Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung und Quellenkritik
2. Kulturspezifische Vorstellungen
2.1 Raum, Lokalisierung und Architektur
2.2 Soziale Beziehungen
2.2.1 Verwandtschaftsbeziehungen
2.2.2 Soziale Beziehungen im Sawah
2.2.3 Soziale Beziehungen im Lawang
2.3 Kosmologische Beziehungen
3. Veränderungen der traditionellen Wohnweise und ihre Auswirkungen
4. Schlussbemerkungen
5. Bibliographie
6. Anhang
1. Einleitung und Quellenkritik
In der vorliegenden Arbeit beziehe ich mich vornehmlich auf den von Christine Helliwell im Jahre 1993 veröffentlichten Essay „Good walls make bad neighbours – The Dayak longhouse as a community of voices“[1], der die Wohnweise der Dayak von Gerai analysiert. Die zugrundeliegende Feldforschung betrieb Helliwell in der Dayak Gemeinschaft von Gerai, die im nordöstlichen Teil Ketapangs lebt, einer Subprovinz der indonesischen Provinz Kalimantan Barat auf West-Borneo. Die traditionelle Wohnweise der zur Zeit von Helliwells Forschungsaufenthalt 700 Mitglieder zählenden Gemeinschaft ist das sogenannte Langhaus. Es ist ein längliches Gebäude, das in mehrere Wohnabteile unterteilt ist und von einzelnen Familieneinheiten bewohnt wird. Diese Wohnabteile werden von Helliwell auch ,household’ genannt; im Rahmen dieser Arbeit werden sie als ,Apartment’ auftauchen. Wie in Kapitel 3 noch erläutert wird, wohnten die Dayak allerdings bereits zum Forschungsaufenthalt Helliwells hauptsächlich in freistehenden Ein-Familien-Häusern. Die Ergebnisse von Helliwells Forschung beziehen sich ausschließlich auf die beiden letzten noch im Dorf vorhandenen Langhäuser.
Die Ethnologin erlangte ihre Erkenntnisse in zwei aufeinanderfolgenden Foschungsaufenthalten; zunächst von März 1985 bis Februar 1986 und schließlich von Juni 1986 bis Januar 1987 (vgl. Helliwell 1993: 59), so dass ihren Ergebnissen insgesamt fast 20 Monate Forschung zugrunde liegen. Auch lebte sie währenddessen innerhalb der Gerai Gemeinschaft im Apartment eines Langhauses. Zwar macht Helliwell zu ihren Sprachkenntnissen oder zum Grad ihrer Integriertheit keine näheren Angaben, jedoch lassen sowohl Anzahl und Länge der Aufenthalte, als auch die integrierte Wohnweise Helliwells, ebenso wie vereinzelte Hinweise auf direkte Kommunikation (d.h. ohne Dolmetscher) mit den Dorfbewohnern, als auch Äußerungen der Dorfbewohner wie „You are one of us [...]“, die einen hohen Grad an Integriertheit Helliwells andeuten, auf eine hohe Datenrelevanz schließen (vgl. Helliwell 1993: 49, 52/53, 55/56).
Helliwells Essay hat zum einen zum Ziel einen differenzierteren Einblick in die Wohnweise der Dayak von Gerai zu liefern; ihr eigentliches Anliegen aber ist es, den Begriff des Privaten für das Leben in den Langhäusern neu zu definieren und die Bedeutung eines Apartments für die Langhausgemeinschaft zu klären, da in der Ethnographie Borneos, so Helliwell, bislang die Vorstellung des „[...] Dayak household as profoundly independent from other households as well as from wider, more encompassing forms of social grouping“ (Helliwell 1993: 44) geherrscht habe. Ihre Forschung jedoch stellt die einzelnen Apartments als unverzichtbare Teile einer intensivst kommunizierenden Langhausgemeinschaft heraus, die für die Regelung sozialer Beziehungen und sozialer Kontrolle einen enorm wichtigen Stellenwert einnehmen. So ist es ihr zentrales Bestreben aufzuzeigen, dass die einzelnen Langhaus-Apartments keineswegs isolierte, im europäischen Sinne private Wohneinheiten sind, sondern in ihrer Gesamtheit eine private Gemeinschaft im Gegensatz zur übrigen Dorfgemeinschaft darstellen. Somit können nach Helliwell die Langhaus-Apartments in Bezug auf das europäische begriffliche Gegensatzpaar ,privat’ und ,öffentlich’ in keiner Weise mit europäischen Reihenhaussiedlungen verglichen werden, wie von einigen Ethnologen getan (vgl. Helliwell 1993: 44). Helliwell stellt heraus, dass „the spatial separation parallels a division not within the longhouse community but between that community and those without it: between ‘we’ and ‘other’.” (Helliwell 1993: 47, Hervorhebungen übernommen). Die Richtigkeit dieses Gedankens soll in der vorliegenden Arbeit näher erläutert und anhand einer Analyse der kulturspezifischen Vorstellungen der Dayak von Gerai begründet werden.
