zum Teil hochtoxischen Begleitstoffen führt im Körper unter anderem zu Stressreaktionen und einer Unterversorgung mit Sauerstoff durch Mangeldurchblutung (CO-Einwirkung). Das Nikotin greift durch Anlage an die ZNS-Rezeptoren in den Neurohormonstoffwechsel ein und mildert diesen Stress ab. Ein subjektives Gefühl der Entspannung wird vom Raucher wahrgenommen. Fällt der Nikotinspiegel ab, kommt es abermals zu Stressreaktionen durch den Entzug, die durch erneutes Rauchen wieder in wohltuend empfundene Entspannung und zeitgleicher Anregung umgewandelt werden. Externe Stressoren werden in dieser Situation als weniger alarmierend wahrgenommen, d. h. man ist „cool“.

Die meisten Raucher geben daher auch an, zur Entspannung oder als „Belohnung “ zur Steigerung guter Laune zu rauchen (BZgA 2001). Entweder rauchen sie, um eine stressige Situation besser ertragen zu können oder sie rauchen, um eine Entspannungssituation noch effektiver zu gestalten (Feierabend, bei Freunden….).

Darüber hinaus gibt es auch Gewohnheitsraucher, die ihr Rauchverhalten schon gar nicht mehr bewusst wahrnehmen (Fuchs, 2000). Rauchen ist für sie eine automatisierte Handlung, die unbewusst ständig ausgeführt wird.

Jugendliche nennen dagegen oft den Grund, dass sie sich erwachsener und selbstsicherer fühlen, wenn sie rauchen (Bühringer & Bühler, 2004). In jedem Falle wird es bei allen Rauchern wohl nicht der Geschmack der Zigarette sein, der sich durch die Inhalation ohnehin weniger mitteilt als es durch bloßes Paffen der Fall wäre. Erstrebenswert erscheint die mit dem Rauchen assoziierte Gefühlskombination von Anregung und Beruhigung, die vom Nikotin ausgelöst wird, nach dem die Raucher letztlich „süchtig“ werden (Hurrelmann & Unverzagt, 2000). Zuvor ist Rauchen erst einmal eine Neugier oder ein Ritual bis es schnell zur Sucht oder gewohnheitsmäßigen Handlung werden und erhebliche Entzugssymptomatiken hervorrufen kann. Schwere Entzugssymptome sind es unter anderem auch, die dem Raucher die Entwöhnung schwer fallen lassen. Rauchen entwickelt sich sukzessiv mit der persönlichen Entwicklung. Ältere Theorien teilten die Phasen der Raucherentwicklung in drei unterschiedliche Abschnitte (Eingangs-, Experimentier- und Gewöhnungsphase) ein (Flay; d´Avernas; Best; Kersell & Ryan, 1983). Neuere Ansätze sind differenzierter und verbinden die Raucherentwicklung stärker mit der sozialen Entwicklung der Persönlichkeit.

Nach v. Troschke (1998) durchläuft die Entwicklung sechs Phasen. In Phase 1, im Alter bis 7 Jahre, imitieren Kinder das wahrgenommene Verhalten der Erwachsenen (Stöckchenrauchen). Sie beobachten ganz genau, in welchen Situationen die Eltern zur Zigarette greifen (Hurrelmann & Unverzagt, 2000). Die wahrgenommene Geschlechterrolle wird dabei ebenso mit dem Rauchen verbunden wie andere Verhaltensweisen (Keller & Hafner, 2003). Die zweite Phase dient dem Experiment, entscheidend ist aber die dritte Phase ab 12 Jahre. Hier entscheidet sich, ob es zu einem gewohnheitsmäßigen Rauchverhalten kommt. Sie beginnt mit 13 Jahren . Geraucht wird in Gruppensituationen. Die Peer-Groups haben ausschlaggebenderen Einfluss als die elterliche Rauchgewohnheit (Jackson, 1997). Durch die Gruppe kommt es dann zum sozialen Druck, wenn man dazugehören will, muss man auch Zigaretten haben. Es folgt der regelmäßige Kauf der Zigaretten, die man auch anderen anbietet (Phase 4). Man nimmt eine als angenehm empfundene „Machtstellung“ wahr, die mit diversen Auswirkungen (sozialer Status, Kommunikationsgelegenheiten, Verhaltensmuster zur Selbstdarstellung). In den Phasen 5 und 6 kommt es sodann zu einer Konsolidierung durch den „instrumentellen Nutzen“ des Rauchens für die soziale Integration in der Gleichaltrigengruppe.

Am Ende dieser Entwicklung steht dann das regelmäßige Rauchen als festes Ritual im Lebensalltag. Je mehr man als Kind mit Rauchverhalten der Vorbilder (Eltern, Erzieher, Lehrer) konfrontiert wurde, desto größer die Wahrscheinlichkeit des eigenen lebzeitigen Rauchens (Hurrelmann & Unverzagt, 2000)

Was dann folgt, sind jahrelange Bemühungen, sich des Tabakkonsums wieder zu entledigen. Sie reichen von der Gabe von Arzneistoffen, um eine Nikotinsubstitution zu erreichen bis hin zu Verhaltenstherapien (Fuchs & Schwarzer, 1997). Die festgefügten Erwartungsstrukturen des einzelnen Rauchers haben einen relativ starken Bezug zu den Entzugserscheinungen und zum Erfolg der Entwöhnungsmaßnahme (Wetter et al. 1994). So wie man das Rauchen „lernt“, muss nach medizinischer Sicht auch das Nichtrauchen mit Stoppunkt und Stufenmethode „erlernt“ werden (Horn, 2001).

Als krank betrachten sich die meisten Raucher dennoch nicht. Dabei steht bei Ihnen weniger der Genuss im Vordergrund als mehr die Vermeidung von Unlust, die mit dem Abfallen des Nikotinspiegels einhergeht (Hurrelmann & Unverzagt, 2000).

Nikotinabhängigkeit als „Treppe“ für den „Abstieg“ zum Raucher

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Das entworfene einfache Schaubild verdeutlicht diese Problematik der Nikotinsucht. Sie führt wie eine Treppe abwärts und lässt die Beeinträchtigungen durch das Rauchen als unvermeidlich wahrnehmen, will man nicht auf die „angenehme“ Wirkung des Rauchens verzichten. Wie das Gefälle der Treppe aber auch zeigt, bedarf es weitaus weniger Energie und Initiative der Treppe abwärts weiter zu folgen als sie wieder auf dem Wege zum Nichtraucher empor zu steigen. Ein guter Vergleich ist die Energieaufwendung bei einem Ballwurf nach oben im Vergleich zum schwerkraftnutzenden Fallenlassen des Balles. Dies zeigen die jährlichen Zuwächse bei den Tabakkonsumenten im Vergleich zu der hohen Zahl der erfolglosen Aufhörversuche der abhängigen Raucher und zu den geringen Zuwächsen bei den Exrauchern (Boyle et al 1997).

1.1.3 Spätfolgen und Mortalität

Nach Ansicht vieler Zeitgenossen ist ein problematischer Gebrauch von Tabak noch keine Krankheit. Vielmehr gilt nach der internationalen Definition der ICD-10 ein Gebrauch erst als Suchterscheinung, wenn er mit körperlichen oder seelischen Funktionsstörungen von mindestens 12 Monaten Dauer einher geht (Dilling et al. 2000). Sie treten aber bei Rauchern erst sehr subsidiär und unbemerkt in späteren Jahren auf und werden anfangs auch als Folge des Tabakgenusses billigend in Kauf genommen (Hautalterung, Raucherkatarrh, Kurzatmigkeit etc.). Erst mit zunehmender körperlicher Funktionsstörung, meist Herz-, Kreislauf- und Atemprobleme, ist dann nach allgemeiner medizinischer Sicht ein Krankheitszustand erreicht. Im Falle des Rauchens sind diese Spätfolgen mit oft letalem Ausgang.

Spätfolgen sind das sich verwirklichende Risiko, das durch den jahrelangen Zigarettenkonsum in seinen Ursachen gesetzt wird. Rauchen ist eine bedeutsame Ursache für über 40 verschiedene Krankheiten, unter ihnen ist eine Reihe schwerwiegender letal verlaufender Erkrankungen (Doll, 2000). Neben der Förderung von vaskulären Schäden an deren Ende der Herzinfarkt oder Apoplex stehen, begünstigt Rauchen die Entstehung zahlreicher Krebsarten (International Agency for Research on Cancer, 2002). Das Bronchialkarzinom ist der typische Raucherkrebs. Außer bei beruflichen Expositionen (Asbest, Chemikalien, radioaktive Substanzen) liegt der Zigarettenraucheranteil bei erkrankten Männern über 90%, der Anteil der weiblichen Erkrankungsfälle, die auf das Rauchen zurückzuführen sind, beträgt 76% mit steigender Tendenz (Sachverständigenrat für die konzertierte Aktion im Gesundheitswesen, 2001).

Die Hälfte der langjährigen Raucher stirbt vorzeitig an den Folgen des Tabakkonsums (Thun; Myers; Day-Lally et al 1997). Von diesen vorzeitigen Todesfällen treten 50% in mittleren Jahren bis zum 59. Lebensjahr ein. Wenn man eine mittlere Entstehungszeit eines Bronchialkrebses oder einer akuten koronaren Herzerkrankung (Herzinfarkt, Herzinsuffizienz) von etwa 30 Jahren zugrundelegt, wird verdeutlicht, dass sich die zu erwartende Lebenserwartung eines rauchenden Jugendlichen bei Beibehaltung des Tabakkonsums von 75 bis 80 Lebensjahre auf ca. 50 Lebensjahre reduziert. Diese um erhebliche Jahrzehnte verringerte Lebensspanne wird oft dann noch mit den intensiv behandlungsbedürftigen chronischen Beeinträchtigungen eines Raucherlebens (Raucherhusten, Raucherbein, chronische Bronchitis, COPD etc) verlebt. Während ein Nichtraucher mit einer Wahrscheinlichkeit von 70% sein 70. Lebensjahr vollenden wird, gelingt es den Rauchern nur zu 50 %, beim Erleben des hochbetagten 85. Lebensjahres stehen die Wahrscheinlichkeiten sogar mit 33% zu 8% zugunsten des Nichtrauchers noch extremer zu einander (Doll; Peto; Wheatley et al. 1994).

Vor allem junge Frauen wird dieses Schicksal ereilen. Ihr Körper reagiert genetisch determiniert wesentlich empfindlicher auf die Tabakinhaltsstoffe als der männliche Organismus. Ihr Risiko nach 20 bis 25 Jahren regelmäßigen täglichen Zigarettenkonsums einen letalen Bronchialkrebs zu entwickeln ist, wie die Zuwachsrate bei den Frauen mittleren Alters zeigt, etwa 6-mal höher als bei einem Mann mit den gleichen Risikofaktoren. Durch die Light-Zigaretten, die von Frauen bevorzugt werden, inhalieren sie bedeutend tiefer als Männer (Donner, 2004). Das Karzinom entsteht daher in schwer zugänglichen äußeren Lungenarealen und nicht wie bei Männern im Bronchialbereich. Die Krebsentwicklung bleibt wegen der längeren Beschwerdefreiheit der betroffenen Frauen länger unentdeckt. Die Sterblichkeit, die bei Bronchialkarzinomen wegen der schlechten Diagnostik- und Therapiemöglichkeiten im fortgeschrittenen Stadium ohnehin sehr hoch liegt, verschiebt sich bei Frauen daher noch weiter in den negativen Bereich. Ihre Heilungschancen sind noch schlechter als die der männlichen Lungenkrebskranken.

1.2 Konsequenzen für Bevölkerungsentwicklung Volkswirtschaft und Rechtslage

Diese fortschreitende Entwicklung hat in Anbetracht der ohnehin besorgniserregend geringen Geburtenrate und der progressiven Vergreisung unserer Bevölkerung nachhaltige negative Konsequenzen für die Volkswirtschaft und die Sozialsysteme in Deutschland. Die große Zahl der starken (weiblichen) Raucher im Jugendalter wird die Sterbestatistiken für diese Jahrgänge in den nächsten 20 bis 30 Jahren negativ beeinflussen (Klotz, 2004). Schon heute zeigt sich diese Entwicklung bei der Lungenkrebsrate der Frauen. Am höchsten liegt sie bei Frauen zwischen 40-50 Jahren, sie stieg von 1980 bis 1995 um 60% an (Drogenbeauftragte der Bundesregierung, 2002). Sie waren die erste Generation von Frauen, die in großer Zahl konsequent ab der Jugendzeit geraucht hat und jetzt an den tabakinduzierten Folgen frühzeitig verstirbt (Junge, 1998). Ihre Mütter waren dagegen traditionell fast ausschließlich Nichtraucherinnen oder begannen viel später zu rauchen. Sie werden erst nach dieser betroffenen Frauengeneration im gesegneten Alter von durchschnittlich 80 Jahren sterben. Hierin zeigt sich der drohende Verlust von vielen Lebensjahren bei den Frührauchern besonders deutlich. Das Rauchen schafft einerseits Probleme für die GKV. Raucher leiden häufiger an chronischen Atemwegs- und Herzerkrankungen, Vor allem fehlen sie aber durch den verfrühten Tod als Beitragzahler in den Sozialkassen, als Konsumenten in der Volkswirtschaft, als Leistungsträger in unserer Arbeitswelt und vor allem als Mitglieder unserer Sozialgemeinschaft. Letzteres schon deshalb, weil in diesem mittleren Alter der betroffenen Frauen, durch die Tendenz zur späteren Mutterschaft, noch oft entwicklungsabhängige Familienmitglieder (Kinder) vorhanden sein werden. Die normale Entwicklung der Jugendlichen wird durch den Verlust eines Elternteils empfindlich gestört, so dass andere Sozialisationsinstanzen dieses Defizit in Form einer psychischen Belastung und Suchtneigung nur unzureichend kompensieren können (Lancet, 2003). Die wichtigste Bezugsperson in der sozialen Entwicklung bei Kindern und Jugendlichen ist die Mutter (Keller & Hafner, 2003).

In Deutschland werden jedes Jahr durch Tabakkonsum 1,5 Millionen Lebensjahre vorzeitig zerstört, was mindestens einer Summe von 39,4 Mrd. € pro Jahr entspricht, die der Volkswirtschaft verloren gehen (Deutsches Krebsforschungszentrum, 2003). Zusätzlich belaufen sich die tabakbezogenen Gesundheitskosten pro Jahr in Deutschland auf 1% des Bruttoinlandsproduktes, dies entspricht einer pro Kopf Belastung von 820€ per anno (Welte; König & Leidl, 2000). Kein anderer einzelner Risikofaktor für die Gesundheit einer Bevölkerung hat so weitreichende Konsequenzen und ein so großes Potential von Vorteilen bei seiner Verhütung wie das Tabakrauchen. Die Prävention gegen das Rauchen brächte mittelfristig eine Entlastung der Gesundheitskosten und langfristig eine Verbesserung der Beitragslage bei den Rentenkassen. Ein Effekt, der einerseits auf die größere Anzahl der bis zum Rentenalter Beiträge entrichtenden Personen zurückzuführen wäre. Andererseits mit der erheblichen Reduzierung der Frühverrentungen korrelierte. Die meisten Frühverrentungen erfolgen auf Grund von Krankheiten, die durch den Tabakkonsum entweder hervorgerufen oder zumindest in Häufigkeit und Schwere der Krankheit gefördert werden (Herz- Kreislauferkrankungen), dies entspricht etwa 40% der tabakinduzierten Gesamtkosten (BZgA 2003).

Die Nachteile für die Gemeinschaft, die das Tabakrauchen mit sich bringt, sind durch die Einnahmen der Tabaksteuern, dem Argument der Arbeitsplätze in der Tabakindustrie und vor allem durch den „Vorteil“ der Sozialkassen durch das frühere Ableben der Raucher nicht zu kompensieren. Eine solche Aufrechnung, die zeitweise angeführt werden mag, verstieße gegen die Artikel 2 Abs. I und II, Artikel 1 Abs. III des Grundgesetzes. Diese Grundrechte sind nicht nur Abwehrrechte des Einzelnen gegen staatliche Eingriffe, sondern eine verbindliche Beauftragung des Staates, Gesundheit und körperliche Unversehrtheit eines jeden zu schützen (Drogenbeauftragte der Bundesregierung, 2003). Die Gemeinschaft ist ohne Aufrechnung der Vor- und Nachteile zur Risikominimierung verpflichtet. Das Rauchen schädigt schließlich auch jene Personen, die passiv die schädlichen Rauchinhaltsstoffe inhalieren müssen. Demgegenüber ist das Allgemeine Handlungsrecht des Rauchers nicht gleichberechtigt und muss Einschränkungen durch die Gemeinschaft hinnehmen. Eine gegenteilige Auslegung verstieße gegen das Schutzgebot der Grundrechte, das die Gemeinschaft auch verpflichtet, gegen den Willen des Betroffenen zu seinem Schutz zu handeln (Böllinger, 2000). Beispiele finden sich in vielen Bereichen, vom Gurtzwang bis hin zum Gesetz zur willensunabhängigen Behandlung psychischer Krankheiten (PsychKG). Obgleich auch in diesen Fällen ein zynischer Verweis auf das sozial verträgliche Ableben der Betroffenen zugunsten der Rentenkassen „kostengünstiger“ wäre. Der verfassungsbedingte Auftrag der staatlichen Gemeinschaft ist nach dem Wortlaut des Grundgesetzes ohne eine wirtschaftliche Abwägung verbindlich. Jedes andere (vermeidbare) Risikoverhalten ohne Lobby, das Jahr für Jahr mehr Todesopfer fordert, als alle anderen Drogen und der Straßenverkehr zusammen, wäre wahrscheinlich schon längst verboten worden, um die Betroffenen vor sich selbst zu schützen.

Die Tabakprävention ist eine volkswirtschaftliche Investition in die Zukunft der Sozialsysteme unseres Staates, eine volkswirtschaftliche Kostenentlastung und nicht zuletzt stellt ihr Unterlassen eine verfassungswidrige Haltung der staatlichen Gemeinschaft dar. Eine derartige Aufrechnung verbietet sich ethisch schließlich auch bei anderen Risikofaktoren wie Diabetes mellitus oder Hypertonie, die zumindest in Entstehung und Schwere des Risikos in der Hand der Risikoträger liegen. Damit wären sie nach der „Lebensführungsschuld“ nicht anders zu bewerten als Rauchen.

1.3 Besonders gefährdete Bevölkerungsgruppen in Deutschland

Die deutsche Bevölkerung zählt über 80 Millionen Menschen. Von diesen Einwohnern rauchten im Jahr 2000 35% der Menschen zwischen 18 und 59 Jahren aktiv Tabak (Kraus/Augustin, 2001). Gleichwohl ist das Rauchen in der nicht homogenen Gesamtbevölkerung nicht gleich in den verschiedenen sozialen Gruppen verteilt. Verschiedene Parameter lassen sich anlegen, um die Gesamtanzahl der Menschen in verschiedene soziale Gruppen zu differenzieren. Ein Differenzierungsmerkmal ist das Alter der Raucher. Andere Merkmale sind das Geschlecht, die sozioökonomische Situation und die ethnische Zugehörigkeit der Tabakkonsumenten. Durch diese Differenzierung sind soziale Gruppen herauszulesen, die mehr oder auch weniger als der Bevölkerungsdurchschnitt vom Rauchen und seinen gesundheitlichen Folgen betroffen sind. Ein Vergleich dieser Gruppen kann Aufschluss geben, was die eine Gruppe zu Rauchern macht und die andere vom Tabakkonsum eher abhält. Wie in anderen Industrienationen besteht auch in Deutschland eine stark ausgeprägte soziale Polarisierung des Rauchverhaltens (Deutsches Krebsforschungszentrum, 2004).

In Deutschland sind in Studien das Zusammentreffen von verschiedenen sozialen Faktoren und der Häufigkeit des Tabakkonsums festgestellt worden (Bormann, 1992; Schach et al. 1994; Henkel, 1999, 2000). Die höchsten Raucherquoten ergaben sich bei der Untersuchung von Personen mit geringem Einkommen und niedrigem beruflichen Status wie Erwerbslose und Sozialhilfeempfänger (Deutsches Krebsforschungszentrum, 2004).

So ist die Wahrscheinlichkeit bei Jugendlichen aus der unteren sozialen Schicht größer, regelmäßige Raucher zu werden als bei Jugendlichen aus bessergestellten Schichten (Kahl/ Fuchs/ Semmer & Tietze, 1994; Nelson et al. 1995). Während junge Erwachsene von 18 bis 19 Jahren mit Hauptschulabschluss zu 64% im Jahre 2003 Raucher waren, lag die Raucherquote bei den gleichaltrigen Gymnasiasten um 25% niedriger (Deutsches Krebsforschungszentrum, 2004).

Je extremer die sozioökonomische Lage ist oder wenn mehrere Faktoren einer negativen sozioökonomischen Lage zusammentreffen, desto mehr erhöht sich auch die Prävalenz des Tabakkonsums (Trabert, 1995). Bei obdachlosen Männern, bei denen sowohl materielle Armut, Wohnungslosigkeit und soziale Ausgrenzung zusammentreffen, ermittelte Trabert einen Anteil von Rauchern (80%), der mehr als doppelt so hoch lag wie die Prävalenz in der männlichen Durchschnittsbevölkerung. Ebenso verhält es sich mit alleinerziehenden Müttern mit Kindern unter 5 Jahren. Sie leben zu 50% in einkommensarmen Verhältnissen. Ihr Raucherinnenanteil ist mit 60% doppelt so hoch wie bei verheirateten und besser abgesicherten Müttern ( Zimmermann, 1998; Hanesch, 1998). Helmert und Maschewsky-Schneider fanden heraus, dass schon allein Erwerbslosigkeit, die, wie bei den zuvor dargestellten Gruppen, unter anderem mit sozialen und materiellen Verlusten einhergeht, die Prävalenz des Tabakkonsums wesentlich im Vergleich zu Erwerbstätigen der gleichen sozialen Gruppe erhöht (Helmert & Maschewski-Schneider, 1998; Waller, 1991)). Die besondere Gesundheitsgefährdung durch das Rauchverhalten in diesen Gruppen besteht aber nicht nur aus der erhöhten Rate der aktiven Raucher, sondern auch spiegelbildlich aus der geringen Anzahl der Exraucher und vor allem der größeren Passivraucher-Exposition anderer Personen im Umfeld . Personen in diesen sozialen Gruppen rauchen nicht nur früher, mehr und länger als andere, es fällt ihnen auch sehr viel schwerer, mit dem Rauchen aufzuhören (Helmert & Maschewski-Schneider, 1998). In Präventionskonzepten müssten die kausalen Zusammenhänge der Entscheidung zum Tabakkonsum beleuchtet und diese zur gezielten Förderung dieser Gruppen modifiziert werden. Bei allen durch den Tabakkonsum besonders gefährdeten Gruppen in der Bevölkerung lassen sich folgende Gemeinsamkeiten ableiten, die in einem Zusammenhang mit der Rauchentscheidung der Personen in den betroffenen Gruppen auftreten:

- Sie haben eine schlechte oder keine Schul- oder Berufsausbildung
- Sie sind sozial wenig integriert
- Sie verfügen über keine oder über nicht (mehr) verwertbare Qualifikationen
- Sie haben ein geringes Einkommen
- Sie sind Kinder aus sozial geforderten Verhältnissen (Scheidungskinder, (Halb)waisen, kinderreiche Familien, Kinder von Alleinerziehenden usw.)

Diese Personengruppen werden unter dem abstrakten Begriff „sozial Benachteiligte“ zusammengefasst, obgleich es sich um eine Vielzahl von verschiedenen Diskriminierungskriterien und deren Kombinationen handelt.

Niemand wird aber zum aktiven Tabakkonsum gezwungen. Ihrem Rauchverhalten liegt eine getroffene individuelle Entscheidung, mit dem Rauchen zu beginnen oder fortzufahren, zu Grunde. Nachfolgend soll dargelegt werden, in welcher Weise die als soziale Benachteiligung beschriebene Situation einer Personengruppe die Entscheidung zum Tabakkonsum beeinflusst.

2. Von sozialer Benachteiligung zur gesundheitsschädigenden Entscheidung zu rauchen

Die Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe hat offenbar erheblichen Einfluss auf die Entscheidung, Raucher zu werden und es zu bleiben. Während in anderen sozialen Gruppen die Anteile der aktiven Raucher und damit auch die Anzahl der durch Passivrauchen Gefährdeten immer mehr zurückgehen, sind die als sozial Benachteiligte beschriebenen Gruppen innerhalb der Bevölkerung von der allgemeinen Nichtraucherförderung der Gesellschaft unberührt geblieben. Alle Bemühungen der vergangenen Jahre, die (potentiellen) Tabakkonsumenten anzusprechen und zur Abstinenz zu bewegen, brachten in sozial schlechter gestellten Schichten weitaus weniger Erfolge als in anderen sozialen Schichten. Die gesundheitspolitisch initiierten und geförderten Konzepte gegen das Rauchen waren nicht genügend effizient, diese besonders betroffenen Personenkreise in ihrer Lebenswirklichkeit anzusprechen. Die verwendete Sprache in diesen Präventionskonzepten fand offenbar keine Entsprechung in der Lebenswirklichkeit dieser Menschen. Sie bildeten andere Bilder des Rauchens sowie seiner Gefahren und der Vorteile des Nichtrauchens ab, so dass eine Subsumption des eigenen Rauchverhaltens unter diese vermittelten gesellschaftlichen Normen des Gesundheitsverhaltens den Betroffenen nicht gelingen wollte. Diejenigen, die früher schon wenig von Gesundheitsfortschritten profitierten, haben auch weiterhin kaum Nutzen, obgleich sie theoretisch die gleichen Angebote ausschöpfen können wie die „erfolgreichen“ Gruppen (Klocke, 1998).

Wie schon in der auf Aristoteles zurückgehenden (rechts)philosophischen Betrachtung diskutiert, hat jeder Mensch seine eigene Realität, die er mit seiner eigenen Sprache abbildet (Haft, 1985; Zippelius 1986). Dass wir uns dennoch verständigen können, liegt an der mehr oder minder vorhandenen Kongruenz der wahrgenommenen sozialen Realitäten in unserem Umfeld. Aber je weiter die angesprochene sozialisierte Erfahrungswelt von der unseres eigenen Umfeldes entfernt ist, desto kleiner werden diese Kongruenzen und damit die Verständlichkeit der durch die Sprache abgebildeten Realität. Wenn der eine das Rauchen gemäß seiner wahrgenommenen Realität als Zumutung, Geldverschwendung und unsoziale Gesundheitsgefährdung beschreibt, wird der andere, der Rauchen als Entspannung, unverzichtbares soziales Integrationsinstrument und kleines Vergnügen im Alltag erfahren hat, diese beschriebene Realität des einen wohl nicht nachvollziehen können. Seine Entscheidung, mit dem Rauchen zu beginnen oder damit aufzuhören, fällt zugunsten des Rauchens. Unglaubwürdigkeit einer Gesellschaft durch die Widersprüchlichkeit der vermittelten Verhaltensnormen potenziert den negativen Effekt. Einerseits werden Drogen kriminalisiert und andere, die zahllose Opfer fordern, dürfen als „Genussmittel“ für ein „aktives Leben“ beworben werden (Hüllinghorst, 2000).

Eigentlich dürfte es de jure eine soziale Benachteiligung nach den Maßgaben der Artikel 3 Absatz I und II sowie Artikel 20 des Grundgesetzes, die der staatlichen Solidargemeinschaft gebietet, alle gleich zu behandeln, ungeachtet ihrer Herkunft, ihres Geschlechtes, etc., gar nicht geben. Dieses Gebot gilt auch für das Garantieren gleicher Gesundheitschancen in allen Bevölkerungsgruppen (Art. 2 Abs. II GG). Dass Tabakkonsum gesundheitsschädlich ist, ist schon lange vermitteltes ubiquitäres Allgemeinwissen. Dennoch entscheiden sich in den oben angeführten Gruppen mehr Menschen wider besseres Wissen für den Tabakkonsum. Welche Motive liegen dieser individuellen Entscheidung zugrunde? Ist sie tatsächlich eine eigenverantwortliche Individualentscheidung für einen Lebensstil „Raucher“ oder vor allem eine kausale Reaktion auf objektive soziale Bedingungen?

2.1 Soziale Benachteiligung früher und heute

Sozial und damit gesundheitlich benachteiligt zu sein, bedeutet, dass ein Mensch für die Erlangung von guten und gesunden Lebensumständen in unserer Gesellschaft trotz grundgesetzlich verbürgter Chancengleichheit, leistungsunabhängig schlechtere Lebens- und damit Gesundheitschancen hat, als ein anderes Mitglied der Gesellschaft, das in ein anderes Umfeld hineingeboren wurde. Die Kenntnis der Determinanten, die für die Überführung von sozialer in gesundheitliche Ungleichheit wirksam werden, ist die Grundlage, um eine gezielte gesundheitliche Förderung der benachteiligten Gruppen voranzutreiben.

2.1.1 Soziale und gesundheitliche Benachteiligung in der Klassengesellschaft

In der vordemokratischen Gesellschaft war es relativ einfach, systematisch benachteiligte Gruppen von anderen zu unterscheiden, die auf Grund der sozialen Umstände, in denen sie leben mussten, ein schlechteres Gesundheitsverhalten hatten. Früher verwendete man den Begriff Klasse, um eine gewisse Stellung innerhalb einer Gesellschaft deutlich zu machen. Damit war festgelegt über welche Bildung, welches Einkommen und welchen Beruf eine Person erlangen wird und welchen Lebenswandel sie, von der der Gesellschaft vorgegeben, zu durchlaufen hatte (Wössner, 1972). Wer zu welcher Klasse gehörte, entschied sich allein nach den objektiven Kriterien „Bildung – Beruf – Einkommen“, die von der Person und deren Fähigkeiten unabhängig von der sozialen Herkunft entschieden wurden. Alle Dimensionen beeinflussten sich gegenseitig und stellten einen Kreislauf von Kausalverbindungen dar, an deren Ende eine soziale Benachteiligung der Betroffenen in der Gesellschaft stand. Sie hemmten die Betroffenen, eine gesunde, bessere Stellung in der sozialen Gemeinschaft einzunehmen.

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Die Strukturen der Gesellschaft waren vorhersehbar, starr und typisiert.

Wer als Kind eines Arbeiters geboren wurde, war zum Arbeiter durch Geburt bestimmt. Er verfügte über geringes Einkommen, arbeitete körperlich hart und wurde von Vorgesetzten und Behörden herablassend behandelt. Er ruinierte seine Gesundheit durch die Lebens- und Arbeitsumstände und starb erheblich früher als Angestellte und Beamte (Mooser, 1984). Die Ungleichheit in der Gesundheit ergab sich damit unmittelbar aus der unterdurchschnittlichen Ausstattung der unteren Schichten jener Gesellschaft mit Bildung, Einkommen und sozialem Status. Die Kinder folgten auf diesem Lebensweg.

Ein Zusammenhang, der schon vor über 150 Jahren von Virchow erkannt und beschrieben wurde (Virchow, 1992). Anlässlich einer dienstlich angetretenen Begutachtungsreise in einen von der Cholera verheerten Landstrich in Oberschlesien konstatierte der Vater der Sozialhygiene resignierend, dass nicht die schreckliche Krankheit die Menschen in großer Zahl dahinraffe. Es seien vielmehr Not, Unkenntnis, Hunger und die Armut, die sie wahrhaftig töteten.

Die Teilhaberechte an den sozialen Errungenschaften der Gesellschaft, wie Gesundheit und Wohlstand, waren durch die Klassenordnung vorab schon vorgegebenen. Es gab keine Mobilität zu besseren sozialen Schichten und damit gesünderen Lebensumständen, für die man sich entscheiden konnte. Wer Bildung und damit einen besseren Beruf erlangen und mehr Einkommen für bessere, gesündere Lebensumstände erhielt, entschied allein die soziale Herkunft und damit das Einkommen bzw. die Bildung der Eltern. Eine individuelle Entscheidung, seine Lebenschancen zu nutzen, seine Gesundheit zu bewahren, gab es für untere Schichten nicht.

In der geringen individuellen und wenig pluralistischen Struktur liegt dann auch einer der größten Unterschiede zur heutigen Gesellschaft. Soziale Benachteiligungen, die sich vor allem in der Gesunderhaltung, Bildungswesen und allen Lebenssituationen offenbarten, waren dem System immanent.

2.1.2 Soziale und gesundheitliche Ungleichheit auch heute noch?

Nach den Vorgaben des Grundgesetzes sollte jeder Mensch die gleichen Pflichten und Rechte haben. Das Gesundheitswesen, die soziale Absicherung durch Sozialkassen hätten erwartungsgemäß einen etwa nivellierten Gesundheitsstatus aller Menschen in unserem Lande sicherstellen sollen. Dennoch gibt es nach wie vor Gruppen, die von den allgemein besseren, gesünderen Lebensumständen weniger profitieren als andere, obgleich sie theoretisch gleichen Zugang zu den Gesundheitseinrichtungen und Gesundheitsinformationen wie alle anderen haben. So ist die Mortalität von Arbeitern in mittleren Lebensjahren immer noch wesentlich höher als die von Angestellten und Beamten, wobei die Mortalität bei Universitätsabsolventen am geringsten während sie bei Personen ohne Bildungsabschluss am höchsten ist (Oppolzer, 1986; Siegrist, 1996; Hurrelmann, 2000). Unsere Rechtsordnung sieht sogar das Gebot des sozialen Ausgleichs vor, d. h. die Gemeinschaft hat die sozialen Ungleichheiten, die sich durch unterschiedliche materielle und individuelle Ausstattung ergeben, abzumildern bzw. zu kompensieren (Jarass, 1989). Nach der Maßgabe und Willen der Legislative soll somit jeder Mensch von Gesetzeswegen die gleichen Entscheidungs- und Handlungsmöglichkeiten erhalten, ganz gleich in welchen Verhältnissen oder mit welchem Handicap er sein Leben beginnt. Die Startbedingungen sollen egalisiert werden, was an Ausstattung zum standardisierten Level fehlt, liefert die Solidargemeinschaft (z.B. SchwerbehindertenG.), so die Theorie.

Von einigen Sozialwissenschaftlern wird daher die starke Tendenz unserer Gesellschaft zum Pluralismus und Individualismus als Entwicklung zu größerer Wahlfreiheit, in Form einer eigenen Entscheidung zwischen den verschiedenen gesellschaftlich gebotenen Lebensstilen, betont, ohne dass es noch auf objektive Differenzierungskriterien (Einkommen, Bildung, Beruf..) ankomme (Lüdke, 1989; Berger & Hradil, 1990; Hörning & Michailow 1990). Jede Verhaltensäußerung und Vorliebe, auch in gesundheitlichen Verhaltensweisen, seien allein Ausdruck der individuellen Präferenzen einer Person (Sperlich & Mielck 2000 m.w.N.). Gesundheitliche Ungleichheit entstehe durch eine unterschiedliche individuelle Entscheidung der Betroffenen, sich gesundheitsschädlich zu verhalten. Träfe dies zu, wären die vom Rauchen betroffenen Gruppen allein durch ihre eigene Präferenz Raucher.

Ihre sozioökonomische Lage und ihr Bildungsstand wären irrelevant für ihr Rauchverhalten. Eine Prävention gegen das Rauchen hätte folglich nur einen Ansatzpunkt. Die individuelle Entscheidung der Raucher durch Aufklärung und Beratung zu beeinflussen, ihn durch Gesundheitserziehung zu lenken. Unterbreitet wird von der Gesellschaft ein Angebot zu einer Verhaltensänderung, das der Betroffene wie in einer Art Gesundheitsverhaltensvertrag mit Annahme des Angebotes der Gesellschaft in Kraft setzt. In einer Gesellschaft, in der immer mehr mit Selbstverantwortung und Individualisierung als sozial und politisch gewollte Werte statt gesellschaftlicher Solidarität operiert wird, ist diese Erklärung des Gesundheitsverhaltens prädestiniert (Rosenbrock, 1997).

Sie bietet den sozial- und gesundheitspolitisch Verantwortlichen die Möglichkeit, den gesundheitlich Benachteiligten ihr gesundheitsschädigendes Fehlverhalten als eigenes Verschulden aufzuerlegen, ohne sich der Frage der Beteiligung der Gemeinschaft stellen zu müssen.

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Dieser Wertung der Unterschiede im Gesundheitsverhalten ist allerdings entgegen zu halten, dass den klassischen (objektiven) Determinanten noch eine erhebliche sozialstrukturelle Prägekraft zukommt, und dass das Einkommen immer noch erheblich auf die Gestaltung von Lebenschancen einwirkt (Hübinger, 1996). Anders wäre kaum zu erklären, warum gebildetere, einkommensstärkere Personen, diese autonome, individuelle Entscheidung weitaus weniger zugunsten des Rauchens treffen. Ohne einen sozialwirksamen Anreiz würde sich auch niemand wieder besseres Wissen für ein gesundheitsschädigendes Verhalten entscheiden. Nachtarbeit und Schichtarbeit sind durch Zuschläge besser bezahlt als andere vergleichbare Tätigkeiten, wenngleich sie schon lange als gesundheitsschädigend eingestuft werden. Dass man sich dennoch für sie entscheidet, liegt an der sozioökonomischen Lage des Betroffenen. Es wird ein Mehrertrag der Arbeitskraft und eventuell Tagesfreizeit (für die Kinderbetreuung) erzielt, weil man andernfalls die Anforderungen seiner Lebensgestaltung nicht erfüllen kann. Man braucht das Geld und man kann sich keine professionelle Kinderbetreuung leisten.

Was an sozialer Unterstützung und finanzieller Ausstattung fehlt, wird durch „Verkauf“ der Gesundheit kompensiert. Insofern findet zwar eine Entscheidung statt. Aber ein Beispiel mag zeigen, dass die Tatsache einer Entscheidung noch nichts über die Motivation zur Entscheidung aussagt. Auch der Genötigte (§240 StGB) fällt eine Entscheidung wenn auch von außen diktiert, um Druck von sich abzuwenden. So extrem ist der Angriff auf die Entschließungsfreiheit der Personen der unteren Schicht zwar nicht. Dennoch besteht eine Beeinflussung der Entschließungsfreiheit durch strukturelle Einflussnahme. Solche strukturellen Ungleichheiten sind unserem hoch arbeitsteiligen System immer noch zueigen. Die Gesellschaft braucht diese gesundheitsschädigenden Verhaltensweisen für ihr wirtschaftliches Fortkommen und setzt, bewusst oder unbewusst, sozial wirksame Anreize für die unteren Schichten, dieses Verhalten zu zeigen. Ihre Wahlfreiheit ist mangels Alternativen eingeschränkt. Die Anreize lassen die gesundheitsschädigende Entscheidung attraktiv erscheinen. Mit einer frei gewählten individuellen Lebensentscheidung, die unabhängig von der eigenen sozialen Lage getroffen wird, hat dies allerdings wenig zu tun. Sie ist und bleibt die motivatorische Triebfeder für die Entscheidung zu einem bestimmten (gesundheitsschädigenden) Verhalten. Im Umkehrschluss träfe eine sozial gesicherte und einkommensstarke Person der Oberschicht für einen Gehaltszuschlag oder Tagesfreizeit sicherlich keine gesundheitsabträgliche Entscheidung. Die Zuschläge brächten ihr auch keinen sozialwirksamen Anreiz, die Gesundheit zu „verkaufen“. Sie kann auch so ihr Leben individuell und befriedigend gestalten. Sie kann sich darüber hinaus anderen Fragen widmen als der Bestreitung alltäglicher Grundanforderungen.

Die Pluralisierungs- und Individualisierungstendenz als Gestaltungsfreiheit von Lebenschancen weist also immer noch eine Differenzierung nach sozialen Lebenslagen auf, denn sie ist im Wesentlichen dem Umfeld der oberen (einkommensstärkeren) Schichten zuzuordnen, während untere Schichten ausgenommen sind (Meier, 1994; Konietzka, 1995). Niedriges Bildungsniveau und geringes Einkommen sorgen nicht nur für eine Einschränkung des Konsums, sondern hemmen auch die Möglichkeit, durch Nutzung persönlicher oder gesellschaftlicher Ressourcen, sich mit Belastungen in Beruf und privatem Umfeld gesundheitserhalten bzw. gesundheitsfördernd auseinander zu setzen (Schnabel, 2001). Die Individualisierung und die pluralistische Strukturen führen lediglich zur Berücksichtigung subjektiver Kriterien.

Obgleich zur gleichen Schicht gehörend haben Männer als Arbeiter oder Migranten ein schlechteres Gesundheitsverhalten als Frauen oder niederer Angestellte, man spricht von horizontaler Differenzierung ((Mielck, 1994). Sie zeigt nur, dass ein mehr oder minder vorhandener, gesellschaftlich zugestandener Spielraum für eine individuelle Gestaltung des Lebensstils im gegebenen sozioökonomischen Rahmen vorhanden ist. Die soziale Herkunft, die diese Entscheidungen für oder gegen gesundheitserhaltendes Verhalten letztlich in Anzahl und vor allem Ausmaß bestimmt, bleibt nach wie vor der „genetische Code“ für die Entwicklungschancen, auch der gesundheitlichen.

Jeder Mensch ist ein soziales Wesen und seine Entscheidungen fällt er demnach als Teil eines sozialen Gesamtgefüges. Mit der objektiven sozialen Lage sind Determinanten verbunden, die dem Raucher das Rauchen angenehmer und hilfreicher erscheinen lassen als das Nichtrauchen.

2.2 Ungleich im Status und im Rauchverhalten

Beim Rauchen stieg die Prävalenz im Zeitraum von 1985 – 1992 in der unteren Schicht an, im Gegenzug sinken die Raucheranteile in der oberen Schicht weiter ab (Forschungsverbund DHP, 1998). Soziale Benachteiligung und Armut sind keine allgemein operationalisierten Kriterien. Mit zunehmender wirtschaftlicher Verschlechterung und fortschreitenden sozialen Umbrüchen (Scheidungsrate, Alleinerziehende, Patchwork-Familien) nimmt die Zahl der Erwerbslosen ebenso zu wie die Anzahl der einkommensschwachen Sozialhilfeempfänger (Statistisches Bundesamt, 2004). Die Armut lässt sich auf der Grundlage des „Lebenslagenansatzes“ mehrdimensional als unterdurchschnittliche Ausstattung mit Einkommen, Arbeit, Bildung und Wohnraum definieren (Henkel, 2000 m. w. N.) Damit sind alle Grundschnittstellen eines Individuums zur Sozialgemeinschaft betroffen. Eben diese Minderausstattung der sozialen Schnittstellen zur Gemeinschaft umschreibt die alltägliche Lage der sozial Die Betroffenen sind in allen Lebensbelangen vergleichsweise schlechter gestellt und müssen mit der Rücksetzung täglich fertig werden. Unsere Gesellschaft, die sich immer mehr über Konsum und Hochqualifikation definiert, lässt diese soziale Zurückweisung für die „Ausgeschlossenen“ noch extremer erscheinen werden (Inglehard, 1995).

Das Rauchen ist keine ausschließliche Genusssache. Rauchen erfüllt schon von Anfang an in jungen Jahren einen instrumentellen Nutzen (Hurrelmann, 1998, Bühringer & Bühler, 2004). Die meisten Raucher geben als Grund für ihren Tabakkonsum Entspannung an, Jugendliche verbinden damit einen Erwachsenenstatus (ebenda). Strukturell sind zwei Hauptwirkungsfelder der sozialen Ungleichheit erkennbar, die für größere Affinität der unteren Schicht für die Entscheidung zum Rauchen ursächlich sind.

- Die Lebenslage in der unteren sozialen Schicht verursacht mehr Disstress im täglichen Leben, der durch das Rauchen kompensiert wird. Die soziale Akzeptanz für das Rauchen als Lebensgestaltung ist im Umfeld der unteren Schichten mehr vorhanden als in Kreisen höherer Bildung (positive Verstärkung). Es ist als akzeptierte und erstrebenswerte Lebensgestaltung wesentlich öfter anzutreffen als in anderen sozialen Settings. (erhöhte Risikofaktoren)
- Die niedere Bildung und die angespannte sozioökonomische Lage lassen die Bildung von persönlichen und sozialen Bewältigungskompetenzen, die für das gesunde Auseinandersetzen mit den Lebensanforderungen notwendig sind, in wesentlich geringerem Umfang zu, an deren Stelle tritt dann das Rauchen (Fehlen von Schutzfaktoren)

2.2.1 Gesundheitsrisiken durch sozioökonomische Lebenslage

Allgemeinen Lebensstress hat jeder Mensch. Die Frage ist vielmehr, handelt es sich um positiv motivierenden Eustress oder um Disstress, der als lähmend, kräftezehrend und auch deprimierend empfunden wird. Der Unterschied zwischen beiden liegt häufig weniger in der Situation selbst, sondern in der Häufigkeit des Auftretens (Dauerstress) und im zu erwartenden Erfolg nach der Bewältigung. Ist der Stress der Auftakt zur Erreichung der gesetzten Erfolgsziele und erhält man dafür Anerkennung, wirkt er sich motivierend und positiv aus (Eustress). Ist der Stress aber Teil einer nicht endenwollenden Kette gleichartiger Stresssituationen, die weder Erfolg noch Anerkennung bringen, dann schädigt der Stress die Person an Körper und Psyche (Hurrelmann, 2000; Siegrist & v. d. Knesebeck, 2004). Keine Forderung oder Unterforderung, z.B. bei Schulverweis oder Erwerbslosigkeit, sind in Art und Auswirkung ebenso zum Disstress zu rechnen.

Qualität und Intensität der psycho-sozialen Stressoren hängen von der soziökonomischen Lage und der sozialen Rolle des Erwachsenenlebens zusammen (Siegrist & Knesebeck, 2004). Stress tritt dann auf, wenn die exponierte Person die Bedrohung oder den Verlust ihrer Kontrolle über die zu bewältigende Situation befürchtet oder erlebt (ebd.). Je mehr also die Rollenqualität, die eine Person erfährt, ihr Entscheidungs- und Gestaltungsmöglichkeiten lässt, ihr nicht das Gefühl des Ausgeliefertseins vermittelt, desto mehr entwickeln sich Persönlichkeitsmerkmale, die als Gesundheitspotentiale fungieren (Badura, 1993). Wer hingegen am unteren Ende der Hierarchie steht, hat in seiner Rolle, die er zu spielen hat, wenig Einfluss auf das Verhalten der Höheren. Er kann Entscheidungen, die das Ganze oder ihn betreffen nicht mit entscheiden. Der Untere ist und sieht sich als bloßes „Objekt fremder Entscheidungen“. Die Rolle der sozial benachteiligten Personen, die am unteren Ende der Gesellschaftshierarchie stehen und keine echten Mitgestaltungsmöglichkeit in ihrer Lebenslage haben, ist systematisch sozial (dauer)stressig.

Die soziökonomische Situation der unteren Schicht ist objektiv geprägt von außergewöhnlichen Belastungen, die sich durch die Minderausstattung der sozialen Schnittstellen ergeben. Körperliche belastenden Tätigkeiten und psychischer Druck durch geringe Mitgestaltungsrechte bestimmen den Berufsalltag. Der Erfolg bei einer Belastungsbewältigung ist nur der, dass man eben eine Belastung überstanden hat, von denen bereits unzählige gleichartige zur Bewältigung noch anstehen. Anerkennung gibt es dafür von der sozialen Gemeinschaft nicht. Der stete Kampf gegen leidige Alltagsprobleme und immer wiederkehrende akute existenzieller Verunsicherungen, Gefährdungen und Bedrohungen kennzeichnen das „Leben in der Defensive“ (Tobias & Boettner, 1992; Neuberger, 1997). Die Gesellschaft mit ihren Anforderungen wird als feindseliger Aggressor wahrgenommen, der täglich bekämpft werden muss. Dies schafft einen großen psychischen Druck und eine fatalistische Einstellung zur Gesellschaft. Arbeitsplatzunsicherheit, ungünstige Arbeitsumgebungen, monotone Arbeitsinhalte, geringe Handlungsspielräume und Aufstiegschancen fördern letztlich gesundheitsschädliches, kompensierendes Ausweichverhalten (Badura & Pfaff, 1996; Aneshensel, 1992). Die schlechte Relation zwischen Arbeit und Entlohnung oder Bestätigungen führt zu Beeinträchtigungen der körperlichen und psychischen Gesundheit. Sie strahlt in alle Lebensbereiche einer Person aus (Kohn & Schooler, 1983). Das Freizeitverhalten der Person wird passiv, dadurch verkümmern mentale, kognitive und soziale Ressourcen. Das Einkommen reicht nicht aus, sich an der Konsumgesellschaft zu beteiligen. Was folgt, ist ein sozialer Rückzug. Einerseits verlieren Beruf und Arbeitsplatz zwar quantitativ in der „Freizeitgesellschaft“ als Orte der Identitätsbildung an Bedeutung, andererseits hängt von den knapper werdenden Arbeitsplätzen nach wie vor der finanzielle Status und das soziale Prestige ab, die die Lebenssituation in der Gesellschaft bestimmen (Huster, 1998). Diese soziale Selektion ist schon bei Kindern aus diesen Schichten zu beobachten, wenn sie Zurückweisungen ihrer Mitschüler wegen ihrer „uncoolen“ Kleider oder wegen Absagen bei kostenträchtigen „Events“ (Kino, Disco, Schulausflug) erfahren. Im Falle des Rauchens ist es die von Jugendlichen beobachtbare Reaktion des Rauchers auf das Nikotin, die bei einem Jugendlichen zum Entschluss führen kann, es auch damit zu versuchen (Ludwig – Boltzmann - Institut, 2003). Nikotin wirkt stimmungsaufhellend und beruhigend. Rauchen wird im Umfeld der unteren Schicht allgegenwärtig zelebriert. Zigaretten sind überall zugänglich, man erhält sie angeboten. Es scheint, als ertrügen die Raucher nach einer Zigarette Belastungen und Stress wesentlich leichter. Man assoziiert positive genussvolle Lebenskompetenz. Ein Nachahmeffekt auf eine Person in gleicher Situation ist wahrscheinlich. Durch das mehrheitlich rauchende Umfeld macht sich ein Identifikationsphänomen diffus bemerkbar: Wer raucht, gehört dazu! Der prägende Einfluss der „Peer - Groups“ bei Jugendlichen zeigt dies (Jessor et al. 1998). In rauchenden Jugendgruppen hängen Akzeptanz und „Coolness“ vom Rauchen ab. Wer als Jugendlicher möchte schon als „uncool“ gelten? Jugendliche suchen sich gezielt Peer-Groups, die ihre etablierten Gewohnheiten teilen (Kandel, 1996). Dies sorgt für Integration und soziale Anerkennung zumindest im engeren eigenen Umfeld.

Die vorhandene größere Umfeldakzeptanz in unteren Schichten dem Tabakkonsum gegenüber wertet das Rauchen als allgemeinen „erwachsenen“ Lebensstil auf. Ein Lernen am Modell erfolgt und ist ein weiterer erheblicher Risikofaktor für die Entstehung eines Konsummusters. Dies gilt vor allem für Jugendliche und Heranwachsende, denen mit der Entwicklung enorme Anpassungsleistungen abverlangt werden bis sie ihre eigene erwachsene Identität entwickelt haben (Pinquart & Silbereisen, 2002). Mindere kommunikative Kompetenzen und sozial angespannte Lage führen zu größeren Spannungen im Verhältnis zwischen Eltern und Jugendlichen. Dieses erhöht die Anpassungsanforderungen zusätzlich für die betroffenen Jugendlichen (Hurrelmann & Unverzagt 2000). Rauchen gehört für die Heranwachsenden zu einer erwachsenen Identität, die sie anstreben oder zu einer Protesthaltung gegen die sie belastende Gesellschaft. Dieser Effekt mag wohl ebenso bei Personen anderer sozialer Gruppen vorliegen. Allerdings verfügen sie über Kompetenzen, den Druck anderweit abzubauen und gegebenenfalls professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen (Raucherentwöhnung). Sie sind nicht systematisch auf den lebensbegleitenden instrumentalen Nutzen gesundheitsschädigender Ausweichverhalten angewiesen. Jugendliche aus sozial besser gestellten Gruppen verspüren wegen der besseren Kompetenzausstattung der Eltern und ihrer eigenen weniger schädlichen Anpassungsdruck. Diese höhere Belastung durch gleichbleibend schlechtere Umfeldbedingung korreliert mit geringer Bestätigung. Sie schafft einen größeren Druck für ein Ausweichverhalten wie Rauchen, um die unbefriedigende, nicht abänderbar erscheinende Situation erträglicher zu machen (Siegrist & v. d. Knesebeck, 2004). Und dies schon in jungen Jahren, wenn man sich seiner „stigmatisierten“ Situation in der Gesellschaft bewusst wird.

Der unteren Schicht bringt das Rauchen in Bezug auf die Lebenssituation zwei ableitbare Vorteile. Es hilft erstens über die Enttäuschung der mangelnden Anerkennung hinweg (psychogene Wirkung), und zweitens hilft es die gesellschaftlich vorgegebenen Anforderungen zu erfüllen, die funktional in einer hocharbeitsteiligen Gesellschaft den unteren Schichten auferlegt werden. Es „erhält“ die Leistungsfähigkeit. Die schwere Lebenssituation ist schon für sich allein betrachtet, eine Agglomeration von Risikofaktoren. Aber vor allem ist sie ein Risiko für die Entwicklung von Lebenskompetenzen im Dialog mit der Gemeinschaft, um die gestellten Anforderungen nicht auf Kosten der Gesundheit erfüllen.

2.2.2 Kompetenzen als Schutzfaktoren für die Gesundheit

Nikotinabusus, bestimmt aber Nikotinabhängigkeit sind Formen eines Suchtmusters. Sucht ist nach neuerer Erkenntnis keine Folge genetischer Disposition, sondern ein mehrdimensionales Ineinandergreifen von Risikofaktoren und Schutzfaktoren, das, je nachdem, welche Faktorengruppe qualitativ überwiegt, ein Suchtverhalten hervorruft oder hemmt (Jessor/ Turbin & Costa, 1998).

Die Bedeutung und Schwere einer externen Belastung als Risikofaktor hängen davon ab, wie die Einschätzung des Menschen von der Problematik und seiner eigenen psychischen, sozialen und kulturellen Ressourcen, auf die er für die Bewältigung zurückgreifen kann, ausfällt (Lazarus, 1991). Die Lebenssituation der unteren Schicht birgt, wie zuvor beschrieben, schon strukturell durch ihre sozioökonomische Lage wesentlich mehr Risikofaktoren für ein Suchtmuster als es in anderen Schichten der Fall ist. Ein größeres Maß an Belastungen bzw. Risiken durch die Lebensumstände kann nur dadurch kompensiert werden, dass Schutzfaktoren in entsprechend größerem Umfang in der unteren Schicht zur Verfügung ständen. Dies scheint aber gerade nicht der Fall zu sein. Zu diesen Schutzfaktoren zählen alle personalen, sozialen und kulturellen Ressourcen, die helfen, die Stressoren der sozialen Lage ohne gesundheitliche Beeinträchtigungen zu bewältigen. Nach dem Salutogenesemodell von Antonowski (Antonowski, 1987) besteht Gesundheit aus eben diesem dynamischen Gleichgewicht zwischen gesundheitsbelastenden Faktoren (Anforderungen, Belastungen, Risiken) und Schutzfaktoren (Kompetenzen, soziale Unterstützung, Ressourcen). Ein Risikofaktor kann nur dann gesundheitsschädlich werden, wenn ihm keine kompensierenden Ressourcen gegenüberstehen. Wer in einem suchtfördernden Umfeld lebt, aber viel Selbstvertrauen, Konfliktfähigkeit, soziale Integration und ein ausgesprochenes Gesundheitsbewusstsein als Ausdruck eines gesunden Selbstwertes hat, ist weitaus weniger gefährdet, der Sucht zu erliegen. Für ihn treffen auch die Kompensationsvorteile eines Suchtverhaltens dann nicht (mehr)zu.

Kompetenzen als Schutzfaktoren im gesundheitlichen Sinn sind alle allgemeinen Lebenskompetenzen, die dazu dienen, den Wert seiner Person und seiner Gesundheit zu erkennen, diese nachhaltig im sozialen Austausch mit der Gesellschaft zu bewahren (Altgeld & Kolip, 2004). Sie basieren auf Basiskompetenzen, auf denen die spätere Entwicklung der Fähigkeiten zum Einsatz individueller und kollektiver Problembewältigungsstrategien sich gründet, die schon in der Familie vermittelt werden (Tress, 1986; Hars & Maier, 1992). Kompetenzen oder Ressourcen bilden sich nicht einfach so. Sie bilden sich in Kooperation mit der sozialen Gemeinschaft durch Adaptieren, Verstärken oder Hemmen und kognitives Lernen (Keller & Hafner, 2003).

Mit dem Bildungsgrad steigen zum Beispiel die Fähigkeiten, wie Urteilsfähigkeit, Flexibilität, Kreativität und Selbständigkeit (Inglehard, 1995). Diese werden an die nachfolgende Generation weitergegeben. Je höher der Bildungsgrad, desto größer ist auch das Selbstvertrauen in die Bewältigung beruflicher bzw. sozialer Lebensanforderungen, und desto positiver die Einwirkung auf die nachfolgende Generation (Hurrelmann, 2000; Hurrelmann & Unverzagt 2000). Die positive Einstellung zur Anforderung und zur eigenen Kompetenz ist eine Grundvoraussetzung für das zufriedenstellende Bewältigen der Risiken im Lebensalltag (Arbeit, Kindererziehung etc.). Weniger die Sache selbst schädigt, sondern die Einstellung dazu. Mit dem Selbstwertgefühl steigt die Aktivität in der Bewältigung von Anforderungen und dem Erkennen des Wertes der eigenen Gesundheit. Positive Einstellung, effektive Bewältigungsmotivation sind wichtige Prozesse der Selbstregulation, des Selbstwertgefühls und für das Zugehörigkeitsgefühl (Siegrist & v.d.Knesebeck, 2004). Als conditio sine qua non muss dieses Kompetenzgerüst erworben werden, in dem es vor allem durch soziale Integration und Unterstützung gestärkt wird. Ist das soziale Gefüge, das prägt, fördernd, wachsen die (Gesundheits-)Kompetenzen. Ist es abweisend, so verkümmern sie. Eine individuelle Prägung und Kompetenzentwicklung hängt vom engeren Erfahrungsumfeld eines Menschen ab (Mülller, 1997). Wer keine soziale Anerkennung und Unterstützung erhält, sieht sich in seiner Selbstwirksamkeit und seiner Kompetenz als „Verlierer“. Trotz aller Anstrengung erhält die Person nicht das notwendige Feed-back, das sie benötigt, eine positive Einstellung zu erlangen und weitere Kompetenzen aufzubauen. Der Belastungsdruck wird mit zunehmender Kompetenzverminderung und im Laufe der Entwicklung steigenden Komplexizität der sozialen Kompetenzanforderungen dann immer größer (Jugert et al. 2002). Die Person fühlt sich ausgeliefert und wird eher passiv gegenüber einer Verbesserung ihrer Lage. Die Gesellschaft fördert Kompetenzen nicht ohne bewusste oder unbewusste Zielsetzung, Vielmehr erhält jeder die Kompetenzförderung, die für seinen (zugedachten) Lebensbereich gesellschaftlich und wirtschaftlich für die Gesellschaft sinnvoll erscheint.

Schon in früher Kindheit empfinden Kinder aus den betroffenen Gruppen die mangelnde Bestätigung durch die Gesellschaft als Stigma und reagieren mit Selbstwertverlust. Ihre Bewältigungsstrategien gegenüber dem sozialen Umfeld werden passiv und gehemmt. Eine Veröffentlichung des Kinderschutzbundes zur Pisa-Studie wies auf diesen Zusammenhang zwischen sozialer Benachteiligung und Lernfähigkeit im frühen Kindesalter hin. Die Kinder schämten sich ihrer ärmeren Herkunft und diese Scham blockiert die Lernfähigkeit, hemmt die Denk- und Ausdrucksfähigkeit (Kinderschutzbund, 2002). Eltern aus sozial schwachen Schichten sind wegen der eigenen gehemmten Bildungskompetenz auch weniger bereit, in Bildung bzw. Ausbildung ihrer Kinder zu investieren (Klocke, 1998). Es kommt oft zu familiären Spannungen zwischen Eltern und Kindern. Die Lebenszufriedenheit beider sinkt erheblich ab. Rauchen ist immer ein Indiz u. a. für geringe Lebenszufriedenheit Wer als Jugendlicher schon viel raucht, hat schlechte Beziehungen zu den Eltern (Hurrelmann, 2004a). Sie wenden sich daher oft Peer-Groups zu, die konsumieren, da diese ihre geringen sozialen Kompetenzen als „Leitkultur“ aufweisen und einen Rückhalt geben, den sie außerhalb nicht erhalten (Leppin & Hurrelmann 2000).

Wegen dieser schon früh erfolgenden sozialen „Kompetenzbehinderung“ sind ihnen bessere Lebensperspektiven in der modernen, hoch technisierten Informationsgesellschaft verwehrt. Die gesellschaftlichen Vorgaben von Kommunikations-, Konflikt- und sozialer Kompetenz werden im Laufe der technischen und wirtschaftlichen Weiterentwicklung immer mehr angehoben. Das Erfahrungsumfeld, das die Prägung der individuellen Kompetenzen als Schutzfaktoren für die Gesundheit bestimmt, wird dadurch fortschreitend ungünstiger für die Bildung von Schutzfaktoren in den unteren Schichten. Ressourcen sind kein Kontinuum. Vielmehr können sie sich bei Verschlechtern der sozialen Lage, z. B. bei Hinzutreten eines weiteren Faktors (z.B. Arbeitslosigkeit), im Lauf des Lebens weiter reduzieren.

Die soziale Gemeinschaft erscheint nur jenen gegenüber als hilfreich, positiv und fördert mit sozialer Bestätigung die Kompetenzbildung, die über die von ihr geforderten Schlüsselqualifikationen verfügen, um diesen sozialen Beistand einzufordern und zu nutzen.

Die in den unteren Schichten entstehenden Kompetenzen sind dagegen eher auf Passivität und Erdulden der Situation geprägt. Keine soziale Bestätigung bzw. Diskriminierung führt zur Resignation oder Trotzreaktionen. Beides sind erhebliche gesundheitliche Risiken und „Schutzfaktorkiller“. Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthaltenDie Abbildung verdeutlicht die Kausalverknüpfung zwischen Umfeld und Kompetenzentwicklung, die bilateral zutrifft (nach Badura, 1993)

Aus gesellschaftlicher Sicht erscheint die Kompetenzentwicklung durch Vorenthalten sozialer Bestätigung als ein Instrument der Funktionszuweisung in niedere Tätigkeitsbereiche, die wirtschaftlich notwendig sind. Ein Ergebnis auf diese passive und wenig kommunikative Kompetenzprägung ist die größere Prävalenz benachteiligter Gruppen für depressive und psychosomatische Syndrome, die als Folge der Verarbeitung der sozialen Diskriminierung unter hohem psychischem Aufwand entstehen (Schnabel & Hurrelmann 1999). Wer seine kognitiven, mentalen und psychischen Ressourcen mit der Verarbeitung der ablehnenden Erfahrung mit der sozialen Gemeinschaft bindet, kann keine Ressourcen aufbauen und erhalten. In Ermangelung von aktiven und kommunikativen Bewältigungskompetenzen als Schutzfaktoren für die seelische und körperliche Gesundheit wird ein „Spannungskompensationsventil“ gesucht, um die Situation erträglicher zu machen (Henkel, 2000a). Der sich durch die Zurücksetzung aufstauende Identitätsdruck wird durch ein passives selbstschädigendes Verhalten oft zum Erhalt der Leistungsfähigkeit abgelassen. Entweder entstehen psychische Schäden, Aggressivität oder wie so oft kompensierende Süchte wie das Tabakrauchen. Womit wieder weitere gesundheitliche Risiken und soziale Diskriminierungen entstehen.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Die größere Affinität zum Rauchen ist unter dem Aspekt, dass diese Personen, trotz belastenderer Lebenslage, mit weniger gesellschaftlich relevanten allgemeinen Lebenskompetenzen ausgestattet sind, ein funktionales Handeln. Eine derart funktionale „Scheinkompetenz“ des selbstschädigenden Verhaltens als Kompensation der gehemmten äußeren und inneren Lebenslage entwickelt sich systematisch am ehesten bei den sozial benachteiligten Schichten unserer Gesellschaft (Jugert et al. 2002; Petermann & Petermann, 2000). Andere Personen rauchen zwar ebenfalls aus Kompensation. Sie sind aber nur als Individuum von dieser Lage betroffen und nicht systematisch als Mitglied einer ganzen sozialen Gruppe in diese Situation gebracht worden.