Zunächst werde ich auf die Hausstruktur und -architektur eingehen, weiterhin auf die sozialen Beziehungen innerhalb des Hauses bzw. zwischen Hausbewohnern und -nichtbewohnern, und schließlich eine Einordnung in die kosmologischen Vorstellungen der Dayak vornehmen. Wie bereits erwähnt, wird der Wandel der traditionellen Wohnweise auch kurz dargelegt werden.
2. Kulturspezifische Vorstellungen
2.1 Raum, Lokalisierung und Architektur
Helliwell spezifiziert nicht den genauen Ort, an dem ein Langhaus nach den Vorstellungen der Dayak gebaut sein sollte. Sie erwähnt lediglich, dass vor 25 Jahren vier Langhäuser „[...]clusterd together on the banks of a tiny stream” (Helliwell 1993: 45) gelegen haben, so dass ich davon ausgehe, dass auch die beiden noch vorhandenen Langhäuser sich am Flussufer befinden. Hierfür, bzw. für eine bestimmte Ausrichtung der Häuser liegen allerdings keine konkreten Hinweise vor. Jedoch ist dies im Rahmen dieser Arbeit nicht weiter zu berücksichtigen, da nicht Ort und Ausrichtung, sondern vielmehr die innerhäuslichen Raumaufteilungen für die Begründung der in Kapitel 1 formulierten These eine wichtige Rolle spielen.
Das Langhaus der Dayak ist ein längliches, mit einem Spitzdach aus Stroh und Kieseln komplett überdachtes Haus, das weiterhin über ein Untergeschoss verfügt, in dem Schweine untergebracht sind. Die Anzahl der Apartments innerhalb eines Langhauses scheint von Langhaus zu Langhaus zu variieren; im Dorf von Gerai besteht ein Langhaus aus vierzehn, das andere aus neun Apartments. Über bestimmte Maße macht Helliwell keine Angaben. Eine für die späteren Ausführungen wichtige Grundeigenschaft des Langhauses ist die typische Zweiteilung entlang der Längsachse in den vorderen Teil des Sawah (dtsch.: Äußeres) und den hinteren Teil des Lawang (dtsch.: Tür) durch eine durchgehende Wand vom Boden bis zum Dach. So entsteht eine Aufteilung des Hauses
[...] into an ‘inner’ household cooking, eating, and sleeping area which is partitioned off from the equivalent areas of those apartments on either side, and an ‘outer’ gallery area which is not partitioned. Into this separating wall of solid sawn planks a door is set, provinding access from one section of the apartment to the other. (Helliwell 1993: 46, Hervorhebungen übernommen)
So handelt es sich beim Sawah also um einen Raum, der ohne Unterbrechung das gesamte Haus durchläuft, während sich die Apartments als abgetrennte Räume im Lawang befinden (vgl. Anhang, Illustration 1). Die architektonische Zweiteilung des Langhauses spiegelt sich auch in einer symbolischen; so wird das Sawah häufig als Ort der Männer und der Öffentlichkeit bzw. das Lawang als Ort der Frauen und häuslichen Aktivitäten beschrieben (vgl. Avé/King 1986: 53/54; King 1993: 219).