Dabei sind die allgegenwärtigen, relativ preisgünstigen und sozial akzeptierten Zigaretten die typische „Krücke“, um das sozial benachteiligte Leben zu ertragen. Andere Drogen, wie Kokain und Designerdrogen, haben eine andere soziale Heimat in anderen sozialen Gruppen für andere Zwecke gefunden (BZgA 2004; Pörksen, 2000). Eingedenk an die zahlreichen „Promis“, die in der letzten Zeit mit Kokaingebrauch in Verbindung gebracht wurden, weil sie ihren „Lebensgenuss“ steigern wollten. Sie kompensieren die „belastende“, gesicherte „Eintönigkeit“ ihres privilegierten Lebens mit einem zusätzlichen „Kickerlebnis“. Ihre Eigenwahrnehmung wird dadurch noch übersteigert.

Durch das „Leben in der Defensive“ nehmen die Wahrnehmung der eigenen Fähigkeiten und des Selbstwertes so sehr Schaden, so dass sich gegenüber den Anforderungen des sozialen Lebens eine fatalistische Grundhaltung einstellt.

Abhängigkeit ist Krankheit (Hüllinghorst, 2000). Sie ist kein Lebensstil, sondern immer ein gescheiterter Bewältigungsversuch.

Erschwerend kommt in einer sich wandelnden Sozialpolitik, die sich immer mehr zurückzieht, sind Selbstverantwortung und Eigenleistung gewollte Kompetenzen (Rosenbrock, 1997). Gesundheit, Wellness und Fitness sind Schlüsselwörter für das gesellschaftliche Wertesystem geworden. Gesundheit wird als (käufliche) Individualleistung und Erfolgsprämie der gesellschaftlichen „Siegertypen“ definiert (Keupp, 1995). Es belegt die Zugehörigkeit zur erfolgreichen Fraktion der Wohlstandsfraktion der „Selfmade-Gesunden“, die die Verantwortung für tabakinduzierte Erkrankungen auf die Raucher übertragen und eine Verantwortung für die Gesundheit der Mitmenschen sowie solidarischer Grundsätze ablehnen (Tesh, 1990). Aus der Sicht derer, die weder an Wohlstand noch an rauchfreier Fitness teilhaben, bedeutet diese Entwicklung eine weitere Entsolidarisierung, die ihr Selbstwertgefühl und damit ihre sozialen und kulturellen Ressourcen zugunsten eines suggerierten, kollektiven Minderwertigkeits- oder Schuldgefühls weiter schwinden lässt. Zynisch umschrieben bedeutet der Trend zur Gesundheit als Erfolgsprämie für die, die sich die Wellness nicht leisten können: „ Du bist arm und hast eine schlechtere Gesundheit, weil du es nicht besser haben willst!“

3. Überblick über die Suchtpräventionspolitik in Deutschland –

Oder wie verhält sich der Staat zur Erfüllung seines Verfassungsauftrags „gleiche Gesundheitschancen für alle“?

Die den Verantwortlichen in der Politik seit Jahren zugänglichen fundierten Forschungsergebnisse über die Strukturen des Rauchverhaltens in der Bevölkerung und die seit Jahren gleichbleibende Tendenz in der Raucherprävalenz der besonders betroffenen Schichten legt den Schluss nahe, dass die Politik nicht in der Lage ist, sich sachgerecht des Problems anzunehmen. Die etwaigen Gründe hierfür sollen im folgenden Kapitel beleuchtet werden, die ein Empowerment der sozial Schwachen in einem verfassunggebundenen Sozialstaat erfolgreich haben verhindern können.

Wie die meisten Länder Europas und Nordamerikas ist auch Deutschland ein Raucherland mit jahrzehntelanger Tradition. Und ebenso wie die anderen Länder wurden in Deutschland seit den 1970er Jahren Antiraucherstrategien entwickelt und im großen Stil durchgeführt, um das als Gesundheitsrisiko No. 1 in der Bevölkerung erkannte Rauchen zu reduzieren. Dabei erfolgten diverse Entwicklungsstadien bis zum heutigen Sachstand der Sucht- und Drogenpolitik in Deutschland.

In Deutschland bietet sich ein sehr fragmentiertes Bild bei den Strukturen, bei den Zielsetzungen (falls es sie überhaupt gibtà gesundheitsziele.de), den Akteuren, bei den gesetzlichen Verankerungen und bei den Kompetenzen. Wie alle politischen Probleme innerhalb der staatlichen Gemeinschaft ist auch die Sucht- und Drogenpolitik ein Ergebnis des Interessenabgleichs. Interessen der Wirtschaft und anderer Lobbyisten auf der einen Seite ringen mit sozialen Erwägungen aus dem Verfassungsauftrag auf der anderen Seite. Dazwischen steht politisches Kalkül, um die Wählerschaft nicht zu verprellen. Gleich der gesamten Sozialpolitik ist auch die Drogen- und Suchtpolitik sehr anfällig für Volkswirtschaftserwägungen und die öffentliche Meinung (Mosebach/ Schwartz& Walter, 2004) . Sie steht immer unter der Prämisse des allgemeinen politischen Klimas.

In jüngster Zeit wird die Eigenverantwortung des Einzelnen übermäßig betont und eine gesellschaftliche, soziale Mitverantwortung immer mehr in Frage gestellt (Pörksen, 2000). Dies führte nicht nur hier, sondern auch in anderen Solidarbereichen zu einer rigideren Haltung gegenüber den jeweils Betroffenen.[1]

In Deutschland gibt es, wie in anderen Ländern, eine Dichotomie zwischen illegalen Drogen und legalen Drogen. Letztere werden auch euphemistisch als „Genussmittel“ ausgewiesen. Je nachdem um welchen Stoff es sich handelt, werden präventive Maßnahmen mit politischen und legislativen Akten kombiniert (Schmidt, 2000). Die Interventionen sind gleich, nur dass bei illegalen Drogen zusätzlich das irrige Verhalten um sich greift, mit Strafgesetzen ließe sich sinnvoll Prävention betreiben (Böllinger, 2000).

Im Grundgesetz gibt keine einheitliche Suchtpräventions- und Gesundheitsförderungskompetenz. Ein Blick auf die verschiedenen Akteure und Programme in der Suchtpolitik in Deutschland spiegelt die föderative Struktur der politischen Landschaft wider. Verschiedene politische Interessen konkurrieren miteinander. Ein festgefügtes Budget gibt es nicht und jedes Ressort der politischen Struktur verfolgt seine eigenen originären Ziele. Wer die Gesetzgebungskompetenz hat, eine gesetzliche (Teil-)Regelung zur gezielten Förderung der gesundheitlich Benachteiligten zu erlassen, dem fehlt im Anschluss an der Durchführungs- oder Finanzkompetenz, diese Richtlinie auch zu realisieren. Die erforderlichen Durchführungsverordnungen und Verteilungsbeschlüsse für die Finanzierung werden von anderen politischen Gremien nicht oder nur verzögert erlassen. Viele verschiedene Träger und Initiatoren auf verschiedenen Ebenen agieren parallel zu einander. Es gibt zwar eine verfassungsmäßige Verpflichtung der geordneten Zusammenarbeit zwischen Ländern und Bund. Aber der Umfang und die konkrete Ausgestaltung sind auslegungsfähig. Daraus lässt sich keine grundsätzliche Pflicht zur Koordination und Kooperation ableiten. Weder zwischen den politischen Ressorts einer Bundes- oder Landesregierung noch zwischen den Körperschaften öffentlichen Rechtes selbst besteht ein verbindliches Schnittstellenmanagement. Hierin liegt eines der strukturellen Hauptprobleme in der deutschen Präventionspolitik, das einer gezielten gesundheitlichen Förderung der sozial Schwachen entgegenwirkt. Wenngleich durch die gesetzliche Regelung zur Gesundheitsberichterstattungspflicht und Einrichtung von Konferenzen (z.B. Deutsches Forum für Prävention und Gesundheitsförderung) auf allen Verwaltungsebenen eine Verknüpfung der Akteure und der Informationen eingerichtet worden ist. Ändert das an der Ressorthoheit eines jeden Teilnehmers allerdings wenig. Jeder vertritt nur die Interessen seiner Körperschaft in der jeweils behandelten präventiven Frage. Es fehlen Strukturen, um die kommunalen und überregionalen Maßnahmen zu steuern und ein modernes Verständnis von Prävention und Gesundheitsförderung in den politisch und rechtlich mit dem Thema befassten Instanzen (Altgeld & Kolip, 2004).

Ein Gesundheitsbericht über die Zunahme des Rauchens bei Jugendlichen motiviert grundsätzlich nur das zuständige Ressort, Gegenmaßnahmen zu initiieren, indem man am Verhalten der Jugendlichen ansetzt. Alle anderen Ressorts des politischen Spektrums (Wirtschaft, Bildung, Kultus, des Inneren, etc.), die ebenso auf die Lage der Jugendlichen erheblichen Einfluss haben, sehen darin keine Veranlassung zu handeln. Neben dem Bundesministerium für Gesundheit (BMG) gibt es auf Bundesebene in der Suchtprävention noch die Deutsche Hauptstelle für Sucht (DHS) in Hamm und die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) in Köln. Das BMG setzt Rechtsverordnungen, formuliert Gesetzesvorschläge und übt Kontrollfunktionen aus. Während die beiden anderen Stellen vornehmlich Informationen verbreiten und Berichte vorlegen. Die DHS gibt den Betroffenen auch Hilfestellungen mit dem Verweis auf andere Webseiten oder Beratungsstellen. Auf der Landesebene haben sich ähnliche Strukturen gebildet, die Informationen verbreiten oder Kompetenzschulungen etablieren. Den Ländern steht in vielen Ressorts die Gesetzeshoheit, zumindest aber die Durchführungshoheit zu.

Neben den politischen Instanzen gibt es die Präventionsarbeit als Ausführung der politischen Entscheidungen in den Sozialisationsstätten (Kindergarten, Schule, andere Einrichtung der Kinder und Jugendpflege, Betriebe) oder bei den Krankenkassen. Vor allem die Krankenkassen sollen am Risikoverhalten ansetzen und es durch die Förderung von Maßnahmen reduzieren. Dafür dürfen sie pro versicherten Person 2,56 € investieren. Was sie aber nicht ausschöpfen. Krankenkassen sind zur Kuration von Krankheiten entstanden und haben diese Zielsetzung beibehalten. Auch der Slogan „AOK - ihre Gesundheitskasse“ ändert daran in der Sache nichts. Prävention z. B. gegen das Rauchen als Verhinderung des Versicherungsfalles wird vom System nicht honoriert. Den Lastenausgleich zwischen den Kassen gibt es nur für krankheitsspezifische Ausgaben. Nur diese sind gesetzliche Pflichtaufgaben. Den GKV fehlte es an einem entsprechenden Selbstverständnis als gesundheitspolitische Gestaltungsmacht und durch die Fragmentierung des Systems auch die Kompetenz, Prävention sinnvoll zu betreiben (Dahme & Wohlfahrt, 1998). Gleichwohl wurde ihnen und den Ärzten durch den historisch bedingten Verzicht des Staates auf Präventionskompetenzen die Aufgabe der Prävention als Teil ihrer Selbstverwaltung übertragen (Mosebach/ Schwartz & Walter, 2004). Die staatlichen Behörden wie das Gesundheitsamt beschränken sich auf Kontrollaufgaben und Infektionsverhütung.

Hier stößt man wieder an die nächste strukturelle Problematik des Systems bei der Berücksichtigung der sozialen Ungleichheit in der Tabakpräventionspolitik. Die vorherrschende Definition der Prävention als medizinisches Aufgabenfeld behindert die positive staatliche Intervention. Ebenso behindernd ist die Definition von Regelungskompetenz, die nur klarstellt, dass der Träger das Recht hat, Dinge zu regeln, nicht aber, dass er davon auch Gebrauch machen muss (Pierroth, 1989). Die Aspekte der gezielten Förderung der sozial Benachteiligten müssten wegen der Vielschichtigkeit in alle Ressorts fallen und in allen Bereichen als gesamtpolitische Aufgabe behandelt werden müssen. Politik ist Lobbyarbeit. Schließlich geht es auch um Mittelverteilung in der Gemeinschaft. Gelder müssen abgezogen werden, um sie für soziale Projekte zur Verfügung zu haben. Es fehlt eine klare Linie und einheitliche Koordinierungsstelle, vielleicht in Form einer Rahmenkompetenz des Bundes oder einer Art „Bundesgesundheitsversammlung“ und der Formulierung der Gesundheitsförderung als Staatsziel im GG.

Einen ausgebauten Öffentlichen Gesundheitsdienst haben wir aus historischen Gründen nicht mehr zur Verfügung. Das Gesundheitssystem ist von der Ärzteschaft dominiert und setzt schon aus diesem Grund einem Paradigmenwechsel große politische Widerstände entgegen.

Hinzu tritt das politische Klima, das sich auf die Förderung wirtschaftlicher Ziele als primäres Unterfangen kapriziert. Durch die zahlreichen Akteure wird dieses Credo in die Diskussion über die gezielte Präventionsförderung der sozial Schwachen verhindernd eingebracht. Über den Weg des wirtschaftlichen Aufschwungs sollen auch soziale Ungleichheiten relativiert werden. Erfahrungsgemäß sind diese Gruppen aber die Letzten, die von besseren wirtschaftlichen Werten profitieren. Der Rest der Gesellschaft hat den sozialen Vorsprung dadurch nur noch weiter ausbauen können, da die sozial Schwachen schon für den Aufschwung mehr „bluten“ mussten als andere Schichten. Der Trend zur Privatisierung und Entpolitisierung kommt dieser Entwicklung sehr entgegen. Die Gesundheitsförderung wird zur Eigenverantwortlichkeit, so dass öffentliche Träger sich gemäß dieses neuen politischen Credos erst gar nicht mehr aus der Gesundheitsverantwortung zurückziehen müssen (Dahme & Wohlfahrt, 1998a). Dies nimmt den Druck von den politischen Instanzen, da Gesundheit zum vernachlässigbaren Luxusgut für sozial schwache Personen wird und somit eine positive gesundheitliche Diskriminierung von seiten der Sozialpolitik nicht mehr stattfindet (Dahme & Wohlfahrt 1998).

Dabei sind das Problem und die positiven Lösungsansätze als Programmsätze bekannt, wenngleich sich die deutsche Sozial- und Gesundheitspolitik mit der Umsetzung noch schwer tun[2]. Die Fragmentierung der Akteure, ihrer Kompetenzen und der Verteilung der finanziellen Ressourcen ergeben eine systemerhaltende Schwerfälligkeit, die eine Ausrichtung auf gezielte gesundheitliche und soziale Angleichung durch Gesundheitsförderung immer wieder verhindert (Hurrelmann/ Klotz & Haisch, 2004) . Bis zum Millennium gab es in Deutschland nur wenige wissenschaftliche Arbeiten, die überhaupt gezielt Fragen der Prävention gegen den Tabakgenuss für benachteiligte Personengruppen thematisierten (Mielck & Helmert, 1994, Schmidt, 1998, Henkel, 1998a). Das Ergebnis ist seit Jahren tendenziell gleich. Die angesprochenen Personengruppen reduzieren den ohnehin geringen Tabakkonsum. Die nicht angesprochenen sozialen Gruppen rauchen weiterhin oder sogar vermehrt. Dabei müsste sich nach internationalen Vorgaben (WHO 1986) auch in Deutschland eine Tendenz zur gezielten gesundheitlichen Förderung der sozial und gesundheitlich Benachteiligten abzeichnen. In der Ottawa – Charta der WHO aus dem Jahr 1986, in der Chancengleichheit in der Gesundheit für alle Bevölkerungsschichten postuliert worden war, gingen zur Bewältigung dieser politischen Aufgabe neben bevölkerungsmedizinische auch ökonomische, politische, kulturelle und soziale Aspekte ein (Hurrelmann, Klotz & Haisch, 2004). Die Krankheitsverhütung als Vermeidungsstrategie sollte nicht länger als Ziel im Vordergrund stehen, sondern eine Promotionsstrategie mit der Leitfrage, „Wie lässt sich Gesundheit herstellen?“ (Altgeld & Kolip, 2004). Die WHO betonte damit den politischen Impetus, aktiv die gesundheitlichen Schutzfaktoren, die sozialen, kulturellen, politischen und persönlichen Ressourcen zu fördern, um die gesundheitliche Ungleichheit abzubauen (Altgeld & Walter, 1997). Henkel moniert, dass die Orientierung an dieser Maxime des politischen Handelns in der Gesundheitsvorsorge in Deutschland immer noch ausstehe (Henkel, 2000). Elaborierte Ansätze liegen fast nur für tertiärpräventive Maßnahme für die Entwöhnung von Arbeitslosen vom Alkoholismus vor (ebd.).

Es liegen zwar Absichtserklärungen auf EU- und nationaler Ebene vor, das Rauchen in einer konzertierten Suchtpolitik zurückzudrängen und die die besonders betroffenen Gruppen zumindest als besonders förderungswürdig auflisten. Aber eine Definition von Zielen der Gesundheitsförderung auf Landes- und Bundesebene und eine Bündelung von Ressourcen wurden bislang nicht vorgenommen (Altgeld & Kolip, 2004). Die Gesundheitsförderung im Sinne einer positiven Förderung aller gesundheitlichen Ressourcen, ohne Anbindung an einen bestimmten Risikofaktor, ist in Deutschland als systemopportunes Synonym für risikogeleitete Prävention nach dem biomedizinischen Risikomodell ausgelegt worden (Schmidt, 2000). Politisch hat sich der Begriff der Gesundheitsförderung zwar im offiziellen Sprachgebrauch als Leitgedanke etabliert (Hurrelmann & Laaser, 1999) und programmatisch steht als Konsens seit 1991 fest, dass Gesundheitsförderung eine ressortübergreifende, gesamtpolitische Kombination von verhältnis- und verhaltensbezogenen Maßnahmen sein müsse (Dahme & Wohlfahrt, 1998). Jedoch wird in der Krankheitsvorsorge durch die medizinischen Professionen wohl auch künftig die einzige Möglichkeit der Prävention gesehen (Rosenbrock, 1997). Das Ineinandergreifen von sozialen Verhältnissen als Risikofaktoren und die so entstehenden nachteiligen Kompetenzen als Schutzfaktoren werden dabei ebenso außer Acht gelassen wie die lebzeitige Entwicklung des Menschen in seiner Gesamtpersönlichkeit als soziales Wesen in eine sozialen Gemeinschaft, die ihn fördert oder hemmt. Krank macht die soziale Struktur der Gesellschaft. Der Ansatzpunkt für die Gesundheitsförderung lautet daher nicht der einzelne Raucher oder Gefährdete, sondern das gesamte System müsste auf seine gesundheitsfördernden Fähigkeiten zum Empowerment aller ausgerichtet werden.

Positiv kann sich die angedachte Gründung einer Deutschen Präventionsstiftung auf Bundesebene auswirken, die in jeder Legislaturperiode einen nationalen Präventionsbericht und einen nationalen Aktionsplan herausgeben wird (Altgeld & Kolip, 2004). Wenn sich aber die Einsicht, die Gesundheitsförderung als positives Gesundheitsschaffen aller politischen Kräfte zu begreifen, nicht durchsetzt, wird sich politisch nicht viel ändern. Der Präventionsbericht wird dann nicht mehr Gewicht haben als der Bericht des Bundesrechnungshofes oder des Bundesbeauftragten für Drogen, den alle bestürzt zur Kenntnis und zu den Akten nehmen, weil ihnen kein formeller Gesetzesstatus zukommt.

Ein kurzer, allgemeiner Konzeptüberblick über die Antiraucherpolitik, der ein Bild der vielen unabhängigen Akteure in Deutschland abzeichnet, die lediglich im Bestreben vereint sind, am „eigenverantwortlichen“ Verhalten des einzelnen Rauchers anzusetzen.

Die Methoden der Prävention sind edukative Verfahren, normativ regulatorische Interventionen und ökonomische Anreiz/Bestrafungssysteme (Leppin, 2004). Diese Intervention gegen alle Drogen und Süchte haben zwei unterschiedliche Wirkrichtungen. Entweder sind die Interventionen darauf abgestimmt, das Angebot an diesen Drogen zu regulieren oder sie verfolgen die Zielrichtung, die Nachfrage nach diesen Stoffen zu reduzieren. Aber reduziert eine geringere Verfügbarkeit wirklich schon die Nachfrage?

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

3.1 Verfügbarkeit des Suchtstoffes – Wenig Angebot, also wenig Nachfrage?

Bei der Regelung der Verfügbarkeit eines Stoffes geht die Suchtpolitik in Deutschland je nachdem, ob es sich um illegale Drogen handelt oder um „Genussmittel“ wie Tabak unterschiedliche Wege. Illegale Drogen, Betäubungsmittel, werden bei Strafandrohung für nicht verkehrsfähig erklärt. Der Konsument ist ein Krimineller. Wenngleich die Strafverfolgung bei Cannabis ausgesetzt wird, bleibt der Konsum immer noch ein Straftatbestand des BtMG[3], gegen den man verstößt. Die Gefährlichkeit dieser „Einstiegsdroge“ wird in der Aufklärung überaus betont. Bei legalen Drogen (Alkohol und Tabak), die jährlich zahlreiche Todesopfer fordern, gibt es dagegen wenig gesetzliche Beschränkungen. Ein solch widersprüchliches Verhalten ist Teil der deutschen Suchtpräventionspolitik und erhöht wohl kaum die Glaubwürdigkeit anderer Präventionsstrategien, vor allem nicht bei jungen Leuten (Pörksen, 2000). Ein Regulativ, auf das die Deutsche Suchtpolitik setzt, ist die Preisgestaltung, die durch Erhöhung der Tabaksteuer vorangetrieben wird.

Diese allgemeinen Preisinterventionen beeinflussen zwar die finanziell sensibler reagierenden Gruppen, da sich durch die Steuererhöhung mehr Einkommensschwache und Jugendliche beeinträchtigt sehen als Einkommensstarke. Der erhoffte Effekt, die vom Tabakkonsum mehr betroffenen Gruppen würden wegen ihres geringen Einkommens auf das Kaufen der Tabakwaren verzichten, ist aber bis zu einer bestimmten Preisschwelle fraglich. Gesetzliche Maßnamen werden von der WHO dringend empfohlen, allerdings als Unterstützungsmaßnahme für ein auf sie abgestimmtes Maßnahmengesamtkonzept (WHO, 1997). So wurden in Finnland erhebliche Rückgänge in der Nachfrage nach Alkohol durch wesentliche und wiederholte Steuer- bzw. Preiserhöhungen als Maßnahmen der Verfügbarkeitsbeschränkung innerhalb des nationalen Präventionskonzeptes erreicht, die höher lagen als alle Effekte durch Verhaltenspräventionen einschließlich Therapie (Roemer, 1993; Babor et al. 2003; Edwards et al. 1997). Die Motivation, Zigaretten zu kaufen, nimmt nicht proportional zum Einkommen ab. Sozial schwache Personen sind im Durchschnitt bereit, über 20% des ohnehin knappen Budgets für Zigaretten auszugeben. Bei Einkommensstarkengruppen liegt der Anteil hingegen nur bei knapp 4% (Deutsches Krebsforschungszentrum, 2004). Die Summen mögen zwar absolut wegen der Einkommensspanne nicht so weit entfernt sein, die Proportion zum Gesamteinkommen deutet aber auf eine weiter zu erwartende Verschärfung der finanziellen Lage der sozial Betroffenen hin. Diese Personen werden andere zum Teil lebenswichtige Ausgaben zugunsten der noch erschwinglichen Zigaretten vermeiden. Schon gar nicht werden sie auf den aktuell entlastenden Zigarettenkonsum als Teil ihres Kompetenzgerüstes verzichten, um irgendwann in ungewisser Zukunft gesünder zu sein. Dadurch wird der Druck durch die sozioökonomische Lage noch größer, was einen noch größeren Kompensationsdruck induziert, der wiederum durch gesundheitsschädliches Verhalten kompensiert werden muss. Im Übrigen besteht immer noch die Gefahr der Suchtverlagerung auf z. B. Alkohol, Tabletten oder Essen. Das Mittel der Preiserhöhung ist als flankierende Maßnahme sinnvoll, wenn sie konsequent und erheblich das Angebot an preiswerten Zigaretten vermindert. Aber als moderate Intervention, den Mangel der sozial Benachteiligten gegen sie zu instrumentalisieren, sind Steuer und Preispolitik eher kontraindiziert, um die Entscheidung der sozial Benachteiligten, nicht zu rauchen zu forcieren. Der Nachfragedruck bei den sozial Schwachen besteht immer noch weiter fort. Erst wenn dieser Nachfragedruck sich reduziert, greifen auch Preiserhöhungen wesentlich besser, ohne dass Zigaretten das Preisniveau Finnlands erreichen müssen. Ein Preisniveau, das in Deutschland schwer durchsetzbar sein wird, wenn die zahlreichen Nachbarländer nicht gleichziehen (Schmuggel).

Ein anderes Regularium, die Verfügbarkeit des Tabaks zu vermindern, ist die Beschränkung, Tabak zu bewerben. In Deutschland herrscht, wie auch in den anderen EU- Ländern, seit einigen Jahren ein Werbeverbot für Tabakprodukte in Funk- und Fernsehen. Werbung in anderen Medien, Sponsoring und Plakaten bleiben erlaubt, wenn sie einen Warnhinweis auf die Gefahren des Rauchen enthalten. Ein Effekt auf sozial benachteiligte Bevölkerungsgruppen war zu erwarten und hat sich eingestellt, da Personen mit geringerem Bildungsgrad sensibler auf Werbung reagieren, die ihnen durch Kauf eines Produktes das verspricht, was die soziale Realität ihnen vorenthält (Deutsches Krebsforschungszentrum, 2004). Zigaretten verheißen Lebensfreude, persönliche soziale Anerkennung und Abenteuer. Alle Annehmlichkeiten, die gerade ihrem benachteiligten Dasein fehlen, werden durch den Kauf dieser Zigaretten frei Haus geliefert. Wie amerikanische Untersuchungen zeigen, haben sich die Tabakindustrie und die für sie arbeitenden Werbeagenturen sich mit der Lebenssituation der sozialen Schichten, ihre Hauptkunden, auseinander gesetzt, um diese gezielt für den Botschaftstransfer einzusetzen (Ewert & Alleyne 1992; Kessler et al. 1996). Das Verbot der Tabakwerbung ist zur Förderung des Nichtrauchens in sozial benachteiligten Gruppen demnach ein Schritt in die richtige Richtung, wenn auch nicht effektiv genug. Die verbleibenden Werbeträger sind effektiv auf die untere soziale Schicht abgestimmt. Die vorgeschriebenen Warnhinweise werden durch die überaus bunte und effekthaschende Werbung geschickt überspielt. Eye-Catching heißt ein Halo-Effekt, der die Wahrnehmung nur auf eine Information bündelt und für andere Dinge im Umfeld blind macht (Kluger 1996).

Die Verbreitung von Druckerzeugnissen ist zwar in bildungsferneren Gruppen erheblich geringer, Nichtsdestotrotz gibt es auch namhafte Tagespressen, die von diesen Personen vorzugsweise gelesen werden. In diesen Zeitungen vergeht nicht eine Ausgabe ohne entsprechende Werbung für die neuen „Lifestyle-Produkte“. Plakatwände sind als bauliche Maßnahmen gemäß der BauO des entsprechenden Bundeslandes nur dem Bauamt anzuzeigen. Sie dürfen in sozialen Brennpunkten, Kinderspielplätzen, in der Umgebung von Schulen und Jugendeinrichtungen oder sogar an Schulbushaltestellen aufgestellt werden. Ein anderes Feld ist das Kino, das von zahlreichen jungen Menschen aufgesucht wird. Die meisten von ihnen nutzen den Abend, der grauen Alltagswirklichkeit zu entfliehen und einfach Vergnügen zu haben. Zusätzlich zum eigentlichen Film führt die Tabakwerbung ihnen gerade dann die schönere Welt des Rauchens vor Augen, wenn sie in einer empfänglichen Stimmung für diese Botschaften sind. In den Filmen selbst wird subsidiär, durch die Tabakindustrie gesponsert, der „guten Zigarette“ gehuldigt. Man denke nur an den Zigarrenboom bei jungen Leuten nach dem Film „Independence Day“. Weitere Beispiele der fatalen Ausnahmen sind Sponsoring im Sport. Jugendliche assoziieren gewolltermaßen das Rauchen mit sportlicher Aktivität und Fitness.

Ähnlich wie bei der Werbung sind auch die gesetzlichen Vertriebs- und Konsumbestimmungen für Tabak ein Zugeständnis der Politik an die Wirtschaftsinteressen der Lobbyisten aus Tabakverarbeitungsindustrie und Handel zu Lasten der sozial schwachen Gruppen. Nach dem Jugendschutzgesetz dürfen Tabakwaren zwar nicht an Jugendliche unter 16 Jahren verkauft werden. In Deutschland hat sich aber ein Verbot der Zigarettenautomaten, die wie Werbetafeln als bauliche Maßnahme fast überall aufgestellt werden dürfen, wo die bevorzugt rauchende Klientel die Zigaretten immer griffbereit hat, nicht durchsetzen lassen. In anderen EU-Ländern und den USA sind sie bereits wegen der Umgehung der Schutzgesetze verboten worden. Während es in Deutschland die höchste Dichte der Automaten (ca. 822.000) weltweit gibt, die eine Allverfügbarkeit in den Wohngebieten sicherstellen (WHO- Kollaborationszentrum für Tabakkontrolle, 2004)

Erst letztes Jahr wurde der Nichtraucherschutz in Deutschland z. B. durch die Neufassung der Arbeitsstättenverordnung internationalem Standard angepasst. Erst jetzt gibt es einen einklagbaren (Arbeits)Rechtsanspruch auf den rauchfreien Arbeitsplatz. Allerdings sind auch wieder die Interessenkollisionen spürbar. Es gibt Übergangs- und Verhältnismäßigkeitsregeln für den Arbeitgeber. Es bedarf grundsätzlich eines Antrages eines Nichtrauchers, bevor ein Rauchverbot verhängt werden muss. Der soziale Druck in Bereichen, in denen viele Raucher sind, also wo sozial Benachteiligte gemeinhin arbeiten, wird die „renitenten“ Nichtraucher schon „disziplinieren“. In anderen Ländern ist der Arbeitgeber per Gesetz ausnahmslos verpflichtet, in seinen Betriebsräumen das Rauchen zu untersagen. Nur so können nichtraucherfreundliche Verhältnisse auch dort entstehen, wo Raucher in der Überzahl sind, also in Arbeitsbereichen der unteren Schicht. Das Rauchen in öffentlichen Gebäuden (Schulen) bleibt ebenfalls weiterhin erlaubt, wenn es Nichtraucherzonen gibt. Das Gaststättengesetz wurde nicht wie im Januar 2004 in Irland um den absoluten Nichtraucherschutz erweitert, so dass in allen „Kneipen“, in denen sich sozial Schwache aufhalten, rauchen ebenso erlaubt bleibt wie in der angesagten Szene-Disco von Jugendlichen. Rauchen bleibt damit aus der Sicht der sozial Schwachen ein erwachsenes und gesellschaftlich anerkanntes Kompetenzverhalten Der Nichtraucherschutz als Verfügbarkeitsregelinstrument bleibt in Deutschland ein „ hintertürreicher“ Kompromiss zugunsten derer, die am Rauchen ein vitales Interesse darlegen und politisch durchsetzen konnten.

Diese Beispiele der Verfügbarkeitsregulation innerhalb der deutschen Suchtpolitik zeigen, dass die getroffenen Interventionen wegen der widerstrebenden politischen Interessen (Lobbyisten) nicht effektiv genug gestaltet werden, um zumindest die Exposition der sozial benachteiligten Personen mit den verfügbaren und erschwinglichen Zigaretten einzudämmen und den Habitus des Rauchens in der Öffentlichkeit zu verändern. Im Gegenteil, durch das Wegbrechen anderer Konsumentenschichten werden sozial Schwache stärker umworben. Sozial Benachteiligte haben naturgemäß keine sozialpolitische Lobby. Ihre Gesundheit wird den wirtschaftlichen und sozialen Interessen anderer Gruppen untergeordnet.

Angebotssteuernde Verhältnispräventionen tangieren immer wirtschaftliche Belange zumindest eines Wirtschaftszweiges, der über ein erhebliches politisches Gewicht verfügt, seine Forderungen zu vertreten und auch durchzusetzen. Und an der Bewertung ihrer Wirtschaftspolitik sowie Wirtschaftswachstum nicht an ihrer sozial ausgerichteten Antiraucherpolitik wird die Regierung schließlich bei der Wiederwahl gemessen. Von ihre Sozialpolitik hängt das politische Überleben in einer weiteren Legislaturperiode (leider) nicht ab.

3.2 Reduzierung der Nachfrage nach Tabak

Politisch unverfänglicher ist dagegen am „eigenverantwortlichen“ Verhalten des Rauchers selbst anzusetzen, in dem man mit Interventionen versucht, die Nachfrage nach Zigaretten, die erschwinglich bleiben, zu senken. Nachfrageorientierte Interventionen, die am Individualverhalten ansetzen, dominieren das Präventionsgeschehen in Deutschland. Gemäß dem traditionellen biomedizinischen Risikoansatz favorisiert man in Deutschland suchtpräventive Maßnahmen, die auf Verhaltensebene angesiedelt sind und zur Gesundheit durch Vermeidung von Risiken erziehen sollen. Seit den 1970er Jahren wurden Abschreckungsmaßnahmen, Aufklärungskampagnen, Standfestigkeitstrainings oder Life-Skill-Trainings in deutschen Gemeinden, Schulen, Verbänden und Freizeiteinrichtungen etc. etabliert (Bühringer, 1998). Vorrangiges Ziel dieser Interventionen ist es, bei Kindern und Jugendlichen durch substanzspezifische Maßnahmen der Gefährdungsvorbeugung und Kompetenzförderung den Einstieg in den Drogenkonsum zu verhindern oder hinauszuzögern (Schmidt, 2000). Dabei geht man heute von einem dynamischen und multifaktoriellen Abhängigkeitsverständnis aus, Wobei man in der Präventionsarbeit einen erweiterten Drogenbegriff zugrundelegt, der sowohl illegale und legale Substanzen berücksichtigt (Hüllinghorst, 2000). Denn das Verteufeln eines Stoffes macht gerade den „Reiz des Verbotenen“ aus, der Jugendliche zum Konsumieren reizen kann (ebd.). Auf Basis von Expertisen wurde ein Konsens erarbeitet, der als einer Art „Qualitätsstandard“ aller verhaltenspräventiver Arbeit gelten und zielgruppenspezifisches, ganzheitliches und prozessorientiert langfristiges Vorgehen sicherstellt werden soll (DHS 1994). In der Intention sollen soziale, ökonomische und organisationsbezogene Aspekte der Abhängigkeit in die Suchtprävention einbezogen werden.

Die zahlreichen Aufklärungskampagnen der letzen Jahre richten sich an die Allgemeinheit. Sie waren und sind nicht zielgruppenorientiert. In Anzeigen, Filmspots und Plakaten wird dafür geworben, nicht mit dem Rauchen zu beginnen. Die Kampagne „Kinder stark machen“ ist eine Kombination aus verschiedenen Medien und personalkommunikativen Teilmaßnahmen (kooperierende Sportverbände). In den einzelnen Bundesländern gibt es unter verschiedenen Namen wie „Sucht hat immer eine Geschichte“ (NRW) oder „Wir handeln, bevor Sucht entsteht“ (HH) parallel abgehaltene Kampagnen mit regionalen Schwerpunkten (Suchtwochen)[4]. Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) in Köln, eine der wichtigsten bundesweit agierenden Einrichtungen für Prävention, verlegt Informationsbroschüren und lässt Plakataktionen durchführen, um auf die Gefahren des Rauchens hinzuweisen. Mit zum Teil zotigen „Bonmots“ wird versucht, das Interesse des Betrachters oder Lesers für das Nichtrauchen oder die Gefahren des Rauchens zu wecken. Die Druckwerke erreichen in Art und Ausgestaltung inzwischen die Qualität einer Werbekampagne eines beworbenen Lifestyle-Produktes, für das breites Kaufinteresse geweckt werden soll. Sie sprechen vor allem junge Menschen an, bedienen sich ihres Sprachstils, sprechen „Girls“ anders an als „Boys“. Die Kampagne „rauch frei bietet Material für verschiedene Ansprechpartner. Unter anderem nimmt man auch Veränderungen im Lebenslauf zum Anlass auf die Gefahr des Rauchens hinzuweisen (rauch frei ich bekomme ein Baby). Für erwachsene gibt es die Broschüren, die das Entwöhnen erleichtern sollen oder Ratschläge für ein Einsetzen für eine rauchfreie Umgebung anbieten („Endlich rauch frei“; „Der rauch freie Arbeitsplatz“).[5]

Die Verbreitung von Informationen über die Aufklärungskampagnen ist aus Sicht der sozial Benachteiligten aber nur bedingt sinnvoll. Die Umsetzung dieser Informationen in eine Verhaltensänderung setzt mehr voraus als das Lesen und Verstehen der Botschaft. Rauchen hat für die Betroffenen einen „sozialen Vorteil“. Es ist Teil des „ Kompetenzgerüstes“ für ihr Lebensumfeld. Dies beeinflusst die Gesundheitseinsicht erheblich negativ, es ist ihnen daher nicht möglich problematische Konsummuster frühzeitig wahrzunehmen und präventiv zu handeln (Henkel, 2000). Überdies besitzen die meisten Raucher eine kognitive Fähigkeit, die Gefahren zu verdrängen und die aktuellen Vorzüge in den Vordergrund zu stellen (Nickels, 2000). Dieses Verhalten wird noch potenziert, wenn sie in einem Lebensumfeld leben, dass ihnen mit sozialem Konformitätsdruck die Problematisierung ihres Rauchens schwierig macht (Henkel, 2000). Ein Profitieren der unteren Schicht von diesen Kampagnen bleibt daher gering, Das Rauchverhalten ist schließlich Teil des reaktionären Verhaltensmusters auf die Zurückweisung durch die Gesellschaft, die vermittelten Normen der sie abweisenden Gesellschaft erscheinen diesen Personen nicht (mehr) erstrebenswert (Broekmann, 2000). Die gewählten Medien, vor allem das Internet, sind infolge der eingeschränkten Medienkompetenz der sozial Schwachen fragwürdig effektiv. Fernsehen und Rundfunksender (Einslive) würden von (jungen) Personen der unteren Schicht mehr frequentiert werden.

Die soziale Lage der Betroffenen ist ausschlaggebend für die Kompetenzentwicklung, die schon sehr früh in der Entwicklung des Menschen einsetzt (Kinderschutzbund, 2004). Dies gilt insbesondere für das präventives Verständnis einer Person, Förderungsbedarf bei sich zu erkennen und umzusetzen.

Unter anderem soll auch diese Kompetenz mit weiteren Schutzfaktoren gegen den Drogenkonsum im Sinne einer Gesundheitsförderung auf individueller Ebene aufgebaut werden. Da sich der Mensch innerhalb der sozialen Gemeinschaft sozialisiert, werden Kompetenzförderungskonzepte in den verschiedenen sozialen Settings im Rahmen von Projekten etabliert, um die Kompetenzen der Kinder und Jugendlichen entwicklungsbegleitend zu schulen. Ziel ist, dass sie auch ohne Tabakkonsum die Anforderungen ihres Lebens meistern lernen. Ein weiteres Ziel ist eine Angleichung der Kompetenzen der unteren Schicht an die der anderen sozialen Schlichten. In den Kindergärten und Grundschulen sollen gesundheitsfördernde Verhaltensweisen und die Entfaltung psychischer Stärke erlernt werden, Kinder sollen z. B. mit psychomotorischen Bewegungsprogrammen Anreize zur Reife erhalten. Die Erzieher sollen einschlägig geschult und supervidiert (Hüllinghorst, 2000). Viel zu wenig Beachtung findet immer noch die Kompetenzförderung in der Familie, hier sind die ersten Elementarkompetenzprägungen und die Hauptressource, der soziale Rückhalt, in der Entwicklung zu finden. Es gibt unter anderem BZgA- Broschüren, die die Eltern informieren, wie Sucht vorzubeugen ist („Wir können viel dagegen tun, dass Kinder süchtig werden“ BZgA 1994 erscheint in drei Teilheften je nach Entwicklungsstand des Kindes) und „Über Drogen reden“ (BZgA 1997). Daneben stehen noch andere Angebote zur Verfügung, die aber alle aufgesucht oder erworben werden müssen.[6] Daneben steht noch die Inanspruchnahme von Erziehungsbeiständen der Jugendämter. Aber auch an dieser Stelle sei der Hinweis auf die eingeschränkte Medien- und Gesundheitskompetenz der sozial Schwachen erlaubt, die die Verwendung von Druckwerken, die man überdies noch selbst besorgen/kaufen muss, wenn man die Notwendigkeit, wegen der Präventionunsensibilität überhaupt bemerken sollte, wenig sinnvoll erscheinen lässt.

In den Schulen existieren wegen der Bildungshoheit der Länder verschiedene Ansätze der Suchtprävention. Im Programm „Step by Step“ werden breit angelegt Lehrer geschult, frühzeitig Sucht bei Kinder zu erkennen und zu intervenieren. In den Förderprogrammen für Schüler werden allgemeine Lebenskompetenzen und soziale Kommunikationsfähigkeiten interaktiv eingeübt (Bühringer & Bühler, 2004). Erlernt werden Kompetenzen nicht als Unterrichtsstoff, sondern in der Interaktion des sozialen Lernens, das spezifische positive Verhaltensweisen in der sozialen Gruppe verstärkt (Bandura, 1986). Vorteilhaft ist die Begleitung der Programme über die Entwicklung der Jugendlichen und die Einbeziehung der Klassengemeinschaft als Peer-Group, um sozialen Rückhalt aufzubauen (Bühringer & Bühler, 2004). Die Konzepte „Lions-Quest“ nebst der Modifikation „Erwachsenwerden “ und das „ALF- Programm“ sind die bekanntesten Programme auf schulischer Ebene, die Schülern helfen sollen, gesunde Lebenskompetenzen im Umgang mit Stress und Konflikten zu erlernen. Die Jugendlichen erlernen kommunikativ stressige Situationen zu handhaben, Entspannungstechniken und erfahren einen systematischen Aufbau des Selbstwertgefühls innerhalb der Gruppe. Inzwischen gibt es auch von Schülern initiierte Projekte der Kompetenzvermittlung („Youth to Youth“), wenngleich die Peerprojekte in das Präventionsbemühen aufgenommen werden, sind sie aber im schulischen Alltag nach wie vor selten (Hüllinghorst, 2000). Außerschulisch werden freizeitorientierte Projekte in Kooperation mit anderen Institutionen etabliert, um durch Schulung der dortigen Betreuer, Kinder und Jugendliche durch Kompetenzvermittlung von suchterzeugenden Umständen abzuhalten. Junge Menschen können über den Sport in der Gemeinschaft in ihrem Gesundheitsverhalten und ihrem Selbstwert gestärkt werden (BZgA 2002).

Alle Projekte sind personenzentriert. Das Ziel der Intervention ist der einzelne Raucher in der Entwicklung seines Konsummusters und nicht auch das ihn umgebende Setting. Eine Differenzierung nach sozialem Milieu und vor allem nach auszugleichenden Kompetenzdefiziten der unteren sozialen Schichten in der Förderung der Lebenskompetenzen ist nicht vorgesehen. Insofern werden alle gleich behandelt, aber in der Effektivität der Konzepte für gleiche Gesundheitschancen nicht gleich gestellt. Schulische Prävention muss aber unbedingt die Sichtweisen der Kinder und Jugendlichen berücksichtigen, die sie aus ihrem außerschulischen Umfeld mitbringen (Petermann & Fischer, 2000).

Rauchen hat vor allem für sozial Benachteiligte einen instrumentellen Nutzen, der mit ihrer allgemeinen, belastenden Lebenssituation und ihrer gehemmten Kompetenzbildung zusammenhängt. Diesen kausalen Zusammenhang gilt es zu durchbrechen, um die Möglichkeit einer Entscheidung gegen das Rauchen für sie attraktiv erscheinen zu lassen.

In der Tabakprävention beschreitet Deutschland einen standardisierten Weg, der sich an alle Personen gleichermaßen richtet. Als erfolgreichste Einzelmaßnahme in der Suchtprävention hat sich tatsächlich der Lebenskompetenzansatz herausgestellt (Tobler et al. 2000) und in Deutschland stehen mittlerweile viele evaluierte Programme dieser Art zur Verfügung (Maiwald & Reese, 2000). Dennoch ist die gezielte Förderung von Lebenskompetenzen, die z. B. in den schulischen Programmen „Lions-Quest“, „Erwachsenwerden“ oder „ALF“ angestrebt wird, trotz ihrer positiven Evaluation noch nicht flächendeckend im Einsatz (Hüllinghorst, 2004). Die Durchführung der gezielten Lebenskompetenzförderung ist keine gesetzliche Pflichtaufgabe der Schulen. Die Landesschulgesetze geben nur in Programmsätzen eine allgemeine Verpflichtung der Schule vor, die Schüler in ihrer Persönlichkeit zu fördern und auf das erwachsene Leben in der sozialen Gemeinschaft vorzubereiten.[7]. Dies ist nur eine Leitlinie, die je nach Engagement des Lehrkörpers ausgefüllt wird. An Haupt-, sonderpädagogischen - und Berufsschulen, wo die meisten sozial benachteiligten Jugendlichen unserer Gesellschaft unterrichtet werden, sind solche Kompetenzförderungen immer noch selten vertreten. Die Schule ist mit ihrer Schülerklientel und deren sozialen Problemen überlastet, so dass die Motivation, eine derartige Schulung durchzuführen, auf beiden Seiten vergleichsweise nur als gering einzustufen sein wird. Wie durch die soziale Diskriminierung selbst, werden auch im Schulalltag dieser Jugendlichen viele Ressourcen durch das Aufarbeiten oder nur Ertragen der sozialen Probleme gebunden. Die Schule als Institution beginnt in dieser Situation ihrerseits durch Leistungsdruck zum Problem zu werden, da sie vornehmlich auf Wissensvermittlung ausgelegt ist (Keller & Hafner, 2003). Eine in den Konzepten vorgesehene Beteiligung des Umfeldes ist bei der verhaltensauffälligen Klientel mit oft geringer sozialer Integration schwierig. Die Einstellung zur Schule ist bei den Eltern durch ihre Erfahrungen ebenso negativ geprägt wie das der Schüler selbst (Keller & Hafner 2003).

Nicht zuletzt sind die Konzepte selbst oft ein Hemmnis. Sie sind nicht für die verschiedenen Schultypen (sozialen Milieus) mit ihren eigenen Anforderungen modifiziert entstanden, sondern als Lehrstoff für Durchschnittsjugendliche der jeweiligen Altersstufe konzipiert (Bühringer & Bühler, 2004). Die Übertragbarkeit der Konzepte wird von Lehrern der sozial heiklen (Haupt)schulen oder Berufsschulen deshalb oft angezweifelt. Ein wesentlicher Grundsatz der Pädagogik lautet, die Schüler dort abzuholen, wo sie sich befinden. Dies gilt ebenso für die Kompetenzförderung. In vielen Fällen sind die Schüler in den besagten Schulen schon jenseits der mutmaßlichen Wirksamkeit der Schulprogramme. Unter Umständen sind die Kompetenzen schon so defizitär, dass ein Kompetenzförderungsprogramm allein nicht ausreicht. Verhaltensauffälligkeiten haben ihre Ursache schon in der frühen Entwicklung der Kinder und Jugendlichen (Caspi et al. 1997), so dass anstatt Einsatz des schulischen Programms, das nicht auf diese besonderen Umstände zugeschnitten ist, spezifische Interventionen notwendig wären (Bühringer & Bühler, 2004).

Schwerpunkt der Schulpädagogik ist aber ausschließlich präventiv erzieherisch und nicht die therapeutische Defizitkompensation (Keller & Hafner, 2003). An besagten Schulen mit einem hohen Anteil an bereits rauchenden oder rauchgeneigten Jugendlichen kann sich der Zusammenhalt der in das Programm eingebundenen Klasse als Peer-Group sogar effektmindernd auf die Programme auswirken (Leppin & Hurrelmann, 2000). Hier zeigt sich das zeitliche Defizit in der Abstimmung der Prävention auf die gesundheitliche Benachteiligung besonders deutlich. Die Kompetenzförderung muss schon früh beginnen, bevor die Prägephasen mit Defiziten abgeschlossen werden, die eine Reduzierung der generellen Lernmotivation nach sich ziehen (Jugert et al. 2002). Jede Intervention hat ihren spezifisch günstigsten Zeitpunkt. Nun gibt es (noch) keine flächendeckende Versorgung mit Hort- und Kindergartenplätzen und vor allem keine Aufsuchdienste für junge sozial schwache Familien zur Unterstützung ihrer Sozialisationsleistung. Vor allem diese beiden Settings als erste Sozialisationsstätten stellen die Schlüsselsettings zur Kompetenzbildung dar (Zimmer, 2002). Das Förderprogramm der schulischen Kompetenzförderung kann daher nur noch Schadensbegrenzung sein.

Die schulischen Verhältnisse sollten das Erleben und Ausleben der erlernten Kompetenzen ermöglichen und nicht als sinnentleert dastehen lassen. Änderungen in den schulischen Verhältnissen (Gewalt, Raucherzonen, rauchende Lehrer) sind leider nur selten neben den curricularen Inhalten vorgesehen und die Lehrer als Leitbilder entziehen sich oft einer Veränderung ihrer Verhaltensweisen (Quentin & Kobusch 1997).

Die zu erlernenden und geförderten Lebenskompetenzen müssen im außerschulischen Lebensumfeld sozial relevant günstig für die Lösung der Alltagsprobleme sein, andernfalls eignen Jugendliche sich diese erst gar nicht an. (Leppin & Hurrelmann 2000; Leppin, 1995). Der an sich positive Ansatz, Lebenskompetenzen als Schutzfaktoren gezielt zur Verhütung von Suchtverhalten zu fördern, entspricht dem dargelegten Zusammenhang zwischen sozialer Ungleichheit und Entstehung des Rauchverhaltens nur zum Teil. Wie schon zu dem Nutzen der Aufklärungskampagnen gesagt, ist das Suchtverhalten bei sozial schlechter gestellten Kindern und Jugendlichen eine gesellschaftlich forcierte Verhaltensreaktion als Antwort auf die Erfahrung des sozialen Zurückgesetztwerdens (Broekmann, 2000). Die gesellschaftlichen Ziele werden von diesen Personen nicht (mehr) angestrebt (ebenda). Deshalb kommt zu Widerständen. Der Erfolg von verhaltensbezogenen Maßnahmen hängt schließlich davon ab, dass die Lebensumstände der Person die neu erworbenen Kompetenzen auch dauerhaft zulassen (Henkel, 2000). Sonst bleiben die Bemühungen wenig effektiv, wenn das System nicht positiv (gesundheits-)fördernd wird.

Kompetenzen sind keine konstante Größe, die erworben wird und die man dann ein Leben lang als aktiven „Schutzpanzer“ beibehält. Vielmehr passen sie sich ebenso durch Selektion dem Umfeld wieder an, in dem sie dann eingesetzt werden, wie auch das Lebensumfeld, in dem eine Person leben muss, von ihren Lebenskompetenzen, die Garanten des sozialen Status`, bestimmt wird. Ein unabhängig von der Lebenswirklichkeit durchgeführtes „Kompetenz-Tuning“ ist bei Verbleib in der unveränderten Lebensumwelt nicht nachhaltig genug. Punktuell werden Kompetenzen im schulischen Setting aufgebaut, die im weiterhin sozial benachteiligten Leben als aktive Lebenskompetenzen wieder degenerieren können.

Schaubild 1 verdeutlicht den Nettogewinn nach Abzug der umfeldbedingten Anpassungsverluste in der Mittelschicht. Ihr Kompetenzgewinn als Schutzfaktor gegen gesundheitliche Beeinträchtigungen ist beachtlich

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Das Schaubild 2 verdeutlicht den Verlustfaktor bei der unteren sozialen Schicht. Ihr Nettogewinn ist infolge der starken Degeneration im Umfeld auf Dauer sehr gering.

Nettogewinn aktiver Lebenskompe-tenzen

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Die soziale Lage der Jugendlichen wird sich durch die personenzentrierten Ansätze wenig ändern, da deren Abänderung eben nicht in der Kompetenz der Jugendlichen steht. Deshalb wirkt sie weiterhin hemmend auf den Kompetenzerwerb bzw. –erhalt ein. Der Mensch ist ein Wesen, das sein ganzes Leben lang lernen kann und nach Maßgabe unserer modernen Gesellschaft auch muss. Deshalb können Lebenskompetenzen nicht nur in der Schule aufgebaut werden. Dieser Aspekt wird im Präventionssystem nicht systematisch aufgegriffen, wenn man von punktuellen innovativen Projekten absieht (gesundheitsfördernder Betrieb oder Krankenhaus). Kompetenzaufbau bei erwachsenen Personen hat nach dem Verständnis unserer medizindominierten Präventionsbemühungen einen therapeutischen Fokus, der den Zugang durch die mangelnde Medien- und Gesundheitsvorsorgekompetenz der sozial Benachteiligten wieder wesentlich erschwert.

Die an sich sehr positiven Ansätze sind dadurch gefährdet, eine relative Unwirksamkeit in der Nachhaltigkeit der vermittelten Kompetenzen und deren Effekte zu haben. Verhältnisverbesserungen und die Abstimmung auf den erhöhten Förderungsbedarf der sozial Schwachen wären dringend angezeigt. Andernfalls schafft man neue Ungleichheitsdimensionen. Da man zurzeit vor allem Schüler mit Lebenskompetenzprogrammen schult, die ohnehin ein gutes Kompetenzgerüst haben, werden sie wieder den meisten Nutzen davontragen. Die Diskrepanz zu den sozial benachteiligten Gruppen könnte dadurch noch gravierender werden. Schließlich bestimmen die so geschulten Schüler der Mittel- und Oberschicht die gesellschaftliche Kompetenzerwartung von morgen.

Ein wichtiger Differenzierungsfaktor in den Kompetenzprogrammen wäre zum Beispiel auch das Geschlecht (Kolip, 1997). Frauen rauchen aus anderen Gründen als Männer und bedürfen deswegen einer anderen kompensierenden Förderung als Männer. Die jetzigen Programme sprechen eher Mädchen an als Jungen (Leppin, Hurrelmann & Petermann, 2000) Mädchen sehen in der Zigarette eine Selbstsicherheitsquelle, die Jungen, die sich selbstbewusster geben, rauchen aus Statusgründen (Walden, 2000).

Im Ergebnis bedeutet dies:

Die deutsche Antiraucherprävention ist undifferenziert und basiert auf dem biomedizinischen Risikomodell, sie bleibt in der medizinfokussierten Ausrichtung trotz neuem WHO-Ansatz haften. Eine Modifizierung zur gezielten Förderung des Nichtrauchens bei Personen aus sozial benachteiligten Gruppen findet nicht statt. Da die Präventionsforschung bewiesen hat, dass Prävention nur zielgruppenspezifisch orientiert wirksam sein kann (Künzel-Böhmer et al. 1993). Der Ansatz ist bis auf moderate, wirtschaftlich vertretbare angebotsreduzierende Maßnahmen verhaltensbezogen. Er begreift Prävention als persönliche Risikominderung und richtet sich an alle gleichermaßen.

Der entscheidende Einfluss der Lebensumstände auch auf die Schutzfaktoren gegen Sucht wird nicht systematisch aufgegriffen. Das System der vielen Akteure, Kompetenzen und Ressorts ohne Koordination, erschwert das systematische Berücksichtigen der sozialen Benachteiligung in Gesundheitsförderungsprogrammen. Nach dem juristischen Verständnis korreliert Entscheidungskompetenz (leider) nicht mit der Pflicht zu handeln, sondern schließt nur andere von der Entscheidung aus. Ein richtiger Schritt ist die Förderung der Lebenskompetenzen. Sie findet allerdings nicht früh und flächendeckend genug als Pflichtprogramm für alle Schultypen ab Grundschule statt. Sie ist auch nicht auf den unterschiedlichen Förderungsbedarf (Mädchen/ Jungen, soziale Herkunft, Schulversager) der Jugendlichen abgestimmt. Eine gesundheitsfördernde Selbstbewertung der Schule stößt immer noch an ihre Grenzen, wenn es um die Umorientierung des Verhaltens der Lehrer und der Aufgabe der Schule als Wissensvermittlung geht (Schnabel, 2004).

Es gibt keinen systematischen Support für die wichtigen Sozialisationsinstanzen (Familien, Schulen, Vereine, Betriebe). Die vermittelten Kompetenzen müssen gegen das unverändert schlechte Umfeld (Arbeitslosigkeit etc.) bestehen und laufen Gefahr, wieder nach und nach verkümmern oder aufgegeben zu werden , weil sie nicht in den Lebensalltag transferierbar sind (Jugert et al. 2002). Der Identitätsdruck steigt dann wieder und sucht ein (neues) Ventil.

4. Modelle anderer Staaten – Möglichkeiten der Übertragung von Konzepten aus den USA und einiger ausgesuchter EU-Staaten in die sozial wirksame Raucherpräventionspolitik in Deutschland

4.1 Vereinigte Staaten von Amerika

Die USA sind bekannt für ihren nationalen Kampf gegen Drogen aller Art, den sie mit der für sie gebotenen Härte führen. Berichte von sozialer Ausgrenzung von Rauchern im öffentlichen Leben und Bootcamps für süchtige Jugendliche, die mit strenger Härte eine suchtfreie Persönlichkeit entwickeln und dankbare Mitglieder der Gesellschaft werden sollen, lassen auch in Deutschland das Interesse bestimmter politischer Kreise an der Drogenpolitik in den USA wachsen.

Die Drogenpolitik ist nur eine Seite der Medaille. Die USA sind auch der größte Tabakproduzent in der Welt, der Sitz der größten Tabakkonzerne und der größte Exporteur von Tabakwaren. Exportiert wird in alle Länder, auch in die sozial gebeutelten Entwicklungsländer, die mittlerweile einen großen Anteil am Geschäft ausmachen. Tabakpflanzer werden wie in der EU subventioniert. Ganze Regionen leben nach wie vor vom Tabakanbau.

Von der Verteilung des Rauchens in der Bevölkerung bietet sich in der multikulturellen Gesellschaft der USA ein ähnliches Bild wie mittlerweile in Deutschland. Viele Migranten leben in der Bevölkerung, es gibt Integrationsprobleme und soziale Brennpunkte, in denen der Drogenkonsum besonders hoch steigt. In den USA sterben nach statistischen Berechnungen des National Center For Chronical Desease Prevention and Healthpromotion (CDC) bis zu 435.000 Menschen per anno vorzeitig an tabakinduzierten Ursachen. (Medical News Today 2004). Der Tabakkonsum ist damit auch in den USA der wichtigste Einzelrisikofaktor für einen frühzeitigen Tod, der Alkoholkonsum tötete vergleichsweise wenig Menschen (75.000 Todesfälle), ebenso andere Drogen oder Todesursachen (ebd.). Studien, verbreitet durch das US Gesundheitsministerium, belegen einen auch in den USA alarmierenden Anstieg der Raucherprävalenzen, wobei sich je nach ethnischer Zugehörigkeit ein unterschiedlicher Anstieg ergab (USDHHS 1998). Am stärksten lag der Anstieg von 1991 bis 1997 bei den afroamerikanischen Jugendlichen, die Prävalenz stieg sogar um 80% an, nach dem ein Erfolg der Public Health Bemühungen unter farbigen Jugendlichen die geringste Raucherrate in den 1970er Jahre hervorgebracht hatte. (ebd.). Weitere besonders betroffene jugendliche Personen sind indianischer Abstammung, vor allem „Alaska Natives“, Bewohner der pazifischen US-Inseln und hispanoamerikanische Personen. Unterdurchschnittlich niedrig liegt die Raucherrate bei Erwachsenen nur bei Amerikanerinnen asiatischer und hispanoamerikanischer Abstammung (CDC 1998). Kulturelle Prägung kann sowohl einen Risikofaktor als auch einen Schutzfaktor darstellen.

Die unterschiedliche Verteilung in der Prävalenz korreliert nach Feststellung des U.S. DHHS besonders mit dem Ausbildungsgrad der Jugendlichen und war umso niedriger, wenn die Betroffenen, gleich welcher ethnischen Zugehörigkeit, einen High-School-Abschluss aufwiesen und umgekehrt (Roemer, 2000). Weitere Differenzierungen der Gründe für ein unterschiedliches Suchtverhalten der Menschen aus verschiedenen Bevölkerungsgruppen wurden auch in den USA erforscht und sogar in namhaften Tageszeitungen publiziert. Ylang wies in einem Artikel für die interessierte Öffentlichkeit daraufhin, dass es neben der unterschiedlichen Bildung weitere Erklärungsfaktoren gibt, die biologischen, kulturellen und sozialen Ursprungs sind und die sich erhöhend (suchtfördernd) oder senkend (vor Sucht schützend) auf die Prävalenzzahlen auswirken (Yang, 1998). Gut dokumentierte Informationen über die Gründe für das unterschiedliche Rauchverhalten in den vier ethnischen Gruppen der Bevölkerung stehen den politisch Verantwortlichen in der Regierung, durch das U.S. Gesundheitsministerium, das USDHHS und das CDC bereitgestellt, zur Verfügung. Diese ethnischen Gruppen haben vergleichsweise schlechte Bildungschancen, bei der Beschäftigung erhalten sie im Allgemeinen schlechter bezahlte Jobs, wenn sie nicht von staatlicher Sozialhilfe leben. Der Anteil der Sozialhilfeempfänger liegt z.B. bei den „Alaska Natives“ bei 85% (CDC, 1998). Die amerikanische Gesellschaft wird immer noch von der weißen Mehrheit dominiert. Insofern bestehen erhebliche Unterschiede zur Lage in Deutschland. Allerdings werden auch bei uns durch lange versäumte Integrationsbestrebungen ähnliche Fragen nach gesundheitlicher Ungleichstellung von Migranten immer dringlicher gestellt werden müssen. In beiden Ländern sind den politisch Verantwortlichen die Fakten, die Zusammenhänge von sozialer Ungleichbehandlung und Gesundheit sowie die Empfehlung der WHO als Maxime des gesundheitspolitischen Handelns bekannt. Und noch eine Gemeinsamkeit findet sich. In Deutschland werden die Begriffe „Prävention“ und „Gesundheitsförderung“ ohne Unterscheidung der gegenläufigen Ansätze als Begriffe nebeneinander geführt. Im englischsprachlichen Raum wird ebenfalls nicht zwischen „Prevention“ and „Healthpromotion“ begrifflich unterschieden (Leppin, 2004).

Wie versucht die USA bei vergleichbarer Lage im Kampf gegen den Tabak aufzutreten und berücksichtigt sie dabei die sozialen Ungleichheiten, die sich in der unterschiedlichen Raucherprävalenz ausdrücken?

Ein breites erzieherisches Präventionsprogramm muss, nach Empfehlung der WHO, durch gesetzgeberische, einschränkende Maßnahmen flankiert werden, um wirksam sein zu können (WHO 1983). Daran fehlt es auch in den USA nicht. Differenziert wird auch hier nach Angebotssteuerung und Nachfragereduzierung als grundsätzliche Zielrichtungen der staatlichen Interventionen.