Eine zentrale Bedeutung nehmen die Wände ein, die die einzelnen Apartments innerhalb des Lawang voneinander trennen. Während die Wand, die das Langhaus in Lawang und Sawah unterteilt aus „solid sawn planks” (Halliwell 1993: 46) besteht, besitzen die einzelnen Trennwände innnerhalb des Lawang andere Eigenschaften.
It [die Trennwand, Anm. d. Verf.] is normally made of flimsy pieces of bark and other materials propped up against each other in such a way as to leave gaps of varying sizes, through which dogs and cats can climb, people can hand things back and forth, and at which neighbours can stand while they chat together. (Helliwell 1993: 51)
Es gilt also festzuhalten, dass aufgrund der architektonischen Gegebenheiten eine Kommunikation zwischen Lawang und Sawah ausschließlich nach Öffnen der einzelnen Apartmenttüren stattfinden kann, während sie von einem Lawang-Apartment zum anderen ohne weiteres jederzeit möglich ist.
Neben der bisher genannten architektonischen Aufteilungen gibt es entlang der Längsachse des Langhauses eine weitere symbolische Aufteilung in „[...] seven seperate named levels, each of which is differentiated from the others according to what Gerai people term its guno nar (true, essential function).” (Helliwell 1993: 45/46, Hervorhebungen und Klammern übernommen). Im Sawah gibt es vier dieser Einteilungen, drei weitere im Lawang. Sie sind jeweils nach bestimmten Aktivitäten benannt, wie Schlafen, Kochen und Essen. Es ist jedoch hervorzuheben, dass die Art der verrichteten Aktivitäten an Intimität zunehmen, je weiter sie von der Längsachse des Lanhauses enfernt sind (vgl. Anhang, Illustration 2).
Weiterhin gilt es die Feuerstelle innerhalb der einzelnen Lawang-Apartments zu erwähnen, da sie sowohl für die Kommunikation, als auch für rituelle Gewohnheiten der Gerai äußerst wichtig ist, wie noch gezeigt werden wird. Sie befindet sich jeweils im vorderen Teil des Lawang in der rechten Ecke (vgl. Anhang, Illustration 2).
2.2 Soziale Beziehungen
2.2.1 Verwandtschaftsbeziehungen
In ihrer Abhandlung über die Dayak von Gerai macht Helliwell keine Angaben darüber, inwieweit die Bewohner eines Langhauses miteinander verwandt sind bzw. welche Personengruppen in welche Langhaus-Apartments um- oder einziehen. Sie beschreibt jedoch, dass „[...] each household is ritually linked through its hearth to a ‘parental’ household known as its bungkung (root, origin).” (Helliwell 1993: 54, Hervorhebung und Klammern übernommen). Das bedeutet, dass die Bewohner der einzelnen Apartments zumindest rituell miteinander verwandt sind. Inwieweit weiterhin Blutsverwandtschaften oder affine Beziehungen bestehen, bleibt unklar.
Unter Bezugnahme auf Edmund Leachs Ausführungen zu den Ethnien in Sarawak auf Borneo schreibt der Ethnologe Victor T. King:
He [Leach, Anm. d. Verf.] isolated certain general principles of social organization, which appear to apply to all the indigenous peoples of Sarawak’, and he also ventured to add that ‚it is likely that these [principles] are valid for the whole of Borneo‘ (p.57). This ‘Bornean type of pattern of organisation’ which Leach posited is ‘particularly noticeable in the field of kinship’ (p.57) [...]. (King 1978: 5, Hervorhebungen und Klammern übernommen)
Ist diese Annahmen richtig, so könnte man vermuten, dass die Verwandtschaftsstrukturen der Dayak von Gerai im Langhaus entweder homologe oder stratifizierte sind, weil die
[...] ‚kinship structure‘ of the long-house communities which he [Leach, Anm. d. Verf.] observed was ‘either one of several homologous segments, or else of several stratified classes.’ (p.60) (King 1978: 5, Hervorhebungen und Klammern übernommen)
Dies ist jedoch keine begründete These, sondern soll lediglich ein Hinweis auf mögliche Verwandtschaftsstrukturen der Dayak von Gerai sein, die anhand weiterführender (mir nicht zur Verfügung stehender) Quellen genauer zu untersuchen wären.
2.2.2 Soziale Beziehungen im Sawah
Das Sawah ist ein Ort, der von den Dayak von Gerai als ein Ort der Malaien definiert wird. Die Dayak von Gerai waren lange Zeit den Malaien offiziell unterworfen, jedoch herrschte aufgrund der ungünstigen Infrastruktur nur eine geringe Kommunikation zwischen den beiden Ethnien, so dass auch ein direkter Einfluss auf das Leben der Dayak von Gerai ausblieb. So blieb der Status der Malaien bei ihnen recht undefiniert, sie waren weder Freund noch Feind (vgl. Helliwell 1993: 48). Weiterhin sahen sie die Malaien als
[...] a different order of being, one which refuses pork and rice wine (both prized by Gerai people) and engages in an incomprehensible and highly amusing set of practices with respect to its deities. (Helliwell 1993: 48, Klammern übernommen)
Bei ihren Besuchen wurde den Malaien stets der äußere Bereich des Sawah als Aufenthaltsort zugewiesen (vgl. Anhang, Illustration 1), „[...] where they are least likely to be affected by Dayak customs.“ (Helliwell 1993: 48).
Jedoch handelt es sich hierbei nach Helliwell nicht nur um schüchterne Rücksichtnahme gegenüber den Malaien und ihrer Bräuche; es ist vielmehr eine aktive Abgrenzung, die die Dayaks von Gerai hier vornehmen, und in der „a more deeply held conception of the lawang as ‘our space’ and the sawah as ‘the space of others’“ (Helliwell 1993: 48, Hervorhebungen übernommen) zum Ausdruck kommt. Wie grundlegend die Vorstellung des Sawah als muslimischer, also malaiischer, Aufenthaltsort ist, formulierten die Langhausbewohner selbst. Als Helliwell vorgeschlagen habe, dass sie im Bereich des Sawah wohnen könne, sei man ihr mit den Worten entgegnet „’Only people who don’t eat pork should eat and sleep out on the sawah. You are one of us – it wouldn’t feel right to have you living out there.’” (Helliwell 1993: 49, Hervorhebung übernommen). Es wird also deutlich, dass
[...] the lawang/sawah division in Gerai constitutes a conceptual oppostion between the longhouse community and those outside it, rather than one within that community. (Helliwell 1993: 49)
Weiterhin ist das Sawah aber auch als Gemeinschaftsort zu sehen, an dem gemeinsam Arbeiten verrichtet werden, ohne dass unterschieden würde zwischen Bewohner eines direkt angrenzenden oder weiter entfernten Lawang-Apartments, bzw. eines Nicht-Bewohners des Langhauses. Helliwell beschreibt, dass die Dayak von Gerai weder gerne alleine sind, noch einen Sinn darin sehen (vgl. Helliwell 1993: 57). So wird man die Arbeiten im Bereich des Sawah stets von mehr als nur einer Person verrichtet finden, so dass hier automatisch ein Raum der Kommunikation entsteht. Helliwell beschreibt, dass die Dayak von Gerai das Sawah auch ramo nennen, was soviel wie ,für jeden frei zugänglich’ bedeutet und das Sawah als Raum definiert,
[...] where anybody from within the longhouse or the wider community may strol, sit, weave, carve or whatever, without requiring permission from the actual owners of the apartment. (Helliwell 1993: 46)
2.2.3 Soziale Beziehungen im Lawang
Die Aufschlüsselung der sozialen Beziehungen im Lawang macht das Verständnis der Dayak von Gerai für das Private deutlich. Wie bereits unter Punkt 2.1 erläutert sind die Wände, die die einzelnen Lawang-Apartments voneinander trennen höchst permeabel. Dies ist die Vorraussetzung für zwei wichtige Faktoren. Helliwell nennt sie den Fluss der Geräusche und den des Lichts, die letztendlich die Vorstellung des Lawang als „[...] single legthwise entity in space” (Helliwell 1993: 49) begründen. Dadurch nämlich, dass Gesprochenes in einem Apartment durch die löchrige Wand ohne Weiteres bis