In der Angebotssteuerung stellen sich ähnliche Problematiken wie in Deutschland. Die Tabakindustrie ist in den USA ein bedeutender Wirtschaftszweig mit entsprechendem politischem Einfluss. Sie argumentiert mit der freien Wahl der Raucher, und dass es nicht Aufgabe der Regierung in einer freien Gesellschaft sein dürfe, den Bürgern ihre Freiheiten zu beschränken (Roemer, 2000). Aber schon vor über 20 Jahren ist dieser Widerstreit der Interessen zugunsten der Regierung entschieden worden, die ihre Aufgabe als Garantin des Gesundheitsschutzes, vor allem bei Kindern, und Regulatorin von Handel und Geschäften zum Wohle des allgemeinen Wohlbefindens durch soziale Kontrollmaßnahmen öffentlich proklamierte (Roemer, 1993, Moore & Gerstein, 1981). Nach der Stellung der Regierung im liberalen Staat tat sie dies aber nicht, ohne die Tabakindustrie vor Einbussen ihrer Freiheit zu bewahren. Die daraufhin erarbeitete Liste der Zielsetzungen der Präventionspolitik reicht von Verhinderung gesundheitsschädlichen Verhaltens über Schaffung eines Gesellschaftsklimas des moderaten Konsums und Gefahrenabwehr für Nichtkonsumenten bis hin zur Etablierung von Erziehungsprogrammen für Kinder, Jugendliche und Lehrer. Für die Tabakpolitik bedeutete dies die legislative Kontrolle in Form eines Werbeverbotes, von Gesundheitswarnungen, Kontrolle von Schadstoffen in Tabakprodukten und Erarbeitung von Wirtschaftsstrategien, die die Relevanz des Verkaufes von Tabak an die Bevölkerung für die Wirtschaft reduzieren sollen.

Das amerikanische Werbeverbot sieht auf Bundesebene ein Verbot für Tabakwerbung in Rundfunk und Fernsehen vor, während das Werben auf Plakatwänden und Sponsoring weiter erlaubt sind (Federal Cigarette Labeling & Advertising Act 1965; Little Cigar Act 1973). Ein solches Werbeverbot gibt es seit Jahren auch in Deutschland. In den USA, dem Sitz der weltgrößten Tabakfirmen ist die Untersuchung der Marketingentwicklung der einzelnen Konzerne von Staats wegen wesentlich engmaschiger[8]. Die Aktivitäten und Inhalte der Tabakwerbung werden von der Öffentlichkeit mehr beachtet. Der „Eye-Catching“ – Effekt wurde in diesem Zusammenhang zuerst in den USA beschrieben und diskutiert (Kluger, 1996). Durch gezielte Ausnutzung eines Halo-Effektes wird das Auge des Betrachters eines Werbeplakates für Zigaretten durch Reizüberflutung in der Werbebotschaft von den gesetzlich vorgeschriebenen Warnhinweisen weggelotst. Diese Erkenntnis hat übrigens in beiden Ländern (noch) nicht zu einer generellen Klarstellung der Warnung vor der Werbeaussage geführt. In Deutschland bilden Zigarettenschachteln gemäß EU-Richtlinie eine gewisse Ausnahme. Sie müssen seit 2002 mit plakativen Aufdrucken versehen werden. Allerdings ist fraglich, ob eine Überhöhung nicht wie so oft kontraindiziert ist. Zumal Verballhornungen der Warnhinweise gesponsert dürfen, die man bei diversen Anbietern u.a. im Internet und an Promotionständen erhalten kann, um damit Zigarettenschachteln zu überkleben.[9] Die Beobachtung der Werbeaktivitäten führten in der amerikanischen öffentlichen Meinung zur Erkenntnis, dass die Werbung der Tabakindustrie wesentlich subtiler ist, als andere Produktwerbungen. Nach eingehender Markanalyse wird die Tabakwerbung gezielt auf die zu umwerbende Gruppe durch Verwendung psychologisch begründbarer Schlüsselreize ausgerichtet, um so Kinder, Frauen oder Minderheiten für das mit dem Rauchen assoziierte Gefühl zu interessieren (Chollat – Tranquet, 1992; Lynch & Bonnie, 1994; Ewert & Alleyne, 1992 und weitere).

Der privatinitiierte Protest gegen die Tabakwerbung wird von der Regierung, die sich der freiheitlichen Ordnung verschrieben hat, gefördert, schützt aber auch die wirtschaftlichen Interessen der Tabakindustrie durch verlagerte Kompensation. Sie gewährt kleineren Settings (Gemeinden, Initiativen) die Freiheit, sich gegen die Tabakgefahr zu solidarisieren, auch wenn ein Bundesgesetz gegen dieses Verhalten der Tabakindustrie an sich keine Einschränkungen enthält. Die Gerichte erkannten diesen Regelungszusammenhang an. Sie gestatteten den Gemeinden als Ausfluss des Fürsorge- und Gefahrenabwehrgrundsatzes gegenüber ihren Mitgliedern die Tabakplakate zu reglementieren oder sogar zu verbieten, obgleich Tabakwerbung laut Bundesgesetz erlaubt ist (Garner, 1996). Bis 1998 hatten über 39 Kommunen von diesem Recht Gebrauch gemacht (American´s for Nonsmokers`Rights, 1998). Die Instrumentalisierung der öffentlichen Meinung und der privaten Initiativ e, sich gegen den verleitenden Einfluss der Tabakwerbung zum Wohle der Jugendlichen zu erwehren, sind in Deutschland zurzeit flächendeckend (noch) schwer denkbar. Namhafte Prominente, die eine Vorbildfunktion innehaben, drehen kostenlose Antirauchervideos, um Kinder, Jugendliche und Familien als Vorbild zu beeinflussen (Bill Crosby´s „Happy without Smoking“).[10]

Die Pflege der öffentlichen Meinung ist aber paradoxerweise auch der amerikanischen Tabakindustrie ein Anliegen. Schließlich hängt von einem positiven Image der wirtschaftliche Erfolg ab. Bei einem Stimmungswechsel gefolgt von einem Boykottaufruf drohen Milliarden Einbußen. Die öffentliche Meinung ist geschäftswichtig, deshalb ist ein „ patriotisches“ Engagement für eines der wichtigsten Gesellschaftsziele, die Gesundheit, gewinnträchtig.[11] Die Tabakindustrie in den USA unterstützen zahlreiche Aufklärungsprojekte zur Tabakprävention bei Jugendlichen. Dies ist nicht nur die beste Werbung für die Produkte und Schutz vor der Antitabakbewegung, sondern auch die beste Methode, unwirksame Raucherpräventionsprogramme zu Lasten der wirksamen Programme zu unterstützen (ASH 2002). Die Tabakwerbung selbst dient nach Eigenangaben nur dazu, bereits Rauchende von einem Markenwechsel abzuhalten, aber in Anbetracht des Wechselverhaltens, des gezielten Ansprechens einer sozialen Gruppe und des Gesamtvolumens ist diese Aussage unglaubwürdig (Tye et al. 1987).

In amerikanischen Gerichtsprozessen wurden kranken Rauchern horrende Summen als Entschädigung dafür zugesprochen, dass sie nicht ausreichend über die Gefahren des Rauchens von der Tabakindustrie „aufgeklärt“ worden seien. Man lässt den Eindruck entstehen, dass die „eigenverantwortliche“ Entscheidung nur auf Grund lückenhafter Information durch die Tabakindustrie ergangen und der Raucher deswegen missgeleitetes Opfer sei. Eine Haltung, die dem gesellschaftlichen Konsens, dass Sucht nur ein individuelles Problem darstellt das Wort redet. In Deutschland wurden diese Klagen, die den Raucher zum willenlosen Opfer der Tabakindustrie stilisieren wollten, zu Recht abgewiesen.

Bei den Warnhinweisen auf den Schachteln herrscht Übereinstimmung mit den USA seit in Deutschland gemäß der EU-Richtlinie Warnhinweise verpflichtend eingeführt wurden. In den USA wird allerdings immer noch nicht auf die Suchtgefahr des Rauchens hingewiesen (Roemer, 2000) . Als einzige Abstimmung auf die verschiedenen ethnischen Gruppen wurde nach Protesten die Beschriftung in der jeweiligen Muttersprache der Zielgruppe angeordnet (Fernandes, 1998). Eine solche kulturelle Angleichung fehlt bis jetzt in Deutschland, obgleich Migranten zu den sozial benachteiligten Gruppen gehören und damit überdurchschnittlich vom Rauchen betroffen sind. Vielleicht wären Piktogramme eine ansprechendere Alternative.

Die Kontrolle der Schadstoffe der Zigaretten, vor allem das Senken des suchtauslösenden Nikotins ist in den USA bislang nur angedacht (USDHHS 1989). Die Kontrolle, wenn sie konsequent durchgeführt werden könnte, brächte eine Reduzierung des suchtauslösenden Effektes bei Zigaretten. Andererseits könnten aber auch falsche Signale gesetzt werden. Zigaretten gelten dann auf einmal nicht mehr als gefährlich oder schlimmer noch als harmlos. Eine Diskussion über die Reduzierung des Nikotins als flankierende Maßnahme der Raucherentwöhnung ist sicherlich wert geführt zu werden.

Die nachfrageorientierten Maßnahmen der Tabakpolitik unterteilen sich auch in den USA in drei große Hauptthemen, die Preis- und Steuerpolitik, den Nichtraucherschutz in der Öffentlichkeit und in konkrete Gesundheitserziehung von Jugendlichen zur Verhütung des Tabakkonsums.

Die USA setzten schon Anfang der 1980er Jahre auf die Preisgestaltung als Abschreckung für Nichtraucher mit dem Rauchen zu beginnen bzw. als Anreiz für Raucher das Rauchen zu reduzieren. Der Reduzierungseffekt auf die Raucheranzahl und die Vorteile für die Gesundheit aller, auch wenn einkommensstarke Gruppen weniger betroffen sein würden, wurden von Warner in einer Auflistung zusammengestellt (Warner, 1984). Dieser Effekt wurde in den Jahren weiter erforscht und entsprechende Empfehlungen erarbeitet. Zigarettenpreiserhöhungen 1988 um 0,25$ brachten bereits eine langfristige Reduzierung des Zigarettenkonsums um 10 -13% pro Person, deshalb werden weitere Preiserhöhungen vorgeschlagen, um vor allem Teenager vom Rauchen abzuhalten (Novotny & Siegel, 1996). Vor allem junge Menschen seien durch höhere Preise eher zu beeinflussen als Raucher von über 40 Jahren, da sie die Rauchgewohnheit noch nicht so stark internalisiert haben und den Einsparungseffekt somit höher bewerten (Ylang, 1998a). Allerdings tun sich die USA schwer mit weiteren Steuererhöhungen. Die seit den 1990er Jahren vertretene Politik sieht die Entlastung der Wirtschaft von Steuerlasten vor. Dadurch sollen das Wirtschaftswachstum und die Beschäftigung unterstützt werden. Politisch findet sich für diese Steuererhöhungen zurzeit keine tragfähige Mehrheit. Die Schachtel Zigaretten liegt preislich in den USA noch immer unter dem EU-Niveau.

Im Vergleich zu Deutschland vorbildlich ist der Schutz der Nichtraucher in der Öffentlichkeit. Dem Schutz vor passivem Rauchen am Arbeitsplatz und in der Öffentlichkeit wird in den USA hohe politische Priorität eingeräumt (USEPA 1993). Das Rauchen ist in der Öffentlichkeit stark reglementiert. In Verkehrsmitteln ist es anders als in Deutschland absolut verboten, ebenso in öffentlichen Gebäuden und am Arbeitsplatz. Vollkommen wird der Schutz durch die Verpflichtung auch privater Arbeitgeber und Restaurantbesitzer, dem Recht des Nichtrauchers uneingeschränkt Vorrang einzuräumen (Roemer, 1993; USDHHS 1998). Eine Sonderregelung oder eine Antragspflicht der betroffenen Nichtraucher, die den Schutz wieder relativeren, gibt es nicht. Niemand hat ein Recht zu rauchen, während in Deutschland durch Einrichtung von Nichtrauchertischen oder gestaffelter Pausenzeiten der Schutz halbherzig umgangen werden kann. Nichtraucher werden dadurch oft in die sozial abschreckende Rolle des Querulanten gedrängt, was sie vom konsequenten Gebrauch ihrer Rechte abhalten kann. Hier besteht für Deutschland Nachbesserungsbedarf. Ein weiterer Punkt ist die Kontrolle der Einhaltung. In den USA ist Rauchen in der öffentlichen Meinung eine sozial inadäquate Verhaltensweise, die von den Personen im Umfeld konzertiert unterbunden werden würde. Eine derartige Sensibilisierung der Bevölkerung gibt es in Deutschland nur ausnahmsweise. Wer kontrolliert und unterbindet schon das Rauchen außerhalb der ausgewiesenen Bezirke oder im Nichtraucherabteil eines Zuges. Bei Weigerung des Rauchers gäbe es selten eine Solidarisierung der Anwesenden oder Sicherheitskräfte, die den renitenten Raucher in die Schranken weisen. In Deutschland fehlt es an der Sensibilisierung der Menschen als eine Art Einhaltungskontrolle, so dass die Akzeptanz von Rauchverboten wieder rückläufig ist (EEIG 2003). Ohne sie sind Verbote völlig wertlos. Hier müsste die deutsche Politik erst einmal die öffentliche Solidarität fördern, bevor derartige Verbote einen besseren Effekt haben können.

Der Verkauf von Tabakprodukten an Jugendliche ist in den USA wesentlich strenger geregelt als in Deutschland. Hierzulande ist der Verkauf nach dem Jugendschutzgesetz ab 16 Jahre erlaubt. Aber das hindert ohnehin wenig. An jeder Straßenecke hängt ein Zigarettenautomat, der rund um die Uhr Zigaretten an jedes Kind verkauft, das den Mechanismus bedienen kann. In den USA gelten die Verkäufe an Jugendliche nicht als kleines Versehen, sondern als Vergehen, das dem Händler die Lizenz kosten kann (Roemer, 2000). Zigarettenautomaten außerhalb kontrollierter Bereiche sind dabei ohnehin verboten. Der Verkauf an Personen unter 18 Jahren ebenfalls. Bei allen jungen Leuten sind die Ausweise zu kontrollieren. Selbstbedienung bei Tabakwaren in den Geschäften ist deshalb untersagt. Aber auch dies ist nur eine sinnvolle Maßnahme, wenn sie in die Kompetenzschulung flankierend eingebunden ist. Andernfalls wird der Reiz des Verbotenen die Neugier wecken.

Deshalb werden im Bericht des Institute of Medicine „Growing up Tobacco Free“ die schulischen Programme für die USA ausdrücklich empfohlen, die die sozialen auslösenden Einflüsse auf das Rauchen widerspiegeln und Fertigkeiten lehren, diesen zu widerstehen (Lynch & Bonnie, 1994). Diese Gesundheitserziehung stützt sich in den USA auf die zwei Hauptpfeiler, Autorisierung sowie Finanzierung von Schulprogrammen und Informationskampagnen. Gezielte Informationskampagnen mit kulturellem Zuschnitt (Sprache, Verbreitungsorte….) und Schulerziehungsprogramme mit spezifischer Ausrichtung auf ethnische Minderheiten (kultursensibel) sollten zentralen Raum in der Gesundheitserziehung der USA einnehmen, um soziale Einflussfaktoren zu reduzieren (Roemer, 2000). Schon 1998 wurde vom U.S. Departement of Health and Human Services offiziell der direkte Zusammenhang zwischen Bildungsgrad und Rauchverhalten proklamiert, und eine gezielte (Aus)Bildung der Betroffenen zur Reduzierung der Raucherraten empfohlen (USDHHS 1998). Bis jetzt blieben dies nur Empfehlungen. An dieser Stelle zeigt sich die Kehrseite der Haltung einer Gesellschaft, die auf von staatlicher Intervention freier Selbstregulation in sozialen Fragen setzt. Diese Haltung gilt auch gegenüber denjenigen Instanzen, die soziale Ungleichheiten schaffen. Modifizierungen zugunsten der sozial Schwachen gibt es nur dort, wo staatliche Behörden im politischen Willensbildungsprozess Handlungsvollmacht haben.[12]

Eine gezielte Bildungsförderungsoffensive für benachteiligte Jugendliche aus ethnischen Minderheiten oder Arme ist nicht Realität geworden. Die Bedeutung der Bildung als Einflussfaktor auf die Raucherprävalenz wurde zwar schon Anfang der 1990er Jahre gesehen (USDHHS 1998), aber eine sozial angleichende Umstrukturierung des Bildungssystems ist kein Thema. Bildung ist die Schlüsselkompetenz in der amerikanischen Gesellschaft, sie wird dem System gemäß nicht staatlich beeinflusst, sondern freiheitlich und privat geregelt. Noch immer kostet Bildung in den USA Geld. Geld, das die Personen aus diesen sozial benachteiligten Schichten nicht haben. Die Wirtschaft der USA benötigt aber Unmengen ungelernter oder angelernter Arbeitskräfte, die zu geringen Löhnen arbeiten. Ein mit Deutschland vergleichbares Ausbildungs-, Lohn- und Kündigungsschutzsystem gibt es nicht. Es bildete sich, anders als in Deutschland, eine sehr deutliche Klassifizierung der Menschen in wohlhabend und benachteiligt. Sogar Ghettoisierung kann als „normale“ Differenzierung in jeder größeren Stadt beobachtet werden. Wer reich ist, erhält Bildung und einen guten Job. Wer nicht reich ist, kann Bildung nicht bezahlen und muss mehrere sozial nicht abgesicherte Billiglohnjobs annehmen, um seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Stipendien sind nur in sehr geringem Umfang vorhanden. Sie sind nicht vergleichbar mit dem BAföG in Deutschland. Diese Entwicklung setzt sich weiter fort, in dem die Studiengebühren weiter angehoben wurden. Kinder aus Schichten mit etwa 35.000$ Jahreseinkommen (entspricht etwa der deutschen unteren Mittelschicht) sind nur noch mit 4,2% an den Colleges vertreten. Sie verlassen diese aus Geldgründen zu 37% wieder ohne qualifizierenden Abschluss (Spang, 2004). Einer Reduzierung der sozialen Ungleichheiten stehen auch in den USA politische und wirtschaftliche Gründe entgegen.

In der Frage der Prävention durch Lebenskompetenzförderung in der Schule ist Deutschland zumindest innerhalb innovativer Schulprojekte den USA voraus. Sie setzen schwerpunktmäßig weiter vornehmlich auf die Gesundheitserziehung in der Schule, die lediglich nach ethnischer Zugehörigkeit kultursensibel gestaltet wird. Die Förderung allgemeiner Lebenskompetenzen als unspezifische Maßnahme ist nicht verbreitet. Ansatzpunkt bleibt allein das Gesundheitsverhalten, das durch gezielte, stoffspezifische Aufklärung, eben nur modifiziert nach ethnischer Zugehörigkeit, in die gewünschte Richtung gelenkt werden soll. Anders als in vielen Staaten Europas wird Drogenkonsum in den USA immer noch als rein individuelles Problem angesehen (Salvador-Lliviana & Ware, 1995).

Schon 1986 wurde diese Haltung von Becker als Healthismus, der das Ausmaß eines „Gesundheitsfaschismus“ annimmt, kritisiert (Becker, 1986). Das individuelle Streben nach einem individuell gesunden Lebensstil unter der gleichzeitigen Nichtbeachtung von sozialen und politischen Aspekten als Einflussfaktoren auf das Gesundheitsverhalten des Einzelnen passt hervorragend in eine Gesellschaft, in der radikale Eigenverantwortlichkeit in allen sozialen Belangen propagiert wird (Kühn, 1993). Soziale Zusammenhänge werden zwar durch Studien aufgedeckt, aber nicht als Ansatzpunkte für Gesundheitsförderung politisch umgesetzt. In der amerikanischen Gesellschaft, die nur sehr wenig sozialen Ausgleich von Staats wegen anerkennt, werden extreme Ungleichheiten bewusst hingenommen, weil sie für die amerikanische Volkswirtschaft wegen des Bedarfs an billigen Arbeitskräften vorteilhaft erscheint.

Um dieser Gesundheitserziehung Nachdruck zu verleihen, führen die USA einen „War against Drugs“. Das Gesetzessystem ist rigide und eine soziale Sanktionierung unterstützt die „eigenverantwortliche“ Entscheidung für ein Gesundheitsverhalten nach den Vorgaben der amerikanischen Gesellschaft. Der Druck zu Suchtmitteln bleibt durch die unveränderte sozial belastende Lage bestehen und äußert sich eben in anderen riskanten Ausweichverhalten (illegale Drogen, S-Bahnsurfen, Gewalt und vor allem Essen). Die bedrohlich dickste Bevölkerung lebt deshalb auch in den USA. Betroffen von der Fettsucht sind sozial schwache Personen (Spang, 2004a). Bis auch gegen sie zu Felde gezogen wird. Durch die alleinige Fixierung auf Risikofaktoren, die es zu verhindern gilt, kann schließlich jedes Verhalten zum Risikofaktor stilisiert werden (Bertran & Kuhlmann, 1995).

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(Karikatur aus der Neuen Ruhr Zeitung vom 30. Juni 2002)

Die Entscheidung, nicht zu rauchen muss die einfachere Wahl darstellen. „No smoking must be the easier choise“. Gemeint ist aber eher: Die Entscheidung zu rauchen, muss so schwer wie möglich gemacht werden.

Politisch ist es als Thema undenkbar, dass amerikanische Gesellschaftsstrukturen dafür (mit)verantwortlich sein könnten, dass jemand suchtkrank wird.

Nun fragt sich, was kann für die besondere Förderung der sozial Benachteiligten innerhalb der deutschen Suchtpolitik aus der amerikanischen Tabakpolitik übernommen werden?

Beide Gesellschaften sind sehr unterschiedlich. Die Gesundheitssysteme sind nicht vergleichbar. Während in Deutschland ein selbstverwaltetes Gesundheitssystem besteht, das von ärztlicher Leistung dominiert wird und ein öffentlicher Gesundheitsdienst aus historischen Gründen fehlt, haben die USA gerade traditionell diesen öffentlichen Gesundheitsdienst. Dessen Aufgabe ist vor allem die Gesundheitsberichterstattung und die Prävention gegen Krankheiten und Risikoverhalten. Dadurch formte sich in der öffentlichen Meinung der Menschen ein anderes Bild von Gesundheit und staatlichem Gesundheitshandeln.

Im Gegensatz zu Deutschland, wo ein medizinisch-therapeutisches Gesundheitsverständnis wegen der ärztlichen Schwerpunktsetzung im Gesundheitssystem vorherrscht, ist die amerikanische Öffentlichkeit auf eigenverantwortliche Risikofaktorenvermeidung fixiert. Genau diese unterschiedliche staatlich initiierte Gesundheitsmentalität und die allgemeinen kulturellen Kriterien können einer sinnvollen Übertragbarkeit im Wege stehen. Die USA sind kein System, das gesundheitliche Ungleichheiten abbauen will, in dem soziale Auslöser reduziert werden. Die Ungleichheiten sind dem System nützlich. Vielmehr geht es um ein „staatlich arrangiertes Erzwingen“ einer richtigen, „eigenverantwortlichen“ Entscheidung für die Gesundheit. Notfalls mit (straf)gesetzlichen Härten. Denn wer krank ist, schädigt nicht nur sich, sondern vor allem „unpatriotisch“ die amerikanische Gesellschaft. Wenn überhaupt kommen nur Fragmente der Gesetzgebung und die Förderung privater Unterstützungsbildung für diese Übertragung auf deutsche Verhältnisse in Frage.

Vorbildlich und übernahmewert ist der Nichtraucherschutz in den USA. Das absolute Verbot des Rauchens in öffentlichen Gebäuden und Restaurants reduziert die Risikolast der Nichtraucher. Das Rauchen verliert so auch den sozial adäquaten Nimbus eines salonfähigen Genussmittels, der einer Tasse Kaffee zukommt.

Das verpflichtende Verbot des Rauchens am Arbeitsplatz ist ebenfalls sinnvoll, um dem Nichtraucher vor dem Passivrauchen und sozialem Druck zu bewahren, dem er ausgesetzt wäre, wenn er einem mehrheitlich rauchenden Umfeld das Rauchen durch Erwirkung eines Verbotes verleiden wollte.

Die gesetzlichen Regelungen, Zigarettenautomaten als Umgehung der Schutzgesetze zu untersagen, ist ebenfalls sinnvoll . Viele europäische Staaten folgten diesem Beispiel bereits.

Die Instrumentalisierung der öffentlichen Meinung als Motivation Einzelner oder ganzer Settings gegen konkrete Bedrohungen wie Plakatwände in Wohngebieten erfolgreich vorzugehen oder eine Schule gesünder zu gestalten, scheint mit anderer Prämisse auch übernahmewert zu sein. Natürlich müssten Kompetenzen auf Gemeinden übertragen und Öffnungsklauseln in Gesetzen eingefügt werden, die eine Settingsinititative zulassen. Kinder lernten dann in ihrem gesamten Umfeld, sich zu solidarisieren und Verantwortung für das Umfeld zu übernehmen, in dem sie sich z. B. protestaktiv gegen vergleichbare Übergriffe politisch (erfolgreich) zur Wehr setzen können.[13] Dem Aufbau eines staatlichen Gesundheitsförderungsnetzes könnte so der Weg geebnet werden, indem in der allgemeinen Anschauung der Blick auf die Gesundheit als gelungene, soziale und kompetente Bewältigung der Lebensanforderung, auch innerhalb der sozialen Gruppen, eingeleitet wird, die der staatlichen Aktivität bedarf.

Die Werbeverbote für Tabak sind auf Bundesebene etwa gleich. Plakatwände sind im Gegensatz zum Fernsehen und Rundfunk immer da und gefährlicher, sie sind unumgänglich und lauernd in der gewohnten Umgebung, in der man keinen Grund zum Misstrauen hat. (Kessler et al. 1996). Die Gefahreneinschätzung der Plakatwerbung sollte deshalb auch in Deutschland überdacht werden. 27 Länder haben Tabakwerbung schon ganz verboten (Roemer, 1993). Das erfordert aber einen Paradigmenwechsel in der Haltung zur Tabakindustrie.[14] Grundsätzlich wäre eine Konsequenz des amerikanischen Verhaltens gegenüber der Tabakindustrie für Deutschland übernehmenswert. Die USA können den Tabakkonsum reduzieren wollen und dennoch der Tabakwirtschaft nicht das Geschäft verderben. Die USA sind ein Exportland. Exportbeschränkungen werden im Gegenzug abgebaut und der Export erhöht (Roemer, 2000). Dies gleicht den entstehenden Nachfragerückgang im Inland durch die um sich greifende Tabakablehnung in der amerikanischen Öffentlichkeit mehr als aus. Deutschland sollte sich aber hüten, der Tabakindustrie auch innerhalb der EU zu viele Zugeständnisse zu machen. Es ist eines der wichtigsten Import- bzw. Transitländer für Tabak in der EU. Der Ausgleich über den Export funktioniert also nicht. Deshalb muss jedes Zugeständnis an die Tabakindustrie immer zu Lasten der Wirksamkeit der Tabakprävention gehen. Glaubwürdigkeit ist aber ein wichtiges Element in der Prävention vor allem bei jungen Menschen (BZgA 1998). Man kann den Tabak oder Cannabis nicht verteufeln und auf der anderen Seite Alkohol- und Tabakwerbungen und Subventionen für Tabak zulassen. Die effektivste Strategie zur Reduzierung und Prävention des Tabakkonsums ist die Gesetzgebung (WHO 1993). Diese muss glaubwürdig sein und sich nicht nur auf Verbote für den Einzelnen beschränken, sondern das gesamte System gesundheitsfördernder für alle machen. Ein anderes Abfedern der wirtschaftlichen Konsequenzen für Arbeitnehmer der Tabakindustrie und des Handels muss erarbeitet und eine klare Darlegung der Präventionsziele eröffnet werden.

4.2 Länder der Europäischen Union

Im Gegensatz zu den USA sind die EU-Länder keine gesellschaftliche und staatliche Einheit. So unterschiedlich wie ihre Amtssprachen, so unterschiedlich sind ihre beschrittenen Wege in der Präventions- und Drogenpolitik. Dennoch gibt es auf der interstaatlichen Ebene Konsensbildungen über das Fördern von Gesundheit in den Mitgliedstaaten. Zielsetzungen von gesundheitlicher Verbesserung der Gesamtbevölkerung durch politische, soziale, medizinische und ökologische Interventionen sind neben Alkohol-, Drogen- und Tabakprävention auch die Reduzierung der gesundheitlichen Ungleichheit (Weil & McKee, 1998). Im Maastrichter Vertrag sind Gesundheitsförderung und Drogenprävention sogar als vorrangige Bereiche des angestrebten politischen Gesundheitshandelns ausgewiesen worden (Belcher, 1998). Um diese Ziele in nationale Interventionen umzusetzen, beschritten die Staaten gemäß ihrer gesellschaftlichen Tradition jeweils andere Wege. Wenngleich sich die Interventionen nach der Abstimmung in der EU gleichen, finden sich andere Schwerpunktsetzungen auf nationaler Ebene. Unterschiedlich ist dabei vor allem der Umfang der Verknüpfung mit sozialstaatlichen Strukturen in der Suchtpolitik. Frankreich verfolgt traditionell eine rigide Drogenpolitik bei illegalen Drogen, neigt aber bei legalen Drogen wie Alkohol- und Tabakgenuss zur Laisser-faire-Methode (www.who.int comparison on selected indicator within WHO Region, Pörksen, 2000).

Die Niederlande (NL) betreiben eine liberale Drogenpolitik, so wie es ihrer liberalen Tradition entspricht Die NL haben jetzt geringere Raucherzahlen unter Jugendlichen als Deutschland (Quadbeck, 2004). Sie zählten 1995 noch zu den fünf Topkandidaten der Raucherländer in der EU. Aber zwischen 1995 und 2002 hatten sie größere Rückgänge in der Raucherprävalenz zu verzeichnen als Deutschland, wo im besagten Zeitraum die Prävalenz sogar anstieg (EEIG 2003). In den NL besteht eine hohe und anwachsende Akzeptanz in Bezug auf Rauchverbote, während die in Deutschland wieder rückläufig ist (EEIG 2003). Die Grenze zwischen illegalen und legalen Drogen ist in den Niederlanden fließend. Und noch ein Unterschied zu Deutschland: Die Ein- und Umstiegsproblematik in den Konsum psychoaktiver Substanzen sieht man in den NL in sozialen Auslösern und nicht in physiologischen Gründen (van Laar & van Ooysen-Houben, 1995). Eine Ansicht, die das Überhöhen der Gefahr bestimmter Substanzen wie in Deutschland obsolet macht und Vertrauen bei jungen Menschen schaffen hilft. Man setzt durch gezielte Kompetenzförderung auf einen vernünftigen Gebrauch. Die Drogenpolitik hat das Ziel, Risiken und Schäden für den Konsumenten begrenzen und dadurch die soziale Integration der betroffenen Personen fördern (Kuipers et al. 1993).

Die Suchtmittel sind aus dem normalen Warenverkehr weitgehend herausgenommen. Zigaretten und Spirituosen gibt es an einer Sondertheke. In den Niederlanden gibt es zudem noch Coffee-Shops, in denen der Genuss von Cannabis erlaubt ist. Jugendliche Cannabisraucher gibt es in den Niederlanden trotzdem prozentual weniger als in Deutschland. . In puncto Haschischrauchen unter Jugendlichen, mit einer Prävalenz von 20% regelmäßiger Konsumenten, liegt Deutschland und nicht die liberalen Niederlande an der EU- Spitze (Quadbeck, 2004). Die Cannabis- und Drogenkonsumenten in den Grenzstädten kommen meist aus dem benachbarten Ausland (Korf et al. 1993). Cannabis zählt in den NL seit Jahren auch zu den Arzneistoffen (z. b. Analgetika gegen chronische Schmerzen, Antidepressivum).

In dem Bemühen, soziale Benachteiligungen und somit gesundheitliche Ungleichheiten auszugleichen, gehen die NL oft unorthodoxe Wege. Ihr Erfolg ist dabei beachtlich. Sie betreiben eine Sozialpolitik des sozialen Ausgleichs und der Integration. Die Niederlande haben in ihrem Integrationsgesetz für Ausländer die Pflicht des Staates zur Integration, aber auch die Pflicht des Ausländers zur Integration festgeschrieben. Migrantenprobleme wurden in den NL bereits früh erkannt und als sozialstaatliche Aufgabe aller gesellschaftlichen Kräfte gesehen (Münz, 2003). Vor allem sozial Schwache wurden in den Fokus der Bemühungen gestellt, allerdings nicht als Problem, sondern als besonderer Förderungsbedarf (Münz, 2003). Staatliche Beschäftigungssteigerung und eine bessere Absicherung der Arbeitnehmer gegen Kündigung gehören dazu. Um soziale Brennpunkte mit den typischen Problematiken (Isolation, kriminalitätsfördernde Verhältnisse, Verslumung) zu vermeiden, werden die Menschen mit den Sozialisationsstätten (Schulen, Begegnungsstätten etc) unmittelbar oder mittelbar über die Kinder vernetzt, gezielt gefördert und aktiv eingebunden. Dabei sind es die staatlichen Institutionen, die auf die Menschen zugehen oder sogar mit Betroffenen als aufsuchende Multiplikatoren Kontakte aufbauen (ebenda). Auf eine Durchmischung in den Stadtvierteln kultureller und sozialer Prägung und auf gesundheitsförderndes Gestalten der neuen Wohngebiete wird geachtet (Vromraad, 2002). Schließlich haben in Vierteln mit konzentrierter Armut Jugendliche ein ausgeprägtes Risiko, mit dem Rauchen zu beginnen und viel zu rauchen, weil sich viel rauchende Peer-Groups bilden (Sells & Blum, 1994).