ins nächste, übernächste und durchaus auch das darauffolgende Aparment in beide Richtungen hörbar ist, werden die jeweiligen Apartments „[...] tied into each other’s world, into each other’s company as intimately as if they were in the same room.” (Helliwell 1993: 51). Auch das Licht ist ein wichtiger Faktor der Kommunikation; nachts signalisiert das Feuer in der Feuerstelle eines jeden Lawang-Apartments den Langhausbewohnern die gegenseitige Anwesenheit. Die Dayak von Gerai erklären, dass „’[...] human beings in the longhouse at night like to see many lights around them and so know that they have many companions [...]“ (Helliwell 1993: 52). Im Umkehrschluss bedeutet ein nicht vorhandener Feuerschein in einem Apartment „[...] an immediate source of concern and investigation.“ (Helliwell 1993: 52). So berichtet Helliwell, dass sie mehrmals aufgrund von Krankheit abends ein Feuer in ihrem Apartment nicht entzünden konnte; die Dunkelheit machte die Langhausbewohner sofort aufmerksam, und sie versuchten mit Helliwell zu kommunizieren. „If there was no reply, within seconds neighbours would be pushing open the door.” (Helliwell 1993: 52)
Hieraus lässt sich schließen, dass die Wände einzig der räumlichen Abgrenzung der einzelnen Apartments und keineswegs der Schaffung unterschiedlicher Einheiten von Wohngemeinschaften dienen. Durch Sprache und Licht findet eine ungehinderte Kommunikation statt, als ob es sich bei der Vielzahl der Lawang-Apartments lediglich um einen einzigen Raum handeln würde. Im Gegensatz dazu ist also die undurchlässige, solide Trennwand zum Sawah hin eine unverkennbare Grenze. Zum Sawah haben sämtliche Dorfbewohner oder auch Gäste und Fremde freien Zugang; die durchgehende Trennwand zum Lawang ist somit nicht nur räumlich einzuordnen, sondern symbolisiert vor allem eine gemeinsame Abgrenzung der sich dahinter befindlichen Lawang-Bewohner. Hierin manifestiert sich also die Vorstellung vom Lawang, vom ,wir’, der „longhouse community", im Gegensatz zum Sawah, also jenen, die der „world out there” (vgl. Helliswell 1993: 47) angehören.
Wie in jeder sozialen Gemeinschaft ist auch im Lawang eine Form von sozialer Kontrolle anzutreffen. Helliwell beschreibt:
Socially acceptable forms of behaviour may be enforced within any lawang in Gerai by means of a sliding scale of sanctions, ranging from community disapproval to the imposition of fines. (Helliwell 1993: 54, Hervorhebung übernommen)
Die Einhaltung dieser Verhaltensformen ist aufgrund der architektonischen Gegebenheiten des Langhauses leicht überprüfbar: Die durchlässigen Wände ermöglichen eine soziale Überwachung (Helliwell nennt sie auch ,monitoring’) der Bewohner der jeweils links und rechts angrenzenden Apartments. Dies, so Helliwell, „[...] places those inhabiting it [the lawang, Anm. d. Verf.] under much greater pressure to conform than would be the case if lawang were truly ‘private‘ areas.“ (Helliwell 1993: 54, Hervorhebungen übernommen).
Die Dayak von Gerai wertschätzen das Teilen von Gut untereinander sehr; das heißt also zum Beispiel, dass ein Bewohner des Langhauses nach der Rückkehr von einer Jagd oder vom Sammeln von Früchten daraufhin beobachtet wird, ob er das Erstandene auch wirklich mit den anderen Bewohnern teilt.
Als eine Form von gegenseitigem ,monitoring’ ist auch der Austausch von Ratschlägen oder Meinungen einzuordnen, die einen akzeptablen Umgang der Bewohner untereinander sichern soll. So ermöglichen es die durchlässigen Wänder, dass die Bewohner Streitereien mitbekommen und so rechtzeitig als Schlichter oder Ratgeber eingreifen können (vgl. Helliwell 1993: 55/56).