Der positive Verlauf der Raucherprävalenz in Zeiten von sozialen Umbrüchen, von denen auch der niederländische Sozialstaat nicht verschont wurde, kann aber auch seinen Grund an den traditionell in den liberalen Niederlanden im Erziehungssystem geförderten Kompetenzen, wie Selbstbewusstsein, sozialer Konfliktbewältigung und Toleranz vor Wissensfixierung haben (T´Hof, 1998.)[15] Kompetenzförderung und Methodenkompetenz sind gesetzliche Zielvorgaben des Erziehungsauftrages der Kindergärten und Schulen. Diese Programme gehören zum Pflichtausbildungsprogramm in der Lehrerausbildung und in der Ausbildung der Erzieher in den Kindergärten (Münz, 2003).[16] Schulen mit der Zertifizierung „de rookvrije School“ und jene mit vielen sozial benachteiligten Schülern erhalten zusätzliche staatliche Leistungen, die so der Kompetenzförderung der Schülern zugute kommen (Münz, 2003).[17] Die reine Leistungsfixierung kann dagegen zu Druck und Enttäuschung führen, die Persönlichkeit definiert sich nur über ihre Leistung. Fällt diese ab oder wird nicht gebraucht (Arbeitslosigkeit), so muss der Druck abgefangen werden (Sucht, Selbstmord). Obgleich die NL ein kleines Land sind, spräche für ein Übernehmen der liberaleren Drogenpolitik, dass Strafandrohungen noch nie ein probates Präventionsmittel waren (Böllinger, 2000). Die Glaubwürdigkeit und damit die Effektivität der Prävention bei der Jugend stiege auch an, wenn ohne ideologische Über- oder Unterbetonung einer Substanz über die Gefährlichkeit aller Drogen aufgeklärt werden würde (Pörksen, 2000). Nach der neuesten Erhebungen des niederländischen Erziehungsministeriums vom Frühjahr 2004 unter niederländischen Jugendlichen ergab, dass im Gegensatz zu 1995 für 93% der 15jährigen Niederländer angaben: „Roken en Bier zijn niet langer cool“ (www.gezond_op_school.nl) Ein Glaubwürdigkeitserfolg, der in Deutschland bei den jungen Menschen noch weit entfernt ist. Die willkürliche Linie zwischen illegaler und legaler Droge müsste in der Prävention ebenso überprüft werden wie die Formulierung einer vernünftigen Zielsetzung in der deutschen Drogenpolitik einschließlich der Erhellung ihrer Vorurteile. Wenn vernünftiger Umgang das Ziel ist, dann sollten auch „niederländische“ Erziehungszielsetzungen in Betracht gezogen werden, die über verpflichtende Kompetenzförderung den gesunden Selbsterhalt und den unverkrampften Umgang mit gesellschaftlichen Anforderungen stärken helfen können. Die Niederlande könnten ein nützliches Vorbild für soziale Unterstützungsnetzwerke und für protektierende Kompetenzen sein, die in der gesamten deutschen Lebenswirklichkeit gefördert werden sollten.

Die Skandinavischen Länder betreiben neben der Kompetenzförderung in Schulen traditionell eine Hochpreispolitik bei den Genussmitteln Alkohol und Tabak. Beides gibt es nicht in normalen Geschäften und hat einen immensen Preis. Die Anzahl der konsumierenden Jugendlichen nimmt in Hochpreisländern kontinuierlich ab (Lewit et al. 1994). Schweden hat die zweitniedrigste Raucherrate in der EU (EEIG 2003). Portugal ist das Land mit der geringsten Raucherprävalenz in der EU, aber auch das Land mit den teuersten Zigaretten gemessen am Einkommen der Erwerbstätigen. Fast eine Stunde müssen sie für eine Schachtel Zigaretten arbeiten, währen die Deutschen nur 13 Minuten, die Franzosen 11 Minuten und die Schweizer sogar nur 5 Minuten arbeiten müssen, um den Preis einer Schachtel Zigaretten zu verdienen (BAG 2000).

Fraglich bleibt, ob für Deutschland als großes wirtschaftliches Kernland und Haupttransitland innerhalb der EU eine solche Politik im nationalen Alleingang überhaupt durchführbar sein kann. Der Tabak- und Alkoholschmuggel wäre wegen der Unmengen von Waren- und Personenverkehr an unseren zahlreichen Grenzen zu Ländern mit anderer Preispolitik gar nicht eindämmbar. Eine Preisgestaltungspolitik als nationale Maßnahme ist für Deutschland nicht empfehlenswert, sie führte zu einer Inkriminierung der Raucher. Auf EU-Ebene sollte Deutschland sich aber dafür als flankierende Maßnahme zum Abbau von sozialen Ungleichheiten einsetzen. Um dann als wirksames Abschreckungsmittel zu gelten, müssen wiederholte Steuer- und Preiserhöhungen progressiv vorangetrieben werden, um Zigaretten nicht zu einem preiswerten Luxusgut zu adeln (ACHE 1985; Roemer, 1993). Das hielte dann vor allem Jugendliche und ab einem gewissen Preis auch einkommensschwächere Personen ab. Alcopops werden von diesem Personenkreis trotz Sondersteuer von 50 Cents pro Flasche häufig gekauft. Aber wer von ihnen kauft schon regelmäßig Champagner? Durch die EU-weite Politik wäre dann auch dem Schmuggel die Möglichkeit erheblich erschwert (Grenzkontrollen).

Dieser kleine Einblick in die Methoden einiger anderer Staaten, mit dem Problem Rauchen und sozialer Ungleichheit umzugehen, zeigt, dass Deutschland bei Übertragbarkeit der Konzepte aus deren Erfahrungen Nutzen ziehen kann, wenn es die Tabakprävention durch gezielte Förderung der sozial Benachteiligten effektiv gestalten will. Die Entscheidung, nicht zu rauchen oder andere Drogen zu konsumieren, muss den unteren Schichten erleichtert werden.

Im nächsten Kapitel soll ein Gesamtkonzept als Vorschlag für Deutschland entwickelt werden, dass sowohl den Ursachenzusammenhang zwischen sozioökonomischer Lage und Kompetenzbildung als auch übernahmewerte Komponenten anderer Staaten aufgreift. Entstehen soll kein Votum für ein Ideal, das sich in der Praxis ohnehin nicht verwirklichen ließe, sondern ein gesellschaftliches Querschnittsmodell, das alle Ressourcen unserer Gesellschaft einbindet, um die soziale und damit gesundheitliche Ungleichheit zu reduzieren. In Anbetracht der Entstehungszeit der sozialen Benachteiligung in unserer Gesellschaft kann sich eine Änderung auch nur in mittelfristigen Zeiträumen vollziehen, auch wenn an verschiedenen Ansatzpunkten gegengesteuert werden wird.

5. Konzeptvorschlag zur Bekämpfung des Tabakkonsums durch gesundheitliche Förderung der sozial Benachteiligten – reichen Förderungsgesetze wirklich aus?

Zunächst sollen einige Grundannahmen für dieses gesamtpolitische Konzept vorgestellt werden, dass sich ressortübergreifend der Kausalstruktur der gesundheitlichen Schlechterstellung der sozial Schwachen annimmt. Danach folgt eine Erarbeitung der einzelnen Elemente nach ihrer zeitlichen und sachlogischen Abfolge mit Vorschlägen aus den vorherigen Kapiteln. Die Raucherprävalenz unter den sozial Benachteiligten zu senken, erfordert das Integrieren aller gesellschaftlichen Ressourcen. Schließlich sind auch die Entstehungskautelen für das schlechtere Gesundheitsverhalten multikonditional. Aber am Anfang einer jeden Handlung steht wie immer der zielgerichtete Wille, etwas zu verändern. Erst auf diesem lassen sich weitergehende Interventionen in Bezug auf Entlastung der Lebenssituation und Empowerment aufbauen.

Dass das System sich neueren Entwicklungen im Gesundheits- und Sozialwesen entgegensetzt, ist eine Blockade. Eine andere ist die völlige Kongruenz zwischen Ursache und Wirkung. Das System ist sowohl Problem als auch Teil der Lösung.

Aus den vorherigen Ausführungen zur sozialen Benachteiligung und der Aufnahme der gezielten Förderung in den politischen Willensbildungsprozess in Deutschland lassen sich vier Vorgaben für ein gangbares nationales Interventionskonzept gegen den Tabakkonsum mit besonderer Berücksichtigung der sozial Schwachen ableiten. Die richtige zeitliche und sachliche Anordnung der vier Grundvoraussetzungen bilden eine Art „Wirksamkeitsfenster “. Wenn eine dieser Vorgaben über- oder unterpräsentiert ist, funktioniert das dynamische Gleichgewicht der gesamtgesellschaftlichen Intervention insgesamt nicht mehr.

Am Anfang steht die Vorgabe der vernünftigen Zielsetzung. Die Zielsetzung im Umgang mit Rauchern einerseits und sozialer Ungleichheit andererseits muss in die Schaffung einer gesamtgesellschaftlichen Interventionsgrundlage einfließen. Wer kein Ziel hat, kommt nirgendwo an. Hier steht das Überdenken der strikten Trennung zwischen legalen und illegalen Drogen ebenso an, wie die Bewertung der Sucht im gesellschaftlichen Kontext. Durch die Verknüpfung des Rauchverhaltens mit den Bedingungen sozialer Benachteiligung kann die Zielsetzung nicht einfach lauten, dass jemand Nichtraucher werden soll. Vielmehr muss die Zielsetzung in Ansehung der sozialen und gesundheitlichen Benachteiligung mit ihren Kompetenzdefiziten heißen, diese Menschen zu kreativen, individuell lebenstüchtigen und gesunden Mitgliedern der Gemeinschaft zu machen (Ginsburg, 2003). Eine moderne Gesellschaft kann und will nicht gänzlich auf einen moderaten Drogenkonsum verzichten. Ein völliges Verdammen von Drogen aus dem täglichen Leben erzeugte einen immensen Druck, der sich in der Illegalität ein Ventil verschaffte. Drogen erfüllen im täglichen Leben der Menschen auch einen Zweck, den sich die Gesellschaft auch zunutze machen sollte. Schädigend ist nur der Abusus, der aber aus dem Verhalten der Konsumenten folgt, also der Kompetenz, sich dem Stoff auszusetzen oder wieder zu entziehen. Er entspringt nicht allein der Gefährlichkeit des Stoffes selbst.

Zudem, so die zweite Vorgabe, leben (gesetzliche) Vorgaben von der Akzeptanz, die sie in der Bevölkerung genießen. Ist die Lebens- und Rechtswirklichkeit nicht (mehr) mit der gesetzlichen Norm vereinbar, so läuft die Regelung ins Leere. Ebenso kann sich keine akzeptierte Normbildung einstellen, wenn keine entsprechende Willensgrundlage in der Bevölkerung vorhanden ist. Es gibt viele Beispiele, in denen Gesetze ihre Akzeptanz in der Wirklichkeit verloren hatten, nie besaßen oder eine mangelnde Willensformung notwendige Normen verhinderte[18]. Aktuelle Beispiele für akzeptanzabstrakte Gesetze sind die Hartz- Reformgesetze. Sie wurden ohne entsprechende vorherige Einstimmung der Menschen erlassen und stoßen auf breite unverständige Ablehnung, obgleich sie teilweise sinnvoll sein mögen. Diese Gesetze werden entweder umgangen oder stiften große allgemeine Unzufriedenheit. Unter Umständen mobilisieren sie Kräfte, die sie wieder aufheben sollen und dabei auch die positiven Aspekte aushebeln, die mit diesen Regelungen ebenso verbunden sind. Ohne eine entsprechende Willensformung im Bewusstsein der Menschen sind Beschlüsse im politischen Prozess, die zu Gesetzesnormen führen, nicht denkbar. Jeder weiß, um noch ein aktuelles Beispiel zu nennen, um die erbarmungswürdigen Umstände, unter denen straffällig gewordene psychiatrische Patienten untergebracht sind. Dennoch bildet sich kein sensibles Bewusstsein in der Bevölkerung, dass die politischen Instanzen zum Reagieren zwingt.

Für die Gesetze gegen den Tabakkonsum und für die gezielte Förderung der sozial Benachteiligten gilt das gleiche Prinzip. Ohne eine entsprechende Sensibilisierung in der Lebenswirklichkeit der Menschen werden sie keinen Vollzug in der Realität finden, umgangen oder erst gar nicht erlassen werden. Daran zeigt sich das Defizit vieler Absichtserklärungen, die die Notwendigkeit gesetzlicher Regelungen anmahnen und besondere Förderungsbedarfe feststellen, aber direkt bei der Normgebung ansetzen wollen. Wie bei allem, was von höherer Seite übergestreift wird, fehlt der tragende Wille, auch Taten folgen, die Einhaltung kontrollieren oder das Geforderte zur sozialen Norm werden zu lassen.

Die kleine Grafik zeigt die bilaterale Einflussnahme auf die Willensbildung in einer demokratischen Gesellschaft. Wenn eine Regierung Normen innerhalb des Regelwerkes ändern will, muss sie das sie tragende Willensfundament entsprechend umgestalten. Umgekehrt funktioniert es ebenso. Keine demokratische Regierung kann sich auf Dauer der Änderung des tragenden Willens in der Lebenswirklichkeit entziehen (Beispiel Homoehe). Eine Änderung auf der einen Seite führt zu einer solchen auf der anderen.

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Auch hierfür gibt es in der deutschen Politik- und Rechtsentwicklung ein signifikantes Beispiel. Der Umweltschutz war bis Ende der 1970er Jahre in Deutschland kein Thema. Keine politische Lobby nahm sich der Natur an, die Umweltmaßnahmen beschränkten sich auf kosmetische Verschönerungen. Erst ein geändertes und wachsendes (Umwelt-)Bewusstsein vor allem der Jugend zwangen die Politik und Legislative zum aktiven Schutz der Ressourcen tätig zu werden. Eine junge Partei, „die Grünen“, bündelte die Bewusstseinsänderung und transmissionierte sie von der jungen Bevölkerung in die politischen Gremien. Heute ist Umweltschutz im Grundgesetz als Staatsziel angeführt. Die Wirtschaft hält die Normen ein, weil sie erkannte, das Umweltschutz (Bioprodukte, positives Image) positiv in der veränderten Sensibilität ihres Umfeldes ankamen. Soziale Kontrolle zur Einhaltung des Umweltschutzes ist mittlerweile übiquitär. Andere Staaten, die vom Bewusstsein und der Lebenswirklichkeit der Menschen abstrakte Gesetze zum Schutz der Umwelt erlassen haben, müssen erkennen, dass sie weder eingehalten noch von den örtlichen Zuständigen, die ja wiedergewählt werden wollen, umgesetzt werden. Dies zeigt deutlich, dass der richtige Ansatzpunkt nicht oben in den Gremien der politischen Macht zu finden ist, sondern in der Sensibilisierung der Menschen für dieses Problem. Böllinger sprach den (Straf)gesetzen eine willensformende präventive Wirkung im Allgemeinen ab, wenn sie nicht von allgemeiner Akzeptanz getragen werden (Böllinger, 2000).

Vor allem die Jugend steht notwendigen Neuerungen ohne Besitzstandvorbehalte mit großem Pragmatismus gegenüber (Hurrelmann, 2004). Am Anfang ihres Erwachsenenlebens stehend ist ihr Blick zukunftsgewandt. Sie möchten die Zukunft nach ihren Maßstäben gestalten, indem sie neue Ideen einbringen. Dabei erkennt die Jugend sehr wohl die Notwendigkeit, die Zukunft umzugestalten, damit man überhaupt eine hat. Der Jugend wird dabei ohnehin eine große Anpassungsleistung in der Auseinandersetzung mit der Gesellschaft abverlangt. Sie erreichte in den 1980ern, dass Umweltschutz auf die politische Agenda und ins GG gelangte. Warum sollte sie nicht auch die Umgestaltung des Gesundheits- und Sozialbegriffes in der deutschen Gesellschaft über Einwirkung auf die Politik nicht neu definieren? Voraussetzungen sind aber die Glaubwürdigkeit und gerechte Auslegung der einschlägigen Verhaltensnormen. Wer bei der Jugend punkten will, muss erst einmal seine Vorurteile erhellen und ablegen, um authentisch zu sein.

Die dritte Vorgabe lautet: Eine Gesellschaft ohne eine soziale Differenzierung gibt es nicht! Die soziale Differenzierung ist ein Element der Funktionszuordnung innerhalb der arbeitsteiligen Gesellschaft durch die Bewertung der jeweiligen Qualifikationen für die soziale Stellung innerhalb der Gesellschaft. Völlige Gleichheit und eine ohne ein sozial wirksames Belohnungssystem existierende Gesellschaft sind Utopien. Dies zeigt das gescheiterte Experiment des Sozialismus im Europa des vergangenen Jahrhunderts. Aber nur weil die Ungleichheit an sich nicht verzichtbar ist, sind ihre Konsequenzen und ihr Ausmaß sehr wohl dispositiv. Im Gegenteil eine Gesellschaft, die diese Ungleichheit nicht in „gesunden“ Dimensionen lenkt, läuft Gefahr, an den inneren Spannungen zu zerbrechen. Parallelgesellschaften bilden sich, die Kriminalität steigt an und das Vertrauen in den Staat schwindet. Am Ende stehen der politische und wirtschaftliche Niedergang des gesamten Systems. An diesen unbewältigten Integrationsaufgaben zerbrach schon das römische Imperium. Und jetzige Staaten unterliegen denselben Gesetzmäßigkeiten.

Ein sozialer Friede und ein gesundes, gut ausgebildetes Humankapital sind ein entscheidender Standortfaktor für Deutschland im internationalen Wettbewerb. In der ökonomischen Diskussion ist der Begriff des Stewardship längst etabliert, mit dem alle gesamtpolitischen Aktivitäten zusammengefasst werden, die die Gesundheit fördern und sich somit wirtschaftlich sinnvoll auswirken. Dieses Argument sollte in die Argumentation für einen Wandel im Gesundheits-, Sozial- und Bildungssystem aufgenommen werden, um die Notwendigkeit zu unterstreichen.

Die letzte Vorgabe ist die Änderung des Ansatzes in der Förderung der sozial Benachteiligten. Eine passive Entlastung dieser Personen ist nur begrenzt möglich und sinnvoll. So brachte die Studiengebührfreiheit, die Kinder sozial schwacher Herkunft zur Erlangung höherer Bildung verhelfen sollte, nicht den gewünschten Effekt. Gefördert wurden nur die, die vorher auch schon oft studierten. Sie konnten ihren Anteil an den Studierenden vergrößern, während der der Arbeiterkinder sich proportional verkleinerte. Neben der Entlastung müssen diese Personen auch mit Kompetenzen befähigt werden, diese Entlastungen zu nutzen. Punktuelles Empowerment entspricht nicht der sozialen Entwicklung des Menschen in der Gemeinschaft. Erforderlich ist ein strukturelles Empowerment, das sich lebensbegleitend der Entwicklung des Individuums anschließt. Der Life- Skill- Ansatz der WHO (WHO 1986) sollte ressortübergreifend umgesetzt werden.

Dafür ist ein Paradigmenwechsel in der Sozialpolitik notwendig. Die Unterstützung der Solidargemeinschaft sollte sich weniger subsidiär sich am bestehenden Unvermögen der eigenen Lebensführung der Betroffenen orientieren, sondern im Sinne des Empowerments kompensatorisch ansetzen (Schnabel, 2001). Das heißt, das Maß kann nicht länger die unterste Stufe des Existenzminimums sein, die zudem noch erst unterschritten werden muss, bevor die Gemeinschaft interveniert, um dann nur bis zum Erreichen der untersten Stufe mit der Unterstützung fortzufahren. Sondern Maßstab muss eine gesunde Entwicklung sein, die durch Intervention, wenn ihre Voraussetzungen fehlen, erreicht wird. Wer wie viel Empowerment erhält entscheidet sein persönlicher Bedarf. Warum sollte das System nicht Institutionen fördern und belohnen, die sich gesundheitsfördernd zum Wohle aller verhalten, wie am Beispiel des Umweltschutzes gezeigt?

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Das Schaubild verdeutlicht das Zusammenspiel der vier genannten Eckpunkte. Als erstes muss eine interessengerechte Zielsetzung gefasst werden. An zweiter Stelle steht die Einflussnahme durch Sensibilisierung der Menschen, vor allem der Jugend, und setzt sich fort bis zum Empowerment für die sozial Benachteiligten.

Das rote Fenster zeigt das optimale Funktionieren durch Abstimmen der vier Elemente. Das gelbe Fenster deutet an, was geschieht, wenn ein Element zu Lasten der anderen vernachlässigt oder bevorzugt wird. Das Wirkfenster verkleinert sich und ein Ineinandergreifen der Komponenten ist nicht mehr gewährleistet. Bevorzugt man als Beispiel die Sensibilisierung der Lebenswirklichkeit in der Gesellschaft bei der Schaffung von Normen, ohne moderaten Gebrauch, Nutzungsbefähigung und Reduzierung der Ungleichheit auf das funktional erforderliche Maß an Differenzierung als Ziele zu haben, so wird sich kein positiver Effekt auf die Raucherprävalenz und die anderer Drogen einstellen. Ebenso ist es, wenn man sich auf die Schaffung der funktional erforderlichen sozialen Ungleichheit kapriziert, ohne auch die Nutzungsbefähigung und die akzeptierte Lebenswirklichkeit des moderaten Gebrauchs zu realisieren.

5.1 Die Sensibilisierung junger Menschen für ein verändertes Gesundheits- und Sozialverständnis als erster Präventionsschritt – oder- Wo sind die„Gesundheitsgrünen“?

Die soziale Benachteiligung als Auslöser des gefährlichen Rauchverhaltens der von ihr Betroffenen müsste nicht nur als gesundheitliche Gefährdung der sozial schwachen Gruppen erkannt und behandelt werden. Sondern ihre adäquate Überwindung muss im Bewusstsein der Menschen vor allem als dringliche gesellschaftliche Querschnittsaufgabe begriffen werden, die entscheidend zum künftigen Fortbestand der Sozialgemeinschaft und der Volkswirtschaft im Einwanderungsland Deutschland beiträgt. Umso dringlicher, weil immer mehr Menschen in unserem Land im Zuge der wirtschaftlichen Turbulenzen der kommenden Jahre von Erwerbslosigkeit und Armut betroffen sein werden. Ziel ist die Schaffung einer Lobby für gesunde Lebenschancen für alle. Von seiten der Gemeinschaft direkt auf das Rauchverhalten einzugehen, erwies sich als wenig effektiv bei den sozial schwachen Personenkreisen. Wie bei der Kompetenzschulung gegen die Sucht, die allgemein und nicht stoffgeleitet ist, erscheint es auch im gesamtpolitischen Konzept ratsam, erst einmal die Kompetenzen der Gemeinschaft zu schulen, mit inneren Integrationsproblemen anders umzugehen. Wenn die Regierung sich aus dem Dilemma der Lobbyarbeit befreien will und tragfähige Reformen zugunsten der sozial Schwachen realisieren will, so muss sie erst eine entsprechende Lobby schaffen. Eine Willensgrundlage innerhalb der Bevölkerung, die ihr entsprechende demokratische Handlungsvollmachten gibt. Die Durchführung der gezielten Lebenskompetenzförderung ist zur gesetzlichen Pflichtaufgabe der Schule zu machen . Aber weil soziale Differenzierung auch eine Funktion innerhalb der gesellschaftlichen Entwicklung hat, muss auch die Kompetenzförderung mögliche spätere Verantwortungen in der Gesellschaft wiederspiegeln, auf die man vorbereitet werden sollte.

Dabei kommt eine oben angeführte Feststellung zum Tragen. Die sozial Schwachen sind auch nach einer Kompetenzerhöhung in der Schule nicht in der Lage, ihr schädigendes Lebensmilieu entscheidend zu verbessern, weil genau das nicht in ihrer Kompetenz steht. Um zu erreichen, dass sich an der kompetenzbehindernden und Kompetenzen wieder deaktivierenden Lebenslage etwas ändert, müssen diejenigen in ihrer Einsichts- und Sozialkompetenz geschult werden, die (später) für die gesellschaftliche Verteilung der Ressourcen verantwortlich sein werden. Gemeint sind vor allem Kinder- und Jugendliche der Mittel- und Oberschicht. Ihre sozialen Ambitionen für einen gesamtgesellschaftlichen Blick müssen vor allem entwicklungsbegleitend gefördert werden.

Die Modifizierung des schulischen Kompetenzförderungsprogramms sollte in zwei Richtungen erfolgen. Erstens gefördert in Lebenskompetenzen je nach Milieu und Förderungsbedarf (insofern laufen die Schulprojekte verstärkt weiter) und zweitens bei denen, die künftig Verantwortung in der Gesellschaft tragen, sozialverantwortliche, gesundheitsfördernde und sozialökonomische Schlüsselqualifikationen. Sie erlernen die Gesellschaft ebenso kreativ gesund und lebenswert zu gestalten wie sie ihr eigenes Umfeld zu gestalten lernen.

Die Schule als reine Wissensanstalt, muss wieder gegen eine Erziehungs- und Vorbereitungsstätte für das Leben in der Gemeinschaft werden[19], die auch und vor allem Kompetenzen für den Eigengebrauch sowie für die Sozialverantwortung implementiert.

Die Kooperation mit dem Elternhaus könnten Erziehungsverträge zwischen Eltern – Lehrern – Schülern sicherstellen. Hierin werden die zu erreichenden Ziele, die Maßnahmen und die jeweiligen Unterstützungen durch den anderen Part festgelegt. Einmal im Jahr wird der Vertrag evaluiert. Eltern mit entsprechender Bildung werden vernünftigerweise nichts dagegen einzuwenden haben, wenn ihr Kind darauf vorbereitet wird, sozialverantwortlich seine Stellung in der Gesellschaft auszufüllen und werden daran mitwirken wollen. Zumal auch ihre Kinder von einer gerechteren und gesünderen, weil leistungsfähigeren Gemeinschaft profitieren werden. Ein solcher Vertrag vermittelt ihnen offiziell das Gefühl, wichtiger Partner in der Erziehung des Kindes zu sein. Das gegenläufige Tauziehen zwischen Eltern und Lehrer, die sich oft als Konkurrenten sehen, könnte damit beendet werden. Der Schüler erhält damit mitgestaltenden Rechte, die wiederum seine Kompetenzen schärfen werden. Mit der allgemeinen Zufriedenheit und Kooperation der an der Schülerbildung Beteiligten korrelieren ein effektiveres Arbeiten mit den Schülern und eine positivere Einstellung der Schüler bzw. Eltern zur Schule. Dieses Image der Schule bewirkte, dass sie zunehmend als Ort der Versammlung und der Kooperation angenommen wird. Ein Umstand, der ihr in der Integration sozial schwächerer Schüler und Eltern zugute kommen wird. Erziehungsverträge sind eine Möglichkeit, die praktischen und beruflichen Erfahrungen der Eltern so mit in das Erziehungsgeschehen der Schulausbildung mit aufzunehmen, dass durch den offiziellen Zuspruch auch ihr Selbstwertgefühl angehoben wird (Rosenbrock, Kühn & Köhler, 1994). Ein breiteres Engagement wird auf diese Weise genährt werden

Die allgemeine Meinung und Stimmung in der Bevölkerung wird im massenmedialen Zeitalter mehr und mehr von den Medien gelenkt. Vor allem junge Menschen nutzen das Fernsehen, das Internet und den Rundfunk täglich intensiv. Die vermittelten Botschaften und Werte tragen mehr zum Stimmungsbild und zur politischen Aktivität bei als Bundestagsdebatten, auch wenn sie direkt im Fernsehen übertragen werden. Es war die Berichterstattung im Fernsehen, die die Menschen in der Aktion „Gemeinsam gegen Rechts“ auf die Strasse zur Demonstration geholt hatte, den „Red Nose Day“ für soziale Projekte initiierte oder mit ihrer Medienberichterstattung über Friedensdemonstrationen und Waldsterben den „Nerv“ der Zeit traf. Den Medien kommt in der Sensibilisierung der Menschen zu einem veränderten Verständnis der Verknüpfung von gesundheitlicher und sozialer Benachteiligung, die als gesellschaftliche Aufgabe und nicht nur als unlösbares Problem gesehen werden sollte, eine entscheidende Rolle zu. Sie schaffen die politischen Mehrheiten von morgen, weil die politischen Gremien auf ihre Wähler angewiesen sind. Sozialmarketing nennt man das Bestreben mit möglichst effektiven Methoden des Marketings für eine soziale Intention Werbung zu machen als sei es ein Produkt, das ein jeder haben müsse (BZgA 1998; Ose & Hurrelmann, 2004). Die Umstrukturierung der Gesellschaft mit ihren Vorteilen für alle (bessere Lebenszufriedenheit, Wirtschaftsstandortfaktoren, Beitragzahler in den Sozialkassen, Stabilität) wird kreativ und auf kurzen Wegen in das Bewusstsein der Menschen transferiert, so dass es tägliches Redethema wird. Wer über etwas spricht, beschäftigt sich mit etwas, was er überdenkt. Ein Fehler, den die jetzige Bundesregierung z. B. mit Hartz IV gemacht hat. Sie hat nicht das Bewusstsein der Menschen, der Betroffenen sowie der Verantwortlichen, für diese Einschnitte sensibilisiert, bevor die entsprechenden Gesetze erlassen wurden.

Die Adaption amerikanischer Strategien zur Bewusstseinsbildung in invertierter Anwendung wäre überlegenswert. Im amerikanischen Modell werden alle, die nicht dem gewünschten Denken entsprechen als „unpatriotisch“ ausgegrenzt. So zeichnen die meistens rüden Methoden, Rauchern in der amerikanischen Öffentlichkeit zu begegnen, sie fast zu inkriminieren, ein eher negatives Menschenbild. In Deutschland böten sich diese bewusstseinsbildenden Strategien aber als positives integratives Element an. Wer die soziale Neustrukturierung in der Gesellschaft unterstützt, ist sozial kompetent und wirkt zum Wohle aller. Dieses Bewusstsein sollte von der Bundesregierung gepflegt werden. Die Mitgestaltung an der Bewusstseinsentstehung in der Gesellschaft sollte als erstrebenswertes Image aufgewertet werden.

Ein probates Mittel, die Vorteile herauszustellen, um so den allgemeinen Willen positiv zu formen, sind Projekte (Schnabel, 2001) . Sie zeigen schneller die positiven Effekte und regen zur Nachahmung an. Das Selbstverständnis vieler staatlicher Institutionen könnte sich durch die begleitete Projektarbeit zu innovativen Entwicklungen hin zur Gesundheitsförderung bewegen (z. B. Krankenkassen, Gesundheitsämter….). Vor allem, wenn diese Institutionen die Vorteile für sich erkennen, die zum Beispiel mit einem positiven Image einhergehen können. Ein guter Vorschlag kommt aus Holland. Institutionen, vor allem Schulen, die sich der Gesundheitsförderung verschrieben haben (de rookvrije School….) und sich Zertifikationsverfahren unterziehen, erhalten mehr staatliche Zuschüsse oder Erleichterungen, die anderen Institutionen vorenthalten werden (Münz, 2003). Wenn die Gesundheitsbemühungen von Settings sich erkennbar in Vorteilen innerhalb eines Belohnungssystems auszahlen, so zeigt die steigende Anzahl der niederländischen Settings, führt dies zu einer allgemeinen Verbreitung. Gesundheitsförderndes Verhalten wird zur sozialen Normalität. Eine Institution, die diese Anerkennung nicht hat, wird sich bemühen, sie zu erlangen. Eine Schule könnte z. B. mit dieser Zertifizierung „gesundheitsfördernde Schule“ in Zeiten der abnehmenden Schülerzahlen ihre selbstständige Existenz sichern. Das Gleiche gilt für eine Kommune. Gesundheitsfördernde Stadt zu sein, kann einmal in Zeiten der Bevölkerungsabnahme und der Stadtflucht ein entscheidender Vorteil sein.