Die Möglichkeiten der gegenseitigen Überwachung, die durch die durchlässigen Wände zwischen den einzelnen Lawang-Apartments geschaffen werden, scheinen den Bewohnern jegliche Art absoluter, eigener Privatsphäre zu nehmen. Helliwell betont jedoch, dass
[...] a recognition of the community’s ability to enforce certain types of behaviour within any particular lawang space does not constitute a denial of the rights over that space held by members of the houshold themselves. (Helliwell 1993: 56)
So sehen die Dayak von Gerai beispielsweise permanentes Starren oder auch heimliches Beobachten der Vorgänge innerhalb eines Lawang-Apartments ebenso als inakzeptables Sozialverhalten an, wie das Betreten eines Apartments während der Abwesenheit des eigentlichen Bewohners. Das Lawang-Apartment ist sogar der einzige Ort, an dem ein Dayak von Gerai sich ins Private zurück ziehen kann. Wie bereits unter Punkt 2.2.2 erwähnt legen Dayak von Gerai keinen Wert auf das Alleinsein. Ja, sie erachten es gar für merkwürdig und verdachtserregend, verrichtet jemand seine Arbeit ohne Begleitung oder geht jemand allein auf Jagd. „In a longhouse apartment lawang, on the other hand, it is possible, easily and naturally, to be alone – simply because one is recognized as never being alone.” (Helliwell 1993; 57, Hervorhebung übernommen)
2.3 Kosmologische Beziehungen
Im Gegensatz zu den sozialen Beziehungen der Dayak von Gerai berichtet Helliwell wenig über die Beziehungen, die diese zu ihren Ahnen, zu Geistern und Göttern oder auch zum nicht domestizierten Raum pflegen. Sie deutet lediglich an, dass der Reis eine Rolle in ihren kosmologische Vorstellungen spielt. Sie begründen beispielsweise den Brauch bei der Aussaat neben dem Reissamen auch den Samen einer Pflanze mit roten Blüten zu säen in ihrer besonderen Vorstellung vom Reis:
’Just as human beings in the longhouse at night like to see many lights around them and so know that they have many companions, in the same way the rice sees the flowers at night and does not feel lonely.’ (Helliwell 1993: 52)
1.1.1. Auch andere Ethnologen beschreiben die Reispflanze als wichtigen Bestandteil Dayakscher Kosmologie. Die Iban haben beispielsweise die Vorstellung, dass sich die ,spirits’ der Toten sich nach ihrem Tod letztendlich in Wasserdampf verwandeln und sich als Tau auf die Reispflanzen setzen; diese werden schließlich von den Lebenden gegessen, so dass ein geschlossener Kreislauf zwischen Lebenden und Toten entsteht (vgl. Avé/King 1986: 34).
Nach King sind für die Dayak weiterhin die Ein- und Ausgänge der Langhäuser besondere Orte, da sie zum einen die Kommunikation mit Fremden, aber auch mit der Geisterwelt ermöglichen. Sie sind aber auch besonders zu bewachen; nicht nur, weil Fremde eindringen und Unheil anrichten könnten, sondern auch weil „[...] evil forces [could] enter the house” (King 1993: 223).
Avé und King beschreiben die Vorstellungen der Dayak jedoch als
[...] rational response to the world in which the rainforest dweller lives; it helps him to explain and to come to terms with nature; it helps give meaning to his existence [...] and it is a stimulus to further knowledge.
so dass „The religion of the Dayak cannot be dismissed as superstition, nor does it encourage fear and anguish of the supernatural [...]” (Avé/King 1986: 53).
Dies scheint auch auf die Dayak von Gerai zuzutreffen; so wird die Nicht-Befolgung dessen, was Helliwell als ,customary law’ beschreibt, „[...] not punished by the supernatural [...]” (Helliwell 1993: 53), sondern durch solch irdische Bestrafungen, wie Abmahnungen oder Geldstrafen. Beispielsweise ist das Unterlassen des regelmäßigen Entzündens des Feuers an der Apartment-eigenen Feuerstelle „[...] a crime against one’s neighbours rather than against the spirit world.” (Helliwell 1993: 53), werden doch das jeweils rechts und links angrenzende Apartment von einer Seite des Langhauses abgetrennt und ihnen somit das Recht auf Mitgliedschaft in der Langhausgemeinschaft aberkannt.
Über Rituale, die den Zusammenhang mit der Bewohnung des Langhauses und Ahnen oder Geistern verdeutlichen, macht Helliwell keine Angaben. Andere Dayak Ethnien auf Borneo mit Langhaus-Tradition praktizieren umfassende Rituale unter Einbezug der Feuerstelle oder auch des Dachbodens, in dem die Knochen der Ahnen zu plazieren sind. Da trotz einer großen Vielfalt religiöser Praktiken innerhalb der verschiedenen Dayakgruppen die religiösen Vorstellungen „[...] fundamentally alike” (Avé/King 1986: 33) sind, wäre es also zu vermuten, dass die Dayak von Gerai ähnliche Rituale praktizieren oder auch in einer ähnlichen Intensität.
3. Veränderungen der traditionellen Wohnweise und ihre Auswirkungen
„Twenty-five years ago the Gerai village proper consisted of four longhouses clustered together on the banks of a tiny stream. Of these, only two now remain.“ (Helliwell 1993: 45). Diese zwei Langhäuser sind jetzt durch eine Vielzahl von freistehenden Häusern ersetzt. Zur Gemeinschaft der Gerai gehörten im Jahre 1986 insgesamt 121 Hauptwohneinheiten; von den 106, die sich innerhalb der Dorfgrenzen befinden, gehörten insgesamt nur noch 23 zu den beiden Langhäusern, das heißt, nur ungefähr jeder fünfte Dayak von Gerai lebte noch in einer Langhausgemeinschaft. Helliwell beschreibt, dass das traditionelle Bewohnen der Langhäuser „[...] is becoming increasingly irrelevant to Gerai Dayaks, as residence in their own free-standing houses becomes an important goal in the lives of most newly married couples.“ (Helliwell 1993: 45). Helliwell glaubt jedoch nicht, dass dies aus dem Wunsch nach mehr Unabhängigkeit heraus geschieht, denn „The construction of the lawang itself, [is] far from mirroring any household’s wish for independence [...]” (Helliwell 1993: 56, Hervorhebung übernommen). Die unter Punkt 2.2.3 angesprochene soziale Kontrolle bzw. „The wish to escape community pressure [...]” (Helliwell 1993: 56) sei der Hauptgrund junger Paare gewesen, das Langhaus zu verlassen und ein alleinstehendes Haus zu errichten.
King ordnet diese Entwicklung in einen größeren Kontext ein; er beschreibt zwar, dass auf Borneo nur eine begrenzte Urbanisierung anzutreffen sei, dass aber die voranschreitende „monetization and modernization” (King 1993: 270) die Entstehung neuer sozialer Klassen zur Folge gehabt habe. Er beschreibt, dass ebenfalls im Zuge dessen
There has been an increase in individualism and acquisitiveness [...] One expression of this has been the break-up of longhouses in some communities, and individual families building dwellings closer to their [...] gardens, or moving into towns. (King 1993: 270)
Dies hat sich offensichtlich auch in den von Helliwell untersuchten Dörfern bemerkbar gemacht; sie erwähnt, dass „[...] with the growing importance of a cash economy [...]“ (Helliwell 1993: 55) die Bewohner der Langhäuser mehr und mehr versuchen eigenes Gut anzuhäufen, anstatt es zu mit den anderen Bewohnern zu teilen. „However, [...] these people inevitably move out of the longhouse and build independent free-standing dwellings.“ (Helliwell 1993: 55)
Jedoch beschreibt King wiederum auch, dass „ [...] the longhouse has shown a remarkable resilience, a testimony to its social and cultural significance” (King 1993: 223). Im Zuge des Erkenntnisprozesses seitens lokaler Regierungen, dass bei der Zerstörung von Langhäusern nicht lediglich Wohneinheiten, sondern ganze Sozial- und Vorstellungssysteme zerstört werden, werden im Zuge von ,resettlement or community development’-Bestrebungen teilweise bereits versucht, die Langhaus Strukturen zu erhalten (vgl. King 1993: 223). Die ebenfalls von King erwähnten ähnlichen Bemühungen seitens der Dayak scheinen nach den Angaben von Helliwell bei den Dayak von Gerai nicht vorhanden zu sein.