Das Schaubild zeigt die Sensibilisierungsinhalte, die aber nicht direkt, sondern als soziales Lernen bzw. über die Medien mit Emotionalisierung und konkreten Beispielen vermittelt werden sollten. Es ist in diesem Zusammenhang erforderlich, die soziale Diskriminierung aus der vorurteilsbehafteten Anonymität zu holen. Man gebe der Armut und ihren Folgen ein Gesicht, und eine Solidarisierung fällt wesentlich leichter als bei abstrakten Zahlenbeispielen.

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Erst wenn eine tragfähige Willensbasis bei den Menschen für die Reduzierung der sozialen Ungleichheit zur Schaffung einer gesünderen Gesellschaft besteht, ist eine gezielte Förderung der sozial Benachteiligten gegen die politischen Lobbyisten in den normgebenden Instanzen überhaupt machbar. Dann wird die Regierung bei der Wiederwahl nicht nur an ihrer Wirtschaftspolitik, sonder auch an ihrer Sozialpolitik gemessen werden. Ihr politischer Handlungsspielraum wird zugunsten der sozialen Reformen größer, ohne sich in den politischen Orbit zu katapultieren, da man dann nach dem Willen des Wahlvolkes handelt. Der indirekte Weg über die Sensibilisierung der (jungen) Menschen, die gesellschaftliche Verantwortung tragen werden, ist der einzige Weg, den sozial schwachen Personen und dem positiven Schaffen von Gesundheitsfaktoren im Sinne der Gesundheitsförderung in der Gesellschaft eine Lobby zu verschaffen. Andernfalls bleibt nur das Abwarten bis die nicht bewältigten Integrationsaufgaben die Stabilität unserer Gemeinschaft gefährden. Ein Phänomen, dass sich in der heutigen Zeit schon abzeichnet, ist die Politikverdrossenheit der Menschen mit einer erstarkenden Tendenz zu extremen Wahlverhalten (negierende Wählervereinigungen z. B. Schill-Partei…). Bis aktionistisch versucht werden wird, den Schaden zu begrenzen. Wenn der „point of no return“ nur dann nicht schon überschritten sein wird.

5.2 Schaffung der (gesetzlichen) Voraussetzung für eine nur noch funktional notwendige Ungleichheit – die neuen gesundheitlichen Rahmenbedingungen

Erst nach dem eine tragende Willensgrundlage in der Lebenswirklichkeit der Menschen geschaffen wurde, die auf die Normgebung in der Gesellschaft entscheidenden Einfluss zugunsten der sozial und gesundheitlich Benachteiligten nimmt, ist es sinnvoll Regelwerke in Deutschland insgesamt gesundheitsfördernd umzubauen. Andernfalls sind „sinnentleerende“ Kompromisse zugunsten der diversen politischen Lobbies unvermeidlich.

Wegen der Fragmentierung der verschiedenen Kompetenzen und zur Förderung der ressortübergreifenden Zusammenarbeit erscheint die Einfügung eines Grundrechtes auf Leben und Heranwachsen in Gesundheit in das Grundgesetz sinnvoll. Ein Grundrecht ist auch ein direkter Anspruch gegen die Gemeinschaft. Der Staat ist zum Handeln verpflichtet, dieses Grundrecht zu gewährleisten. Voraussetzungen sind zu schaffen, Störfaktoren auszuschalten und die Einhaltung des Leistungsrechtes durch staatliche Instanzen (Schulen, Behörden, etc.) ist zu überwachen. Durch vorherige Willensbildung in der Lebenswirklichkeit bleibt ein solches Grundrecht kein programmatischer Ansatz. Die Wählerkontrolle sorgt dafür, dass die politischen Gremien sich an diesen Maßstäben messen lassen müssen. Ein abstrakt eingefügtes Grundrecht würde hingegen eher das Dasein eines Abwehrrechtes des Einzelnen via Verfassungsbeschwerde führen, ohne allgemeine strukturelle Veränderungen in der Gesellschaft nach sich zu ziehen. Ebenso verhält es sich mit den Gesetzgebungskompetenzen. Ohne die „ motivatorische“ Triebfeder der Willensbasis sind sie keine Handlungsverpflichtung, sondern nur ein Regelungsvorbebalt, der nach Ermessen oder politischen Kalkül gebraucht werden kann. Deshalb gilt das Gleiche für die zuweilen geforderte Gesetzgebungskompetenz für Prävention. Mit sensibilisierter Willenslage in der Bevölkerung und den Gremien wird ohnehin jeder Akteur am Projekt „Gesundheit für alle“ mitwirken wollen, um die demokratische Legitimation nicht zu verspielen. Dennoch wäre eine solche Kompetenz mit dem richtigen Verständnis sinnvoll, wenn sie ressortübergreifend als Querschnittsaufgabe ausgelegt wird. Und noch eine Änderung des Blickwinkels bleibt zu vollziehen. In Artikel 3 des Grundgesetzes wird allen Menschen die gleiche Behandlung zugesagt. Aber ohne Befähigung, von gesetzlich eingeräumten Rechten auch Gebrauch machen zu können, ist dieser Anspruch wertlos. Diskriminieren kann man nicht nur durch die Ungleichbehandlung, sondern auch durch die Gleichbehandlung von Ungleichem (Jarass 1989). Diese Kehrseite des Anspruches auf Gleichbehandlung sollte stärker in die Willensbildung mit einfließen, um Gesetze zielgruppenorientierter mit abgestimmten Regelungen im Kampf gegen die soziale Ungleichheit, die so viele verschiedene Gruppen umschreibt.

Aktuell zeigt sich leider, wie wenig vorteilhaft es ist, die Bewusstseinsschaffung bei den Menschen zu vernachlässigen. Die Bundesregierung überzeugt in ihrer Selbstdarstellung leider wenig, etwas Nützliches für den Fortbestand unserer Gesellschaft zu tun. Misstrauen gegen die Habenden verhindert ein Klima des Vertrauens. Hier hilft nur Transparenz der Strukturen, um eine gerechte Umverteilung der gesellschaftlichen Mittel nicht nur zu behaupten, sondern auch beweisen zu können. Dabei ist Glaubwürdigkeit wie bei den Präventionskonzepten erste Voraussetzung, vor allem junge Menschen zu erreichen. Andernfalls gewinnen jene politischen Kräfte, die nur negative Parolen dagegen halten und unserer Demokratie schweren Schaden zufügen. Ein Plebiszit zu sozialen Fragen im Grundgesetz würde zumindest sicherstellen, dass Bewusstseinsschaffung bei den Menschen wieder an oberster Stelle der politischen Agenda stehen würde.

5.2.1 Schaffen einer sozialen Lebenslage, in der Rauchen nicht gefördert wird und nicht Rauchen unterstützt oder belohnt wird (die Entlastung von Risikofaktoren)

Durch Zugeständnisse an unterschiedliche Interessenverbände gab es in der Vergangenheit immer wieder Rücknahme effektiver Regelungen zugunsten der Verminderung der Sozialadäquanz des Rauchens im täglichen Leben. Rauchen blieb daher ein Bestandteil eines sozial wirksamen Kompetenzgerüstes vor allem sozial weniger privilegierter Personen. Die Lebensumstände blieben suchtfördernd. durch die sich wenig ändernde Lebenslage der Betroffenen. Sie kann auch nur nach Schaffung eines breiten gesellschaftlichen Konsenses systematisch verbessert werden, indem positiv fördernde Normen der Lebenssituation die diskriminierenden Effekte nehmen.

Die Zigarettenversorgung ist besser als die Versorgung mit Grundnahrungsmitteln. Jene kann man nämlich nicht zu jeder Zeit an fast jeder Ecke im Automaten kaufen. Überlegenswert erscheint das Alter von 16 auf 18 Jahre anzuheben (wie bei Spirituosen). Die Erhöhung des Zugangsalters zu den sogenannten Genussmittel „Tabak“ und „Alkohol“ hätte einen positiven Effekt auf die Prävalenzrate von Langzeitrauchern. Da nach von Troschke die hochsensible Zeit für die Weichenstellung für einen lebenslangen Tabakkonsum gerade in der Zeit zwischen dem 13. und 16. Lebensjahr liegt (v. Troschke, 1998). Wenn man wenig Zugang hat, kann man diesen Stoff auch nicht in die angestrebte erwachsene Identität einbauen und weniger Raucher bedeuten auch weniger prägende (elterliche) Vorbilder[20]. Dadurch wird zwar nicht unbedingt die Verfügbarkeit in der heutigen Situation wesentlich reduziert. Aber die Stellung des Tabaks im Warenangebot ändert sich. Die generelle Verbannung der Tabak- und Alkoholwaren aus den Lebensmittelgeschäften wäre dazu eine unterstützende Maßnahme. Ein schönes Beispiel für diese Wandelfähigkeit eines Produktes in der öffentlichen Meinung sind Kondome. Einst verschämt beim Apotheker, Drogisten oder Herrenfriseur unter dem Ladentisch gehandelt. Sind sie durch Einwirkung auf die öffentliche Meinung und Zuordnung zum normalen Warenangebot der Lebensmittelgeschäfte zu einem allseits akzeptierten Artikel geworden. Dem Kauf haftet nichts Schamhaftes und Anrüchiges mehr an, im Gegenteil er steht für Verantwortungsbewusstsein. Warum sollte es umgekehrt nicht ebenso funktionieren?

Das Verbot der Zigarettenautomaten müsste sich mit verändertem Willensfundament in der Bevölkerung durchsetzen lassen. Der Protest der „Tabaklobby“ wird dadurch weniger politisch gewichtig. Ausgleiche des Verlustes können ressortübergreifend ein Abfedern der sozialen Härten bringen, indem andere Betätigungsfelder für die freiwerdenden Kapazitäten erschlossen werden.

Ähnlich verhält es sich mit dem Werbeverbot für Tabakwaren. In 27 Länder ist das Bewerben von Tabakprodukten gänzlich verboten worden. Wie oben bereits erläutert, macht die Beschränkung auf bestimmte Medien wenig Sinn. Vor allem Plakatwände zeigten nach amerikanischen Erkenntnissen ein erhebliches Gefahrenpotential. Außerdem erscheint die Argumentation sehr fragwürdig, dass Werbung nur Erwachsene ansprechen, aber 14jährige Jugendliche „kalt lassen“ soll. Wenn eines aus der amerikanischen Drogenpolitik übernahmewert ist, so ist es die Analyse der Werbeaktivitäten der Tabakindustrie. Ein vehementes Einschreiten ist dringend geboten und dann, weil es politischer Wille ist, auch möglich. Die freiwerdenden Werbekapazitäten könnten für den Einsatz in der Instrumentalisierung der öffentlichen Meinung zur Gesundheitsförderung oder sozialer Angleichung genutzt werden. Auf diese Weise ließe sich akzeptabel die entstehende wirtschaftliche Benachteiligung der Werbeindustrie durch effektiven Einbau in dem nationalen sozialen Gesundheitsprogramm kompensieren und ihren Widerstand reduzieren.

Die Preispolitik ließe sich in der dieser veränderten politischen Gewichtung auch weiter in Richtung Verteuerung betreiben und die durch die Tabaksteuererhöhung geschaffenen positiven Effekte weiter verstärken. Vor allem bei jugendlichen Rauchern, deren Rauchverhalten noch nicht so fest internalisiert ist und mit ihren finanziellen Ressourcen haushalten müssen, um ihre Ansprüche an den Aufbau einer erwachsenen Existenz zu befriedigen, würde die Abwägung zu Ungunsten des Rauchens ausfallen. Nichtrauchen würde für sie schon wegen der Ersparnis attraktiver. Zwar gelten die oben erwähnten Schwierigkeiten des Transit- und Importlandes Deutschland in der EU in Frage der nationalen Alleingänge fort. Aber das Angleichen an die EU-Hochpreise der skandinavischen Länder kann dann zumindest in der EU vorangetrieben werden, wenn im eigenen Land keine anders agierende Wirtschaftslobby die politischen Handlungsspielräume weiter einengt und eine entsprechende Entscheidung verhindert. Es gibt nämlich kein Grundrecht auf preiswerten Alkohol oder Tabak. Andernfalls wäre Champagner oder Kaviar, beides können sich sozial Benachteiligte nicht leisten, wegen Verstoß gegen Artikel 2 I des Grundgesetzes (allgemeine Handlungsfreiheit) und Art. 3.GG (Gleichbehandlungspflicht) verfassungswidrig.

Der in Deutschland noch sehr lückenhafte Nichtraucherschutz und seine effektmindernden Relativierungen vor allem für Menschen aus den unteren Schichten, die als Nichtraucher zumeist in der Minderzahl sind oder weiterhin das Rauchen als sozialadäquates Vergnügen in Restaurants vor Augen geführt bekommen, könnte sich im veränderten Gesellschaftsklima dem amerikanischen Vorbild anpassen. Die für alle Ge- und Verbote erforderliche soziales Einhaltungskontrolle, die zur Zeit noch fehlt, weshalb ein jetziges abstraktes Übernehmen der Regelungen auf große Widerstände und Desinteresse stoßen würde, wäre dann auch vorhanden. Wichtig ist aber eine klare Formulierung der Regelungen. Es muss klargestellt sein, wo das Rauchen verboten oder erlaubt ist. Nur so kann eine soziale Kontrolle und ein verbindlicher Verhaltensmaßstab abgeleitet werden, mit den sich die Menschen identifizieren. Irland als traditionelles Raucherland hat es vorgemacht. Die Pubs sind rauchfrei und besucht werden sie nach wie vor. Im Gegenteil auf Rauchfreiheit wird in der gesundheitsbewussteren irischen Bevölkerung verstärkt geachtet, während man sein Guinness genießt.

Weitere gesetzliche Änderungen, die die gesundheitlichen Belastungen durch die sozial benachteiligte Lebenslage zu reduzieren helfen, können an dieser Stelle nur exemplarisch angeführt werden. Aber alle verfolgen das Prinzip des Abbaus von Hemmnissen und der positiven und flexiblen Unterstützungsleistung, die dem individuellen Bedarf entspricht.

Bildung ist eine der Schlüsselqualifikationen in der heutigen hochqualifizierten Informationsgesellschaft. Sie ist der Hauptgrund für die Entwicklung sozialer Benachteiligung, und ein hohes Bildungspotential ist für die innovative Weiterentwicklung der Gesellschaft das wichtigste Element ihrer Zukunftsfähigkeit (Brüning & Kuwan, 2002). Dieser Zusammenhang von allgemeiner Bildungsförderung und globaler Wettbewerbsfähigkeit ist mit in die Willensformungen des allgemeinen politischen Willens aufzunehmen. Wer die Bildungschancen der sozial Benachteiligten real erhöht, sorgt nicht nur für deren Gesundheitsförderung durch Wegfall des instrumentellen Rauchens, durch bessere Lebensumstände und Kompetenzen, sondern er investiert vor allem in die Zukunft aller. Das deutsche Bildungssystem basiert noch auf einem veralteten Bildungsbegriff und veralteten Strukturen, beides benachteiligt Kinder aus der unteren Schicht systemimmanent. Diese Benachteiligung beginnt schon früh (Brüning & Kuwan, 2002). Trotz Lehrmittel- und Studiengebührfreiheit erreichen drei Mal weniger Kinder aus sozial niederen Schichten die Hochschulreife als Kinder der Mittel- oder Oberschicht. Den Gang zur Universität finden proportional noch weniger. Wer zu bestimmten Zeiten keinen Abschluss erlangt, weil er nicht gefördert wurde, kann ihn auch nicht mehr erwerben. Der zweite Bildungsweg wird unnötig erschwert. Wer im Bildungswettbewerb schon am unteren Ende der Skala steht, kann im Laufe seines Lebens bildungsmäßig noch weiter benachteiligt werden, weil sich Weiterbildungsanforderungen ändern und der Zugang zu diesen Institutionen versperrt bleibt. Teilabschlüsse wären sinnvoller, um erbrachte Leistungen zu dokumentieren, damit auf ihnen aufgebaut werden kann.

Lebenslanges Lernen wird nicht systematisch gefördert. Die Förderung hat zwei Ansatzpunkte. Zum ersten muss die Einstellung der Arbeitgeber zur Fortbildung ihrer Mitarbeiter gestärkt werden, damit sie die Weiterbildung der Mitarbeiter als Erhöhung des Humankapitals sehen und für den Betrieb nutzbar machen lernen (Kuwan, 2002). Zum anderen ist die Einstellung der Mitarbeiter zu fördern (z. B. durch ein Anreizsystem). Dieses Anreizsystem kann auch Arbeitgeber durch ein Zertifizierungsverfahren oder ähnliche Vergünstigungen zur Förderung der Weiterbildung ermutigen. Der Bildungsbegriff favorisiert die Wissensvermittlung und vernachlässigt Kompetenzvermittlung. Wichtiger als Wissen ist die Erkenntnis, wie man lernt und wo man Hilfe erhält, um den gewünschten Weg fortsetzen zu können[21]. In den Niederlanden ist diese Form der Vorbereitung auf die Anforderungen des Lebens schon längst in die Praxis umgesetzt. Deshalb überstehen junge Niederländer die Umbrüche, die die sich ändernde Gesellschaftsstruktur mit sich bringen scheinbar stressfreier, wenn man die Entwicklung der Raucherprävalenz in beiden Ländern in den letzten 10 Jahren mit einander vergleicht. Kreativ noch unbekannte Anforderungen meistern zu können, ist vorteilhafter als mit eingepaukten Problemlösungen, von denen keine so recht zum neuen Problem passen will, zu operieren. Der individuelle Support zu selbstständig und kreativ strukturierten Problemlösern ist in Deutschland (noch) nicht systematisch gegeben. Schon lange bekannte Erkenntnisse der Lernpsychologie werden im täglichen Schulalltag ebenso wenig umgesetzt wie die Zielsetzung der Schulausbildung für ein erfolgreiches und gesundes Leben in einer sich entwickelnden Gesellschaft vorzubereiten. Die hohe Zahl von Schulversagern und Ausbildungs- und Studienabbrecher zeugt davon. Wer dem Druck nicht standhält und keine Unterstützung aus dem Elternhaus erhält, scheitert. Bertoffen sind sozial Benachteiligte.

Es fehlt ein Frühwarnsystem, das Benachteiligungen schon früh erkennen kann. Hier wäre dringend die Einrichtung eines Fördersystems ab Geburt zumindest ab Kindergarten erforderlich. Dieses darf sich nicht erst an Schüler wenden, wenn ihre Leistungen defizitär werden, sondern sollte schon frühzeitig ansetzen. Die Eltern können mit dem oben angeführten Erziehungsverträgen mit einbezogen werden. Eventuell bieten Ganztagsschulen die bessere Möglichkeit, Schüler auch in ihrer Freizeit zu fördern und den Schuldruck durch Betreuung zu reduzieren. Soziale und allgemeine Lebenskompetenzen sind die wahre Frucht der schulischen Erziehung und nicht die Zitierfähigkeit von Detailwissen. Der Hauptschulabschluss sollte in der allgemeinen Anschauung als eine Art Basisabschluss (Schul-Bachelor) in einem einheitlichen Schulsystem begriffen werden und nicht als Abschluss für „Restschüler“, so dass die verschiedenen Abschlüsse auch auf einander aufbauen können[22]. Dies ist heute leider nur in wenigen Fällen und nur in einzelnen Bundesländern der Fall, dass es jemand vom Hauptschulabschluss zum Abitur in den normalen 13 Schuljahren bringen kann. Peer-Groups in den „Gesamtschulen“ sind dagegen heterogen und verhindern so nicht nur die soziale Förderung von gesundheitsbeeinträchtigen Verhaltensweisen, sondern auch das Festsetzen der Notwendigkeit sozialer Abgrenzung in den Köpfen der Jugendlichen. Ein positiver Effekt, der in den „ghettoisierenden“ Hauptschulmilieus nicht einstellen kann.

Höhere Bildung ist unbedingt mit höherem Verantwortungsbewusstsein für die Gemeinschaft zu korrelieren. Die Kompetenzprogramme sind entsprechend zu erweitern. Die Motivation und die Möglichkeit, weitere qualifizierende Abschlüsse unter Umständen berufbegleitend zu erwerben, ist eine wichtige Voraussetzung in der fortschreitenden Informationsgesellschaft. Wenn es im Arbeitsleben normal ist, sich fortzubilden, kommt die Fortbildung aus dem Sonderlingdasein heraus und wird, wenn sie mit besseren Positionen einhergeht, erstrebenswert. Die Bildungsinstitutionen setzen immer noch Kompensationsleistungen voraus, die eine veränderte Lebenswirklichkeit sozial Benachteiligter nicht erbringen kann. Ebenso orientieren sie sich in ihren Outcomes an längst überholte Anforderungen in der Lebenswirklichkeit, die nicht (mehr) zutreffen und somit den Absolventen wenig sozialen Erfolg garantieren. Dies erhöht nicht gerade die Motivation, diese Institutionen zügig und gut zu durchlaufen.[23]

Damit wären wir bei einem anderen bedeutsamen Punkt angelangt. Bildung braucht ein Ziel, für das es sich zu arbeiten lohnt. Wer nach der Schule sowieso mit seinen erworbenen Qualifikationen der Erwerbslosigkeit zu steuert, wird wenig motiviert sein, die Schule überhaupt abzuschließen, geschweige denn erfolgreich zu beenden. Die vermittelten Inhalte müssen Qualifikationen sein, die zum Arbeitsplatz und zum selbstbestimmten Leben führen. Beschäftigungs- und Ausbildungsprogramme sind ein Mittel den sozialisierenden Einstieg in die anschließenden Sozialisationssettings zu finden. Um dem oft gehemmten Schul- und Ausbildungsverlaufverlauf der sozial benachteiligten Gruppen gerecht zu werden, sollten Teilabschlüsse ebenso möglich sein wie die enge motivierende und betreuende Begleitung für Probanden und Umfeld. Die Ausbildungsinhalte für Lehrer, Erzieher, Mentoren und Pflegemitarbeiter sollten eine einschlägige Abstimmung auf aktive Unterstützung und frühzeitiges Erkennen von sozialem Förderungsbedarf erfahren.

Im Gesundheitssystem sollte die Ärzteschaft vom therapeutisch – medizinischen Behandlungsmodell zum allgemeinen Gesundheitsheitsdienstleister umorganisiert werden. Die Studienordnungen wären entsprechend umzugestalten. Mit Einbindung in die veränderte Zielsetzung, der sozialen Gemeinschaft zur sozialen und gesundheitlichen Angleichung zu verhelfen, könnte auch der grundsätzliche Widerstand der Ärzteschaft reduziert werden, indem ihr neue Betätigungsfelder eröffnet werden.

Ebenso sollten die Ausbildungsordnungen anderer Studiengänge, wie Juristen, Ingenieure, Raumplaner etc., auf Gesundheits- und Sozialwirken der Gemeinschaft ausgerichtet werden.[24]

Als letztes Änderungsfeld soll exemplarisch das Sozialrecht im weiteren Sinne dargestellt werden. Subsidiarität sollte sich nur auf die Möglichkeit beziehen, sich aus eigenen Kräften wieder in die „Gewinnzone“ seiner Lebensgestaltung zu bringen. Maßstab kann nicht länger die unterste Grenze der Erträglichkeit sein, sondern die gesunde Entwicklung in der Gemeinschaft (Schnabel, 2001). Passiver Defizitausgleich ist gegen das aktive Empowerment zu ersetzen, um den Betroffenen nicht das Gefühl des Ausgeschlossenseins und des Bittstellers zu vermitteln. Vielmehr sollte mit der Situation eher der Status eines besonderen „Fortzubildenden“ erhalten, der sich auch zum Wohle der Gemeinschaft wieder befähigen lässt, gesund in der gesünderen Gemeinschaft weiterzuleben. Beginn der sozialen Befähigungsmaßnahmen kann nicht das schon bestehende Defizit sein. Vielmehr ist der Bedarf individuell schon früh einzuschätzen, um vor der Defizitentstehung zu intervenieren und zu fördern. Ein flächendeckendes Versorgungssystem für Familien, wo die meisten Defizite dieser Art entstehen, wird im nächsten Kapitel vorgestellt. Nur mit einem solchen System ist die Sozialisationsleistung der wichtigsten Kompetenzförderungsinstanz (Familie) zu erhöhen und zu erhalten, so dass ein Empowerment in den nachfolgenden Settings (Kindergarten, Schule, Ausbildung, Arbeitsstätte) sich nicht auf Schadensbegrenzung beschränken muss.

Das sensible Gebiet der sozialen und familienrechtlichen Gesetzgebung bedarf der staatlichen Fürsorge. Aus historischen Gründen hält sich der Staat zurück, wenn es um Interventionen im Sozialisationsgeschehen der Familie geht. Aber gerade der oft zitierte Artikel 6 des Grundgesetzes, der die Familien unter den besonderen Schutz der Gemeinschaft stellt, fordert gerade dazu auf, alle Familien bei ihrer grundlegenden Sozialisationsleistung für die Gemeinschaft aktiv zu unterstützen. Unter diesem Schutz stehen alle Familien gleichermaßen. Der Begriff der Familie ist im Zuge der Gesellschaftsentwicklung weit auszulegen. Hierfür muss die Gemeinschaft eine Sensibilisierung schaffen, um in der allgemeinen Anschauung die staatliche Unterstützungsintervention innerhalb der Familie als Fürsorgliches und nicht als Bevormundendes erscheinen zu lassen. Wenn diese Familien–Empowerment–Aufsuchdienste alle Familien betreuen, entsteht kein diskriminierender Effekt zu Lasten der sozial Schwachen. Diese Gruppen alleine zu betreuen, wäre daher zu kurz gegriffen. Weder könnten Defizite frühzeitig erkannt werden, noch wäre ein flächendeckendes Sozialisationsempowerment anders zu erreichen. Ein Wandel in der Lebenslage lässt eine Familie schnell zu einer sozial benachteiligten Gruppe gehören, ohne dass es zuvor Anzeichen gegeben hat[25]. In diesem Zusammenhang sei erneut der Hinweis auf die Auslegung des Artikel 3 des Grundgesetzes erlaubt. Diese Norm untersagt auch, Ungleiches gleich zu behandeln. Ein Gesetz, das für alle gleiche Bedingungen stellt, kann daher sehr wohl sozial diskriminieren und gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz verstoßen.

Zum Sozialrecht gehört auch die Reglementierung des Arbeitsmarktes. Die sich wandelnde Gesellschaft schafft nicht nur Probleme, sondern auch Chancen. Die systematische Betreuung der Arbeitnehmer und Arbeitgeber in Fragen der Weiterbildung und Beschäftigungsförderung durch Erschließung neuer Ressourcen sollte berücksichtigt werden, um eine entwicklungsbegleitende Gesundheitsförderung der Menschen zu gewährleisten. Schließlich ist die Arbeitstelle immer noch eine wichtige Sozialisationsschnittstelle zwischen Gesellschaft und Individuum, die entscheidenden Einfluss auf die Gestaltung gesunder Lebensumstände und die Erschließung von sozialen Ressourcen nimmt. Vor 20 Jahren hätte niemand geglaubt, dass Umweltschutz nicht nur Ausgaben bedeutet, sondern auch eine lukrative wirtschaftliche Innovation. Heute ist die Umwelttechnologie und der Know-how - Verkauf ein wichtiger Wirtschafts- und Exportzweig[26]. Die Gesundheitsförderung, die sich durch Umstrukturierung der Wirtschaft entwickelt, könnte ähnlich viele vorteilhafte Chancen für den deutschen Standort bringen.

Unter dem Begriff des Stewardship sind auch die Vorgaben für die Raumplanung gesundheitsfördernd zu verändern. Zur Entschärfung sozialer Brennpunkte sollte die gesetzliche Pflicht jeder Kommune verankert werden, sowohl die bauliche Gestaltung, die vorherige Schaffung der Infrastruktur (Kindergärten, Schulen, Arbeitsplätze, kulturelle Angebote) und die heterogene soziale Besiedlung sicherzustellen. In den Trabantenstädten der 1960er Jahre wurden diese Aspekte nicht beachtet. Es kam zur sozialen Ghettoisierung[27]. Vor allem, weil die entsprechende Infrastruktur (Arbeitsplätze, Kindergärten, Geschäfte) fehlte, die das Leben für Menschen aus anderen sozialen Schichten in diesen Trabantenstädten lukrativ hätte erscheinen lassen.

5.2.2 Die Erhöhung der Schutzfaktoren am individuellen Entwicklungsbedarf

Im vorangegangenen Kapitel wurde ein kurzer Einblick versucht, wie die Lebenssituation der sozial Schwachen per gesetzlicher Systemanpassung verbessert werden könnte, um die erste Komponente der gesundheitsschädigenden Ursachenkette der Diskriminierung zu durchbrechen. Die gesundheitliche Gleichstellung unterer sozialer Schichten hängt aber auch von der Befähigung ab, diese Erleichterungen zu nutzen. Die Kompetenzen, sich diese Ressourcen zu erschließen und ein gesundes Mitglied der Gesellschaft im Dialog mit der Gesellschaft zu werden, sollten entwicklungsbegleitend gefördert werden. Hierzu versuche ich im letzten Kapitel ein konkretisiertes Modell eines entwicklungsbegleitenden Empowerments eines Individuums nachzuzeichnen, das mit den Berührungspunkten zur Gemeinschaft soziale Hilfestellungen erhält. Einer Kompensationskompetenz durch gesundheitsschädigendes Verhalten wie Rauchen wird dann der Nährboden entzogen. Gesundheitsverhalten lohnt sich für Menschen, die sich mit den Gesundheitszielen der gesundheitsfördernden Gesellschaftsstruktur identifizieren können. Es entsteht eine Interessenkonklusion. Die Ziele der Gesellschaft, die er als positiv erfährt, sind auch seine Ziele. Erst in dieser Konstellation machen Aufklärungskampagnen über Gefahren und Nutzen überhaupt Sinn.

5.2.2.1 Der Start in die Gesellschaft – oder die totale Abhängigkeit

Der von Schnabel geforderter Akzent auf die Frühförderung (Schnabel, 2001) sollte bereits pränatal beginnen und sich nicht nur auf präventive Maßnahmen zur Verhütung von Krankheiten beschränken. Fast jeder Bundesbürger beginnt sein Leben damit, dass seine Mutter einen Frauenarzt und eine Hebamme aufsucht, die die Mutter und das Ungeborene während der Schwangerschaft betreuen. Nach der Geburt wäre ein Ansatzpunkt für Beratung durch die Hebamme. Sie unterstützt nicht nur bei der Versorgung des Säuglings, sondern hilft auch bei Spannungen in der Beziehung, die sich zwangsläufig ergeben. Ein weiterer Aufsuchdienst der Hebammen, wie er in ländlichen Kreisen bereits existiert, könnte eine Kontinuität in der Praxis nach Entlassung aus der Klinik bringen. Dadurch, dass alle betreut werden, entstehen weder Vorsorgungslücken noch Diskriminierungen. Die sehr wichtige Mutterrolle kann auf diese Weise innerhalb der Beziehung zwischen Mutter und Kind sowie zwischen den Eltern gestärkt werden. Auch hilft es, den Vätern ihre Stellung innerhalb der Familie einzunehmen, damit die prägenden Phasen im Leben eines Kleinkindes erfolgreich verlaufen können. Die Stabilität der Beziehung und die Lebenszufriedenheit der Familienmitglieder können sich durch diese aktive Unterstützung zum Wohle des Kindes nur erhöhen.

Ab der Entlassung aus der Klinik sollte ein flächendeckender regelmäßiger Besuchsdienst einer Familien-Gesundheitsschwester etabliert werden, die die Familie bis in die Pubertät der Kinder begleitet. Diese Familiengesundheitsschwester begleitet und betreut die gesamte Familie. Sie fungiert als eine Case-Managerin innerhalb der Unterstützungssysteme, um den Familien, deren Bedarf sie einschätzt, das jeweilig erforderliche Empowerment zu kommen zu lassen. Erfahrungen zeigen, dass passive Servicevorhalte wie der Erziehungsbeistand und die Mütterberatung nur von jenen Personen angenommen werden, die nicht zu den sozial benachteiligten Gruppen gehören.