4. Schlussbemerkungen
Es gilt zu untersuchen inwieweit die von Helliwell erhobenen Daten auf andere Dayaks zu übertragen sind. King hielt 1978 fest, dass „[...] most peoples [Dayaks in Borneo, Anm. d. Verf] share some similarities in material culture such as in agricultural, domestic and other equipment and in longhouse domicile [...]“ (King 1978: 1). Auch wenn die unterschiedlichen ethnischen Gruppen die Langhäuser im Detail unterschiedlich bewohnen, ist es doch so, dass „Longhouses follow much the same pattern across Borneo [...]“ (Avé/King 1986: 53). Helliwell selbst äußert sich hierzu zurückhaltend. Sie hält es jedoch für „[...] at least possible, that the Gerai longhouse is not unique [...]”, was die in ihm zum Ausdruck kommende Bedeutung und den konzeptionellen Zusammenhang von „[...] person, household and community [...]“ betrifft (Helliwell 1993: 58).
Der Titel des Essays von Helliwell “Good walls make bad neighbours” fasst ihre in dieser Arbeit analysierten Erkenntnisse auf den Punkt gebracht zusammen. Sie bezieht sich auf den amerikanischen Dichter Robert Frost, der die sozialen Beziehungen in seiner ländlichen Gemeinde mit den Worten „good fences make good neighbours” charakterisierte (Helliwell 1993: 59): klar gezogene, feste Grenzen – und damit Abgrenzung – sind die Voraussetzung für ein friedliches Zusammenleben. Nach den von mir aufgezeigten Erkenntnissen der Ethnologin im Langhaus der Dayak von Gerai würden undurchlässige, unüberbrückbare Grenzen einen Kollaps der sozialen Struktur im Lawang hervorrufen. Gute, im Sinne von feste, undurchlässige Wände hätten also schlechte, nicht-kommunikative Nachbarschaftsbeziehungen zur Folge. Diese aber sind essentiell für das Leben im Langhaus in Gerai, denn das einzelne Apartment ist ein Teil eines Ganzen, einer intensivst kommunizierenden Gemeinschaft, der in dieser Form nicht in westlichen Gesellschaften anzutreffen ist. Helliwell beschreibt diese Kommunikation als „the one aspect of longhouse life that distinguishes it most clearly from the Western world.” (Helliwell 1993: 52). Bei den Dayak von Gerai erstreckt er sich die Privatsphäre über einen Raum, der eine Vielzahl von Wohneinheiten und Personen umfasst; der europäische Privatraum bezieht sich jedoch – wenn man dies überhaupt so allgemein formulieren kann – auf eine weitaus kleinere Personengruppe oder gar Kernfamilie und ihren klar abgegrenzten Wohnraum; eine Übertragung des Begriffgegensatzpaares ,privat‘ versus ,öffentlich’ auf die Dayak von Gerai kann demnach also nicht ohne Weiteres stattfinden.
Helliwell zitiert die Dayak von Gerai mit einem Satz, der ihre Vorstellungen vom Gemeinschaftsleben im Langhaus prägnant zusammenfasst und die in der vorliegenden Arbeit dargestellte Forschung der Ethnologin verifiziert: „Although there are many apartments, basically there is only one trunk.” (Helliwell 1993: 54)
5. Bibliographie
Avé, Jan B. & King, Victor T. (1986): Borneo : the people of the weeping forest. Tradition and change in Borneo. Leiden: National Museum of Ethnology.
Helliwell, Christine (1993): Good walls make bad neighbours: the Dayak longhouse as a community of voices. In: James J. Fox (ed.). Inside Austronesian Houses. Perspectives on domestic designs for living, pp. 44-63. Canberra: Australian National University.
King, Victor T. (ed. 1978): Essays on Borneo Societies. Oxford: Oxford University Press for the University of Hull.
King, Victor T. (1993): The peoples of Borneo. Oxford: British Library Cataloguing in Publication Data.
[...]
[1] Der Essay wurde erstmals bereits im Oktober 1987 in einer Seminarreihe an der Australian National University veröffentlicht (vgl. Helliwell 1993: 59).
- Arbeit zitieren
- Nora Sevbihiv Sinemillioglu (Autor:in), 2004, 'Good walls make bad neighbours' - kulturspezifische Vorstellungen im Langhaus der Dayak von Gerai auf Borneo, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/109330