Wegen der veränderten Stellung der Frau und ihrem neudefinierten Selbstbild in der Gesellschaft ist eine flächendeckende Versorgung mit Kinderhort- und Kindergartenplätzen anzustreben. Dies erhöht nicht nur die Bereitschaft zur Mutterschaft, wie eine Erhebung in Berlin – Kreuzberg zeigt, wo bundesweit die höchste Geburtenrate mit der höchsten Dichte an Hortplätzen korreliert. Sondern erhöht ebenso die Lebenszufriedenheit der Frauen, die ihrer Berufstätigkeit nachgehen können. Letztere wirkt sich positiv auf die Entwicklung der Stabilität der Familie und die gesunde Entwicklung der Kinder aus, die ohne Spannungen zwischen ihren Eltern gesünder aufwachsen. Darüber hinaus ist das (zusätzliche) Familieneinkommen ein Stück mehr soziale Sicherheit.

Nach Vorbildern in den Niederlanden sollten zur besseren Integration von Migranten Besuchsdienstnetze von Migranten eingerichtet werden (Münz, 2003). Dies nimmt sprachlich - kulturelle Barrieren und schafft Vertrauen. Es böte sich an, sowohl die Ausbildung von Migranten zur Familiengesundheitsschwester zu forcieren als auch Freiwillige zur Begleitung der Professionellen anzuregen.

Die gesundheitsfördernde Stadtplanung, die Ghettoisierung zu vermeiden sucht und neben gesundem Wohnen auch die Versorgung mit sozialer Infrastruktur betreibt, kann dies wesentlich unterstützen. (Trojan, 2004). Die NL betreiben schon seit Jahren auch eine räumliche Integration nicht nur der Migranten.

Arbeitszeitmodelle müssten den Anforderungen der gesunden Kindererziehung entsprechend Rechnung tragen (Halbtagsstellen, Betriebshorte etc.). In diesen Institutionen bieten sich dann weitere Kompetenzförderungsmöglichkeiten, den Kindern ein gesundes und sozial integriertes Aufwachsen im Dialog mit der Gemeinschaft zu ermöglichen. Die Familie wird in ihrer Sozialisationsleistung unterstützt, stabilisiert und durch Verknüpfung der Angebote innerhalb der sozialen Settings sozial integriert. Der Arbeitsplatz ist Sozialisationssetting und muss somit mit den anderen Sozialisationsinstanzen vor allem der Familie vernetzt werden.

5.2.2.2 Die staatlich geförderte soziale Entwicklung der Kinder und Jugendlichen.

Die Frühförderung im Kindergarten ist besonders wichtig. Zum einen handelt es sich um das „Schlüsselsetting “ in der Kompetenzentwicklung (Altgeld & Kolip, 2004). Zum anderen sind soziale Unterschiede im Bewusstsein der Kinder noch nicht sehr ausgeprägt, der Umgang ist vorbehaltlos und der fehlende Leistungsdruck lässt Kinder soziale bzw. gesundheitliche Kompetenzen spielerisch erlernen (Keller & Hafner, 2002). Die Kindergruppe integriert alle Mitglieder schneller als Erwachsene, die natürliche Neugier am Neuen erleichtert das Einführen neuer Verhaltensnormen[28]. Beim Eintritt in den Kindergarten sind sollte begonnen werden die Basiskompetenzen der Kinder auf einen gemeinsamen (idealen) Level zu bringen, damit die Schule auf diesem Fundament aufbauen kann. Die Erzieherinnen sollten soweit geschult sein, dass sie Verhaltensauffälligkeiten frühzeitig erkennen, damit sie zeitnah Hilfsangebote einsetzen können, so lange die Defizite noch klein sind[29]. Über gemeinsame Aktionen wie Kindergartenfeste, Ausflüge und andere Aktivitäten können Eltern mit eingebunden werden, so dass auch unter ihnen ein Austausch entstehen kann. Die oben schon erwähnten Erziehungsverträge können auch hier schon zum Einsatz kommen, um die Eltern an der Entwicklung der Kinder akiv zu beteiligen. Gemeinsame Ziele sorgen für die Identifizierung mit den Idealen der Kindergartenförderung, so dass keine Diskrepanz zwischen Elternhaus- und Kindergartenerziehung entsteht, die eine Implementierung im Bewusstsein der Kinder erschweren würde. Im Kindergarten lässt sich die begonnene Integration von Migranten vorantreiben, indem die Eltern mit anderen (Migranten-)Eltern Projekte im Kindergarten mitbegleiten und sprachliche Kompetenzen auf Seiten der Kinder sowie der Eltern erworben werden können.

Nach dem Kindergarten, den die Kinder mit annähernd gleichen Basiskompetenzen verlassen sollten, erfolgt die Förderung in der Schule. In den allgemeinen Schulordnungen der Länder sollten sowohl die Kompetenzförderung als Pflichtaufgabe als auch die Persönlichkeitsentwicklung und das strukturelle Lernen vor der Vermittlung von Detailwissen stehen.

Der flächendeckenden Versorgung mit Kompetenzförderungsprogrammen steht erstens entgegen, dass diese Förderung keine schulische Pflichtaufgabe ist und Bemühungen, sie durchzuführen in ohnehin belasteten Schulen nicht honoriert wird. In den Niederlanden werden Schulen mit einer hohen Sozialisationslast entsprechend finanziell und personell gefördert, wenn sie sich kompetenzfördernd verhalten (www.gezond-op-school.nl, Münz, 2003). Dieses Bemühen wird zertifiziert und ist in den Niederlanden im Wettstreit um Aufnahmeersuchen von neuen Schülern schon ein echter Vorteil geworden (ebd.). Dies müsste in Deutschland ebenso gefördert werden, dass neben einer Formulierung einer gesetzlichen Pflichtaufgabe sich das Bemühen auch für die Schule als vorteilhaft erweist. Die Kompetenzförderung ist weniger vom Schultyp als mehr vom sozialen Milieu abhängig zu machen, wenn gleich je nach Schultyp bezeichnend bestimmte soziale Milieus vorherrschen (Leppin & Hurrelmann, 2000). Mit sich wandelndem Milieu sollten zumindest die Kompetenzförderungsprogramme modifiziert werden, wenn man nicht gleich auf die veraltete Differenzierung der Schultypen verzichten will. Mit verändertem Schultyp sollte neben die Vermittlung allgemeiner sozialer und gesundheitlicher Kompetenzen, die jeweils am sozialen Milieu der Schüler angepasst werden, auch die Kompetenz der gesamtgesellschaftlichen Verantwortung hinzutreten. Wer sich anschickt, eine höhere Stellung in der Gemeinschaft und damit Verantwortung innerhalb der Gesellschaft zu übernehmen, sollte frühzeitig auf die sozialpolitischen Anforderungen dieser Position vorbereitet werden. Die Schüler sollten nach ihrem persönlichem Bedarf und ihrem persönlichem Lebenszuschnitt gefördert werden. Wobei derjenige, der eine höhere Position anstrebt, auch lernen muss, mehr soziale Verantwortung zu tragen.

Wichtig ist auch die Reduzierung des Schulleistungsdrucks. Die schlechten Ergebnisse der Pisastudie zeigen, dass es Schüler immer weniger gelingt, Erlerntes aufzurufen und anzuwenden. Der heutige Schulalltag besteht aus Detailwissen, das ohne tragende Struktur vermittelt wird. Die Schule sollte aber alle dazu befähigen, vom Bekannten auf das Unbekannte schließen. Die Fähigkeit, sich mit unbekannten Herausforderungen sachgerecht auseinander zu setzen, entbindet vom Leistungsdruck, alles einpauken zu müssen. Ein solches Lernen Es wird versäumt, die Kinder zu lehren, wie man lernt und das Wissen einordnet. Ein Umstand, der sich ungünstig auf das erforderliche lebenslange Lernen auswirkt. Vor allem Schüler aus sozial schwachen Kreisen werden so schon in der Schule von Bildungsangeboten im späteren Leben ausgeschlossen, die sie im Falle einer Erwerbslosigkeit, von der sie ungleich öfter betroffen sind, wieder in den Kreis der Erwerbstätigen zurückführen sollen. Eine solche Ausbildung böte Sicherheit im täglichen Leben, da die tragenden Strukturen unserer Erkenntnisse bekannt sind und Details durch Ableitung eingeordnet werden können. Ein strukturelles Lernen (fächerübergreifend) reduzierte den Schulstress und schaffte Kapazitäten für Kompetenzprogramme. Durch Übertragbarkeit und Verknüpfung mit Bekanntem wird das Beherrschen des erforderlichen Wissens stressfrei möglich. Außerdem fördert souverän anwendbares und aktives Wissen die Lernbereitschaft sowie das Selbstwertgefühl, die bei reproduktivem Detailwissen, das nicht für alle Situationen im Leben ausreichen kann, nicht aufkommen will.

Am Ende der Schulzeit enden leider auch die meisten Kompetenzförderungskonzepte. Dabei endet die Kompetenzentwicklung eines Menschen nicht mit dem Ende der Schulzeit. Zwar wären so geförderte Schüler im späteren Leben besser gerüstet, dennoch können Kompetenzen sich wieder deaktualisieren, was sie von aktiven Kompetenzen zur Lebensgestaltung zu nur passiven Kenntnissen werden lässt. Die gesetzlich initiierte veränderte Lebensumwelt muss auch in der Praxis ausgeformt werden. Besonders belastend sind die Lebensumstände dann, wenn die Betroffenen sich als Objekt fremder Entscheidungen sehen, sich nicht gestaltend und kreativ in den Arbeitsprozess des Betriebes mit einbringen können. Bisher sind dies genau jene Umstände, die in den unteren Schichten die höhere Belastung durch die Lebensumstände verursachen, da sich diese Passivität durch alle Lebensbereiche zieht und damit die vorhandenen Kompetenzen/ Ressourcen weiter reduziert. Die Erhöhung der Zufriedenheit des Humankapitals, was eine Erhöhung der Leistungsbereitschaft nach sich zieht, sollte in den Arbeitsstätten Priorität haben. Nicht zuletzt wegen der Vorteile für die Betriebe, die auch in ertragsärmeren Zeiten auf die Solidarität ihrer Mitarbeiter bauen können, wenn es um Umstrukturierungen geht. Mittel zur Erreichung dieses Ziels sind Mitbestimmung, flache Hierarchien, „Vorschlagsbörsen“, ansprechendere Gestaltung des Umfeldes, familienfreundlichere Arbeitszeitmodelle und vor allem Transparenz der Strukturen (auch der Entlohnungen).

Weiterbildung kann nur dann bei den Mitarbeitern und den Arbeitgebern als Vorteil angesehen werden, wenn die Vorteile greifbar sind. Für den Arbeitgeber sind die bessere Produktivität durch Optimierung und kreative Vorschläge ausschlaggebend . Für den Arbeitnehmer ist dies vor allem der Aufstieg in erstrebenswerte Positionen, die gegebenenfalls bei Freisetzung in anderen Arbeitsstätten auf ihn warten. Bei Minderqualifizierten wartet hingegen meist die Erwerbslosigkeit. Als Ziel sollte die Struktur innerhalb der Betriebe der Struktur innerhalb der neu orientierten Gesellschaft entsprechen. Beide haben den Charakter eines lebenden Organismus, der nur durch das optimale Kooperieren seiner Teile zum Wohle aller funktioniert. Um ein solches Konzept in den Arbeitsstätten zu fördern, ist ein Belohnungssystem sinnvoll. So wie es heute für Produkte ein erheblicher Vorteil ist, ein Bio-Siegel oder ein Zertifikat zu haben, so muss eine solche Zertifizierung in Form eines anerkannten „Gesundheitsgütesiegels“ für Waren und Dienstleistungen entstehen, die gesundheitsfördernd produziert bzw. angeboten werden. Öffentliche Aufträge sollten nur noch an diese Anbieter mit Zertifikat gehen[30].

Die Ersparnis an Gesundheitskosten für die Behandlung der durch die Arbeitssituation krank gewordener Menschen kann in Förderungsprogramme, Zuschüsse oder in steuerliche Erleichterung fließen, um zumindest in der Anfangszeit diese Konzepte populär und erstrebenswert zu machen.

5.3 Gesamtbetrachtung und Ausblick

Das dargestellte Konzept versucht die höhere Raucherprävalenz unter den sozial schwachen Personen mittelbar zu senken. Der direkte Weg über den Ansatz am individuellen Verhalten des einzelnen Rauchers, der zurzeit noch in Deutschland beschritten wird, ist nicht effektiv genug. Wenn man einen Sumpf trocken legen will, sollte man erst seine Zuflüsse abgraben, anstatt zu versuchen, mit Schöpfkellen den Wasserstand zu senken. Der größte Teil der positiven Effekte wird durch den Kausalzusammenhang zwischen sozialer Benachteiligung - Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Die roten Pfeile symbolisieren die gegenseitige Einflussnahme der verschiedenen Ebenen. Am Ende entsteht eine Transmission zwischen dem Empowerment auf der Mikroebene und dem Fortführen der Bewusstseinsschaffung in der Gesellschaft, die in den verschieden Gesetzesnormen ihren Ausdruck findet. Diese Gesetzeslage schafft objektive Entlastung. Sie formt aber auch wiederum das Bewusstsein der Menschen und nimmt Einfuß auf das Empowerment, das ein Mensch im Laufe seiner Entwicklung erfährt. Die schon eingeführte Kompetenzförderung u. a. als Mittel der Schaffung eines Sozialbewusstseins sollte aber schon jetzt als richtiger Schritt weiter fortgeführt bzw. flächendeckend ausgeweitet werden, auch wenn die Interventionsebene eins noch nicht abläuft. Die gewünschten Effekte stellen sich erst nach Jahren ein, insofern unterscheidet sich das Konzept (leider) nicht von den anderen Konzeptvorschlägen.

Als Querschnittsaufgabe wirft die Reduzierung sozialer Benachteiligung eine weitere Grundsatzfrage in unserem System auf. Wie weit genießt der Föderalismus in Deutschland überhaupt verfassungsmäßigen Schutz, d. h. im Lichte welcher übergeordneten Verfassungsprinzipien zum Wohle der Gemeinschaft muss das föderalistische Prinzip ausgelegt werden?

Die Neustrukturierung der sozialen Gemeinschaft zur „gerechteren“, gesünderen Gesellschaft darf nicht vor der Diskussion von Verfassungsänderungen Halt machen, um die Verfassungsordnung an die neuen gesellschaftlichen Anforderungen zukunftsfähig anzupassen.

Es existieren graduelle Unterschiede zwischen einem Zentralismus, den man in Frankreich verankert hat und einen Föderalismus, der in der Ordnung des Grundgesetzes festgelegt ist. Lediglich eine allgemeine Pflicht des „gedeihlichen Zusammenwirkens“ zwischen Ländern und Bund wird im Grundgesetz verankert. Wie im Rahmen der Präventionspolitik in Deutschland mit ihrer Fragmentierung der Akteure und Kompetenzen erörtert, lässt sich daraus noch keine grundsätzliche Kooperationspflicht ableiten, die die hoheitlichen Kompetenzen in den Dienst eines übergeordneten Ziel stellt. Föderalismus soll ein Einbringen lokaler Interessen in die Politik ermöglichen und letztlich zu mehr Identifikation der Bewohner einer Gebietskörperschaft mit den Entscheidungen ihrer Normsetzungen hervorbringen. Er darf nicht dazu dienen, Interessen einer Gebietskörperschaft, und sei es nur das Beharren auf der eigenen Kompetenz, durchzusetzen.[31]

An dieser Stelle ist u.a. die Bildungshoheit der Länder anzusprechen. Bildung war und ist das Kapital der deutschen Gesellschaft. Auf sie begründet sich nicht nur die Reduzierung sozialer Benachteiligung als stabilisierender Faktor in unserer Gesellschaft, sondern auch der Wohlstand der ganzen Nation, was ein wichtiger Standortvorteil in der Globalisierung darstellt.

Ein derart essentielle Elementaraufgabe müsste als Staatsziel im Grundgesetz verankert sein und zumindest sich der besonderen Aufmerksamkeit der politisch Verantwortlichen erfreuen. Eine Vernachlässigung sollte die gleiche Bedeutung für das politische Überleben haben, wie schlechte Wirtschaftsdaten, die eigentlich nur die Konsequenz der Bildungsvernachlässigung sind.

Die jüngst in den Medien veröffentlichte OEZD – Studie attestierte dem deutschen Bildungssystem schlechte Noten. Es gibt weder eine allgemeine Zielsetzung, eine evaluierte Methode noch ein verbindlicher allgemeiner Standard zur möglichst frühen und individuellen Bildungsförderung. Jedes Bundesland ist autark. Ministerkonferenzen ändern nichts an der Bildungshoheit der Länder. Die Ressorthoheit der einzelnen politischen Bereiche steht der Bildungsgleichheit als gesamtgesellschaftliche Aufgabe ebenfalls entgegen, wenn es darum geht, andere Bereiche der Gesellschaft in die Querschnittsaufgabe einzubinden. Das konservative Festhalten an bewährten Konzepten ist dann nicht sinnvoll, wenn sich die Umstände in der Lebenswirklichkeit, die zu ihrer Entstehung führten, gewandelt haben.

Der Parlamentarische Rat hat dem Grundgesetz schon bei seiner Entstehung 1949 eben diese geforderte Flexibilität mit auf den Weg gegeben, sich auf veränderte Anforderungen in der Lebenswirklichkeit einzustellen. Die sogenannte „Ewigkeitsgarantie“ (Artikel 79 Abs. 3 GG) schützt nur die tragenden Grundprinzipien des Bundesstaates. Die Länder sollen grundsätzlich an der Gesetzgebung beteiligt bleiben. An der Art und Weise der Beteiligung ist anzusetzen, um das Prinzip zukunftsfähig zu verbessern. Mit der Globalisierung sind die Problemdimensionen im Vergleich zu 1980 wesentlich erweitert. Aber damit müssen sich auch die Dimensionen der Problemlösungskonzepte ändern.

Der Föderalismus ist ein Grundsatz, der zum Wohle des Fortbestandes des Staates in lebenswichtigen Fragen, die die Gesamtheit der Nation betreffen, in seiner Ausgestaltung nicht in seinen Grundsätzen überdacht werden sollte. Der Föderalismus sichert die Mitbestimmung nachgeordneter Gemeinschaften. Allerdings müssen die übergeordneten Interessen der Nation Auslegungsmaßstab werden, damit er nicht zur Bremse für notwendige neue Entwicklungen im Zuge der internationalen Eingliederung wird.

Die Existenz der deutschen Solidargemeinschaft in Wohlstand und Stabilität ist eine solche Auslegungsregel des Föderalismusgedankens, um bundesweite Interessen der Menschen gegen Kompetenzinteressen einzelner Bundesländer abzuwägen. Auf der anderen Seite kann Umstrukturierung des Föderalismus auch zugunsten der sozialen Gemeinschaft Stärkung der nachgeordneten sozialen Settings zur Förderung der Identifikation des Einzelnen mit Problemen der Sozialgemeinschaft bedeuten. Die Beispiele der Gemeinden, die sich gegen Tabakwerbung, die bundesgesetzlich erlaubt ist, nach Bürgerinitiativen zur Wehr setzen, zeigen eine solche Tendenz. Die erfolgreiche Initiativbildung in kleinen Settings könnte die um sich greifende Politikverdrossenheit der Bürger wieder reduzieren. Die soziale Ungleichheit wird künftig in Deutschland weiter zunehmen und sozial Diskriminierte leiden nicht nur unter einer schlechten Gesundheit, sondern sie tendieren zu extremem Wahlverhalten. Vor allem junge Menschen lassen sich, wenn sie nicht in die Gesellschaft eingebunden werden, in dem sie Ausbildungs- und Arbeitsplätze erhalten, von den aufreißerischen Parolen der extremen Parteien vereinnahmen. Dies gefährdet die deutsche Demokratie[32].

Das Erkennen, dass der Einzelne in der Initiative etwas abändern kann, wertet Bürger auf und könnte sie politisch aktiver werden lassen. Die Kompetenzverteilung in der Gesellschaft sollte nicht nach einem Kompetenzverteilungsschlüssel erfolgen, sondern sich vornehmlich nach dem Regelungsschwerpunkt orientieren. Warum sollte es keine Kooperationskompetenzen zwischen Bund und Länder geben, die in einem gemeinsamen Gremium behandelt werden müssen.

Angelegenheiten, die die Interessen der ganzen Nation betreffen (Bildungsnotstand, soziale und gesellschaftliche Instabilität), sollten vom Grundgesetz einer „Bundesversammlung“ als eigene Kompetenz zugewiesen werden[33]. Diese Bundesversammlung könnte aus Vertretern des Bundesrates und des Bundestages als demokratische Legitimationsträger bestehen. Die Beschlüsse sollten, zumindest verbindlichen Charakter für die Parlamente haben, wenn ihnen nicht schon gleich Gesetzescharakter zukommt. In den Gesetzen sind Öffnungsklauseln sinnvoll, die mehr Mitbestimmung im konkreten Setting zulassen, um die politische Wirksamkeit der Bürger zu unterstützen.

Deshalb bin ich zuversichtlich, dass die politisch Verantwortlichen in absehbarer Zeit die gesamtgesellschaftliche Brisanz sozialer Ungleichheit erkennen und entsprechende Gegenmaßnahmen einleiten werden.

Wie Ackerboden, der vor der Aussaat gepflügt werden muss, ist der mittelbare Weg über die Reduzierung der sozialen Benachteiligung (schlechtere Lebensumstände, insuffizientere Lebenskompetenzen) der effektivere Weg. In den Kapiteln zuvor wurden die Folgen der Kompetenzförderung losgelöst von der Veränderung der Lebensumstände und umgekehrt dargelegt. Der Effekt bleibt unbefriedigend. Wenn der Verlustfaktor durch die soziale Ungleichheit reduziert wird, erhöht sich auch der Effekt der Raucherentwöhnungskonzepte in der unteren Sozialschicht gleich dem der Mittelschicht.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Nur ohne instrumentellen Nutzen als Kompensationskompetenz kann Nichtrauchen für die unteren sozialen Schichten, die es nach wie vor geben wird, die leichtere Entscheidung sein. Gesundheitliche Aufklärung innerhalb der Prävention hat dann einen Wert, wenn die Aufnahme- und Umsetzungskompetenz der Menschen zuerst auf ein positiv wirksames Niveau, über das zurzeit nur die Angehörigen der mittleren oder oberen Gesellschaftsschicht verfügen, angehoben werden.

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ZIPPELIUS, R. (1986). Juristische Methodenlehre. München: C. H. Beck

[...]


[1] z. B. drastische Kürzung der Kostenübernahme bei Suchttherapien, gänzlicher Wegfall von Kostenübernahmen, Kriminalisierung der Suchtkranken, Sozialreformen…..

[2] Vor allem das Gesundheitssystem setzt wegen seiner gefestigten Strukturen große Widerstände gegen eine Umstrukturierung

[3] Betäubungsmittelgesetz. Im Straftatbestand ist der Besitz strafbar. Kriminell sind sowohl der Konsument als auch der Dealer. Bei Cannabis werden die Verstöße nur dann nicht verfolgt, wenn es sich um geringfügige Mengen handelt. Je nach Bundesland sind dies 0,5 bis 5g. Strafbar ist das Verhalten aber immer noch!

[4] In den letzten Jahren integrierte man immer mehr Medien der Massenkommunikation und das Internet in die Aufklärungsarbeit (z.B. www.ausweg.de, www.tabakkontrolle.de, www.nichtrauchertag.de und diverse Webseiten mit Links und Informationen z. B. www.bzga.de, www.dhs.de ).

[5] Ein kostenloser Versand an alle in großen Mengen über (www.bzga.de) soll zur weiteren Verbreitung beitragen. Darüber hinaus gibt es noch Traktate für die Unterstützung von Angehörigen, Trainern oder Lehrern, die auf rauchende Zeitgenossen zum Wohle der Gesundheit informierend einwirken sollen. (Der Weg zur rauchfreien Schule, BZgA 2003).

[6] Selbsthilfebücher („Wenn es um Drogen geht“; „Hilfe, mein Kind nimmt Drogen“), Erziehungsleitfäden „Kinder stark machen für das Leben“

[7] Ausnahme: Schulgesetz Thüringen. Hier ist die Förderung als Pflicht vorgesehen. Erziehungsverträge zur Einbindung der Eltern in die Erziehung sind als Modellprojekte vorgesehen.

[8] So weiß man, dass das Budget der Firmen „Reynolds“ und Morris für Werbeaktivitäten trotz Werbeverbote allein von 1988 bis 1991 um etwa 1,3 Mrd. $ auf 4,65 Mrd. $ erhöht worden war (Lynch & Boonie 1994, CDC 1990).

[9] www.rauchergedichte.de Ausdrucken und Aufkleben z. B. „Rauchen kann glücklich enden“

[10] Diese Initiativen operieren bundesweit und haben bereits beachtliche Erfolge erreicht, in dem sie auf die Judikative bzw. Exekutive einwirken. Sie sind regelrecht organisiert und haben eine große Internetpräsens, die auf offiziellen Seiten verlinkt ist (www.cdc.gov/tobacco/celebs.htm). Dort finden sich Events gegen Tabakkonsum und deren Akteure.

[11] Für deutsche Verhältnisse mag es verwundern, dass ausgerechnet Philip Morris, einer der größten Tabakproduzenten, Präventionsprogramme für Kinder und Jugendliche sponsert, und das in 150 Ländern (www.philip.morris.com).

[12] So brachte z. B. die vorteilhafte Modifizierung bei Programmen lediglich eine sprachliche Erweiterung für ethnische Gruppen, der Gesundheitsservice ist beim CDC auch in anderen Sprachen abrufbar. (www.cdc.gov.com).

[13] In der Schweiz gibt es bereits zahlreiche Gemeinden, die die bundesgesetzlich zulässige Tabakwerbung in Wohngebieten eingeschränkt haben, nachdem Bürgerinitiativen sich dafür eingesetzt haben.

[14] In der Schweiz lassen die Gerichte Abweichungen von der nationalen Gesetzgebung durch die Kommunen ausdrücklich zu, um dem intimem Setting einer Gemeinde/ Schule die Möglichkeit der Solidarisierung und der Problemidentifikation in der Gesundheitsvorsorgeentscheidung zu ermöglichen.

[15] Diese Ziele der Erziehung werden auf den Webseiten, die vom Ministerie van Onderwijs en Wetenschappen unterstützt und propagiert. (www.leefstijl.nl, www.sociaaldemitioneel.nl Auf diesen Webseiten informieren sich Lehrer über Förderungsmöglichkeiten der allgemeinen Lebenskompetenzen.

[16] Nachzulesen auf z.B. www.gezond_op_school.nl

[17] www.gevonden.nl/gezondheid/roken/stivoro.html, dort werden Projekte vorgestellt und Antragsformalien für die Anmeldung zur Certifizierung und besonderen Förderung.

[18] Beispiele sind §175 StGB- Strafbarkeit der Homosexualität unter Männern, der „Kuppeleiparagraph“. In der Rechtswirklichkeit, zumindest im Allgemeinen, würden diese Normen heute sowieso ignoriert werden. Die Straftat des „Kiffens“ ist bereits auf dem besten Wege in diese Bedeutungslosigkeit abzugleiten, weil die Norm nicht mehr in die Rechtswirklichkeit vieler Menschen passt.

[19] Zurzeit besteht kein allgemeinverbindlicher Erziehungsauftrag für alle Schulen. Vieles hängt vom jeweiligen Engagement der Lehrer ab. Für Grundschulen und auch Kindergärten gibt es keinen Erziehungsauftrag in der wichtigen Frühförderungsphase.

[20] Hurrelmann, 2002, am Beispiel der Kriegsjugend. Sie waren im Mangel aufgewachsen und kaum Zugang zu Zigaretten. Zigaretten galten als Ersatzgeldwährung zum Erwerb lebenswichtiger Dinge. Man rauchte sie nicht.

[21] Nach eigener Erfahrung liegen die oft langen Studienzeiten, die hohen Versagerquoten und die Examensangst vieler (Jura-)Studenten an eben diesem Defizit. Methodenkompetenz würde einem stressigen, aber aussichtslosem Auswendigpauken gegen die Statistik abhelfen.

[22] Günstiger wäre es, ganz auf die veraltete Dreizügigkeit des Schulsystems zu verzichten. In der Gesamtheit könnten Schüler sich besser auf die Anforderungen des sozialen Lebens vorbereiten. Auch würde ihnen nicht schon durch das Schulsystem eine Klassifizierung und strenge Abgrenzung sozialer Gruppen vorgelebt.

[23] Ein Student wird wenig motiviert sein, sein Studium zügig zu beenden, wenn er weiß, dass sein Abschluss ihm eine Wartenummer im örtlich zuständigen Arbeitsamt einbringt. Die Studienzeiten ließen sich eher reduzieren, wenn der ersehnte Job nach dem Abschluss wartet.

[24] Ein kleiner Beginn ist schon zu erkennen. Seit 2004 sind die Ausbildungsinhalte der Krankenpflege in einigen Teilbereichen auf gesundheitsfördernde Aspekte und Umfeldempowerment erweitert worden und bei den Stadtplanern gehört in Wettbewerben das Kriterium „gesundheits- und kindergerechte Gestaltung“ zu Beurteilungsinhalten. Weitere Bevorzugung dieser Ansätze sollte folgen.

[25] Bei Erwerbslosigkeit, einem weiteren Kind oder Scheidung kann soziale Benachteiligung beginnen.

[26] Deutschland hat in seiner Entwicklung als Industrienation immer vom „Wissensexport“ gelebt. Innovative Ideen wurden erdacht, erprobt und vermarktet. Stahl herstellen konnte im 19.Jahrhundert jedes Land. Aber Röhren ohne Naht oder Eisenbahnräder, die schnellere Geschwindigkeiten als 50km/h aushielten, konnten nur die deutschen Stahlwerke Dank überlegendem Wissen.

[27] Eine ähnliche soziale Ghettoisierung findet sich heute noch in den Hauptschulen, deren Schülerschaft nicht die Realität der Bevölkerungsverteilung widerspiegeln

[28] Hier käme auch niemand auf die Idee, einen Kindergarten für künftige Hauptschüler einzurichten.

[29] Erzieherinnen sollten eine fundiertere pädagogische Ausbildung erhalten, um die Kinder nicht nur zu betreuen, sondern auch zu fördern. Gesetzlich muss der Kindergarten mit einem Bildungs- und Erziehungsauftrag versehen werden.

[30] Auf diese Weise konnten auch schon Baufirmen gefördert werden, die Mindestlöhne an ihre Mitarbeiter zahlen, um jene vom Markt zu drängen, die ihre Mitarbeiter ausbeuten.

[31] Kompetenz beinhaltet nicht die Pflicht, eine Regelung zu treffen, sondern behält nur die Regelung vor. Ein anderer, der sich in seinen Interessen beeinträchtigt sieht, hat keinen Anspruch auf die Regelung und darf sie nicht erlassen. Siehe Junior – Professur , die vom Bundesverfassungsgericht ohne Prüfung, ob Regelung sinnvoll ist, allein wegen Kompetenzverstoß auf Antrag einiger Bundesländer kassiert wurde.

[32] Die vor allem in den östlichen Bundesländern um sich greifende soziale Unzufriedenheit stärkt bei den Wahlen die extremen Parteien. Sie brauchen nicht einmal Argumente, ein Skandieren gegen die soziale Politik der Bundesregierung reicht leider aus, damit sich die Menschen in den Äußerungen wiederfinden.

[33] Die Bundespräsidentenwahl als Vorbild einer nationalen Aufgabe, die weder dem Bund noch den Ländern allein obliegt, könnte als Vorbild dienen.

Ende der Leseprobe aus 108 Seiten

Details

Titel
Soziale Ungleichheit und Rauchverhalten
Hochschule
Universität Bielefeld
Veranstaltung
Aufbaustudium Master of Public Health
Note
sehr gut
Autor
Jahr
2005
Seiten
108
Katalognummer
V109223
ISBN (eBook)
9783640074044
Dateigröße
770 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Soziale, Ungleichheit, Rauchverhalten, Aufbaustudium, Master, Public, Health
Arbeit zitieren
Klaus Henrichs (Autor:in), 2005, Soziale Ungleichheit und Rauchverhalten, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/109223

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